13

In einem abgedunkelten Kontrollraum im obersten Stockwerk des höchsten fertiggestellten Bauwerks von Aqua-Terra blickte Martin Otero von einem Bildschirm zum anderen. Drei große Monitore standen vor ihm. Zwei waren erloschen, auf dem dritten war eine Bewegung zu erkennen, doch dann zerpixelte das Bild, und nach wenigen Sekunden war der Schirm genauso dunkel wie die beiden anderen.

»Was ist passiert?«

Otero ignorierte die Frage. Blake Matson, Marchettis Anwalt, beugte sich vor. »Was ist passiert? Hat es den alten Mann erwischt oder nicht?«

Otero deutete auf die leeren Bildschirme. »Sag du es mir. Offenbar kann ich doch nur das sehen, was du auch siehst. Also woher sollte ich es wissen?«

Während Matson auf die toten Monitore starrte, führte Otero einen Neustart durch, in der Hoffnung, irgendein Signal von den Arbeitsrobotern zu empfangen. Gleichzeitig begann auf dem schematischen Lageplan der Insel eine Warnleuchte zu blinken.

»Wasser im vorderen Labor«, sagte Otero. Plötzlich wurde ihm klar, was geschehen war. »Der Raum ist abgesoffen. Marchettis Panoramafenster muss geborsten sein.«

»Was bedeutet das für uns?«

Otero drehte sich auf seinem Sessel um und fühlte sich um einiges besser und zuversichtlicher. »Das bedeutet, dass wir Glück gehabt haben. Sie sind so gut wie tot. Und es sieht wie ein Arbeitsunfall aus.«

»So gut wie tot reicht nicht«, erklärte Matson. »Nur ganz sicher tot zählt. Wir brauchen ihre Leichen.«

»Sie befinden sich sieben Meter unter Wasser«, erklärte Otero. »Der Druck des hereinströmenden Wassers dürfte sie zerquetschen, und wenn das nicht ausreicht, werden sie bei dem Versuch, sich zu befreien, ganz sicher ertrinken.«

»Pass mal auf«, sagte Matson, »wir beide haben Millionen damit verdient, Jinn und seinen Leuten Marchettis Konstruktionspläne zukommen zu lassen. Wenn wir jetzt allerdings nicht sicherstellen, dass diese Störenfriede das Zeitliche gesegnet haben, werden wir nicht mehr lange genug leben, um diese Millionen auch auszugeben. Also schick ein paar weitere Roboter dorthin, damit sie ihre Leichen suchen und wie tote Fische aus dem Wasser ziehen.«

Otero wandte sich wieder zu seiner Tastatur um. Der Computer war inzwischen wieder hochgefahren. Er rief eine Liste der aktiven Roboter auf und blätterte bis zur Abteilung Hydro weiter. Dort klickte er auf den Abwärts-Pfeil, bis er zwei Unterwassermaschinen fand, die zurzeit in der Nähe von Marchettis Labor eingesetzt wurden.

»Welche Aufgabe haben sie?«

»Reinigungsdienst«, sagte Otero. »Sie kontrollieren den Rumpf und befreien ihn von Algen und Seepocken.«

»Sind sie tödlich?«

»Nur wenn du eine Seepocke bist«, erwiderte Otero. »Aber sie können uns einen Überblick liefern.«

Otero schaltete einen Reinigungsroboter auf manuelle Steuerung und lenkte ihn zu Abschnitt 171A: Marchettis Labor. Die Maschine war zwar nicht besonders schnell, aber sie brauchte auch nur eine kurze Strecke zu überwinden.

»Da ist das Aussichtsdeck«, sagte Otero, als die Maschine an einem langen rechteckigen Fenster entlangglitt. »Gleich müsste Marchettis Labor kommen.«

Sekunden später erschien das Äußere des Labors in der Mitte des Bildschirms.

Die Beschädigungen waren offensichtlich. Was früher wie ein palastähnliches Tor ausgesehen und oft prachtvoll geleuchtet hatte, machte jetzt eher den Eindruck einer dunklen Höhle. Das runde Fenster war zertrümmert. Ein paar Reste der dicken Acrylscheibe steckten noch im Rahmen – wie die zersplitterten Zähne im Mund eines Riesen. Kein Licht drang heraus.

