SONNTAG
Das letzte Mal habe ich um 5:35 Uhr auf mein Handy geschaut. Jetzt ist es 6:40 Uhr. Ich habe nicht geschlafen in dieser Nacht. Fast nicht. Ich war in Gedanken bei meiner Mutter, habe mir vorgestellt, wie sie im Krankenhaus liegt, an Überwachungsgeräte angeschlossen. Wie sie da liegt und vielleicht nicht versteht, warum sie da liegt. Weil ihr Gehirn nicht mehr richtig funktioniert. Weil sie hilflos ist, so hilflos wie ein Kind, wie mein Sohn, wenn er dort liegen würde.
Mein Mann schläft noch. Leise stehe ich auf. Mein Sohn schläft auch noch. Nach einer schnellen Dusche ziehe ich mich an und gehe in die Küche. Während die Kaffeemaschine heiß wird, wähle ich die Nummer des Krankenhauses.
»Ihre Mutter ist wach«, sagt die Schwester. Sie kann ihr das Telefon bringen, wenn ich das möchte. »Ja, bitte«, sage ich. Und dann höre ich die Stimme meiner Mutter. »Ja?«, sagt sie. »Mama«, sage ich und versuche, meine Tränen zu unterdrücken. »Was machst du denn für Sachen? Ich komme jetzt gleich zu dir, und dann wird alles gut«, sage ich. »Ja«, sagt meine Mutter. Dann ist wieder die Schwester am Apparat. »Das Sprechen fällt ihr noch ein bisschen schwer. Kommen Sie heute vorbei?« Ich sage, dass ich in spätestens einer Stunde im Krankenhaus bin. Die Schwester nennt mir die Zimmernummer und meint, meine Mutter würde sich sicher über ein eigenes Nachthemd freuen.
Mein Mann kommt in die Küche und wünscht mir einen guten Morgen. Er gießt uns beiden Kaffee ein. »Willst du schon los?« »Ja, bald«, sage ich, und dass ich noch ein Nachthemd und vielleicht Hausschuhe und Unterwäsche aus der Wohnung meiner Mutter holen und mitnehmen will. »Bring ihr doch ein Foto mit, von dir und dem Kleinen«, sagt mein Mann. »Gute Idee«, sage ich. Er geht ins Wohnzimmer und nimmt ein gerahmtes Bild von der Wand: Meine Mutter, mein Sohn und ich beim Eisessen. Mein Mann hat uns an Ostern fotografiert, als wir Ferien in Südtirol gemacht haben. Ich stecke das Bild in meine Tasche. Mein Mann schneidet einen Apfel auf und reicht mir ein Stück. »Iss was«, sagt er. Ich nicke.
Unser verschlafenes Kind kommt aus dem Kinderzimmer, den Plüschhasen im Arm. »Der Hase will einen warmen Kakao«, sagt der Kleine. Ich nehme ihn in den Arm. Mein Mann gießt Milch in einen Topf und bereitet die heiße Schokolade zu. »Ich muss gleich zur Oma«, sage ich zu unserem Sohn. »Sie ist leider krank geworden.« Er fragt, ob die Oma ein Pflaster braucht. Und ob ich pusten muss. Ich nicke und merke, dass ich wieder anfange zu weinen. Ich wende mein Gesicht ab und versuche, ruhig zu bleiben. Nicht mehr weinen, denke ich und beiße die Zähne zusammen. Der Kleine trinkt einen Schluck Kakao. Dann setzt er die Tasse ab und geht ins Kinderzimmer. Mit einer Zange kommt er wieder in die Küche. »Nimm die doch mit«, sagt er, »dann kannst du die Oma reparieren.« Ich stecke die Zange in meine Tasche und verabschiede mich von Mann und Kind.
Ich hole das Auto aus der Tiefgarage und fahre zur Wohnung meiner Mutter. Die Straßen sind leer, die meisten Ampeln ausgeschaltet oder grün. Ich packe drei Nachthemden und Unterwäsche, Zahnbürste, Zahnpasta, Gesichtscreme und Haarbürste und ihre Hausschuhe in die kleine Reisetasche, die in der Diele steht.
Als ich an der Küche vorbeigehe, sehe ich, dass am Kühlschrank ein Zettel hängt: Donnerstag um 4, steht darauf, darunter der Name meines Sohnes. Ich kämpfe mit den Tränen und schäme mich, dass ich vor ein paar Tagen so ungeduldig war mit ihr. Ich atme tief durch. Dabei fällt mir auf, wie sehr es in der Wohnung nach meiner Mutter, nein, eigentlich nach meinen Eltern riecht: Nach Lavendel, den meine Mutter so liebt, überall hat sie selbst genähte Duftkissen mit getrockneten Lavendelblüten versteckt. Und nach Pfeifentabak – auch wenn mein Vater schon über ein Jahr tot ist und in den letzten Monaten nicht mehr geraucht hat, ist der Duft nach Vanille immer noch zu riechen.
Ich ziehe die Wohnungstür leise hinter mir zu und sperre ab. Die Tür der Nachbarwohnung öffnet sich. »Ach, Sie sind es«, sagt die Nachbarin. »Guten Morgen.« Sie fragt, ob ich etwas Neues weiß von meiner Mutter. Ich sage ihr, dass ich auf dem Weg ins Krankenhaus bin. Und ein bisschen Wäsche geholt habe für meine Mutter. Die Nachbarin nickt. »Möchten Sie einen Kaffee mittrinken?« Ich lehne ab, bedanke mich und verspreche, am Abend noch mal anzurufen, um zu berichten, wie es meiner Mutter geht.
Wieder im Auto schalte ich das Radio an und fahre los. Das Krankenhaus ist in der Nähe der Wohnung meiner Mutter. Ich stelle das Auto auf dem Besucherparkplatz ab und gehe durch den Haupteingang. Am Empfang frage ich nach Station 3a. Ich gehe durch einen langen Gang und fahre mit dem Aufzug in den dritten Stock zur Stroke Unit. Die Tür zur Station ist verschlossen, ich muss klingeln. Eine Schwester öffnet mir. Ich sage meinen Namen und dass ich meine Mutter besuchen möchte. Die Schwester zeigt auf eine Tür. »Handy bitte aus«, sagt sie, »die Geräte hier sind sehr empfindlich.«
Meine Mutter liegt in einem Bett am Fenster. Sie hat die Augen geschlossen. Das Bett neben ihr ist leer. Ich bleibe in der Tür stehen und schaue sie an. Und schlucke Tränen herunter. Sie ist verkabelt: Ein Schlauch mündet in ihren linken Handrücken. Der Inhalt von zwei Flaschen läuft langsam über den Schlauch in ihre Hand. In der großen ist sicher Kochsalzlösung, in der kleinen wahrscheinlich ein Medikament. Blutverdünner, hat die Nachtschwester gestern Abend gesagt. An der Kuppe ihres linken Zeigefingers steckt ein Clip, mit dem die Sauerstoffsättigung und der Puls gemessen werden, Kabel ragen aus ihrem Nachthemd heraus, offensichtlich wird ein EKG abgeleitet, mittels einer Manschette am Oberarm wird der Blutdruck kontrolliert.
Leise trete ich ein und setze mich auf einen Stuhl, der neben dem Bett steht. Ich nehme ihre rechte Hand, die neben der Bettdecke liegt. Meine Mutter reagiert nicht darauf, ihre Hand liegt ganz ruhig in meiner. Nach einer Weile erst öffnet sie die Augen und dreht den Kopf zu mir. Sie lächelt – ihr Lächeln ist schief, der rechte Mundwinkel lächelt nicht mit.
