25

NISCHNI NOWGOROD, RUSSLAND

Es war später Abend am folgenden Tag, als Sam die große Farm sah, die ihm eine Frau, die er vor Stunden auf der Landstraße angesprochen hatte, beschrieben hatte. Sie lag inmitten von weiten umzäunten Feldern, auf denen jedoch, wie es schien, nichts anderes als Gras wuchs. Er konnte in etwa achthundert Metern Entfernung von der Straße das alte Herrenhaus erkennen und dahinter eine Reihe weißer Gebäude, bei denen es sich offenbar um Scheunen und Ställe handelte. Soweit er beurteilen konnte, brannte nirgendwo Licht. Er wusste jedoch, dass sich jenseits der Gebäude ein Fluss befand, der die Straße unterquerte und zur Wolga strömte. Die Felder waren vorwiegend mit niedrigen Graspflanzen bedeckt, die er bei dem dürftigen Licht des frühen Tages jedoch nicht näher identifizieren konnte. Entlang des Flusses gedieh aber hohes Schilfgras, und das Flussbett wurde durch Busch-und Baumreihen markiert, die dank der ausreichenden Versorgung mit Wasser offenbar prächtig gediehen.

Er ging zum Flussbett hinab und folgte seinem Verlauf bis zu dem Herrenhaus. Er wusste, dass ihm die Büsche und Bäume ausreichend Deckung spendeten und dass die Uferböschung des Flusses seine Gestalt für Blicke, die vom Haus kamen, zur Hälfte verbarg. Außerdem vermutete er, dass Wachen, die dort postiert waren, eher mit einem Angriff von der Straße als von dem kleinen Fluss rechnen würden.

Sam ging ohne Eile weiter, lauschte wachsam und rechnete jeden Moment mit Schwierigkeiten. Einmal erstarrte er mitten in der Bewegung, weil er vor sich ein ungewöhnliches Geräusch gehört hatte. Aber dann erkannte er, dass es nur das Plätschern gewesen war, das ein Ochsenfrosch irgendwo flussaufwärts bei seinem Sprung ins Wasser verursacht haben mochte. Er achtete auch darauf, ob sich ein warnender Klang in den Ruf der Nachtvögel schlich, der auf die Nähe von Menschen hätte schließen lassen können.

Dann gelangte er zu einer niedrigen gewölbten Holzbrücke, die von dem umzäunten Feld auf den Rasen des Herrenhauses führte. Er kletterte die Uferböschung hinauf und kauerte sich neben die Brücke, um das Hauptgebäude eine Zeit lang zu beobachten. Er zählte vier Stockwerke und konnte ein Mansardendach erkennen, aber auch jetzt sah er in keinem der vorderen Fenster Licht. Er hielt Ausschau nach Wachtposten und bemerkte, wie zwei Männer rechts von ihm auftauchten und aus einem Bereich auf das Haus zugingen, bei dessen Anblick sich Sam an einen Blumengarten erinnert fühlte. Sie gingen am Haus vorbei, und er konnte erkennen, dass sie Maschinenpistolen an Riemen über den Schultern trugen. Außerdem hatten sie starke LED-Taschenlampen bei sich, und einer der Männer holte seine Lampe heraus und ließ ihren hellen Lichtstrahl über die Büsche vor dem Haus gleiten. Dann lenkte er den Lichtstrahl an der Seite des Hauses bis zum zweiten Stock hinauf, und Sam bemerkte, dass das Fenster eines Zimmers, das sich am Ende des Korridors befinden musste, offen stand.

Die beiden Männer bogen um die Ecke und gingen weiter. Sam wartete nur ein paar Sekunden, bis er sicher sein konnte, dass sie weg waren, dann huschte er über den Rasen zum Ende des Hauses, das sie soeben passiert hatten. Er rüttelte probeweise an dem Regenrohr, das neben dem Fenster von der Regenrinne kommend abwärts verlief, um festzustellen, ob es solide genug im Mauerwerk verankert war, um das Gewicht eines erwachsenen Mannes zu tragen. Dann kletterte er los, erreichte den zweiten Stock, legte eine Hand auf den Fensterrahmen und zog sich über den Fenstersims. Vor dem Fenster kauerte er sich nieder und lauschte. Nirgendwo hörte er Schritte.

Aber da war ein Geräusch, ganz schwach, und nur wahrnehmbar, weil im Haus sonst absolute Stille herrschte. Es war ein leises metallisches Pochen. Neben ihm befand sich eine offene Tür. Er machte einen vorsichtigen Schritt in diese Richtung und erkannte dahinter ein Schlafzimmer. Er ging hindurch und weiter zur nächsten Tür, die in ein Badezimmer führte. Nun konnte er das Klopfen deutlicher hören und wusste nach wenigen Sekunden, um was es sich handelte.

