LUCRETIUS

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Sheena 5:

Das zwischen den Welten treibende Raumschiff war ein Miniatur-planet, eine nur wenige Meter durchmessende Blase aus Meerwas-ser.

Das Wasser genügte, um seine Bewohner vor kosmischer und solarer Strahlung zu schützen. Und im Wasser befanden sich konzentrische Schalen mit Leben: ein Nebel aus Kieselalgen, die sich vom Sonnenlicht ernährten und im Innern, im tiefblauen Wasser, eine Schale mit Krill, Krustentieren und Schulen aus kleinen Fischen, die umherstoben und jagten.

Und im Mittelpunkt all dessen ein einzelner intelligenter Cephalopode.

… Das war Sheena, die durch den Weltraum schwamm.

Weltraum: Ja, sie wusste, was das bedeutete – dass sie sich nicht mehr in der Weite des irdischen Meers befand, sondern in einem kleinen, autarken Meer, das durch die Leere trieb, ein zusammen-geklappter Ozean, den sie nur mit den pfeilschnellen Fischen und den kleinen Tieren und Pflanzen teilte, von denen sie sich ernährten.

Sie glitt im Herzen der Nautilus dahin, wo das Wasser, das ihren Mantel und die Kiemen durchströmte, am wärmsten und nähr-stoffreichsten war. Die Maschinerie des Kerns, die Anordnung der Geräte, die das Leben hier aufrecht erhielten, dräute als eine schwarze Masse vor ihr. Sie war in dunkles Wasser getaucht, Lichter wanderten über die Oberfläche, und Seetang und Gras klebten 147

daran. Sheena sah keine Farben; sie schwamm durch eine Welt aus Schwarz, Weiß und Grau. Aber sie vermochte polarisiertes Licht zu erkennen; und sie sah, dass das Licht, das von den polierten Oberflächen der Maschinerie reflektiert wurde, minimal in unterschiedliche Richtungen abgelenkt wurde. Das vermittelte ihr einen Eindruck von der Größe und Massigkeit der Maschinerie.

Als sie durch das Rollen des Schiffs in den Schatten eintauchte, wurde sie aktiv und ging auf die Jagd.

Sie würde sich auf den Sandflecken auf die Lauer legen, die am Metall hafteten und die Farbe des Mantels ändern, sodass sie fast unsichtbar war. Wenn die ahnungslosen Fische oder der Krill vor-

überzogen, würde sie zustoßen und sie sich schnappen. Sie würde sie mit dem harten Schnabel zermalmen, ohne die winzigen Schreie zu beachten.

Um zu überleben, musste sie sich nur in einen so simplen Hin-terhalt legen – so verwirrt wirkten die Fische und der Krill in dieser neuen Welt, der es an Oben und Unten und Schwerkraft fehlte. Manchmal zeigte sie jedoch mehr Ehrgeiz bei der Jagd und wandte die Taktik des Tarnens und Täuschens an, als ob sie noch immer zwischen den Riffen der Karibik lebte.

Doch allzu schnell brachte das träge Rollen des Schiffs sie wieder ins Licht, und die kurze Nacht wich dem scheinbaren Tag.

Mit Flossenschlägen schwamm sie von der Maschinengruppe weg und entfernte sich vom Herzen des Schiffs, wo sie mit den Fisch-Schulen lebte. Je höher sie stieg, desto kühler und sauerstoff-

ärmer wurde das Wasser, das durch den Mantel strömte. Sie ließ die Schichten des Lebens hinter sich und lauschte den leisen Tö-

nen der Lebewesen, die in der Sphäre sich tummelten: dem Raunen der Fische, die in den dichten Schulen umherschwammen, dem blubbernden Gemurmel des Krills, von dem sie sich ernährten und dem Zischen der Kieselalgen und sonstigen Algen, die 148

ihnen als Nahrung dienten und dem tiefen Infraschall-Rumoren des Wassers, das Druckwellen aussandte.

Und wie jede Sphäre aus Wasser größer war als diejenige, die in ihr enthalten war, so wusste Sheena auch, dass es eine Hierarchie des Lebens gab. Um sie am Leben zu erhalten, mussten das Zehnfa-che ihres Gewichts in Krill und das Hundertfache in Kieselalgen vorhanden sein.

Und wenn es noch einen Kalmar gegeben hätte, wären diese Zahlen entsprechend höher gewesen. Aber es gab hier keinen weiteren Kalmar außer ihr.

Fürs Erste.

Sie sah durch trübes, mit Leben gesättigtes Wasser die Hülle des Schiffs – eine Membran, die sie wie die Oberfläche eines Meeres überwölbte. Nur dass sie nicht über ihr war wie eine Meeresoberflä-

che. Genauso wenig, wie es einen sandigen Meeresboden unter ihr gab. Vielmehr spannte diese Membran sich um sie, krümmte sich in sich selbst und flimmerte im Rhythmus der großen, langsamen Wellen, die über die Hülle der Sphäre wanderten.

Dies war offensichtlich eine komplexe Welt, eine gekrümmte Welt, eine Welt ohne das eindeutige Oben und Unten des Meeres.

Und das Licht war ebenso komplex; die Polarisations-Ebenen waren zufällig, und das Licht fiel in spiralförmigen Bahnen um sie herum ein.

Doch Sheena jagte in drei Dimensionen. Sie vermochte sich an die fremdartigen Bedingungen zu gewöhnen. Und nicht nur das – sie wusste, dass sie sich daran gewöhnen musste.

Sie erreichte die Wand des Schiffs.

Die Membran war eine feste, aber flexible Wand. Wenn sie dagegen drückte, erwiderte die Wand den Druck. Menschliche Augen hätten gesehen, dass die Wand eine goldene Färbung hatte. Dan hatte ihr gesagt, dass dieses große goldene Ei den Himmel geschmückt hätte, während es sich zu den Sternen emporschwang.

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Sheena Schiffgut schön, hatte er gesagt. Wie die Erde. Menschen sehen Schiff, goldene Blase, Schiff voll mit Wasser …

Grasalgen wuchsen an der Wand, und die langen Stränge baumelten und trieben in der Strömung. Krabben und Muscheln er-nährten sich von den Algen. Die Bewohner des Meeresgrundes dienten ihr als Nahrung und hielten obendrein die Wände sauber.

Jedes Lebewesen in diesem kleinen Meer hatte eine Rolle zu spielen. So driftete sie zum Beispiel an einer Bank mit sich wiegendem Seetang vorbei. Der Seetang reinigte das Wasser und verwertete schwebende Nährstoffe, die für die Algen und Kieselalgen unge-nießbar waren. Doch der Seetang hatte auch einen Wert an sich.

Eine von Sheenas Aufgaben bestand darin, das ›Unkraut‹ zu jäten, wenn es zu üppig wucherte und einem Häcksler in der Maschinengruppe zuzuführen. Dort wurde es zu Fasern gesponnen, die Dan als Meerseide bezeichnete. Wenn sie ihr Ziel erreicht hatte, würde die Meerseide für die Herstellung und Reparatur der Ausrüstung dienen, die sie dort verwenden sollte.