»Herzchen«, sagt sie. Ich bin froh, dass sie mich erkennt. »Ja, Mama, ich bin da.« Ich streichle ihre Hand und sage erst mal nichts. Dann hole ich das gerahmte Foto aus meiner Tasche. »Schau, was ich dir mitgebracht habe«, sage ich und zeige ihr das Bild vom Eisessen. Sie sieht es sich an, betrachtet es einige Zeit und sagt dann: »Das ist aber länger her, der Kleine ist ja schon viel größer.« Ich nicke. Das Foto wurde an Ostern, also erst vor ein paar Wochen gemacht. Ich stelle das Bild auf das Fensterbrett, sodass sie es sehen kann. Dann nehme ich ihre Hand und spüre wieder keine Reaktion. Ihre Finger umfassen meine nicht.
Eine Schwester kommt ins Zimmer und nimmt die Reste des Frühstücks mit. Meine Mutter hat nur von der trockenen Semmel gegessen, Marmelade und Butter sind unberührt. Die Semmel sieht aus, als wäre sie von Mäusen bearbeitet worden. Zuerst wundert mich das. Ich kenne meine Mutter als Meisterin der Tischsitten. Doch dann verstehe ich. An der linken Hand Schläuche und Instrumente, die rechte Hand gelähmt. Wie ungenehm muss es meiner Mutter sein, schon an der Hürde Frühstück beinahe zu scheitern.
Die Schwester kommt wieder herein. Sie bittet mich, kurz rauszugehen, da sie Blut abnehmen möchte. Und den Katheter wechseln. »Ich warte draußen«, sage ich zu ihr und zu meiner Mutter. Ich gehe vor der Tür auf und ab, bis die Schwester rausschaut. »Wollen Sie ihr beim Waschen helfen?«, fragt sie. »Ja, gerne«, sage ich. Meine Mutter liegt im Bett. Sie ist abgedeckt. Auf dem Nachttisch steht eine Schüssel mit Seifenwasser. Die Schwester zeigt auf Waschlappen und Handtuch und drückt mir ein frisches Krankenhausnachthemd in die Hand. »Ich habe ihr ein eigenes Nachthemd mitgebracht«, sage ich zur Schwester. »Gut – aber passen Sie mit den Schläuchen und den Kabeln auf«, sagt die Schwester und geht aus dem Zimmer.
Ich habe meine Mutter noch nie gewaschen. Ich habe sie auch noch nie angezogen. Das sage ich ihr. Und auch, dass ich mich daran erinnern kann, wie sie mich angezogen hat, als ich klein war. Und wie sie mir abends im Bett die Zähne geputzt hat, wenn ich nicht schlafen konnte und noch ein Glas Milch verlangt habe. Ich wasche sie, trockne sie ab. Dann helfe ich ihr, das weiße Krankenhausnachthemd auszuziehen und ihr eigenes anzuziehen. Ich hole auch eine frische Unterhose aus ihrer Tasche.
Ich bemerke die Folgen des Schlaganfalls: Meine Mutter kann beide Beine bewegen, aber der rechte Arm und die rechte Hand funktionieren nicht so recht. Ich decke sie zu und reiche ihr die Zahnbürste. »Kannst du das machen?«, bittet sie. »Klar.« Es ist ähnlich wie mit meinem Sohn, dem ich beim Zähneputzen auch oft helfen muss, vor allem, wenn er abends müde ist und nicht mehr allein putzen mag. Ich hole die Haarbürste aus der Tasche und kämme meine Mutter vorsichtig. »Creme?«, frage ich. Sie nickt. Ich creme ihr Gesicht ein. Dann nehme ich meinen Taschenspiegel und zeige ihr ihr Spiegelbild. »Siehst gut aus«, sage ich. Und es ist nicht mal gelogen. Im eigenen Nachthemd sieht sie deutlich besser aus als in dem weißen Krankenhausgewand, das am Rücken mit Bändern zugeknotet werden muss.
Die Tür geht auf. Visite. Die Stationsärztin, zwei Schwestern und zwei junge Männer in Weiß treten ein. »Guten Morgen«, sagt die Stationsärztin. Meine Mutter schweigt und schaut aus dem Fenster. Ich wünsche auch einen guten Morgen, stelle mich kurz vor und frage, ob ich während der Visite im Zimmer bleiben kann. Die Stationsärztin ist einverstanden und stellt die Männer vor: Medizinstudenten, die gerade ein Praktikum im Krankenhaus machen.
Die Stationsärztin sieht die Akte durch und nimmt eine kleine Lampe aus ihrer Tasche. »Schauen Sie mal in das Licht«, sagt sie. Sie leuchtet in die Augen meiner Mutter. Meine Mutter folgt den Bewegungen der Lampe. Dann fragt die Ärztin, ob meine Mutter weiß, welcher Tag heute ist. Meine Mutter nickt. »Samstag«, sagt sie. »Nicht ganz«, sagt die Stationsärztin. »Heute ist Sonntag.« Sie zeigt auf mich. »Wissen Sie, wer das ist?« Meine Mutter nickt wieder. »Meine Tochter.«
Die Stationsärztin steht auf und verabschiedet sich. »Ich komme gleich wieder«, sage ich zu meiner Mutter und gehe mit Ärztin, Schwestern und Famulanten aus dem Zimmer. Ich bitte die Stationsärztin um ein kurzes Gespräch. Sie bleibt im Gang stehen und nimmt noch einmal die Akte meiner Mutter zur Hand. »Geht in fünf Minuten weiter«, sagt sie zu den Schwestern, die darauf im Schwesternzimmer verschwinden. Die Praktikanten bleiben bei uns.
»Ihre Mutter hat Glück gehabt, dass sie so schnell zu uns gekommen ist«, sagt die Stationsärztin. »Bei einem Schlaganfall geht es um Minuten – wenn wir innerhalb von vier Stunden therapieren können, sind die Chancen auf Heilung gut.« Sie zeigt mir das Kernspinbild von Freitagnacht und weist mich auf eine dunkle Fläche hin. Außerdem sehe ich einige kleine weiße Flächen. Dann zeigt sie mir das Kernspinbild von Samstagmorgen, auf dem die dunkle Fläche verschwunden ist. Die weißen Flächen sind aber immer noch da. »Auf dem MRT haben wir das Blutgerinnsel deutlich gesehen, das den Schlaganfall verursacht hat. Außerdem zeigte die Patientin eindeutige Symptome: Beeinträchtigung der Sehfunktion, des Sprachapparates, einseitige Lähmungen. Durch gezielte Medikamentierung hat sich das Gerinnsel aufgelöst.«
Ich frage, ob die Lähmung und die Verwirrtheit auch wieder verschwinden. Die Ärztin will sich nicht festlegen. Für den kommenden Tag sind weitere Untersuchungen angesetzt, außerdem wird mit Physiotherapie und Logopädie begonnen. »Ein Schlaganfall ist oft ein Schuss vor den Bug«, sagt die Ärztin. »Zum Glück ist Ihre Mutter nicht übergewichtig und auch sonst bei ganz passabler Gesundheit.« Sie weist mich darauf hin, dass ein Patient nach einem Schlaganfall nicht allein gelassen werden sollte; dass neben dem medizinischen Personal die Angehörigen ganz wichtig sind. Ich sage, dass mein Vater tot ist, dass meine Mutter nur noch mich hat. »Sprechen Sie doch morgen nach der Visite mit dem Oberarzt«, sagt die Ärztin. Außerdem empfiehlt sie mir die Schlaganfallinfostelle im Krankenhaus, die unter der Woche vormittags besetzt ist. Dann verabschiedet sie sich und geht, begleitet von den Studenten, weiter.