 

∙-∙ ∙ – ∙∙ … ∙- ∙-∙-∙-∙- … – – -∙-∙ -∙-

Remi 4, Stock. Remi 4. Stock.

 

Sie benutzte die Metallstrebe, die sie aus dem Badezimmerschrank entfernt hatte, und klopfte zum – wie sie schätzte – tausendsten Mal den Code auf das Wasserrohr. Jeden Abend, wenn im Haus Ruhe eingekehrt war und sie sicher sein konnte, dass seine übrigen Bewohner schliefen, begann sie die Nachricht zu morsen. Zuerst knackte sie das Schloss der Zimmertür und ließ den abgebrochenen Gabelzinken darin stecken, damit sie es schließen konnte, indem sie die Stifte auf dem Schlosskern beiseiteharkte. Anschließend versteckte sie den Stift. Sie öffnete die Tür, lauschte aufmerksam und schlich durch den Korridor zu einem Fenster, damit sie sicher sein konnte, dass tiefe Nacht herrschte und alle schliefen. Dann kehrte sie zurück und begann zu morsen.

Stets ließ sie die Tür geschlossen, aber unverriegelt, um für Sam bereit zu sein. Es musste sehr schwierig für ihn sein, sie zu finden, aber sie wusste, dass er es schaffen würde. Er war ein großartiger Mann, hochintelligent und furchtlos, und er liebte sie wie die Luft zum Atmen. Einmal hatte er ihr geschworen, dass er – falls sie jemals auf eine solche Art und Weise getrennt werden sollten – sie so lange suchen würde, bis er sie gefunden hätte. Nichts könnte ihn davon abhalten. Sie hatte keine Ahnung, wann er in diesem abgelegenen russischen Herrenhaus auftauchen mochte, aber sie wusste, dass er längst auf dem Weg dorthin war.

In den meisten Nächten sendete sie ihre Nachricht bis schätzungsweise fünf Uhr morgens. Dann warf sie einen Blick in den Korridor, um sich zu vergewissern, dass der Morgen graute, schloss und verriegelte die Tür ihres Gefängnisses und legte sich schlafen. In dieser Woche hatte sie sich zu einem Nachtmenschen entwickelt und nutzte die langen Wartezeiten zwischen den Mahlzeiten, um zu schlafen, außer wenn sie ihre Trainingsübungen absolvierte, badete oder Sasha über die Welt außerhalb ihres Kerkers ausfragte.

Und dann geschah das, worauf sie so sehnsüchtig gewartet hatte. Remi klopfte wie üblich den Morsecode im Badezimmer auf das Wasserrohr, als sie spürte, dass sich etwas verändert hatte. Sie hielt sich schon derart lange in diesen begrenzten Räumlichkeiten auf, dass die Anwesenheit eines zweiten menschlichen Wesens sogar die physikalischen Gegebenheiten ihrer kleinen Welt beeinflusste – Luft, Geräusche, Resonanz der Mauern und des Fußbodens hatten eine andere Qualität, als er durch die Tür hereinkam.

Remi traute ihren Augen nicht. Sie sprang auf und fiel ihm um den Hals. Mehr als zehn Sekunden lang umarmte sie ihn, drückte ihn mit aller Kraft an sich, sagte nichts und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die vertrauten Konturen der kräftigen Schultern unter dem weiten Sakko vermittelten ihr die Sicherheit, auf die sie so lange hatte verzichten müssen. Sie schaute zu ihm hoch und fragte flüsternd: »Warum hast du dermaßen lange gebraucht – hat dir das Single-Dasein so gut gefallen?«

»Nein. Du hattest nur vergessen, mir Bescheid zu sagen, dass du wegwolltest.«

»Oh. Tut mir leid.«

»Können wir denn aufbrechen?«

»Gleich«, flüsterte sie, setzte sich auf das Bett und zog ihre Schuhe an. »Wir müssen diesen Weg nehmen und über die Hintertreppe in den zweiten Stock hinuntersteigen, vorbei an den Wohnräumen der Eigentümer und den Quartieren der Leibwächter. Danach benutzen wir die Haupttreppe ins Parterre. Dadurch kommen wir nicht in die Nähe der Küche, wo die Nachtwächter schon mal sitzen, wenn sie eine Pause machen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe mich mit jemandem angefreundet – mit einem Mädchen, das in der Küche arbeitet. Wie bist du eigentlich ins Haus gekommen?«

»Ich hab im zweiten Stock ein offenes Fenster gesehen. Es gehört zum Flur, wie ich dann feststellen konnte. Dort habe ich dein Signal gehört und dann die Hintertreppe benutzt.«

»Glück gehabt. Das war nämlich der einzige Weg, der frei war.« Sie erhob sich. »Ich bin so weit.« Sie öffnete die Tür und ging hinaus, wartete auf Sam und verriegelte die Tür hinter ihnen.