Nun beförderte die Rotation des Schiffs Sheena ins Licht einer milchigen, verwaschenen Scheibe. Es war die Sonne – durch die Membran gefiltert, um die Augen zu schonen – mit einer kleineren Sichel in der Nähe. Sie wusste, dass das die Erde mit den gro-

ßen Meeren war, die nun auf ein Tröpfchen reduziert waren. Auf der Suche nach dem Gesteinsbrocken, der sein Ziel war, kreiste das Raumschiff um die Sonne und folgte der Erde wie ein Fisch, der seiner Schule hinterher schwamm.

Sie war früher schon unter der gewölbten Membran umherge-schwommen und nicht weit von hier von einem Lichtblitz erschreckt worden. Er war zwar genauso schnell verschwunden, wie er erschienen war – doch hatte sie den Eindruck gehabt, dass die Membran einen Fehler hatte, eine kleine Stelle, die das helle Glü-

hen verloren hatte. Und sie sah anhand der unregelmäßigen Pola-150

risation, dass die Zusammensetzung des Wassers unter der Stelle gestört war.

Dann hatte sie hinter der Membran eine Bewegung gesehen. Sie erschrak und erzeugte in der Annahme, dass es sich um einen Weltraum-Räuber handelte, Signale der Pseudo-Drohung und der Tarnung.

Es war aber kein Räuber. Es war nur ein Kasten, der sich vor und zurück bewegte und dabei kleine Wolken glitzernder Kristalle ausstieß. Er ›flickte‹ das Loch.

Dan sagte ihr, dass es ein Glühwürmchen-Robot sei, eine intelligente kleine Box mit eigener Energieversorgung, miniaturisierter Technik, Kameras und Maschinen-Intelligenz. Das Schiff führte eine Schule dieser kleinen Geräte für Inspektionen und Reparaturen der Hülle mit.

Aber die Lebensdauer des kleinen Fluggeräts war begrenzt. Es war nur für den einmaligen Einsatz vorgesehen und auch nur für einen Zweck zu gebrauchen, die Reparatur der Membran – im Gegensatz zu Sheena, die fähig war, viele verschiedene Dinge zu tun.

Nachdem das Fluggerät den Auftrag ausgeführt und den Brennstoff verbraucht hatte, breitete es die werkzeugbestückten Arme aus und stieß sich mit dem letzten Rest des Brennstoffs vom Schiff ab.

Sheena hatte gesehen, wie das nutzlos gewordene Fluggerät zu einem von der Sonne angestrahlten Punkt geschrumpft war.

Sie wusste, dass ihr Schiff ständig leckte, aus winzigen Rissen und mikroskopisch kleinen Löchern. Und alle paar Tage krochen die Wegwerf-Roboter über die Membran, suchten den Ursprung der Dampfwolken und dichteten die Lecks ab, ehe sie sich selbst opferten.

Das wie ein träger Wal rollende Schiff entfernte sie von der grellen Sonne, und sie schaute wieder in die Dunkelheit, wo sie die Sterne sah.

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Die Sterne waren wichtig. Wenn sie sich ihre Positionen ums Schiff eingeprägt hatte, kehrte sie zur Maschinengruppe zurück und betätigte die simplen Bedienungselemente, die Dan ihr bereit-gestellt hatte. Mit diesen Hilfsmitteln war sie in der Lage, ihre Position im All weitaus exakter zu bestimmen, als Dan es von der weit entfernten Erde aus vermocht hätte.

Dann feuerten die Raketen und sprühten einen Hagelschauer von Abgasteilchen in den Raum. Sie drückten gegen die Flanke des Schiffs wie ein Kalmar, der sich gegen den Bauch eines Wals stemmt. Wellen aus grellem Licht waberten über die Schiffshülle und strahlten die driftenden Algenwolken an, und Sheena spürte die leise Wirkung der Schwerkraft, als die sie umgebenden Wasser-massen sich an der neuen Flugbahn ausrichteten.

Für Sheena waren die Sterne mehr als bloße Leuchtfeuer. Sheenas Augen hatten hundertmal so viel Rezeptoren wie menschliche Augen, und deshalb sah sie auch hundertmal so viele Sterne.

Für Sheena war das Universum ein loderndes Sternenmeer. Die Galaxis war ein Riff aus Sternen, das einladend funkelte und glänzte.

Doch nur Sheena vermochte es zu sehen.

Sie kam nur schwer zur Ruhe.

Sheena war mutterseelenallein. Obwohl sie wusste, dass es hier keine Räuber gab und dass sie so sicher war, wie ein Kalmar nur sein konnte, fand sie keine Ruhe: nicht ohne den vielfachen Schutz der Schule um sie herum, die Warnungen und Wächter.

Ohne die Schule fehlten ihr natürlich auch die Gesellschaft der Kalmare, die Paarung und das Lernen und die endlosen Tänze im Tageslicht.

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Dan hatte eine Art Traumschule für sie geschaffen: funkelnde kalmarähnliche Formen, die um sie herumschwammen und -stoben. Doch die künstlichen Leiber polarisierten das Licht unmerklich falsch, und die Trugschule spendete ihr keinen Trost. Sie wunderte sich über Dans Unaufmerksamkeit.

Je länger die Mission dauerte, desto größer wurde ihr Verdruss, und die Loyalität gegenüber Dan verrann wie der Sand in einer Sanduhr.

E-CNN:

… Wir kommen nun zur Nachricht des Tages zurück, der sich an-bahnenden Krise wegen des illegalen Raketenstarts, den die Firma Bootstrap in ihrer Einrichtung in der Mojave-Wüste durchgeführt hat. Wie sich nämlich herausstellte, haben die Behörden Bootstrap nicht nur die beantragten Genehmigungen verweigert, sondern sie standen auch kurz davor, die Anlage zu schließen. Joe …

… Danke, Madeleine. Wir wissen nun, dass Cruithne nicht das ursprüngliche Ziel von Reid Malenfants interplanetaren Ambitio-nen war. Ursprünglich hatte er Reinmuth im Visier, einen Asteroiden, der viel metallhaltiger ist als Cruithne. Wieso also Cruithne?

Wie aus Quellen innerhalb von Bootstrap verlautet, ist Malenfant seit ein paar Monaten davon überzeugt, dass der Weltuntergang bevorstehe. Und diese globale Katastrophe hat irgendetwas mit Cruithne zu tun. Welche Schlüsse sollen wir nun aus der be-merkenswerten Wendung in dieser spektakulären Geschichte ziehen?