Ich bleibe stehen, fühle mich überfordert. Ich bin nicht sicher, ob ich alles verstanden habe. Und bemerke, dass ich ganz viele Fragen nicht gestellt habe: Warum ist das passiert? Passiert das wieder? Wie lange muss meine Mutter im Krankenhaus bleiben? Muss sie eine Reha machen? Wird sie wieder gesund?
Ich gehe zurück zu meiner Mutter. Sie ist eingeschlafen. Vorsichtig setze ich mich neben sie und nehme ihre rechte, gelähmte Hand. Tränen laufen mir über die Wangen, aber ich kann das Weinen kontrollieren und bleibe ganz leise. Ich suche in meiner Tasche nach einem Taschentuch und finde die Spielzeugzange, die mir mein Sohn mitgegeben hat.
Nach einer Weile gehe ich aus dem Zimmer und schalte im Treppenhaus mein Handy an. Es ist 9:30 Uhr. Ich rufe meinen Mann an, erzähle von dem Gespräch mit der Ärztin und dass meine Mutter jetzt schläft. Dass ich sie gewaschen und angezogen habe. Wieder laufen mir Tränen über die Wangen, diesmal muss ich auch schluchzen. Ich beende das Telefonat schnell, weil ich es so furchtbar finde. Und zwar alles – am Telefon weinen, im Krankenhaus sein, dass meine Mutter verkabelt ist und nicht mehr weiß, was wir an Ostern gemacht haben. Einige Minuten später habe ich mich beruhigt und rufe meinen Mann noch mal an. Er sagt, ich soll mir so viel Zeit lassen, wie ich brauche, im Krankenhaus. Er sagt, dass ich mittags in der Krankenhauscafeteria etwas essen kann. Und dass er jetzt mit unserem Sohn an den Fluss will.
Nach diesem Telefonat fühle ich mich besser. Ich schalte das Handy aus und gehe zurück ins Zimmer meiner Mutter. Sie schläft immer noch. Ich setze mich auf den Stuhl neben ihrem Bett und betrachte sie. Es ist erstaunlich, wie vertraut und auch fremd sie mir gleichzeitig ist.
Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter in meiner Kindheit jemals krank war. Nicht mal einen Schnupfen hatte sie – anders als mein Vater, der manchmal mit böser Migräne aus dem Büro heimkam und den Feierabend im abgedunkelten Zimmer verbringen musste. Meine Mutter ist immer stark gewesen, mit geradem Rücken und kräftigen Armen. Sie hat immer gewusst, was zu tun ist und wo etwas anzupacken ist – zumindest in meiner kindlichen Wahrnehmung. Ich habe sie auch nie traurig gesehen oder mit Tränen in den Augen.
Als ich mit meinem Sohn schwanger war, hat sich das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir verändert. Sie hat sich mir mehr geöffnet, mich ins Vertrauen gezogen. Mir etwa von einem Schwangerschaftsabbruch erzählt, für den sie sich entschieden hatte, als ich vier war. Mein Vater hätte gerne ein zweites Kind gehabt, aber sie wollte nicht. Sie konnte sich das nicht vorstellen, noch einmal alles aufzugeben für ein Baby, noch einmal neu anzufangen. Ich war ganz schön überrascht und auch verletzt, als sie das sagte. Das hat sie gemerkt und versucht, es mir noch besser zu erklären. »Ich wollte einfach unabhängig sein. Weil ich die Abhängigkeiten in meiner Familie so sehr gehasst habe. Außerdem hatte ich schon dich. Dich habe ich über alles geliebt – das tue ich auch heute noch. Aber durch dich war meine Unabhängigkeit dahin: weil du abhängig von mir warst.« Es ist meiner Mutter nicht leichtgefallen, mir das zu erzählen. Und ich hatte ganz schön Probleme, sie zu verstehen, ihre Entscheidung zu akzeptieren. Eine Schwester oder einen Bruder – das habe ich mir oft gewünscht.
Meine Mutter hat mir noch gesagt, dass sie – ohne auch nur den geringsten Besitzanspruch anzumelden – durch meine Schwangerschaft das Gefühl hat, eine zweite Chance zu bekommen. Noch ein Kind aufwachsen zu sehen, noch ein Kind so sehr lieben zu können wie das eigene. Und sie hat auch zugegeben, dass sie sich schon vor der Geburt meines Sohnes gewünscht hat, ihr Enkelkind wäre auch abhängig von ihr. Wenigstens ein bisschen.
Meine Mutter öffnet die Augen. »Du bist ja noch da«, sagt sie und lächelt schief. Sie setzt sich auf und stützt sich dabei auf die rechte Hand. Wahrscheinlich ist es eher eine unbewusste Bewegung – aber die rechte Hand macht mit. Die Lähmung scheint langsam abzuklingen. Sie schaut aus dem Fenster. »Ist richtiges Hermannswetter heute«, sagt sie. Ich nicke. Ein strahlend schöner Tag.
Ich frage sie, ob sie sich an den Freitagabend erinnern kann. »Du warst im Theater«, helfe ich ihr. Sie nickt. Sagt, dass sie im Theater nicht mehr richtig sehen konnte. Sie spricht leise und etwas undeutlich, was wohl auch mit dem hängenden rechten Mundwinkel zu tun hat. »Ich wollte heim«, sagt sie. Ich erzähle ihr, was ich von der Nachbarin erfahren habe. Dass sie mit dem Taxi heimgefahren sind, in der Pause der Theateraufführung. Dass die Nachbarin ihr auf der Treppe geholfen hat und beim Öffnen der Wohnungstür mit dem Schlüssel. Dass die Nachbarin dann den Krankenwagen gerufen hat. »Seitdem bist du hier«, sage ich. Sie nickt. Wirkt aber erschöpft, so als würde sie das Ringen um Erinnerung sehr anstrengen.
Ich frage nicht weiter, sondern erzähle ihr, dass meine Männer zum Fluss gegangen sind. »Sie wollen Steine werfen«, sage ich. Meine Mutter schaut auf das gerahmte Bild, das immer noch auf ihrem Nachttisch steht. »Ihr passt aber gut auf den Kleinen auf«, sagt sie. Ich nicke.
Die Schwester kommt. Sie bringt das Mittagessen. Fleischbällchen und Reis mit Sauce, dazu eine kleine Schüssel Salat. Zum Nachtisch Birnenkompott. Und eine Flasche Wasser und ein Glas. »Sie müssen viel trinken«, sagt die Schwester und schenkt Wasser in das Glas. Ich helfe meiner Mutter, sich im Bett hinzusetzen, klemme das Kopfkissen zwischen Rücken und Bettgestell und schiebe den am Nachttisch angeschraubten Tisch zu ihr. Sie nimmt die Gabel in die rechte Hand. Dann legt sie die Gabel wieder hin. »Kannst du mir helfen?«, fragt sie. Ich vermenge Reis mit Sauce, spieße ein kleines Stück Fleisch auf und helfe meiner Mutter beim Essen. Was mir viel normaler erscheint als das Waschen und Anziehen heute Morgen. Wer kann schon ohne zu kleckern im Bett essen, wenn im linken Handrücken ein Venenkatheter steckt, am linken Zeigefinger ein Clip und die rechte Hand bis vor kurzem noch gelähmt war? Vor allem, wenn es Reis gibt. Das Füttern klappt gut, meine Mutter isst viel, auch Salat. Nur Kompott will sie nicht. »Später«, sagt sie.