Dann führte sie ihn die Wendeltreppe hinab zwei Stockwerke tiefer. Dort schlichen sie durch den Flur zur breiten Haupttreppe. Remi blieb einen Moment lang stehen, vergewisserte sich, dass die beiden Wächter wie immer um diese Zeit in ihrem Zimmer schnarchten, und huschte weiter zur Treppe. Die Stufen waren mit Teppichboden belegt, so dass ihre Schritte gedämpft wurden. Sie gelangten ins Parterre mit seiner geräumigen Vorhalle, deren Marmorfußboden in der Mitte das Mosaik des Familienwappens der Vorbesitzer aufwies. Als sie die Vorhalle durchqueren wollten, erschienen plötzlich drei Männer aus einem dunklen Türdurchgang irgendwo neben der Treppe.

Ein Mann zog den Spannhebel seiner Škorpion-Maschinenpistole zurück, aber der Mann neben ihm legte eine Hand auf seine Schulter und sagte etwas auf Russisch zu ihm, woraufhin der Mann die Waffe sinken ließ. Sam sagte zu Remi: »Sie brauchen uns lebend, um an den Schatz zu kommen.«

»Bist du ganz sicher?«

Die drei rannten auf Sam und Remi zu, die sich trennten und ihnen auswichen. Sam schlug einen Haken, so dass der Schwung des Mannes ihn auf das Geländer zutaumeln ließ. Dann, als er an ihm vorbeikam, verpasste ihm Sam einen Schlag gegen den Kopf.

Remi wich zum offenen Kamin zurück, der die Vorhalle beherrschte. Während der dritte Mann angriff, schnappte sie sich den Schürhaken. Der Mann näherte sich ihr, doch sie wich keinen Deut zurück.

Das Grinsen des Mannes verriet Remi, dass er offenbar glaubte, leichtes Spiel mit ihr zu haben, weil sie eine Frau war.

Ein Fehler, wie er schnell feststellen sollte.

Remi führte mit dem Schürhaken einen Fechtstoß aus, der dreißig Zentimeter weiter ausfiel, als der Mann erwartet hatte, und ihn in die Magengrube traf. Während er nach vorn einknickte, holte Remi aus und schmetterte ihm den eisernen Stab auf den Schädel. Sie streifte ihn jedoch nur, und der Mann richtete sich auf und attackierte sie weiter, da er wusste, dass er sie im Zweikampf überwältigen konnte. Doch sie holte mit dem Schürhaken abermals aus, während sie einen Sidestep machte, traf seinen Hinterkopf und schickte ihn damit auf die Bretter.

Sie sah, dass sich die beiden anderen erholt hatten und Sam in die Zange nehmen wollten, also schob sie dem Mann, der ihr am nächsten war, den Schürhaken zwischen die Füße. Während er stolperte, zog sie den Haken zurück und dem Mann über den Kopf, so dass er vollends zu Boden ging. Der dritte Mann, der die Škorpion über der Schulter hängen hatte, machte Anstalten, sie auf Remi zu richten, doch Sam versetzte ihm einen Tritt seitlich gegen das Knie. Der plötzlich aufflammende Schmerz ließ den Mann einknicken, und Sam stürzte sich auf ihn, um ihm die Waffe zu entwinden.

Die Maschinenpistole ging los und jagte ungezielte Feuerstöße in den Fußboden, gegen die Wand am Ende der Halle und in die Treppe. Dann war das Magazin leer, und Sam setzte einen Fausthieb in das Gesicht des Mannes, so dass sein Kopf auf den Fußboden prallte und wie ein Ball wieder hochsprang. Er schnappte sich die Maschinenpistole, zog das Reservemagazin aus der Ledertasche am Gewehrriemen und setzte es ein, nachdem er das leere aus dem Schacht entfernt hatte.

Remi hatte die Halle mittlerweile zur Hälfte durchquert und befand sich dicht vor dem Esszimmer. Sie konnten beide das dumpfe Trommeln zahlreicher Füße hören, die die Treppen vom dritten und zweiten Stock herunterstürmten.

Sam holte seine Frau ein, und sie rannten durch den Speisesaal, an der langen Tafel vorbei und gelangten in die Küche. »Weißt du eigentlich, wohin wir wollen?«, fragte er.

»Wir müssen auf jeden Fall raus, aber noch ist das nicht möglich, weil sie uns dann abschießen können wie auf einem Schießstand.«

»Wir sollten zumindest irgendwie versuchen, halbwegs unbehelligt von hier wegzukommen.« Sam verriegelte die Tür des Esszimmers, eilte zur anderen Seite der Küche und schloss die Tür zur Hintertreppe ab, dann verriegelte er auch die Tür, die hinausführte. Sie konnten das Fußgetrampel der rennenden Männer draußen deutlich hören.