»Schick ihn rein«, befahl Matson.

Das hatte Otero längst beabsichtigt, aber jetzt sprang ihm eine Bewegung auf der rechten Seite des Bildschirms ins Auge. Er drehte die Maschine in diese Richtung. Ihre Kamera fing eine Gruppe von Schwimmern ein, die zur Meeresoberfläche aufstiegen.

»Halt sie auf!«

Otero fuhr die Greifklauen des Reinigungsroboters aus und ließ ihn das letzte Paar nackter Füße verfolgen. Sie gehörten der Frau.

Und dann packte die Maschine die Füße der Frau. Ein Kampf begann. Die Kamera schwankte, Luftblasen stiegen auf, als die Frau ausatmete. Otero drückte den Joystick auf seiner Instrumententafel nach vorn, so dass der Reinigungsroboter in den Tauchmodus ging.

Die Maschine neigte sich abwärts, rührte sich aber nicht vom Fleck. Plötzlich erschien ein Gesicht auf dem Bildschirm. Silbergraues Haar bedeckte die Stirn. Die Maschine bewegte sich seitwärts. Aus dem Ohrhörer des Headsets drang ein gedämpftes Knacken, als ein Arbeitsarm abgebrochen wurde.

Der Bildschirm leerte sich. Die Frau konnte sich befreien, und dann erschien das Gesicht des Mannes wieder. Er hielt sich an dem Reinigungsroboter fest und schaute in die Kamera. Otero spürte die Drohung in diesem Blick durch das Wasser bis in den Kontrollraum. Der Mann deutete mit einem Finger auf die Kamera, auf Otero, dann vollführte er mit der Hand eine Geste, als würde er sich die Kehle durchschneiden, ehe er den Reinigungsroboter in einen Haufen nutzlosen Schrotts verwandelte und die Kamera zertrümmerte.

Die Botschaft war eindeutig. Die Männer von der NUMA waren hinter ihnen her, und es würde keine angenehme Begegnung werden.

Otero tippte auf ein paar Tasten und gab ENTER ein – er nahm Zuflucht zu einem letzten Trick, um sich den Rücken freizuhalten. Dann stand er auf und griff nach einem kleinen Aktenkoffer, der mit Bargeld gefüllt war. Sein letzter Lohn.

»Was tust du?«, fragte Matson.

»Ich verschwinde von hier«, antwortete Otero. »Du kannst ja bleiben, wenn du willst.«

Otero holte einen Revolver aus seiner Schreibtischschublade und eilte durch die Tür hinaus auf den Korridor. Sekunden später hörte er Matsons hastige Schritte, der es eilig hatte, ihm zu folgen.

Auf der Steuerbordseite von Aqua-Terra fand Kurt Austin eine Leiter, die am Rumpf hinaufführte. Er und Joe Zavala benutzten sie als Erste und gingen dann hinter einer kleinen Eiche auf einem Haufen Hackschnitzel in Deckung. Austin blickte über das Weizenfeld, während Leilani die letzten Leitersprossen überwand und sich neben sie kauerte. Sie wirkte erschöpft.

»Was nun?«, fragte Joe.

»Wir müssen sehen, wie wir am schnellsten zu diesem Kontrollzentrum kommen«, sagte Kurt und dachte, dass es ganz nett wäre, wenn ihnen der Mann, der die Insel entworfen hatte, dabei ein wenig helfen würde.

Er blickte über die Schulter. Tief unter ihm kletterte Marchetti im Schneckentempo die Leiter hinauf. Eine Sprosse, kurze Pause, dann die nächste Sprosse und wieder eine Pause. Dabei hustete er und spuckte Wasser.