Wir versuchen herauszufinden, ob Malenfants Zukunftsängste einen konkreteren Hintergrund haben als reine Paranoia. Dem Vernehmen nach halten angesehene Wissenschaftler es für eine statistische Tatsache, dass die Welt, und wir mit ihr, in ein paar Jahr-153

hunderten untergeht. Anscheinend ist das seit den achtziger Jahren in Regierungskreisen bekannt. Die Regierung hat jede Stellungnah-me abgelehnt. Madeleine …

Joe, der einundfünfzigjährige Reid Malenfant ist überaus charismatisch und beliebt. Seit er seine interplanetare Mission verkündet hat, hat er den Status einer Kultfigur erlangt. Zu den Spielzeugen, die letztes Weihnachten der Verkaufsrenner waren, gehörten auch Modelle von Bootstraps so genanntem Big Dumb Booster, neben Action-Figuren und animierten Hologrammen der intelligenten Kalmar-Besatzung und sogar von Reid Malenfant selbst.

Trotz des unbestreitbar attraktiven Äußeren gilt Malenfant bei den Kommentatoren jedoch schon seit langem als instabile Persönlichkeit.

Die Sprecher von Bootstrap dementieren das alles freilich als skurrile Gerüchte, die von Reid Malenfants Feinden lanciert wurden, vielleicht sogar innerhalb seines eigenen Unternehmens …

John Tinker:

Ja, sie haben mich aus der Flying Mountain Society rausgeworfen.

Zum Teufel mit ihnen.

Und zum Teufel mit Reid Malenfant. Malenfant ist ein Schlapp-schwanz.

Ja, er hat seinen Vogel vom Boden bekommen. Trotzdem ist die Durchführung eines Starts mit altertümlichen chemischen Raketen im besten Fall eine Stümperei, im schlechtesten ein katastrophaler Fehler.

Leute, man fliegt nicht hopplahopp ins All, indem man Chemi-kalien verbrennt.

Seit den Sechzigern gibt es eine Lösung auf dem Reißbrett. Projekt Orion.

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Man nimmt eine große Platte, macht sie mit Stoßdämpfern an einer großen Kapsel fest und zündet eine Atombombe darunter.

Das Schiff wird sich bewegen, glauben Sie mir.

Dann zündet man eine weitere Bombe, und noch eine.

Mit einem geringen Teil des weltweiten Atomwaffenarsenals könnte man ein paar Millionen Kilo in den Orbit bringen.

Ich glaube an den Traum. Ich glaube, dass wir es uns zum Ziel setzen sollten, bis zum Ende des Jahrhunderts eine Milliarde Menschen in den Weltraum zu befördern. Das ist die einzige Möglichkeit, eine echte weltraumtüchtige Industrie-Infrastruktur zu errichten – und darüber hinaus der einzige Weg, genug Menschen umzu-siedeln, um das Bevölkerungsproblem des Planeten nachhaltig zu lösen.

Ja, das wird radioaktiven Fallout verursachen. Aber nicht viel im Vergleich dazu, was wir der Hintergrundstrahlung bereits hinzuge-fügt haben. Das wäre auf jeden Fall das kleinere Übel.

Malenfant hat Recht; wir stehen vor einer Krise, bei der es ums Überleben der Spezies geht. Schwere Zeiten erfordern schwere Entscheidungen. Also Butter bei die Fische, Leute.

Zumal diese Bomben nicht von selbst verschwinden werden.

Wenn Amerika sie nicht einsetzt, dann wird jemand anders es tun.

Art Morris:

Mein Name ist Art Morris, und ich bin vierzig Jahre alt. Ich bin ein Marine beziehungsweise war einer, bis ich wegen Dienstun-tauglichkeit entlassen wurde.

Mein liebster Besitz ist ein Schnappschuss von meiner Tochter Leanne.

Das Foto zeigt sie auf ihrer letzten Geburtstagsfeier, als sie gerade fünf Jahre geworden war. Es war ein sonniger Tag in Florida.

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Der Schnappschuss ist eins von diesen modernen Fotos, mit denen man auch Bewegung festhalten kann, und es zeigt Leanne, wie sie die Kerzen auf dem Kuchen ausbläst. Und er hat eine Tonspur.

Wenn man genau hinhört, dann hört man unter dem Klatschen und dem Jubel der Familie ihr Pusten heraus. Ich bin auf dem Bild zwar nicht zu sehen, aber ich stehe direkt hinter Leannes Schulter und puste auch, damit die Kerzen auch wirklich ausgehen, so wie sie das wollte. Damit in ihrer Welt wenigstens einmal etwas klappt.

Wenig später mussten wir sie unter die Erde bringen. Ich verstand nicht die Hälfte von dem, was die Ärzte mir über ihre Krankheit erzählten, aber ein Wort prägte sich mir ein.

Sie war ein gelbes Baby, ein Weltraum-Baby, ein Raketen-Baby.

Vielleicht wäre sie nun eins von diesen schlauen Kindern, von denen die Nachrichten voll sind. Aber sie bekam nie die Chance.

Ich war froh, als das Raumfahrtprogramm gestrichen wurde.

Doch nun zünden diese Arschlöcher in der Wüste trotzdem wieder ihre verdammten Raketen.

Ich klebe Leannes Bild ans Armaturenbrett meines Autos oder bewahre es in der Brieftasche auf.

Schau, was du getan hast, Reid Malenfant!

Reid Malenfant:

Frau Vorsitzende, das ist kein Husarenstückchen. Es handelt sich um ein solides unternehmerisches Projekt.

Und so lautet der Plan:

Cruithne ist eine Kugel aus einer Substanz mit geringer Dichte: wahrscheinlich achtzig Prozent Silikate, sechzehn Prozent Wasser, zwei Prozent Kohlenstoff, zwei Prozent Metalle. Dies ist eine 156

außerordentlich reiche Ressource. Unsre Strategie stellt auf die einfachste Technik ab – für schnelle Rendite und Amortisation.

Das Erste, was wir auf Cruithne herstellen werden, ist Raketenbrennstoff. Es wird sich um einen Methan-Sauerstoff-Zweikompo-nenten-Treibstoff handeln.

Dann werden wir im Asteroiden Permafrost-Wasser und Asteroidenmaterial schürfen. Mit dem Brennstoff werden wir Wasser zu-rück in den Erdorbit schicken – genauer gesagt auf eine Umlaufbahn mit der Bezeichnung HEEO, einen stark exzentrischen Erdorbit, der unter dem Gesichtspunkt der Zugänglichkeit ein guter Kompromiss für die Lagerung von extraterrestrischen Materialien ist.

Auf diese Art und Weise werden wir eine Pipeline von Cruithne zur Erde errichten.

Das wird eine überschaubare Operation sein. Die Methan-Raketen basieren auf bewährten und zuverlässigen Pratt & Whitney-Triebwerken. Bei den Frachttransportern wird es sich im Grunde nur um Plastikplanen handeln, die große Eisblöcke umhüllen.

Im HEEO wird dieses Wasser unvorstellbar wertvoll sein. Wir können es für die Lebenserhaltung und die Herstellung von Brennstoff verwenden. Wir glauben, dass die Nautilus in der Lage ist, genügend Wasser zu beschaffen, um zu minimalen Zusatzkos-ten Brennstoff für weitere zwanzig bis fünfzig NEO-Forschungsmissionen zu erzeugen. Dies ist eine Methode der Amortisation, die wir ins Auge gefasst haben. Überschüssigen Brennstoff können wir an die NASA verkaufen.