Sam trat zu dem großen Gasherd, der einem Restaurant Ehre gemacht hätte, und drehte die Brenner auf. Zu hören war nichts anderes als das wiederholte Klicken der elektrischen Anzünder, als sie einen Funken produzierten. »Sie haben das Gas abgesperrt«, stellte Sam fest. »Der elektrische Strom ist noch eingeschaltet, weil sie Licht brauchen, um uns einzufangen.«

Sam riss die Tür der Speisekammer auf, knipste die Beleuchtung an und warf einen Blick hinein. Dort stand ein Fass, etwa anderthalb Meter hoch und mit einem Durchmesser von etwa einem Meter. Er nahm den Deckel ab. »Mehl«, stellte er fest, kippte es ein wenig zur Seite und bugsierte es in die Mitte des Raums.

»Was hast du vor?«, fragte Remi.

»Ich brauche eine Sättigung von etwa achtzig Gramm Mehl pro Kubikmeter Luft«, sagte er. »Hilf mir.« Er kippte das Fass um und warf mit beiden Händen Mehl in die Luft. Remi folgte seinem Beispiel. Er eilte zum anderen Ende der Küche, wo ein großer Ventilator auf einem ein Meter fünfzig hohen Stativ stand. Den schaltete er ein und richtete ihn auf den Mehlhaufen auf dem Fußboden. Innerhalb weniger Sekunden wurde alles hochgewirbelt, verteilte sich in der Luft und füllte die Küche wie eine dichte Wolke. »Geh in die Speisekammer«, sagte Sam zu Remi, dann ergriff er zwei Bratpfannen von der Anrichte, kniete sich auf den Fußboden und schaufelte so schnell er konnte das Mehl in die Luft.

Er sah sich um, vergewisserte sich, dass sich alles zu seiner Zufriedenheit entwickelte, und kam dann eilig zu Remi in die Speisekammer. Er schloss die Tür, ging neben ihr in die Hocke und stopfte einige Geschirrtücher in den Türspalt am Fußboden. Dann legte er schützend einen Arm um Remi. »Eine Mehlbombe, Sam?«, fragte sie.

»Fast alles explodiert, wenn man es richtig präpariert«, sagte er. »Sobald genug Mehl herumfliegt, müssten es die elektrischen Gasanzünder zur Explosion bringen. Schließ die Augen und reiß den Mund auf. Und halt bloß den Kopf unten.«

Sie lagen still nebeneinander. In einem schrecklichen Moment erlosch das Licht in der Speisekammer. Der Ventilator lief nicht mehr, und das Klicken der Gasanzünder des Küchenherds verstummte. »Nun, das war’s«, sagte Sam enttäuscht.

»Was war was?«

»Sie haben den Strom abgeschaltet. Kein elektrischer Funke mehr.«

Eine doppelte Lärmwoge brandete von beiden Türen in die Küche, als Männer sie mit schweren Gegenständen, die sie als Rammböcke einsetzten, attackierten. Sam und Remi hörten draußen zahlreiche Schritte von Männern, die in den hinteren Teil des Hauses stürmten. Mit dem Verschlusshebel beförderte Sam die erste Patrone in die Kammer der Škorpion, die er dem Wächter abgenommen hatte. Er hielt sie nach oben, um den Knauf der Speisekammertür zu drehen und die Tür einen Spalt breit zu öffnen. Das Mehl schwebte in der absolut stillen Luft und war so dicht, dass auf der anderen Seite des Raums nichts zu erkennen war und das Atmen schwerfiel. Ein kurzer Blick genügte Sam, um zu erkennen, was gleich geschehen würde. Er zog die Tür zu, drückte Remi nach unten und deckte sie mit seinem eigenen Körper so gut es ging zu. »Kopf runter!«

Ein Küchenfenster zerschellte, die Glasscherben regneten auf den Boden, und eine Maschinenpistole sprühte Kugeln und Feuerzungen von brennendem Schießpulver in den Raum – und diese Funken reichten aus.

Das in der Luft schwebende Mehl explodierte in einem mächtigen Feuerblitz. Die Küchentüren wurden aus den Rahmen gesprengt, die eine ins Esszimmer und die andere auf die Hintertreppe. Dabei holten sie die sechs oder sieben Männer, die versucht hatten, die Türen aufzubrechen, von den Beinen. Die Männer im hinteren Teil der Küche traf es am schlimmsten, denn als die Explosion das Glas aus den Fenstern blies, löste sich auch ein Teil der Wand auf, die ebenfalls in Flammen stand. Die Teile der Küche, die erhalten geblieben waren, hatten allesamt Feuer gefangen.