»Nun kommen Sie schon, Marchetti«, feuerte ihn Kurt mit einem rauen Flüstern an, »wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Ich fürchte, ich schaffe es nicht weiter«, keuchte der Milliardär. »Hier ist es zu Ende, auf dieser Leiter. Sie sollten ohne mich weitermachen.«

»Das würde ich gerne«, murmelte Kurt, »aber dazu müssten Sie erst mal die Maschinen abschalten.«

»Richtig«, sagte Marchetti, als ob er es vergessen hätte. »Ich komme.«

Marchetti setzte sich wieder in Bewegung und kletterte weiter. Unterdessen beobachtete Kurt zwei Gestalten, die im zweiten Stock der Steuerbordpyramide erschienen und eine Treppe hinunterrannten. Er glaubte, in einer von ihnen Marchettis arroganten Berater zu erkennen. Der andere war ihm fremd.

»Wie sieht Otero aus?«, wollte er wissen.

Marchettis Kopf erschien am Ende der Leiter. »Mittelgroß«, sagte er, »dunkler Teint, kurz geschnittenes Haar auf einem sehr kleinen kugelrunden Kopf.«

Die Gestalten waren zwar zu weit entfernt, als dass Kurt sich hätte sicher sein können, aber die Beschreibung passte auf den Mann, den er entdeckt hatte. Kurz darauf sah er die beiden über eine der Straßen Aqua-Terras rennen. Ihr gelegentliches Umdrehen und Hinter-sich-Blicken reichte aus, um Kurt erkennen zu lassen, dass sie auf der Flucht waren.

»Kommt man irgendwie von diesem Schiff … äh … ich meine, von dieser Insel herunter?«, fragte Kurt.

»Mit dem Hubschrauber«, sagte Marchetti, »oder über den Jachthafen mit einem Boot oder Wasserflugzeug.«

Der Jachthafen. Wenn Kurt richtig vermutete, musste das ihr Ziel sein.

»Ich glaube, Otero und Ihr Anwalt sind dorthin unterwegs«, sagte er. »Leilani, helfen Sie Marchetti bei der Suche nach einem intakten Computerterminal, aber bringen Sie ihn dabei bloß nicht um. So unangenehm er auch sein mag, ich glaube, wir können ihm nicht mehr als ein paar Modesünden anhängen.«

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich tu ihm ganz bestimmt nichts. Versprochen.«

Kurt sah zu Joe hinüber. »Bist du bereit?«

Joe nickte, und im nächsten Moment starteten sie, rannten ins Weizenfeld und suchten sich einen Weg durch die mannshohen Getreideähren. Sie gelangten auf die andere Seite und durchquerten einen Park. Auf halbem Weg hörte Kurt, wie ein Motor gestartet wurde.

»Klingt das für dich wie ein Boot?«

»Eher wie ein luftgekühlter Lycoming-Motor«, sagte Joe. »Sie nehmen das Wasserflugzeug.«

»Dann sollten wir uns lieber beeilen.«

Während Kurt Austin und Joe Zavala die künstliche Insel überquerten, machten sich Leilani Tanner und Elwood Marchetti auf die Suche nach einem PC-Terminal. Dabei warfen sie auch einen gelegentlichen Blick in ein Versorgungsgebäude. In einem dieser Bauten versetzte ihnen der Anblick von fünfzig Robotern, die sich zum Aufladen ihrer Batterien eingestöpselt hatten, einen eisigen Schreck. Aber keine der Maschinen rührte sich.

Marchetti fand den Programmier-Terminal und loggte sich eilig ein.

»Tut mir leid, dass ich Ihnen Angst eingejagt habe«, sagte Leilani und hoffte, dass Marchetti durch dieses Geständnis in seinen Bemühungen beflügelt wurde.

»Mir auch«, sagte Marchetti, während er die Finger über die Tastatur fliegen ließ. »Aber ich kann Ihnen nicht übel nehmen, dass Sie wütend auf mich waren.«

Sie nickte.

»Ich bin drin«, meldete Marchetti dann. Für einen kurzen Moment schien er freudig erregt zu sein, doch dann hielt er inne, riss den Mund auf, als könnte er nicht fassen, was er da vor sich sah. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf einen bestimmten Punkt auf dem Bildschirm. »Otero«, murmelte er, »was haben Sie getan?«

Plötzlich starteten die Maschinen ringsum. Motoren summten, LEDs sprangen von Orange auf Grün um.