Wir beabsichtigen aber auch die Erprobung komplexerer Förder-techniken auf diesem Erstflug. Mit der geeigneten Ausrüstung können wir nicht nur Wasser extrahieren, sondern Kohlendioxid, Stickstoff, Schwefel, Ammoniak und Phosphate – alles, was für ein Lebenserhaltungssystem erforderlich ist. Wir werden auch imstan-157

de sein, die Substanz des Asteroiden für die Herstellung von Glas, Fiberglas, Keramik, Beton und Humus zu verwenden.

Wir bereiten schon einen bemannten Flug zu Cruithne vor, der mithilfe dieser Technologie eine Kolonie gründen wird, die erste Weltraumkolonie. Sie wird fast vom ersten Tag an autark sein.

Und die Kolonisten werden Geld verdienen, indem sie die Substanz von Cruithne verarbeiten und Metalle gewinnen. Das Ergebnis wird ungefähr neunzig Prozent Eisen sein, sieben Prozent Nickel, ein Prozent Kobalt und Spurenelemente. Zu den Spurenelementen gehört Platin, das vielleicht als erster Rohstoff aus einer außerirdischen Ressource an die Erdoberfläche gebracht wird; Nickel und Kobalt werden wahrscheinlich folgen.

(Ich werde übrigens oft gefragt, weshalb ich zuerst die Asteroiden ins Visier nehme und nicht den Mond. Zumal der Mond scheinbar leichter zu erreichen und viel größer als ein Asteroid ist. Nun, die Schlacke, die übrig ist, nachdem wir das Wasser, die flüchtigen Stoffe und Metalle aus dem Kern des Asteroiden extrahiert haben – das Zeug, das wir sonst wegwerfen würden – diese Schlacke ist etwa so wertvoll wie das hochwertigste Mondgestein. Deshalb will ich nicht zum Mond fliegen.)

Später errichten wir ein Solarkraftwerk im Erdorbit. Die High-Tech-Komponenten des Kraftwerks wie Lenkung, Kontrolle, Kommunikation, Energieumwandlung und Mikrowellen-Übertragungs-systeme werden auf der Erde montiert. Die vielen anderen Komponenten – Drähte, Kabel, Verstrebungen, Bolzen, Befestigungen, Brennstoff für die Lage-und Bahnregelung sowie Solarzellen – werden alle im Weltraum aus Asteroiden-Material hergestellt. Dieser Plan verringert die Masse, die in den Erdorbit befördert werden muss, um ein Mehrfaches. Dieses Kraftwerk wird sichere, saubere und schadstofffreie Energie erzeugen, die wir an die Erde verkaufen können.

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Und das ist der Plan. In den nächsten Jahren werden flüchtige Stoffe von Cruithne die Raumstation unterstützen, Habitate im Erdorbit, Missionen zum Mond und Mars sowie die erste autarke Weltraumkolonie.

Damit dürfte ich bis zu meiner Pensionierung beschäftigt sein.

Aber was kommt dann?

Die Galaxis wartet auf uns, ja das ganze Universum. Jungfräuliches Territorium. Alles, was wir brauchen, ist ein Brückenkopf.

Und den wird Bootstrap für uns sichern. Amerika hat eine neue Grenze entdeckt, und wir werden zu neuer Größe gelangen.

Offen gesagt, Frau Vorsitzende, glaube ich, dass ich genug Zeit vor Kongressausschüssen wie diesem und anderen inquisitorischen Gremien zugebracht habe. Ich will nur, dass Sie mich meinen Job machen lassen. Und ich wüsste wirklich nicht, wofür ich mich zu entschuldigen hätte.

Ich danke Ihnen.

Sheena 5:

Trotz der zunehmenden Müdigkeit hatte die durch den Weltraum schwimmende Sheena 5 Arbeit zu erledigen.

Sie erforschte das komplexe Ausrüstungs-Wirrwarr, das den Nabel ihrer Welt darstellte. Es war, als ob sie um ein gesunkenes Schiff herumschwömme.

Die Maschinerie war mit Schaltern und Hebeln bestückt und mit schwarzen und weißen Streifen beziehungsweise Kreisen markiert, damit sie imstande war, sie zu identifizieren. Und es gab Skalen, die eigens für ihre Augen konzipiert waren – Skalen, die mit Streifen wie die auf der Haut eines Kalmars versehen waren, Skalen, die Impulse aus polarisiertem Licht auszusenden vermochten. Die Skalen sagten ihr, was innerhalb der Ausrüstung vorging; 159

und für den Fall, dass eine Panne auftrat, war sie darauf trainiert, sie mit den Hebeln und Schaltern zu beheben. Manchmal musste sie bei ihrer Tätigkeit neugierige Fische verscheuchen.

Falls ein schwer wiegender Störfall eintrat, konnte sie Dan um Hilfe bitten. Er wusste immer eine Antwort oder fand zumindest eine. Sie setzte sich das Plastikmonokel aufs Auge, und Laserlicht zeichnete ihr Bilder auf die Netzhaut, verzerrte Grafiken und einfache Zeichen, die ihr sagten, was zu tun sei.

Die Maschinerie enthielt summende Motoren, die Pumpen und Filter antrieben: Vorrichtungen, die mit dem Wärmefluss von der Sonne gekoppelt stetige Strömungen erzeugten. Die Strömungen gewährleisteten, dass das Wasser durchmischt wurde und dass kein Teil zu warm oder zu kalt wurde, mit zu viel oder zu wenig Leben.

Sonst würden die Kieselalgen und andere sich unter der Hülle der Blase, wo das Sonnenlicht am intensivsten war, konzentrieren und sich explosionsartig vermehren, bis sie alle vorhandenen Nährstoffe verbraucht hatten und das Wasser schließlich kippte.

Und die Filter beseitigten Abfälle im Wasser, Rückstände, die nicht weiter reduzierbar waren und die kein Lebewesen in dieser kleinen Welt zu verdauen vermochte. Irgendetwas musste aber mit diesen Abfällen geschehen, oder sie würden die Nährstoffe im Wasser allmählich vergiften. Also enthielt die Maschine eine Vorrichtung, mit der die Abfälle verbrannt und in ihre Bestandteile zerlegt wurden. Diese Bestandteile wie Gas, Dampf und Salze wurden den Pflanzen und Algen dann wieder zugeführt.

So zirkulierten in Sheenas Raumschiff Materie und Energie in großen Schleifen, vom Sonnenlicht aufrechterhalten und von der zentralen Maschinerie geregelt wie von einem schlagenden Herzen.

Dan sagte ihr, dass sie sich bereits bewährt habe: Durch die Handhabung der Ausrüstung habe sie sich als viel intelligenter und anpassungsfähiger erwiesen als jede von Menschenhand gefer-160

tigte Maschine, die sie an ihrer Stelle ins All zu schicken vermocht hätten.