Sam stemmte sich vom Fußboden hoch und warf die Speisekammertür von seinem Rücken ab. Remi kämpfte sich in eine sitzende Position. Sie waren beide weiß wie Gespenster, von Kopf bis Fuß mit Mehl bedeckt. Sam sah seine Frau fragend an. »Kannst du laufen?«

»Wenn es sein muss wie der Blitz.«

Sie ließen die Speisekammer hinter sich, rannten auf das Loch zu, wo kurz zuvor noch eine Mauer gewesen war, und standen plötzlich im Freien unter einem nächtlichen Himmel. Das Feuer breitete sich im Herrenhaus aus, und während sie sich von Remis Gefängnis entfernten, konnten sie hören, wie die elektrischen Rauchmelder reagierten und sich zu einem schrillen Chorgekreisch vereinigten. Sie spurteten durch den Garten und in die Dunkelheit, die sich dahinter ausbreitete und ihnen Schutz verhieß.

Remi ergriff Sams Hand. »Der Stall ist da drüben«, sagte sie, während sie auf ein langgestrecktes, niedriges Gebäude zusteuerten. Sam steigerte sein Tempo.

Hinter ihnen wurden verwundete Männer aus dem mit Rauch gefüllten Gebäude gezogen, viele von ihnen hustend und von fliegenden Türen und Fenstern übel zugerichtet.

Remi und Sam schlüpften in den Stall, wo sie in der Dunkelheit eine Reihe von zehn Boxen erkennen konnten, in denen Pferde standen. Der Lärm hatte die Tiere aufgeschreckt, daher warfen sie die Köpfe hoch und musterten die beiden Eindringlinge mit angstvoll geweiteten rollenden Augen. Am Ende der Boxenreihe trat ein Pferd mit den Hufen gegen die Tür seiner Box. Jeder Treffer hallte wie ein Schuss durch den Stall.

Remi ging an den Boxen entlang und redete beruhigend auf die Pferde ein. »Hallo, alter Junge. Du bist aber ein ganz toller Bursche. Und siehst richtig gut aus.« Sie tätschelte jedes Pferd und hatte für jedes Tier ein freundliches Kompliment. Die Tiere beruhigten sich tatsächlich nach und nach, aber draußen dauerte der Lärm an – laute Rufe, rennende Füße, Rauchalarme.

Sam hielt die Škorpion schussbereit in der Hand, als er durch die halboffene Tür spähte. »Sie schalten den Strom nicht ein.«

»Willst du es denn?«

»Eher nicht. Die Dunkelheit sollte uns helfen, den Stall durch den Hinterausgang zu verlassen und in die Felder zu verschwinden.«

»Noch mehr würde uns helfen, wenn du dein Pferd satteln würdest.«

»Pferd?«

»Wir können nicht vor ihnen weglaufen, wir haben keinen Wagen und können uns keinen organisieren, ohne beschossen zu werden. Aber ein Pferd kann sich durch Gelände bewegen, in dem es keine Straßen gibt. Sasha meinte, die Eisenbahngleise liegen in dieser Richtung und führen zu einem Bahnhof.« Sie legte dem Pferd einen englischen Sattel auf den Rücken und zurrte die Gurte fest. »Ganz ruhig, alter Junge. Dir passiert nichts.«

»Ich werde mir alle Mühe geben«, versprach Sam.

»Ich hatte zwar nicht mit dir gesprochen, aber du kannst auch ganz ruhig bleiben.«

Sam ging zur Stallwand, wo die Sättel und das Zaumzeug hingen, suchte einen Sattel, eine Decke, Gebiss und Zügel aus. Er näherte sich einem Pferd, es bäumte sich auf und trat gegen die Boxenwand.

»Nimm dies hier drüben«, sagte Remi. »Es macht einen guten Eindruck.«

Sam ging zur anderen Box und sagte: »Okay, du bildschönes Monster. Wir beide werden sicherlich die besten Freunde.« Er sattelte das Pferd und legte ihm die Zügel an. »Und jetzt werden wir vor tausend wilden Russen flüchten, ehe sie deinen neuen Freunden ein Haar krümmen.«

Sam und Remi führten die Pferde zum hinteren Ende des Stalles, weg vom Haus, vom Feuer und von der Unruhe. Remi ging mit ihrem Tier nach draußen, saß auf und wartete. Sam, ein weitaus weniger erfahrener Reiter, zog sich in den Sattel, dabei drehte sich sein Pferd auf der Stelle. Er brauchte beide Hände, um die Zügel festzuhalten und das Tier unter Kontrolle zu bekommen, daher warf er die Maschinenpistole ins Gras. »Ganz ruhig, Buddy, ich bin dein Freund, klar?« Das Pferd entschied sich offenbar in diesem Moment dafür, das Haus hinter sich zu lassen, und verfiel in einen leichten Trab.