»Was ist da los?«, wollte Leilani wissen.

»Er hat den Zugriffscode geändert«, sagte Marchetti. »Als ich mich eingeloggt habe, hat das eine Reaktion ausgelöst. Er hat die Roboter in den Wächter-Modus versetzt.«

»Wächter-Modus? Was genau bedeutet das?«

»Sie werden nun auf der Insel jeden angreifen, der keine ID-Marke mit einem RFID-Chip bei sich hat. Das ist mein Schutz vor Piraten.«

»Wo ist Ihre Marke?«

»In einer Tasche meines Mantels«, sagte er, »den ich auf Kurts Befehl ausziehen und zurücklassen musste.«

Auf der anderen Seite der Insel gelangten Kurt und Joe, nachdem sie den Park verlassen hatten, zu einem zweiten Weizenfeld. Das Geräusch eines anderen startenden Motors erklang, und auf der rechten Seite – am Ende des Feldes – erwachte ein kleiner Mähdrescher. Er schwankte hin und her und kam dann mit rotierenden Sicheln auf die beiden Männer zu.

»Ein wenig zu früh im Jahr für die Ernte«, meinte Joe.

»Es sei denn, sie wollen uns niedermähen.«

Kurt steigerte das Tempo und bog auf der anderen Seite auf einen schmalen Weg ein, der zum Bootshafen führte. Während er mit Joe neben sich rannte, was seine Beine hergaben, entdeckte er weitere Maschinen, die es offenbar auf sie abgesehen hatten.

»So wie es aussieht, hat Marchetti die Neuprogrammierung noch nicht geschafft«, sagte Kurt.

»Hoffen wir nur, dass er sich an sein Passwort erinnert.«

Tempo und Beweglichkeit verschafften ihnen noch immer einen Vorteil, und nachdem sie dreißig Meter im Sprintschritt auf dem Weg zurückgelegt hatten und über eine Mauer gesprungen waren, blieben die Maschinen in sicherer Entfernung hinter ihnen zurück. Kurz darauf polterten Kurt und Joe die Treppe zum Jachthafen hinunter. Soeben glitt das Wasserflugzeug zwischen den Wellenbrechern aufs offene Meer hinaus.

Sie mussten sich beeilen.

Kurt entschied sich für das schnellste Boot, das er auf die Schnelle finden konnte: ein zwanzig Fuß langes Donzi. Er sprang hinein und ging zur Steuerkonsole, während Joe die Leinen löste. Kurt grinste triumphierend, als er auf den Starterknopf drückte und der V8-Inboardmotor blubbernd ansprang.

»Unsere mechanischen Freunde sind schon auf dem Kai«, meldete Joe.

»Kein Grund zur Sorge«, sagte Kurt und warf einen Blick auf den Roboterkonvoi, der auf sie zukam. Er schob den Gashebel nach vorn und kurbelte am Ruderrad.

Das Boot machte einen Satz vorwärts, beschrieb eine enge Kurve und durchquerte mit zunehmendem Tempo den Jachthafen. Sobald sie geradeaus fuhren, lenkte Kurt das Boot in Richtung der Lücke im Wellenbrecher. Das Wasserflugzeug hatte bereits das offene Meer erreicht.

Kurt hoffte, die beiden Männer noch einzuholen und ihre Maschine vielleicht zum Kentern zu bringen, aber dieser Plan hatte wenig Aussicht auf Erfolg.

Er deutete auf das Funkgerät neben dem Armaturenbrett. »Versuch, Nigel zu erreichen«, sagte er. »Er soll sofort starten. Ich will diese Kerle nicht verlieren.«

Joe schaltete das Funkgerät ein, suchte die richtige Frequenz und begann zu senden. »Nigel!«, rief er. »Hier ist Joe. Kommen!«

Nigels Stimme antwortete. »Hallo, Joe, was gibts?«

»Bringen Sie den Vogel in die Luft«, rief Joe. »Wir sind mit einem Boot hinter einem Wasserflugzeug her, dürften aber schon bald das Nachsehen haben.«

»Tut mir schrecklich leid«, erwiderte Nigel. »Ich wünschte, ich könnte helfen, aber ich habe den Motor auseinandergenommen.«

»Wie bitte?«, fragte Kurt, der mitgehört hatte.