Ich schiebe den Betttisch weg und reiche ihr das Glas. Sie trinkt. »Du hast doch sicher auch Hunger«, sagt sie. »Jetzt hab ich alles aufgegessen, das tut mir leid.« Ich lächle. Das ist typisch meine Mutter. Sie hat immer geschaut, dass meine Bedürfnisse gestillt waren, dann erst hat sie sich um sich selbst gekümmert. Nur beim Essen musste sie zuerst dran sein. Sie kriegt entsetzlich schlechte Laune, wenn sie in den Unterzuckerbereich kommt. Das hat sie mir schon früh erklärt.
»Ist schon gut«, sage ich. »Ich habe gar keinen Hunger.« Ich nehme ihre rechte Hand und halte sie fest. »Weißt du noch, wie wir diese lange Wanderung gemacht haben? Irgendwann sind wir falsch abgebogen, weil Papa die Karte nicht eingesteckt hatte. Und wir haben die Wirtschaft Zur schönen Aussicht einfach nicht gefunden. Ich war müde und wollte, dass du mich trägst. Du hast es nicht gemacht, bis ich dir den Schokoladenhasen gegeben habe, den ich heimlich aus dem Osternest genommen und in meinen Rucksack gesteckt hatte. Zuerst wolltest du schimpfen – es war ein großer Hase. Der in der Sonne ziemlich weich geworden war. Dann hast du aber gelacht und die Schokolade mit mir geteilt.« Meine Mutter sieht mich an und lächelt ihr schiefes Lächeln. »Und der Papa hat uns fotografiert, mit unseren Schokoladenmündern«, sagt sie.
»Wo ist er denn, der Papa?«, fragt sie dann und dreht den Kopf zum Fenster. Ich drücke ihre Hand und schließe die Augen, weil ich spüre, wie die Tränen wieder hochsteigen. Jetzt nicht weinen, denke ich. Ich kämpfe lange mit den Tränen. Dann öffne ich wieder die Augen. Meine Mutter ist eingeschlafen. Ich lasse ihre Hand los und stehe auf. Vielleicht esse ich doch etwas in der Cafeteria, denke ich und gehe aus dem Zimmer.
Die Cafeteria ist ein großer Raum mit anschließender Terrasse im Erdgeschoss des Krankenhauses. Die Tische und Stühle sind blau, es gibt eine Glasvitrine mit Kuchen und eine Theke, an der man warme und kalte Snacks bestellen kann. Ich entscheide mich für ein Sandwich mit Salatbeilage, dazu eine Cola.
Ich setze mich an einen der blauen Tische und schalte mein Handy ein. 12:05 Uhr. Ich bin seit gut vier Stunden in diesem Krankenhaus. Ob es am ausgeschalteten Handy liegt oder am Ort selbst – mein Zeitgefühl funktioniert hier nicht. Es kommt mir vor, als wäre ich gerade erst angekommen. Langsam esse ich Sandwich und Salat. Ich merke, dass ich noch nicht zurück ins Zimmer meiner Mutter will, und sehe mich in der Cafeteria um.
Fünf Tische sind besetzt, von Familien mit kleinen Kindern, aber auch älteren Erwachsenen, die Patienten, einige im Rollstuhl, besuchen. Eine Frau hat ein Baby auf dem Arm, neben ihr sitzt ein anderes, vielleicht dreijähriges Kind. Mir ist nicht klar, ob die drei auf jemanden warten oder selbst in Behandlung sind. In jedem Fall weint das Baby, und das Kind quengelt, beide sind ziemlich laut. Die Frau versucht das Baby zu beruhigen, sie wiegt es in den Armen und bietet immer wieder einen Schnuller an. Gleichzeitig ermahnt sie das andere Kind, Ruhe zu geben.
Eine elegante ältere Frau, die am Nebentisch sitzt, dreht sich zu der Frau mit den Kindern um und schimpft: »Ein Krankenhaus ist kein Spielplatz! Sorgen Sie bitte für Ruhe!« Dann wendet sie sich wieder ihrer Begleitung zu, einem älteren Mann in Bademantel und Hausschuhen. »Also, Leute gibt’s«, zischt sie ihm zu. Von den anderen Gästen reagiert niemand. Ein Mann betritt die Cafeteria, in Trainingsjacke und -hose. Er rollt ein Gestell neben sich her, an dem eine Flasche hängt, über einen Schlauch mit seinem Handrücken verbunden. Der Mann setzt sich zu der Frau mit den Kindern.
Meine Sympathie gilt ganz klar der Mutter mit den Kindern. Es ist Sonntag. Ihr Mann ist im Krankenhaus. Sie will ihn besuchen. Und natürlich wollen die Kinder ihn auch sehen, genauso wie er seine Familie sehen möchte. Ja, Krankenhäuser sind keine Spielplätze. Aber sie sind doch Begegnungsstätten für Gesunde und Kranke. In mir steigt mal wieder großer Zorn hoch, der sich auf die ältere Frau entlädt: Ich stehe auf und gehe an ihren Tisch. Der ältere Mann sieht mich zuerst und schaut überrascht. »Entschuldigen Sie bitte die kurze Störung«, sage ich. Seine Frau wendet sich mir zu. »Ich gebe Ihnen recht: Ein Krankenhaus ist kein Spielplatz.« Die Frau nickt und will mir zustimmend ins Wort fallen. »Genau«, setzt sie an, doch ich hebe die Hand und bringe sie damit zum Schweigen. »Ein Krankenhaus ist ein Ort, an dem kranke Menschen sind, denen es hilft, wenn sie von den gesunden Menschen nicht vergessen werden. Wenn sie von den gesunden Menschen besucht werden. Das gilt für alte Leute«, ich wende den Kopf kurz zu dem älteren Mann neben ihr, der mich entgeistert anstarrt, »ebenso wie für Kinder.« Die Frau will wieder ansetzen, etwas zu sagen, wieder schneide ich ihr das Wort ab. »Wir alle müssen lernen, besser miteinander auszukommen. Schlagen Sie das Wort ›Toleranz‹ im Lexikon nach, wenn Sie nach Hause kommen. Denn auch Sie können durchaus noch etwas dazulernen.« Ich wünsche einen schönen Tag und verlasse die Cafeteria.
Auf dem Weg durch die Krankenhausgänge bin ich stolz auf mich. Weil ich mich getraut habe, etwas zu sagen, weil ich Partei ergriffen habe. Für andere, aber auch für mich selbst. Und das schon das zweite Mal in dieser Woche, fällt mir ein, schließlich habe ich dem IT-Mann vor ein paar Tagen in der Teeküche auch meine Meinung gesagt – zum Thema »Mütter im Büro«.
Es ist seltsam. Die ach so wichtigen Dinge, denen ich täglich hinterrenne, sind mir plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Der Bus zum Büro, der Proof für die Broschüre und dieser blöde Aufzug. Der Streik fällt mir wieder ein. Ach ja. Es erscheint mir alles gerade recht bedeutungslos angesichts dieses Krankenhauses, in dem meine Mutter um ihr Leben ringt.