Sie befanden sich auf einer weitläufigen Weide, auf der die Pferde zweifellos tagsüber herumtollen durften, aus diesem Grund hatte sich das Pferd offenbar beruhigt, weil es sich auf vertrautem Grund bewegte. Sam tätschelte ihm den Hals und redete mit ihm. Auf der Weide nebenan konnte Sam Stangen und Balken einiger Hürden erkennen, dabei hatte er das ungute Gefühl, dass sich seine Lage nicht unbedingt entscheidend gebessert hatte. Offenbar handelte es sich um Springpferde, und als Kind war Remi eine begeisterte Reiterin gewesen. Der Einzige auf der Weide, der nicht so recht wusste, was er tun sollte, war Sam.

Er hörte wieder laute Rufe, doch diesmal klangen sie, als näherten sie sich den Pferdeställen und der Weide. Mehrmals hörte Sam einen Schuss fallen und ein Sirren, wenn eine Kugel nicht weit entfernt vorbeiflog. Gleichzeitig ertönte gelegentlich das Knattern von Maschinengewehrfeuer. Er sah, wie Remis Pferd schneller wurde und auf den Zaun am Ende des Feldes zugaloppierte.

Remis Pferd setzte über die weißen Stangen. Sam bemerkte, dass die weiße Farbe der Zaunlatten das Licht des Feuers reflektierte, so dass dahinter alles nur noch schwarz aussah. Er konnte Remi und ihr Pferd nicht sehr gut erkennen. Sams Pferd folgte mit ihm im Sattel, und er versuchte dem Pferd den Eindruck zu vermitteln, dass er sicher auf seinem Rücken saß und eine Menge Erfahrung hatte. Zu seiner Überraschung rannte sein Pferd auf den Zaun zu und setzte hinüber. Als Sam sich in der Luft befand, hörte er Remi rufen: »Lehn dich nach vorn!« Also gehorchte er, und das Pferd landete zuerst mit den Vorderhufen, während Sam es tatsächlich schaffte, im Sattel zu bleiben.

Die Pferde galoppierten weiter, zwar nicht mehr so schnell wie zu Beginn, aber immer noch mit einer hohen Geschwindigkeit, die Sam gerade noch bewältigen konnte. Ihm kam das Feld wie ein grenzenloses Meer aus tiefer Schwärze vor. In der Ferne, ein wenig nach rechts versetzt, konnten Sam und Remi Lichter auf einer Straße ausmachen. Es war schwer zu erkennen, ob die gelegentlichen Scheinwerferstrahlen etwas mit ihnen zu tun hatten, aber die Straße kam keinen Deut näher, und die Scheinwerfer leuchteten nicht in ihre Richtung oder hielten an. Remi und Sam wurden langsamer, saßen schließlich ab und wanderten auf eigenen Füßen durch die Dunkelheit, um ihren Reittieren ein wenig Ruhe zu gönnen. Als Remi das Gefühl hatte, dass sich ihre Pferde ausreichend erholt hatten, schwang sie sich wieder in den Sattel und ritt mit mäßigem Tempo weiter. Sam saß ebenfalls auf und folgte ihr.

 

Sergei Poliakoff ging vor dem brennenden Herrenhaus auf und ab und hielt einen Abstand von zehn Metern zu den Flammen, die an den Mauern hochleckten und flackernd aus dem Dach schlugen. Die Rückseite seines Hauses schien von der Explosion regelrecht weggesprengt worden zu sein. Was dort explodiert war, konnte er nicht sagen. Seit das Feuer aufgeflammt war, hatte es noch einige Munitionskisten hochgehen lassen, aber das waren eher kurze knatternde Salven gewesen, wie er sie von Knallfröschen kannte. Vielleicht war das Gas nicht vollständig abgestellt worden. Er würde es wohl niemals erfahren.

Die Explosion war ein Skandal, eine Beleidigung, die so tief saß, dass er noch nicht wusste, wie er angemessen darauf reagieren sollte. Seine handverlesene, bestens ausgebildete, hoch bezahlte Mannschaft von Wächtern und Hausangestellten hatte gegen einen einzigen Mann, der zu Fuß erschienen war, um seine Frau zu holen, jämmerlich versagt.

Das Wort Ehefrau setzte eine ganz neue Gedankenkette in Gang. Seine Frau Irena und seine Kinder waren in Moskau und besuchten ihre Eltern. Darüber war er einigermaßen erleichtert. Aber in ein paar Tagen würde sie nach Hause kommen. Und dies – dieses hässliche, grässlich demolierte Gebäude – war das Zuhause.