Sie wusste, dass die Menschen es eigentlich vorgezogen hätten, an ihrer Stelle Maschinen – geistlose ratternde Dinger – ins All zu schicken. Und zwar aus dem Grund, weil sie wussten, dass sie Maschinen bis ins letzte Zahnrädchen zu kontrollieren vermochten.

Aber es würde ihnen niemals gelingen, sie zu kontrollieren … was durch die Überreste des Spermatophoren bewiesen wurde, die sie noch immer schuldbewusst in der Mantelhöhle aufbewahrte – sie klebten an der Innenwand.

Vielleicht waren sie auch nur neidisch.

Schon seltsam, sagte sie sich, dass ihre Art so gut an dieses grö-

ßere, unendliche Meer angepasst war. Als ob das irgendwie so sein sollte. Sheena hatte das Gefühl, dass es furchtbar beengend für einen Menschen sein musste, auf die dünne Luftschicht beschränkt zu sein, die an der Erde haftete.

… Anfangs hatte sie es mit einer seltsamen Gelassenheit hingenommen, dass sie sterben würde, ohne die Meere der Erde je wiederzusehen und sich jemals wieder mit den Schulen zu vereinigen. Sie hegte den Verdacht, dass das kein Zufall war und dass Dan ihr Bewusstsein irgendwie präpariert hatte, um diese Anweisungen ohne Furcht zu befolgen.

Was natürlich nicht stimmte.

Doch je rastloser und müder sie wurde, je länger ihre Isolation andauerte und je unwichtiger Dan und seine Mission wurden, desto stärker wurde das Gefühl des Verlusts.

Und es gab natürlich einen Umstand in ihrer Mantelhöhle, der die Lage zusätzlich komplizierte.

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Sie würde die Eier irgendwann ausstoßen müssen. Aber jetzt noch nicht. Nicht hier. Es gab viele Probleme, die dieser Tag mit sich bringen würde, und sie fühlte sich ihnen noch nicht gewachsen.

Also wiegte die im Sternenlicht schwimmende Sheena ihr ungeborenes Junges und stieß ungeduldig Tintenwolken in der ungefähren Form des Männchens aus, das sie gekannt hatte, des Männchens mit den hellen leeren Augen.

Michael:

Es war ein paar Wochen, nachdem die Frau ins Dorf gekommen war, als Stef ihn rief.

»Ich muss fortgehen«, sagte Stef. »Und du auch.«

Michael verstand nicht. Stef mit den Maschinen, dem guten Essen und den Mädchen war der mächtigste Mann im Dorf, viel mächtiger als der Häuptling und der Medizinmann. Wer hätte ihn zu etwas zwingen wollen?

Und überhaupt hatte Michael sich noch nie weiter als ein paar hundert Meter vom Dorf entfernt und noch nie woanders geschlafen als in einer Dorfhütte. Er wusste nicht genau, was ›fortgehen‹

eigentlich bedeutete und was man von ihm erwartete.

Es mutete unwirklich an. Vielleicht war das auch nur ein Spiel von Stef.

»Ich will nicht gehen«, sagte Michael. Doch Stef beachtete ihn nicht.

Er schlief und versuchte das zu vergessen.

Doch schon am nächsten Tag holten sie ihn ab.

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Ein Auto fuhr außerhalb des Dorfs vor. Große lächelnde Frauen stiegen aus. Jeden Tag kamen Autos ins Dorf, blieben für ein paar Stunden und verschwanden dann wieder. Doch nun musste Michael zum ersten Mal in seinem Leben in ein Auto steigen und damit wegfahren.

Er schnürte sein Bündel und nahm die Taschenlampe mit, die Stef ihm gegeben hatte. Stef hatte ihm auch neue Batterien gegeben, Alkali-Batterien, die nicht so schnell leer wurden. Michael wollte nicht gehen, aber die großen Frauen machten ihm mit einem harten Lächeln klar, dass er keine Wahl hatte.

»Es tut mir Leid«, sagte Stef zu Michael. »Wir haben den Unterricht nicht beendet. Aber es wird dir gut gehen. Du wirst weiter lernen.«

Michael wusste, dass das stimmte. Er wusste, dass er mit dem Lernen nicht aufhören konnte. Auch wenn er allein war, sogar im Dunklen, arbeitete er weiter, lernte, machte sich Gedanken.

Dennoch fürchtete er sich.

»Nimm mich mit«, sagte er.

Stef sagte nein. »Ich darf nicht einmal Mindi mitnehmen«, sagte er. Mindi war sein Lieblingsmädchen gewesen. Nun war sie schwanger und lebte wieder bei ihrer Mutter, weil kein Mann sie mehr haben wollte. »Man wird sich um dich kümmern«, sagte Stef zu Michael. »Du bist ein Blue.«

Es war das erste Mal, dass Michael hörte, wie dieses Wort, das englische Wort, in diesem Zusammenhang benutzt wurde. Er wusste nicht, was das bedeutete.

Er fragte sich, ob er Stef jemals wiedersehen würde.

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Er wurde durch eine Reihe von Gebäuden geführt, durch ein Sperrfeuer aus Stimmen und Zeichen, die er nicht verstand. Sogar die Gerüche waren fremdartig.

Dann war er in einem Flugzeug und schaute über verdorrtes Land und blaues Meer.

Er glaubte, dass er anschließend lang geschlafen haben musste, denn die Erinnerungen an die Reise waren verworren und bruch-stückhaft, und er vermochte sie in keine logische Reihenfolge zu bringen. Und so kam er in die Schule.

Emma Stoney:

Durch den nicht genehmigten Start und den spektakulären Anblick des goldenen Raumschiffs, das den Erdorbit verließ, war Malenfant zum Volkshelden geworden. Das war bestimmt sein aller-bestes Jahr, wie die Medienberater ihnen sagten, und sie arbeiteten hart, damit er in den Medien noch besser rüberkam.

Aber er hatte sich viele mächtige Feinde gemacht. Plötzlich formierte sich in Finanzkreisen und in der Politik eine Opposition gegen Malenfant, wobei man den Eindruck hatte, dass sie insze-niert worden waren. Emma kam es jedenfalls so vor, als ob sie noch nie so weit von einer Starterlaubnis entfernt gewesen wären wie in diesem Moment, und noch weiter davon, das Geld behalten zu dürfen, das sie an Cruithne verdienten – unter der Voraussetzung, dass die Nautilus ihn überhaupt erreichte.

Emma berief in der Bootstrap-Niederlassung in Las Vegas einen Kriegsrat ein: sie selbst, Malenfant und Maura Della. Cornelius war zwar nicht eingeladen, aber er kam trotzdem.

Malenfant stiefelte im Büro umher. »Ich glaube diesen Scheiß nicht.« Er schaute Emma grimmig an. »Ich dachte, wir hätten unsre Gegendarstellungen vorbereitet.«

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»Wenn du mir die Schuld gibst, bin ich sofort weg«, sagte sie.