»Warum?«, fragte Joe Zavala.

»Kurt meinte, ich solle es möglichst echt aussehen lassen. Die Verkleidung abzunehmen, ein paar Einzelteile auszubauen und ein ratloses Gesicht zu machen erschien mir am überzeugendsten.«

»So echt hätte er es wirklich nicht aussehen lassen müssen«, murmelte Kurt enttäuscht.

»So viel zu diesem Plan«, meinte Joe.

Alles, was sie jetzt noch versuchen konnten, war, das Flugzeug zu verfolgen und zu hoffen, dass sie es irgendwie beschädigen oder gar von den Schwimmern holen konnten, ohne dabei selbst auf der Strecke zu bleiben.

Das Donzi flitzte durch die Lücke im Wellenbrecher. Das Wasserflugzeug hatte einen Vorsprung von zweihundert Metern und schwenkte soeben windabwärts, um sich in Startposition zu begeben.

Kurt hatte den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn geschoben und schnitt dem Flugzeug den Weg ab. Der Pilot wich instinktiv aus, aber die Maschine behielt ihre aufrechte Position bei.

Kurt wendete über Backbord und kam zurück. Das Flugzeug beschleunigte jetzt. Kurt raste darauf zu und folgte ihm auf seiner Heckwelle.

»Komm schon«, sagte Kurt und kitzelte jedes Quäntchen Tempo aus dem Boot heraus.

Über die Wellen hinwegschießend, lenkte er nach links, überholte die Maschine und kreuzte abermals ihren Kurs.

Joe duckte sich und brüllte eine Warnung. Das Flugzeug hob vom Wasser ab. Sein Propeller raste vorbei, und die Ruder an den Schwimmern touchierten das Boot, während das Flugzeug über die Männer hinwegsprang und wieder im Wasser aufsetzte.

Kurt schaute hoch. »Wie schön, dass niemand einen Kopf kürzer gemacht wurde.«

»Das sollten wir kein zweites Mal riskieren«, sagte Joe. »Ich habe keine Lust, am eigenen Leib zu erfahren, wie sich eine Margarita im Mixer fühlt.«

Eigentlich hatte Kurt erwartet, dass die Maschine wendete und nicht über sie hinwegsprang. Aber dieser Versuch hatte ihnen immerhin genützt. Die Maschine war schief gelandet, und der Pilot musste abbremsen, um sie zu stabilisieren. Als das Flugzeug wieder beschleunigte, bewegte es sich in die falsche Richtung.

»Sie sind auf Windabwärtskurs«, sagte Joe. »Mit dem Wind im Rücken ist ein Start um einiges schwieriger als gegen den Wind.«

»Schwieriger schon, aber nicht unmöglich«, erwiderte Kurt. Er lenkte das Motorboot mit sparsamen Ruderbewegungen, setzte sich hinter das Flugzeug, glitt über die Heckwelle und rammte einen der Schwimmer. Das Flugzeug vollführte eine Taumelbewegung, während sich der Pilot bemühte, es unter Kontrolle zu halten. Aber dann war es schnell wieder auf Kurs.

»Achtung!«, rief Joe.

Eine Geschosssalve stanzte eine Kette von Löchern in den Bug ihres Bootes, als einer der Flüchtigen das Magazin einer Maschinenpistole in ihre Richtung entleerte. Kurt und Joe sahen sich gezwungen abzudrehen, und das Flugzeug wurde langsamer, wendete und setzte erneut zum Start gegen den Wind an.

Im Versorgungsbau starrte Leilani auf die Roboterarmee und musste zu ihrem Schrecken erleben, wie sie sich geschlossen in Bewegung setzte. Drei dieser Maschinen hatten im Unterwasserlabor schon ausgereicht, um ihr einen heillosen Schrecken einzujagen, aber gleich fünfzig auf sich zukommen zu sehen war ein absoluter Alptraum. Wut loderte in ihr hoch sowie der Gedanke, dass ihr gerade Schlimmeres drohte, als sie sich jemals ausgemalt hatte.