Seine unfähigen Männer hatten mittlerweile Gruppen gebildet und damit begonnen, das Feuer mit Gartenschläuchen zu bekämpfen. Er sah ihnen zu, wie sie ausgebildete Soldaten imitierten, und fühlte sich durch ihre verspätet demonstrierte und nutzlose Disziplin und ihren Mangel an Professionalismus beleidigt.

Als Nächstes, zuerst nur schwach, dann lauter und lauter, hörte er das Heulen von Sirenen. Seine Männer sahen einander grinsend an, als sie begriffen, dass Hilfe im Anmarsch war, und setzten ihren Kampf mit den Gartenschläuchen fort. Poliakoff rannte quer über den Hof und umklammerte den Arm Kotlovs, der seine Leibwächter befehligte. »Hörst du diese Sirenen?«

»Ja. Sie werden das Feuer in wenigen Minuten löschen.«

»Nein, du Esel. Hast du vergessen, was im Keller gelagert ist? Befiehl deinen Männer, sie sollen sofort mit dem Wasser aufhören. Stattdessen sollen sie Benzin verschütten. Sie sollen die Zufahrt von der Schnellstraße hierher sperren, um die Feuerwehr aufzuhalten. Wir müssen Zeit gewinnen, damit das Haus ausbrennt, ehe die Feuerwehrleute und die Polizei die Drogen entdecken.«

Poliakoff stand allein am Rand, während seine Männer den Kampf gegen das Feuer abbrachen und losrannten, um Benzin aus den Tanks der Personenwagen und Lkws zu holen und die Flammen stärker anzufachen. Auch das war ein unerhörter Skandal. Diese Fargos hatten ihn tatsächlich gezwungen, sein eigenes Haus niederzubrennen. Wie unwürdig. Er hätte die Frau töten sollen, sobald sie sich in seiner Gewalt befand.

 

Kilometerweit entfernt in der Steppe sahen Sam und Remi Bahngleise auf der anderen Seite der Straße, die im Mondlicht funkelten. »Sasha hatte recht«, sagte Remi. »Da ist die Eisenbahnstrecke.«

»Ja«, bestätigte Sam. »Aber in welcher Richtung liegt der Bahnhof?«

»In beiden, du Dummkopf. Das ist so bei der Eisenbahn.«

»Ich meinte den nächsten Bahnhof. Aber ich vermute, das ist nicht so wichtig. Nach Nischni Nowgorod geht es in diese Richtung, also müssen wir in die andere.«

Als sie Anstalten machten, die Pferde über die Straße zu führen, sahen sie nach Stunden endlich die ersten Scheinwerfer. Der Wagen war noch weit entfernt und kam stetig näher. Sie konnten sofort erkennen, dass er keinem bekannten Fahrzeug glich. Er hatte drei Scheinwerfer – das übliche Paar und einen zwischen den beiden anderen genau in der Mitte der Kühlerhaube. Als der Wagen um die Kurve kam und an den Straßenrand lenkte, um sie zu passieren, bewegte sich der mittlere Scheinwerfer und leuchtete in die Fahrtrichtung des Wagens.

Der Wagen wurde langsamer und hielt vor Sam und Remi an. Er war bronzefarben, lang und niedrig, mit einer Karosserie, die zum Heck hin schmaler wurde und so stromlinienförmig war wie ein Raumschiff aus einem Science-fiction-Märchen. Das Fahrzeug glänzte, als sei es nagelneu, aber irgendwie wusste man bei seinem Anblick, dass es eine Antiquität war. Es handelte sich um eine futuristische Konstruktion aus ferner Vergangenheit.

Hinter dem Lenkrad des Wagens saß ein Mann mit weißem Haar und sorgfältig gestutztem, ebenfalls weißem Bart. Er trug ein farbenfrohes Hawaiihemd, das von dem gedämpften Licht des Armaturenbretts beleuchtet wurde. Sofort stieg er aus dem Wagen und kam zu Sam und Remi. Dabei konnten sie sehen, dass er ziemlich groß war und sich auffällig gerade hielt. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er höflich auf Russisch.

»Wir sind Amerikaner«, erwiderte Sam zögernd auf Englisch.

»Nehmen Sie es mir nicht übel«, meinte der Mann, nun ebenfalls auf Englisch, »aber Sie sehen aus, als könnten Sie eine helfende Hand brauchen.« Sam und Remi wurden daran erinnert, dass ihre Kleider und Gesichter mit Mehl und Ruß und Staub bedeckt waren und verschwitzt an ihnen klebten.