Was ist das auch für ein komisches Ungleichgewicht: Mein Berufsleben ist wichtiger als mein Mutterleben oder mein Privatleben. Busfahrpläne, Kindergartenschließzeiten und Jour-fixe-Termine sind meiner Ehe, meinem Kind, meiner Mutter übergeordnet. Das muss ich ändern, ich will nicht so viel Zeit in einem künstlich geschaffenen Parallelleben verbringen, aus dem ich die Wünsche eines Dreijährigen ebenso wegorganisieren muss wie Zweisamkeit oder Zeit für Krankheit.
Vor dem Aufzug entschließe ich mich, die Treppen zu nehmen. Und während ich die Treppen hochsteige, frage ich mich, ob ich die ganzen Tränen heute wegen meiner Mutter vergossen habe oder auch wegen mir selbst. Als mein Vater vergangenes Jahr starb, weinte ich mehr für meine Mutter als für mich. Sie hat den Mann verloren, mit dem sie viele Jahre lang zusammenlebte, ist allein zurückgeblieben. Sie hat sich darüber nicht beklagt, aber ich weiß, dass mit meinem Vater auch ein Teil von meiner Mutter gestorben ist. Der sich nicht einfach ersetzen lässt durch einen neuen Mann. Oder eine Kreuzfahrt auf dem Nil. Ich habe Angst davor, mir vorzustellen, dass meine Mutter stirbt. Und deswegen schiebe ich andere Dinge vor: Wie soll ich es schaffen, sie jeden Tag im Krankenhaus zu besuchen, wenn ich doch an den Koordinaten Kindergarten/Büro nur schwer etwas verändern kann? Nicht mal zur Schlaganfallinfostelle kann ich ohne Weiteres vormittags, denn da sitze ich im Büro. Wo soll meine Mutter hin, wenn sie rund um die Uhr betreut werden muss? In unser Gästezimmer oder in ein Pflegeheim? Ganz schön egoistisch, diese Gedanken, stelle ich fest.
Ich öffne die Tür. Meine Mutter ist wach. »Da bist du ja wieder«, sagt sie. Ich setze mich neben sie und nehme ihre rechte Hand. Ihre Finger reagieren auf die Berührung. Ich lächle und erzähle, dass ich in der Cafeteria war und einer Frau, die sich über kleine Kinder beschwert hat, die Meinung gesagt habe.
»Wo ist denn der Kleine?«, fragt meine Mutter und sieht sich suchend um. Ich sage, dass er mit meinem Mann am Fluss ist und Steine ins Wasser wirft. Und vielleicht ein Eis essen geht. Dass er nicht hier ist heute, und dass die Frau in der Cafeteria über andere Kinder geschimpft hat. »Er ist ja auch so brav«, sagt meine Mutter. Ich nicke. Und erzähle ihr dann vom Märchenpark. Ich muss ziemlich viel erklären, da sie längere Zeit nicht versteht, was das ist, ein Märchenpark. Sie denkt zuerst an Bilderbücher, dann an Kasperltheater und Kinderbühnen. So richtig versteht sie es erst, als ich ihr die Bergwerkbahn der Sieben Zwerge beschreibe.
Die Schwester kommt ins Zimmer und bringt ein Tablett mit Kuchen und Tee. Meine Mutter will nicht essen, nippt nur am Tee und schläft dann wieder ein. Ich bin sicher, das lange Reden strengt sie an. Ich sitze an ihrem Bett. Sehe, wie sie atmet, wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt. Sie sieht friedlich aus. Wann habe ich das letzte Mal so viel Zeit mit meiner Mutter verbracht? Ich kann mich nicht erinnern. Die letzten Monate haben wir uns eher die Türklinke in die Hand gegeben, weil sie auf den Kleinen aufgepasst hat, während ich zu einem Termin gehetzt bin. Und unsere Telefonate waren auch immer nur kurz. Auch das muss ich ändern, denke ich.
Ich greife nach einem Magazin, das auf dem Nachttisch liegt. Eine Schauspielerin, Mitte sechzig, also nur ein paar Jahre jünger als meine Mutter, dafür aber oscargekrönt, sagt im Interview: Eltern, die ihre Freiheit für das Glück ihrer Kinder opfern, sind die wahren Helden unserer Gesellschaft.34 Die Schauspielerin selbst ist kinderlos. Gewünscht kinderlos.
Ist es wirklich ein Opfern der Freiheit, ein Kind glücklich zu machen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht erst durch mein Kind den Unterschied zwischen wahrer Freiheit und scheinbarer Freiheit erkannt habe. Ist es wirklich Freiheit, täglich stundenlang in einem Büro zu sitzen und für eine Firma zu arbeiten, die an mir als Individuum wenig interessiert ist, die mich nur als einen von vielen Pfeilern nimmt, auf denen ihr Fundament ruht?
All die Dinge, auf die Eltern verzichten müssen – ausgehen, ausschlafen, Extremsportferien machen. Mir fallen eigentlich nur Sachen ein, die mir total egal sind. Bis auf das mit dem Schlaf vielleicht, doch ich weiß ja, dass die Nächte wieder ruhiger werden, wenn die Kinder älter sind. Mir kommt es so vor, als wäre Freiheit ein Versteck für Egoismus, und dann kann man »Kinder« auch mit »pflegebedürftige Eltern« ersetzen: Eltern, die ihre Freiheit für das Glück ihrer pflegebedürftigen Eltern opfern, sind die wahren Helden unserer Gesellschaft.
Ich lege das Magazin wieder auf den Nachttisch und erinnere mich an das, was ich heute Morgen im Autoradio gehört habe.35 Ein Mann hat sich nach dem Tod seiner Mutter fürchterlich mit seiner Schwester zerstritten. Die Schwester wirft dem Mann vor, dass er die Mutter für die letzten Jahren ihres Lebens in ein Pflegeheim gesteckt und sie nicht in seiner Wohnung betreut hat. Der Mann ist pensioniert – frühzeitig, nach drei Herzinfarkten. Die Schwester ist die Inhaberin einer kleinen Pension. Sie wollte die Mutter nicht in ihrem Haus aufnehmen, weil sie Vollzeit arbeitet. Nun reden die Geschwister nicht mehr miteinander.
Wo ist eigentlich mein Recht auf Glücklichsein?, hat der Mann gefragt. Und wieder und wieder beteuert, wie schlecht es ihm rein gesundheitlich geht nach drei Herzinfarkten. Er wünscht sich Ruhe und Frieden mit seiner Schwester, dem letzten Rest seiner Familie. In der Radiosendung war auch ein Experte, ein Familienanwalt. Der meinte, dass um Geld einfach viel gestritten wird. Und die Pflege eines Elternteils kostet natürlich viel Zeit und Energie, manchmal durch ein fettes Erbe oder gesellschaftliche Anerkennung entlohnt, von der Gesellschaft aber nicht wirklich anerkannt. Weil es keine Übersetzung der Betreuung in Geldwerte gibt.
Ich habe dann daran gedacht, dass das Elterngeld genau das macht – es übersetzt Kinderbetreuung in Geldwerte. So und so viele Monate beim Kind sein ist so und so viele Monate Gehalt wert. Nein, nicht mal 70 Prozent davon. Gibt es dasselbe auch für die Zeit, die man in die Pflege einer Mutter investiert, die einen Schlaganfall hatte?
Meine Mutter schläft immer noch. Sie sieht nicht sonderlich krank aus, nur etwas blass. Krank wirkt sie durch die Schläuche und Kabel. Ich kann sie mir nicht in einem Pflegeheim vorstellen. Einmal habe ich eine Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt besucht, und war entsetzt, wie traurig die Menschen dort waren. Sie wirkten, als würden sie nur noch auf das Ende warten.