»Vergiss nicht, dass du nicht einmal mir Bescheid gesagt hast, dass du die verdammte Rakete starten wolltest.«

»Ich weiß, was Sie sich dabei gedacht haben«, sagte Maura gleichmütig. »Sie sagten sich, indem Sie einfach starteten und das sichere Funktionieren Ihres Systems bewiesen, könnten Sie den bürokratischen Knoten durchhauen und die Welt zugleich von Ihrem technischen Konzept überzeugen.«

»Verdammt richtig. Genauso wie ich den wirtschaftlichen Nutzen beweisen werde, wenn wir die Leckerbissen erst mal nach Hause bringen.«

Maura schüttelte den Kopf. »Sie sind so naiv. Sie haben sich in die Karten gucken lassen. Sie haben nur erreicht, dass Ihre Gegner sich auf Sie einschießen.«

»Aber wir sind gestartet. Wir fliegen zu Cruithne. Das ist eine physikalische Tatsache. Die PR-Fritzen im Capitol und die Sesselfurzer in der NASA können rein gar nichts daran ändern.«

Cornelius Taine legte die manikürten Finger übereinander.

»Aber sie können Sie an einem erneuten Start hindern, Malenfant.«

»Und sie können dich ins Gefängnis stecken«, sagte Emma leise.

»Wir dürfen uns nicht noch selbst zerstreiten. Gehen wir die Sache Punkt für Punkt durch.« Sie tippte auf die Tischplatte; sie wurde transparent, und eine integrierte Softscreen bildete eine gegliederte Aufstellung ab. »Zuerst der Standpunkt der NASA.«

Malenfant lachte bitter. »Scheiß NASA. Ich fasse es nicht, dass sie eine Eins-zu-Achtzig-Prognose über die Machbarkeit meiner BDB-Konstruktion erstellt haben, nachdem sie schon geflogen war.«

»Wieso wundert Sie das?« fragte Cornelius Taine. »Sie hofften, dass die Technik versagt. Wo das nun nicht mehr möglich ist, wollen sie wenigstens sicherstellen, dass Sie politisch Schiffbruch erleiden.«

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»Ja, entweder das oder mich übernehmen …«

Es schien der Wahrheit zu entsprechen. Mit auffälliger Hast – was bei Emma den Verdacht weckte, dass sie genau darauf hingear-beitet hatte und nur noch auf den Moment zum Zuschlagen wartete – hatte die NASA mit Gegenentwürfen für BDB-Konstruktionen aufgewartet und formelle Aufforderungen zur Angebotsabgabe an prospektive Partner in der Industrie gerichtet. Die NASA behauptete, dass sie in fünf bis zehn Jahren imstande wäre, eigene BDBs zu starten – nachdem sie gewährleistet hatte, dass man alle relevanten Techniken verstanden und zur Verfügung hatte.

Und nicht nur das, sie usurpierten auch Malenfants langfristige Ziele mit Vorschlägen für ein internationales Programm für den Flug zu den Asteroiden und ihre Nutzung.

»Ich bin nicht sicher, ob wir diese Sache noch gewinnen werden – schließlich gilt die NASA als die Behörde für die Entwicklung von Raumschiffen.«

»Aber«, sagte Cornelius gewichtig, »es ist genau dieser Prozess der Assimilation, mit dem die NASA jede neue Raumfahrttechnik-Initiative seit dem Shuttle abgewürgt hat.«

»Ja«, knurrte Malenfant. »Indem sie sie dem unersättlichen Raumfahrtindustrie-Kartell zum Fraß vorgeworfen hat.«

Maura hielt die Hände hoch. »Ich will damit sagen, dass ein Sieg der NASA durchaus möglich ist. Falls sie gewinnt, müssen wir einen Weg finden, damit zu leben.«

Wir, sagte Emma sich. Trotz des kritischen Themas dieser Besprechung fand sie noch die Zeit, sich darüber zu wundern, dass Malenfant es wieder einmal geschafft hatte, aus einem potenziellen Feind einen Freund zu machen.

»Nächster Punkt«, sagte Emma skeptisch. »Finanzierung durch den Kongress.«

»Wir sind nicht auf Subventionen angewiesen«, sagte Malenfant schroff.

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»Das ist wohl wahr«, sagte sie trocken. »Aber du hast nie eine Gelegenheit verstreichen lassen, dich aus allgemeinen Fördertöpfen zu bedienen. Und das erweist sich nun als eine Schwäche. Wir sind zwischen Genehmigung und Bewilligung gefangen. Darüber musst du dir klar werden, Malenfant. Es gibt zwei Phasen. Genehmigung ist quasi eine Wunschliste. Bewilligung ist die Zuteilung von Finanzmitteln anhand dieser Liste. Aber nicht jeder genehmigte Posten wird auch finanziert.« Sie hielt inne. »Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass es unklug ist, genehmigtes Geld auszugeben, als ob es schon bewilligt wäre. Genau das hast du getan. Es war ei-ne Falle.«

»Das waren Peanuts«, knurrte Malenfant. »Überhaupt kapiere ich nicht, wieso, zum Teufel, ihr Flitzpiepen im Kongress nicht imstande seid, eine einfache Entscheidung zu treffen.«

Maura seufzte. »Ein föderales System ist eine komplexe Angelegenheit. Wenn man die Abläufe nicht einhält…«

»Und das nächste Jahr sieht noch schlechter aus«, sagte Emma.

»Unsre Gegner haben alle Quellen der staatlichen Finanzierung identifiziert, wie wir angezapft haben, und sie haben bereits Revi-sions- und Änderungsverfahren in die Wege geleitet, um …«

»Dann schichten wir das Budget eben um«, sagte Malenfant.

»Wir nehmen Einsparungen vor und erschließen neue Finanzquel-len.«

»Aber die Investoren werden abgeschreckt«, sagte Emma. »Das ist das nächste Problem. Es fing schon vor dem Start an, Malenfant.

Du weißt das. Nun haben sie Muffensausen. Und durch die Probleme, die wir mit den Regulierungsbehörden haben, sind noch mehr von ihnen verschreckt worden.«

»Aber wir müssen weitermachen«, sagte Cornelius Taine unbeeindruckt.

Mein Gott, sagte Emma sich.

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Cornelius sah mit unbewegter Miene von einem zum andern.

»Begreifen Sie das denn nicht? Wollen Sie vielleicht, dass jemand anders das Sonnensystem unter seine Kontrolle bringt? Die Russen? Die Chinesen? Das wird nämlich geschehen, wenn wir scheitern.«

»Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Cornelius«, sagte Emma scharf. »Von meinem Standpunkt aus sind Sie nämlich Teil des Problems und nicht seiner Lösung. Kein Wunder, dass die Investoren die Flucht ergriffen haben. Wenn etwas von Ihrem irren Kram an die Öffentlichkeit gelangt ist…«

»Die Carter-Katastrophe wird eintreten, was auch immer Sie von mir halten«, sagte Cornelius.