Die Beifahrertür wurde geöffnet, und eine hochgewachsene ausgesprochen schöne Frau mit platinblondem Haar, ebenso hell wie das Haar ihres Begleiters, stieg aus dem Wagen. »Wunderschöne Pferde«, staunte sie. »Woher haben Sie die?«

»Wir haben sie gestohlen«, sagte Remi. »Wir sind auf der Flucht vor einem russischen Gangster und seinen Männern. Sie hatten mich entführt.«

»Sie Ärmste«, sagte die Frau. »Wir bringen Sie beide von hier weg. Doch zuerst müssen wir für die Pferde sorgen.«

»Janet liebt Tiere«, erklärte der Mann. »Die Weide da drüben ist umzäunt, und ich sehe Wasser, von dem das Mondlicht reflektiert wird. Wir können sie dort laufen lassen.«

Der Mann half ihnen, die obersten beiden Zaunlatten zu entfernen. Sie führten die müden Pferde hinein und legten die Zaunlatten wieder zurück an Ort und Stelle. Dann nahmen sie den Pferden die Sättel und das Zaumzeug ab und hängten alles über den Zaun. Sam und Remi gaben den Pferden einen Klaps, umarmten sie, und Remi flüsterte kurz mit ihnen.

Dann kamen Sam und Remi zur Straße zurück, wo ihnen der Mann schon die Wagentür aufhielt, damit sie sich auf die Rückbank setzen konnten. Er selbst setzte sich wieder hinter das Lenkrad und startete den Wagen die Straße hinunter.

»Was für ein Wagen ist das?«, erkundigte sich Remi.

»Das ist ein Tucker«, antwortete der Mann mit sichtlicher Freude.

Der Frau drehte sich halb nach hinten um, zu ihren neuen Mitreisenden. »Er ist ein Autonarr.«

»Ja, das bin ich«, gab er bereitwillig zu. »Und wir reisen gern. Als ich erfuhr, dass dieser Wagen zum Verkauf stand, haben wir uns entschlossen, ihn persönlich abzuholen. Er passt perfekt in meine Sammlung.«

»Wie konnte sich ein Tucker 48 ausgerechnet nach Russland verirren?«, fragte Sam.

»Demnach kennen Sie das Modell.«

»Ich weiß nur, dass der Wagen nicht länger als ein Jahr lang gebaut wurde«, sagte Sam. »Ich habe noch nie zuvor einen mit eigenen Augen gesehen.«

»Tucker hat bloß einundfünfzig Stück produziert. Bis jetzt waren nur vierundvierzig übrig. Dies hier ist Nummer fünfundvierzig. Ein aufmerksamer russischer Regierungsvertreter erkannte im Jahr 1948, dass der Tucker etwas Besonderes war, und ließ ihn von jemandem in den USA für sich ersteigern. Ich glaube, er wollte ihn auseinandernehmen und kopieren, aber als der Wagen hier eintraf, hatte er Schwierigkeiten mit der Regierung bekommen und wurde nach Sibirien verbannt. In all den Jahren war der Wagen eingemottet und wartete auf seine große Stunde.«

»Wie kommen Sie nach Hause?«

»Per Eisenbahn nach Wladiwostok, per Schiff nach Los Angeles, und von da aus fahren wir selbst«, antwortete der Mann. »Sie sind herzlich eingeladen, uns so lange zu begleiten, wie Sie wollen.«

Remi nickte dankbar. »Wir fühlen uns geehrt und sind hocherfreut. Wir wollten ans östliche Ende von Kasachstan.«

»Ich weiß, dass das irgendwie seltsam klingt«, sagte Sam, »aber kommen wir Ihnen nicht irgendwie bekannt vor? Ich glaube, wir sind uns schon einmal in Afrika begegnet.«

Der Mann betrachtete die beiden eingehend in seinem Rückspiegel. »Nicht soweit ich mich erinnere. Viele Leute nehmen an, uns von irgendwoher zu kennen, aber ich glaube, das liegt nur an meinem Bart. Jeder kann sich einen Bart wachsen lassen.«

»Entspannen Sie sich und genießen Sie die Fahrt«, sagte die Frau. »Wenn Sie eine Kleinigkeit zu essen oder etwas zu trinken haben wollen, melden Sie sich bitte.«

»Vielen Dank, aber ich glaube, ich döse lieber ein wenig«, sagte Remi. »Das Morgengrauen ist neuerdings meine Zeit, um mich schlafen zu legen.«

Als die Sonne aufging, rollte der Tucker weiter in ihre Richtung, angetrieben von seinem umgewandelten Flugzeugmotor. Sam genoss das Gefühl, Remi wieder bei sich zu haben, während sie ihren Kopf gegen seine Brust lehnte und schlief. Nicht lange, und er würde ebenfalls einschlafen, aber jetzt noch nicht. Ein Moment wie dieser war viel zu wertvoll, um nicht ausgiebig ausgekostet zu werden.

Das fünfte Grab des Königs
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