Aber wohin dann mit meiner Mutter, wenn sie nicht mehr allein sein kann? Diese Frage stelle ich mir sonst, wenn es um meinen Sohn geht: Wohin mit dem Kind, das noch nicht allein sein kann? In meinem hektischen Leben gibt es weder Zeit noch Platz für solche Fragen. Noch einmal denke ich, dass sich etwas ändern muss.
Es tut mir gut, hier zu sein. Meiner Mutter zuzusehen, wie sie schläft. Dadurch wird das Neue, das Bedrohliche, vertrauter und sofort weniger schrecklich. Meine Mutter ist immer noch meine Mutter. Auch wenn sie einen Schlaganfall hatte.
Die Schwester kommt ins Zimmer und holt das Tablett. »Sie sind ja immer noch da«, sagt sie. Es klingt nicht vorwurfsvoll, eher überrascht. »Ja«, sage ich, »das Hiersein hilft mir, besser mit all dem zurechtzukommen.« »Verstehe«, sagt die Schwester und geht wieder aus dem Zimmer. Kurz darauf wacht meine Mutter auf. Sie reibt sich die Augen – mit beiden Händen. Ich sage ihr, dass ich jetzt nach Hause fahren werde. Und dass ich morgen wiederkomme. Dass sie keine Angst haben soll. Sie nickt. Ich bin nicht sicher, ob sie wirklich ganz wach ist. Trotzdem verabschiede ich mich und gehe.
Um 17:00 Uhr sitze ich wieder zu Hause am Küchentisch. Mein Sohn sitzt neben mir und hat Papier und Wasserfarben geholt. Er will den Fluss malen und die Steine, die er hineingeworfen hat. Ich freue mich und bin überrascht, dass die Zeit, die er mit meinem Mann verbracht hat, so einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Wenn ich mit ihm am Fluss bin, will er einen Stein mit nach Hause nehmen. Den Fluss malen, das hat er bislang noch nie gewollt.
Wenn ich tief in mich hineinhöre, finde ich neben dem schlechten Gewissen, dass ich am Sonntag nicht bei meinem Kind war, auch ein kleines bisschen Eifersucht auf meinen Mann. Auf die schöne Zeit, die er mit dem Kleinen hatte. Es waren etwa zehn Stunden, die ich weg war. Zehn Stunden, die sich anfühlen wie ein Zwei-Wochen-Trip in einen unbekannten Dschungel. Ich bin sehr erschöpft. Vom Am-Bett-Sitzen und Handhalten. Vom Nachdenken. Vom Weinen und vom Weinenunterdrücken. Mein Mann sitzt neben mir am Küchentisch. Ich bin froh, dass er nicht fragt, keine Einzelheiten wissen will.
Dann schälen wir Kartoffeln. Mein Sohn hält den Sparschäler, ich die Kartoffeln. Es dauert lang, bis alle Kartoffeln geschält sind. Ich schneide die Kartoffeln in Stücke und werfe sie in die Pfanne. »Papa, wir kochen Bratkartoffeln«, ruft der Kleine. Mein Mann kommt aus dem Wohnzimmer. Er hat gerade mit einem alten Schulfreund telefoniert, der seit kurzem als Staatsanwalt arbeitet. Vor vier Wochen ist der Staatsanwalt Vater geworden. Mittags fährt er vom Gericht nach Hause, um seine Tochter wenigstens kurz bei Tageslicht zu sehen. Seine Arbeitszeiten gehen bis spät in die Nacht. Der Schulfreund hat sich sein Leben so nicht vorgestellt, sagt mein Mann. Was ihn zermürbt, sind nicht die schlaflosen Nächte oder die viele Arbeit. Sondern die Gewissheit, dass es nicht besser werden wird: dass ihm immer Zeit fehlen wird. Zeit, die er nicht bei seiner Familie sein kann.
Dabei verdienen Staatsanwälte doch nicht schlecht, sage ich. Und erinnere mich, wie ich mich vor ein paar Wochen über die Behauptung einer kinderlosen Kollegin geärgert habe: Es sei egal, ob eine berufstätige Frau Kinder habe oder nicht, die Karrierestufen könnten bei gleicher Qualifikation und, wie sie es genannt hat, gleichem »Biss« genauso leicht erreicht werden. Schwierigkeiten könnten in beiden Fällen auftreten. Angeblich gibt es dazu auch Studien. Ich habe dagegengehalten, dass es oft nicht um Qualifikation oder Biss geht, sondern um das Geld, das zur Verfügung steht. Wer sich die Kinderbetreuung individuell zusammenstellen kann und nicht auf die Schließzeiten von Kitas oder den Feierabend einer Tagesmutter angewiesen ist, hat es leichter. So machen es doch auch die Stars in Hollywood: Nehmen ihr Kind einfach mit zum Dreh, jetten in der Mittagspause schnell mal ins Hotel. Heute würde ich noch hinzufügen, dass eine kinderlose Frau vielleicht auch weniger Gründe hat, früher nach Hause zu kommen als eine Frau mit Kindern. Und dass man das auch bedenken muss.
Mein Mann bestätigt, dass der Schulfreund als Staatsanwalt ganz gut verdiene. Doch um mit einem Hubschrauber in der Mittagspause zur Familie geflogen zu werden, dafür würde es nicht reichen. Abgesehen davon, dass ein Staatsanwalt in der Anfangszeit einfach sehr viel arbeiten muss. »Das gehört eben dazu«, sagt mein Mann. Ich finde das nicht akzeptabel. Und sage absichtlich naiv, dass Staatsanwälte doch Beamte sind. Und dass es bestimmt auch Teilzeitstaatsanwälte gibt. »Aber die haben vielleicht kein Interesse an einer großen Karriere«, sagt mein Mann. »Ach, darum geht es deinem Freund: Er will die große Karriere und die glückliche Familie«, sage ich bissig. »Ganz genau«, sagt mein Mann. »So wie ich auch.«
Später essen wir Bratkartoffeln und Schnitzel und Salat und hinterher noch Grießbrei mit Zimt und Zucker. Mein Sohn will nach dem Essen baden, mein Mann lässt ihm Wasser ein. Ich nutze die Zeit, um die Nachbarin meiner Mutter anzurufen. Ich berichte vom Gespräch mit der Stationsärztin und beschreibe den Zustand meiner Mutter. Die Nachbarin fragt viel nach. Sie will wissen, ob ich das Gefühl habe, dass meine Mutter versteht, was passiert ist.
»Ich bin nicht sicher«, sage ich. »Wissen Sie«, sagt die Nachbarin, »sie hat immer gesagt, sie würde nie in ein Pflegeheim gehen wollen. Sie würde lieber zu Hause sterben, und lieber schnell als von Maschinen und Medikamenten verlangsamt.« Ich bin überrascht. Frage die Nachbarin, ob sie etwas von einer Patientenverfügung weiß. »Nein«, sagt die Nachbarin. »Nach dem Tod Ihres Vaters hat sie sich etwas verschlossen. Und ist längeren Gesprächen aus dem Weg gegangen. Nicht dass sie unfreundlich war. Sie schien nur so mit sich selbst beschäftigt zu sein.«
Ich sage, dass ich sie weiterhin auf dem Laufenden halte. Die Nachbarin verspricht, nach der Wohnung meiner Mutter zu schauen, den Briefkasten zu leeren und die Pflanzen zu gießen. Dann lege ich auf, halte das Telefon aber noch in der Hand. Ich schaue auf die Uhr. 19:03 Uhr. Sicher schläft meine Mutter jetzt.