Maura zog die Stirn kraus. »Die was?«

Emma holte tief Luft. »Malenfant, hör mir zu. Alles, was wir bisher aufgebaut haben, wird zerstört werden. Es sei denn, wir unternehmen etwas.«

»Etwas unternehmen? Was denn? Ein Ausverkauf an die NASA?«

»Vielleicht. Und du musst deine Verbindungen zu dieser Type abbrechen.«

Cornelius Taine lächelte kalt.

Die Knöchel der Hände, die Malenfant auf dem Rücken verschränkt hatte, traten weiß hervor.

Die Besprechung endete ohne eine lösungsorientierte Abma-chung.

»Carter? Wer, zum Teufel, ist Carter?« flüsterte Maura Emma beim Verlassen des Raums zu.

Emma kehrte an diesem Tag erst gegen Mitternacht in ihre Woh-nung zurück. Als sie zur Tür hereinkam, schaltete sie per Sprach-168

steuerung das Fernsehgerät ein. Und auf jedem Nachrichtenkanal war Cornelius Taine.

Cornelius Taine:

Dr. Taine, dann sagen Sie also, dass diese Leute aus der Zukunft – die Wesen, die Sie als Bewohner des Unterlaufs bezeichnen – sich durch die Zeit an uns gewandt haben. Um uns eine Botschaft zu senden.

Ja. Das glauben wir.

Und Sie nehmen an, dass es sich um Menschen in der Zukunft handelt, die diese Katastrophe überlebt haben, von der Sie sprechen. Beziehungsweise überleben werden. Wie auch immer. Richtig? Wieso mussten sie dann überhaupt eine Botschaft senden?

Sie schneiden ein Kausal-Paradoxon an. Diese Menschen retten ihre Großeltern, also uns, vor dem Ertrinken. Aber wenn sie er-trunken wären, würden sie nicht mehr existieren. Also lautet die Frage, wie können sie sie retten? – Richtig?

Ähem … ja. Ich glaube schon …

Die Zeit gibt uns große Rätsel auf. Was geschieht, wenn man die Vergangenheit zu ändern versucht, steht ganz oben auf dieser Liste. Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Es ist eine Frage von Transaktionen vorwärts und rückwärts in der Zeit.

Das Feynman-Funkgerät arbeitet auf der Grundlage von Photonen – elektromagnetischen Wellenpaketen –, die in der Zeit zurück reisen. So weit, so gut.

Photonen sind aber nicht die einzigen Wellen.

Wellen dienen als Grundlage der Beschreibung der Realität. Ich meine damit natürlich die Wellen der Quantenmechanik. Diese Wellen sind Flüsse aus – was? Energie, Information? Jedenfalls durchziehen sie den Weltraum wie ein Geflecht und breiten sich von jedem Quantenereignis wie Wellen aus.

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Wir haben Gleichungen, aus denen hervorgeht, wie sie sich ausbreiten. Und wenn wir die Struktur der Wellen kennen würden, dann wüssten wir auch eine Menge über die makroskopische Realität, die sie abbilden. Eine Verdichtung der Wellen hier bedeutet, dass dies der wahrscheinlichste Ort ist, an dem das reisende Elektron sich befindet, das von dort ausgesandt wurde …

Aber wie elektromagnetische Wellen reisen auch Pakete aus Quantenwellen, die von einem Ereignis ausgesandt wurden, in der Zeit vorwärts und rückwärts. Und diese rückwärts gerichteten Wellen bestimmen die Struktur des Universums.

Angenommen, Sie haben irgendein Objekt, das den Zustand eines anderen verändert: eine Quelle und einen Detektor, vielleicht für Photonen. Die Quelle ändert den Zustand und schickt Quantenwellen in die Zukunft und in die Vergangenheit. Die in die Zukunft reisende Welle erreicht den Detektor. Der sendet auch Wellen aus, die in die Zukunft und in die Vergangenheit reisen – wie Echos.

Und nun kommt's. Die Quantenechos löschen die Wellen, die von der Quelle ausgehen, überall aus – sowohl die zukünftigen wie die vergangenen –, außer entlang des Weges, den die normalen retardierten Wellen genommen haben. Es entsteht so etwas wie eine stehende Welle zwischen Quelle und Empfänger. Und weil für ei-ne Welle, die sich mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzt, auch keine Zeit vergeht, ist der Vorgang zeitlos.

Das wird als Transaktion bezeichnet, als ob Quelle und Empfänger sich die Hände schütteln. ›Hallo, ich bin hier.‹ – ›Ja, ich bestä-

tige, dass du dort bist.. .‹

Dann gibt es also wirklich Wellen, die in der Zeit zurück reisen ?

Es hat den Anschein. Aber Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen.

Brauch ich nicht?

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Nein. Es gibt nämlich keine ›Zurück-in-derZeit‹-Paradoxa, weil die rückwärts gewandten Wellen nur den Zweck haben, die Transaktion einzurichten; sonst wären sie überhaupt nicht zu entdecken.

Und so funktioniert unsre Realität. Indem die Auswirkungen einer Veränderung sich durch Raum und Zeit fortpflanzen, verleiht das Universum sich eine neue Form – Transaktion um Transaktion, Handschlag um Handschlag.

Hmm. Und Sie sagen, das sei Quantenmechanik? Was ist dann mit dem ganzen Quantenkram passiert? Die kollabierende Wellenfunktion, Schrödingers Katze, die Viele Welten-Interpretation und …

Ach, das können sie alles vergessen. Wir studieren das heutzutage, wie wir römische Ziffern studieren. Wo wir nun wissen, worum es bei der Quantenmechanik wirklich geht, fällt es einem schwer, sich vorzustellen, dass die Menschen jener Zeit so gedacht haben.

Können Sie mir folgen?

Hmm … Madeleine?

Noch mal zum besseren Verständnis. Wenn ich zurückgehe und die Vergangenheit ändere, erschaffe ich ein neues Universum, das an diesem Punkt abzweigt… richtig? Wenn ich meine Großmutter töte, bekomme ich zwei Universen – eins, in dem sie lebte und ich geboren wurde, und eins, in dem sie stirbt und ich nie geboren wurde …

Nein. Vielleicht haben Sie mir nicht richtig zugehört. So funktioniert es eben nicht.

Es gibt nur ein Universum gleichzeitig. Neue Universen mögen zwar aus anderen entspringen, aber sie sind nicht ›parallel‹ nach Ihrer Vorstellung. Sie sind getrennt und eigenständig mit eigenen ›systemimmantenten‹ Kausalitäten.

Was geschieht also, wenn ich in der Zeit zurück gehe und etwas Unmögliches tue, zum Beispiel meine Oma umbringen? Wenn sie stirbt, wäre ich doch nie geboren worden und hätte sie auch nicht umbringen können …

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Jedes Quantenereignis manifestiert sich in der Realität als das Ergebnis einer Rückkopplungsschleife zwischen Vergangenheit und Zukunft. Händeschütteln über die Zeit hinweg. Die Geschichte des Universums gleicht einem Teppich, der aus Myriaden solcher winziger Handschläge geknüpft ist. Wenn man eine künstliche zeitgleiche Schleife zu einem Punkt in der Raumzeit innerhalb des negativen Lichtkegels der Gegenwart erzeugt…

Toll. Können Sie sich auch verständlich ausdrücken?