»Tun Sie etwas!«, schrie sie Marchetti an.

»Ich gebe mir alle Mühe«, erwiderte er. »Ein trickreicher Bursche, dieser Otero. Wenn ich gewusst hätte, dass er derart clever ist, hätte ich ihn noch besser entlohnt.«

Auf der Suche nach Hilfe sah sich Leilani gehetzt um. Alles, was sie sah, waren die Maschinen und eine Reihe Kleiderspinde.

»Was ist in diesen Spinden?«

»Arbeitsmonturen.«

»Mit ID-Marken?«

»Ja«, sagte Marchetti aufgeregt. »Genau! Los, gehen Sie schon hin!«

Leilani rannte durch den Saal, duckte sich unter dem herumschwingenden Arm eines Roboters weg und krachte gegen die Spinde wie ein Baseballspieler beim Stehlen einer Base. Sie sprang wieder auf, riss eine Spindtür auf und angelte die darin hängende Arbeitsmontur heraus. Eine weiße ID-Marke war daran befestigt. Sie umschloss sie mit der Hand und drückte sie an ihre Brust.

Die heranschnurrenden Maschinen stoppten sofort, wandten sich von ihr ab und nahmen jetzt Marchetti aufs Korn, der erfolglos auf seine Tastatur einhämmerte.

»Ich kann den Code nicht entschlüsseln!«, rief er. Die Maschinen hatten ihn mittlerweile erreicht. Eine von ihnen schlug ihn zu Boden. Eine zweite wollte ihn mit der rotierenden Kreuzschlitzklinge eines Elektroschraubers attackieren.

Leilani rannte durch den Saal, drängte sich durch die Reihen der Roboter und warf sich auf Marchetti. Sie umarmte ihn und hoffte, dass die Roboter die Wärmequellen ihrer Körper als eine Person identifizierten und gleichzeitig die ID-Marke lasen.

Der Elektroschrauber summte und erhöhte die Drehzahl. Leilani drückte Marchetti an sich und schloss die Augen.

Plötzlich ließ das Geräusch nach. Der Schrauber stoppte und wurde zurückgezogen. Der andere Roboter ließ Marchetti los, dann trat die kleine Roboterarmee den Rückzug an und hielt nach einem anderen Opfer Ausschau.

Leilani sah den Maschinen nach und blieb mit Marchetti liegen.

Während die Maschinen das Gebäude verließen, schaute sie auf den Milliardär hinab, die Augen kalt und hart. Sie wollte, dass er etwas ganz Bestimmtes begriff.

»Sie sind mir etwas schuldig«, sagte sie.

Er nickte, und sie entließ ihn aus ihrer Umarmung. Keiner von beiden wagte es, die Tür auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Eine halbe Meile von der schwimmenden Insel entfernt wurden Kurt und Joe aus dem Flugzeug beschossen und gezwungen, sich zurückfallen zu lassen. Die Maschine schwenkte herum, ging wieder auf windabwärts gerichteten Kurs und nahm Fahrt auf. Kurt manövrierte das Boot sofort wieder dahinter.

»Jetzt oder nie, Joe.«

»Ich habe eine Idee«, meinte Joe. Er kletterte nach vorn auf den Bug und hob den Anker hoch.

»Ein Freund in Colorado hat mir mal beigebracht, wie man ein Lasso wirft«, rief er. Er begann den zwanzig Pfund schweren Anker kreisen zu lassen.

Kurt erriet seine Absicht und gab ein letztes Mal Vollgas. Der Abstand zum Flugzeug verringerte sich. Der Beschuss setzte wieder ein, aber Kurt lenkte das Boot auf die Seite des Piloten und brachte es fast bis auf Tuchfühlung an das Wasserflugzeug heran.