War meine Mutter mir gegenüber auch verschlossen? Ich habe es nicht bemerkt, weil ich irgendwann nach dem Tod meines Vaters wieder auf Normalität umgeschaltet habe. Umschalten musste – das Jonglieren zwischen Kind und Büro war an vielen Tagen so anstrengend, dass ich nicht viel fragen konnte, wenn wir telefoniert haben. Ich habe sie oft angerufen, eine Zeitlang jeden Tag. Das ist weniger geworden, ebenso wie meine Geduld mit ihr.
Ihr Leben hat sich in den letzten zwei Jahren sehr verändert durch den Kampf gegen die Krankheit meines Vaters. Die Spuren sind immer noch zu sehen: Die Umbauten in der Wohnung – Griffe neben Badewanne und Toilette, ein Bett, dessen Kopfteil sich per Knopfdruck heben und senken lässt. Und die ganzen Medikamente sind noch da. Das ist mir heute Morgen aufgefallen, als ich Wäsche für meine Mutter geholt habe. Ich weiß nicht, ob sie diese Dinge für sich selbst aufhebt oder ob sie für sie die letzten Erinnerungen sind. Weder vor noch nach dem Tod meines Vaters habe ich mit meiner Mutter darüber gesprochen, was sie sich wünscht, wenn sie ernsthaft krank wird.
Ich stelle das Telefon auf die Ladestation und gehe ins Bad. Mein Mann trocknet den Kleinen ab. »Ich war im Fluss«, sagt mein Sohn. »Ich war ein großer Stein.« Ich ziehe ihn auf meinen Schoß und umarme ihn ganz fest. »Kriege ich noch einen Gutenachtkuss von meinem großen Stein?«, frage ich. Der Gutenachtkuss ist feucht, dann gehen Mann und Sohn ins Kinderzimmer.
Ich wäre gerne hinterhergegangen, hätte mich gerne dazugelegt, einfach um bei ihnen zu sein und nicht weiter über meine Mutter nachdenken zu müssen. Stattdessen gehe ich ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. Auf einem Kanal läuft eine Diskussionsrunde. Eine Frau, sympathisch, gut gekleidet, etwa dreißig, erzählt von einem Gespräch mit ihrem Chef. Die Frau ist Reporterin für einen Radiosender und wollte mehr Geld, obwohl sie gerade erst wieder in den Job eingestiegen war – nach der Elternzeit. Ihr Chef lachte sie aus. »Als Mutter haben Sie keine Chancen«, sagt er. »Wir können Sie ja noch nicht mal spontan in ein anderes Studio schicken – weil Sie dann nicht pünktlich am Kindergarten erscheinen, um Ihr Kind abzuholen.« Die Frau wollte sich so was nicht bieten lassen und sagte, dass es auch Gesetze gebe, die ihr recht gäben. Der Chef lachte noch lauter. »Gesetze? Die gelten hier nicht!« Der Moderator schweigt, die anderen Gäste der Diskussionsrunde sehen betroffen aus. Als die Kamera aufs Publikum schwenkt, sieht man einige Leute schadenfroh grinsen.
Mein Mann kommt rein. »Kind schläft«, sagt er. Und: »Was schaust denn du an?« Ich schüttle den Kopf und sage, ich weiß es nicht. Dann schalte ich den Fernseher aus. Wir gehen in die Küche. Zeit, zu reden. Mein Mann schenkt mir ein Glas Wein ein. Ich sitze am Tisch und will etwas sagen, aber ich weiß nicht, was. Also beginnt er. »Und wenn wir beide nur noch dreißig Stunden arbeiten? Wenn ich weniger Zeit im Büro bin und du damit mehr Zeit hast? Die du vielleicht bald auch für deine Mutter brauchst?« Jetzt weine ich. Mein Mann setzt sich neben mich und streichelt mich. Er tupft mir die Tränen ab. »So schlimm kann das doch nicht sein, wenn ich mehr zu Hause wäre«, versucht er es mit einem Witz. Er schafft es, mich damit zum Lächeln zu bringen.
»Nein«, sage ich dennoch. Wenn er mehr Zeit hätte, wäre das nicht schlimm, sondern großartig. Schlimm wäre es, einfach so weiterzumachen wie bisher. Immer nur weiterzurennen und nicht nach links und rechts schauen zu können vor lauter Rennen. »Bist du vor etwas auf der Flucht?«, fragt mein Mann.
Spontan will ich antworten, dass ich nicht davonrenne, sondern hinterher. Weil ich immer zu wenig Zeit habe. Dann denke ich noch mal nach. Nehme noch einen Schluck Wein. »Ich glaube, ich habe Angst zu versagen. Zuzugeben, dass ich es eben doch nicht schaffe, in allen drei Leben gut zu sein: als Mutter, als Karrierefrau, als Ehefrau.« Er sagt, dass er dieses Gefühl gut kennt, dass er es sehr oft selbst empfindet. Etwa, wenn er mich mit unserem kranken Kind zu Hause verabschiedet und zur Arbeit geht. Dass er sich oft als Fremdkörper fühlt, wenn er abends heimkommt und sieht, wie innig ich mit dem Kind bin, so verbunden. So als würde niemand, nicht mal er als Vater, Mann, Partner, mehr einen Platz haben in dieser Zweisamkeit.
Ich sage, dass er dazugehört. Dass wir aufhören müssen, uns gegenseitig zu unterstellen, den anderen allein zu lassen (was ich mache) oder den anderen nicht zu brauchen (was er macht). Dass wir zusammenhalten müssen. Um diese schwierigen, merkwürdigen, anstrengenden Zeiten nicht nur zu überstehen, sondern vielleicht auch zu genießen. Wir stoßen mit unseren Weingläsern an.
Mein Mann schlägt vor, dass wir ein Problem nach dem anderen angehen. Nicht zuerst die großen Fragen stellen, sondern die Dinge in den Griff bekommen, die in der nächsten Woche anstehen. Ich fange an: »Morgen ist Kindergartenstreik.« Wir überprüfen noch einmal alle Möglichkeiten. Mein Mann ist weg. Es gibt keinen anderen Babysitter. Ich habe keinen Krankentag und keinen Urlaubstag zur Verfügung. Ich will nicht lügen und mich krankschreiben lassen mit Kopfschmerzen oder Menstruationsbeschwerden. »Das ist ja nicht die achte Klasse, in der ich den Sportunterricht schwänzen will«, sage ich. »Nimm den Kleinen mit«, sagt mein Mann. Er schlägt vor, dass ich Malsachen, ein Puzzle und vielleicht seine Lieblings-DVD einpacke und den Tag mit dem Kleinen im Büro verbringe. »Vor was hast du Angst? Dass dir gekündigt wird, weil du dein Kind in einem Betreuungsengpass mit ins Büro genommen hast? Das traut sich keine Firma. Und wenn, dann ist es sowieso besser, dass du da rauskommst.«
Mir gefällt die Idee, die Theorie in die Praxis umzuwandeln. Eine Mitarbeiterin hat ein dreijähriges Kind, das nicht allein gelassen werden kann. Und dann lege ich mir gleich einen Satz zurecht, den ich allen zur Begrüßung sagen kann: Im Kindergarten wird gestreikt, deshalb ist mein Sohn heute hier bei mir. So muss ich nicht nachdenken und nach Erklärungen ringen und erspare mir eine Menge Nervosität. »Jetzt du«, sage ich zu meinem Mann.
»Am Montag muss ich in die USA. Ich komme erst am Sonntagmittag zurück«, sagt er. »Wie soll das gehen, wenn du doch Unterstützung brauchst mit deiner Mutter?« »Die Unterstützung brauche ich die Woche drauf auch noch«, sage ich. Und schlage vor, dass er die Reise einfach genießt, vielleicht sogar ein bisschen Kraft tankt für das, was danach auf ihn wartet. »Lass dich bei der Präsentation ordentlich bejubeln im Namen deines Teams. Und sag dann deinem Chef, dass du mehr willst.« Ich atme tief ein. »Weißt du, eine Möglichkeit von Beförderung ist auch, statt mehr Geld mehr Zeit zu fordern.« Mein Mann lächelt. »Du bist schlau«, sagt er. Ich sage, dass er eh den Stempel des Windeldiplomierten hat. Dass er daraus doch eine Tugend machen kann. »Sag doch einfach, dass deine Frau sich um ihre kranke Mutter kümmern muss. Und dass du dich deshalb mehr um deinen Sohn kümmern willst.« Ich ermuntere ihn, ein paar Studien zu lesen, über Probleme von Jungen, die ohne Vater aufwachsen. »Was soll dein konservativer Spießerchef denn groß sagen, wenn du ihm erklärst, dass ein Junge einen Mann als Vorbild braucht, in dieser Welt der Erzieherinnen, Lehrerinnen, Mütter.« Jetzt lacht mein Mann. »Ich schlage ihn mit seinen eigenen Waffen. Und lege ihm das Buch von Altkanzlersohn Walter Kohl36 auf den Schreibtisch – mein Chef ist nämlich ein glühender Kohl-Anhänger. Und Vater von zwei Söhnen.« Wir stoßen an und trinken noch einen kleinen Schluck Wein.
»So. Was mache ich denn jetzt mit meiner Mutter?«, frage ich. »Du kannst gar nicht so viel machen«, sagt mein Mann. »Warte die Untersuchungen ab, sprich mit den Ärzten, beobachte deine Mutter. Besuch sie so viel, wie du kannst, aber setz dich dabei nicht allzu sehr unter Druck.« Er sagt, dass ich auch nächste Woche und nächsten Monat noch Kraft haben muss. Dass es nicht darauf ankommt, in der ersten Woche täglich zehn Stunden an ihrem Bett zu sein. »Was mache ich denn mit dem Kleinen?«, frage ich weiter. »Nimm ihn mit«, sagt mein Mann. Ihm ist natürlich klar, dass Krankenhäuser kein optimaler Ort sind für dreijährige Kinder: Keime an jeder Türklinke. Aber die Oma gehört zu unserem Leben dazu. Und wenn es der Oma schlecht geht, darf unser Sohn das wissen. Und er darf auch spüren, dass sich deswegen etwas verändert in unserem alltäglichen Leben. »Außerdem hilft es dir, ihn dabeizuhaben: Erstens weil du so keinen Babysitter suchen musst. Zweitens weil du so deinen Aufenthalt im Krankenhaus zeitlich begrenzt. Und drittens weil er dich unterstützt – moralisch.« Ich muss lachen. Mein dreijähriger Sohn als moralische Stütze am Krankenbett meiner Mutter. Aber irgendwie hat mein Mann auch recht mit dem, was er sagt.
Er räuspert sich. »Kommen wir zum nächsten Problem: Was ist, wenn deine Mutter zum Pflegefall wird?« Ich bin froh, dass er ausspricht, wovor ich mich fürchte. »Ja, was dann«, sage ich. Wir könnten ein Pflegeheim für sie finden, schlage ich vor. Oder sie in unserem Gästezimmer einquartieren, schlägt er vor. »Meinst du das ernst?«, frage ich. Er nickt. Und sagt, dass für ihn Familie auch bedeutet, dass man in schweren Zeiten näher zusammenrückt. »Lass uns nichts überstürzen«, sagt er. »Zuerst informieren wir uns, sprechen mit deiner Mutter, den Ärzten und sonst wem. Und dann entscheiden wir. Gemeinsam. Ebenso wie wir gemeinsam entscheiden, was für unser Kind das Richtige ist.« Er sagt auch, dass er besonders in den letzten Tagen erkannt hat, dass meine Belastbarkeit Grenzen hat. »Du bist gereizt, gehetzt und nur noch entspannt, wenn du ein Glas Wein getrunken hast.« Er sieht meine Empörung und nimmt meine Hand. »Nein! Ich will damit nicht sagen, dass du ein Alkoholproblem hast. Ich will damit sagen, dass dir gerade alles zu viel ist. Das war schon so, bevor deine Mutter einen Schlaganfall hatte.«
Er gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Ich will nicht, dass wir unser Kind wegorganisieren, um Vollzeitbürger zu sein, und auch noch deine Mutter.« Ich nicke. »Hey, und außerdem glaube ich einfach nicht, dass sie sich nicht wieder erholt. Wo ist unser Optimismus?« Er hält mir sein Weinglas entgegen und will noch einmal anstoßen. In meinem Glas ist ein winziger Rest, ich stoße an, trinke aber nicht. Gerade ist mir der Alkohol zuwider. Es hat ganz schön wehgetan zu hören, dass ich nur noch mit einem Glas Wein entspannt sein kann.
Es ist spät geworden, aber die Uhrzeit erscheint mir bedeutungslos. Nicht nur mein Mann hat bemerkt, dass ich am Ende bin mit meinen Kräften, ich habe es selbst schon auch gespürt. Meine Aversion gegenüber mir als vermeintlicher Karrierefrau. Warum renne ich denn immer in dieses Büro? Die Antwort darauf gefällt mir nicht sonderlich: Ich habe Angst davor, zu spät zu kommen. Aufzufallen. Mich stellen zu müssen. Und zuzugeben, dass mir mein Job eigentlich herzlich egal ist. Weil ich verstanden habe, dass es noch etwas anderes gibt im Leben, etwas, das durchaus mehr Sinn macht, mehr Glück schenkt und mehr Energie spendet: ein glückliches Familienleben. Partnerschaft. Und ein Kind. Mich treibt noch nicht einmal die Angst an, verlassen zu werden und arm zu sein. Mich treibt die Angst an zuzugeben, dass dieses ganze Berufstätigkeitsgerede als einziger Lebensinhalt dumm ist.
Doch wenn ich mein Leben weiterhin durch diese Angst lenken lasse, ist es ein ganz schön beschissenes Leben. Wenn meine Beziehung zu meinem Mann deshalb in die Brüche geht, dann bin ich daran mitschuldig. Dann liegt es vielleicht auch daran, dass ich keine Zeit mehr übrig habe, um sie in unsere Beziehung zu investieren. Das muss besser werden.
Als ich ins Bett gehe, fällt mir die Mail meiner Freundin wieder ein, in der sie das Buch des französischen Soziologen erwähnt.37 Einzelne Abschnitte daraus hat sie in die Mail kopiert. An einer Stelle geht es um das »Unbehagen in der Arbeitswelt«, wenn ich mich recht erinnere. Das dadurch zustande kommt, dass Autonomie immer mehr an Bedeutung gewinnt. Lauter Einzelkämpfer, durch nichts miteinander verbunden. Und statt Bänder zu knüpfen oder Brücken zu bauen, werden lieber Ellbogen ausgefahren oder das große Einmaleins des Mobbing ausprobiert. Das muss auch besser werden, denke ich und schlafe ein.