Nun vollführte Joe eine Drehung und ließ den Anker dann wie ein Hammerwerfer im gleichen Moment los, als die Maschine von der Wasserfläche abhob. Der Anker flog durch die Luft, wickelte sich um die Schwimmerverstrebungen, und das Ankerseil spannte sich.

Die Nase des Flugzeugs zeigte in den Himmel und hievte das vordere Ende des Motorboots aus dem Wasser. Aber das Gewicht des Bootes und der Zug am Seil waren zu groß. Die linke Tragfläche kippte ab, berührte das Wasser, und das Flugzeug machte einen Salto. Trümmer flogen in alle Richtungen.

Das Motorboot wurde zur Seite gezerrt, die Ankerklampe aus dem Bootsdeck gerissen, aber Kurt schaffte es, ein Kentern zu vermeiden. Er schwenkte nach Backbord, nahm Gas zurück und wendete, um das Massaker begutachten zu können, das sich hinter ihnen ereignete.

Das Wasserflugzeug war zur Ruhe gekommen. Es hatte einen Schwimmer eingebüßt, die Tragflächen waren verbogen und abgeknickt, und ein Teil des Hecks war abgebrochen. Der Rumpf füllte sich mit Meerwasser, so dass es aussah, als würde es jeden Moment versinken.

»Treffer!«, rief Joe Zavala siegestrunken aus.

»Wir müssen dich unbedingt beim nächsten Rodeo anmelden«, sagte Kurt und lenkte das Boot zu dem zertrümmerten Flugzeug zurück.

Er brachte es längsseits. Das Flugzeug sank schnell, während die beiden Insassen verzweifelt versuchten, ins Freie zu gelangen. Matson schaffte es als Erster und klammerte sich kurz darauf an den Rand des Motorbootes. Otero folgte wenig später seinem Beispiel.

Sie machten Anstalten, an Bord zu klettern, aber jedes Mal, wenn sie es versuchten, gab Kurt Gas.

»Bitte«, jammerte Otero, »ich kann nicht schwimmen.«

»Vielleicht sollten Sie dann lieber nicht auf einer schwimmenden Insel wohnen«, sagte Kurt, gab abermals Gas, bis sie sich nicht mehr festhalten konnten und zu versinken drohten. Sie paddelten mit hektischen Schwimmbewegungen zum Boot zurück und streckten die Hände wieder nach der Reling aus.

Kurt schüttelte sie abermals ab.

»Das Ganze war seine Idee«, rief Otero und versuchte sich mit den Beinen strampelnd über Wasser zu halten.

»Was meinen Sie?«, fragte Kurt.

»Die Mikroroboter zu stehlen«, sagte Otero.

»Halt die Klappe«, schnappte Matson.

»Wem haben Sie sie weitergegeben?«, fragte Joe.

Das schiffbrüchige Duo hielt sich am Boot fest, und Otero sagte keinen Piep mehr.

»Mr. Austin«, sagte Joe, »ich glaube, wir haben strenge Regeln, was den Umgang mit blinden Passagieren und unerwünschten Bootsgästen betrifft.«

Kurt nickte grinsend. »Die haben wir, Mr. Zavala. Die haben wir.«

Diesmal gab er ein wenig mehr Gas. Die beiden Bruchpiloten bemühten sich, nicht den Kontakt zu ihrer behelfsmäßigen Rettungsinsel zu verlieren, mussten jedoch schon bald kapitulieren und loslassen. Diesmal entfernte sich Kurt um einiges weiter von ihnen.

»Warten Sie!«, rief Otero und ruderte wild mit den Armen. »Ich sag es Ihnen!«

Kurt legte eine Hand hinters Ohr. »Aber bitte noch, bevor wir zu weit weg sind«, rief er zurück.

»Sein Name ist Jinn«, sprudelte Otero hervor. »Jinn al-Khalif.«

Kurt nahm Gas zurück, und der Bug des Bootes sank auf die Wellen.

»Und wo finde ich diesen Jinn?«, rief er.

Otero sah Matson an, der heftig den Kopf schüttelte.

»Er lebt im Jemen«, platzte Otero heraus. »Das ist alles, was ich weiß.«