Wenn man in der Zeit zurückginge und versuchen würde, die Vergangenheit zu ändern, würde man all diese Transaktionen an-nullieren, die Handschläge zwischen Zukunft und Vergangenheit.

Man würde das Universum beschädigen und eine ganze Reihe von Ereignissen in der Zeitschleife auslöschen.

Deshalb fängt das Universum vom ersten Punkt neu an, an dem die verbotene Schleife entstanden wäre. Das verwundete Universum heilt sich selbst mit einer Zahl neuer Handschläge und arbeitet sich in der Zeit vorwärts, bis es vollständig und seine Integrität wiederhergestellt ist.

Dann wäre eine Änderung der Vergangenheit doch möglich.

O ja.

Sagen Sie mir eins, Dr. Taine. Selbst wenn Sie auf der Grundlage dieser Betrachtungsweise zurück gehen und die Vergangenheit verändern – woher wollen Sie wissen, ob Sie Erfolg hatten? Würden Sie sich nicht mit der Vergangenheit ändern, die Sie geändert haben?

Wir wissen es nicht. Wie sollten wir auch? Wir haben das noch nie versucht. Aber wir halten es für möglich, dass ein intelligentes Bewusstsein es wissen könnte.

Und wie?

Weil Bewusstsein, wie das Leben selbst, Struktur ist. Und die Struktur überdauert, auch wenn der kosmische Teppich sich verändert.

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Stellen Sie sich ein DNA-Molekül vor. Manche Gene sind wichtig für die Struktur des Körpers, andere sind unnötig. Wenn man fähig wäre, die Realität zu beeinflussen und sich mögliche andere Bestimmungen für dieses Molekül vorstellt, gäbe es viele Varia-tionsmöglichkeiten für die überflüssigen Gene, ohne das Molekül in seiner Funktion wesentlich zu beeinträchtigen. Wenn aber eine Änderung in den wichtigen strukturellen Komponenten eintritt – in denjenigen, die Informationen enthalten –, wird das Molekül wahrscheinlich unbrauchbar.

Deshalb muss die Grundstruktur bei geringen Veränderungen der Wirklichkeit stabil bleiben.

Wenn unser Bewusstsein also in gewisser Weise Realitäts-Veränderungen überbrückt…

Dann werden wir vielleicht imstande sein, eine Veränderung wahrzunehmen, eine Anpassung der Vergangenheit. Natürlich ist das spekulativ.

Und was ist mit dem freien Willen, Doktor Taine? Wie passt der in Ihren großen Plan?

Der freie Wille ist eine Auswirkung zweiter Ordnung. Sogar das Leben ist eine Auswirkung zweiter Ordnung. Wie Licht, das auf der wellenschlagenden Oberfläche des Flusses der Zeit tanzt. Es ist nicht einmal die Ursache der Wellen, ganz zu schweigen vom großen, majestätischen Fluss selbst.

Das ist aber eine verdammt pessimistische Sichtweise.

Aber eine realistische.

Wissen Sie, unsre Zeit ist eine Blase weit stromaufwärts, die völlig unbedeutend erscheinen muss angesichts der großen Herausfor-derungen der Zukunft. Aber sie ist nicht unbedeutend, weil sie nämlich die erste Blase ist. Und wenn wir die Carter-Katastrophe nicht überleben, verlieren wir alles – einschließlich der Ewigkeit selbst…

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Emma Stoney:

Die Medienfritzen wussten alles: die Carter-Prognose, die Botschaft aus der Zukunft, den eigentlichen Grund für die Umleitung der Nautilus. Einfach alles.

Emma war davon überzeugt, dass es Cornelius selbst gewesen war, der die Carter-Sache hatte durchsickern lassen. Obwohl das den Druck auf Bootstrap gewaltig erhöhte, schien es nur Malenfants Entschlossenheit zu verstärken, auf dem einmal eingeschlage-nen Weg weiterzugehen, die Kontakte zu Cornelius zu pflegen, das Cruithne-Projekt weiterzuverfolgen und einen neuen Start durchzuführen.

Was natürlich genau das war, was Cornelius wollte. Sie war aus-getrickst worden.

Sie verbrachte eine schlaflose Nacht mit der Überlegung, was als Nächstes zu tun sei.

Michael:

Zuerst erschien die Schule Michael als ein guter Ort. Besser jedenfalls als das Dorf.

Die Kleidung war sauber und frisch. Das Essen war zwar unge-wohnt und schmeckte manchmal komisch, aber es gab immer reichlich davon. Es gab Kühlschränke, die aufleuchteten und mit Essen und Getränken gefüllt waren – Essen, von dem die Kinder sich nach Belieben bedienen durften. Trotzdem vermisste Michael die Frucht des Affenbrotbaums.

Es gab hier viele Kinder, von sehr kleinen bis hin zu Teenagern.

Sie lebten in hellen und sauberen Wohnheimen.

Anfangs begegneten die Kinder sich mit Argwohn. Sie hatten keine gemeinsame Sprache, und Kinder, die sich untereinander zu 174

verständigen vermochten, bildeten Gruppen. Es gab jedoch niemanden, der Michaels Sprache beherrschte. Aber er war es schließ-

lich gewohnt, allein zu sein.

Dies war ein Ort namens Australien. Es war ein weites, leeres Land. Er sah Landkarten und Weltkugeln, hatte aber keine Vorstellung, wie weit er vom Dorf entfernt war.

Nur dass er weit davon entfernt war.

Sie hatten auch Unterricht. Die Lehrer waren Männer und Frauen, die sich Brüder und Schwestern nannten.

Manchmal wurden die Kinder in einem Raum versammelt, zehn oder fünfzehn an der Zahl, während ein Lehrer vor ihnen stand und ihnen etwas erzählte oder sie zur Arbeit mit Papier und Bleistift oder mit einer Softscreen anleitete.

Michael hatte, wie ein paar andere Kinder, eine besondere Softscreen, die in seiner Sprache zu ihm sprach. Es war tröstlich, das Flüstern der mechanischen Stimme zu hören, die wie ein fernes Echo von zu Hause klang.

Am schönsten war es aber, wenn er forschen durfte. Dann verwandelte die Softscreen sich in ein Fenster zu einer anderen Welt, einer Welt aus Bildern und Ideen.

Er interessierte sich weder für Sprachen noch für Musik oder Geschichte. Aber die Mathematik hatte es ihm sofort angetan.

Er sog die Symbole förmlich in sich ein, tippte sie in die Softscreen, kritzelte sie auf Papier und zeichnete sie sogar in den Staub, wie er es zu Hause immer getan hatte. Die meisten Symbole und ihre Bedeutung waren klarer als die, die er sich selbst zurecht-gelegt hatte, und er verabschiedete sich ohne Bedauern von diesen Konstrukten. Manchmal stellte sich aber heraus, dass seine Erfin-dungen besser waren, und dann behielt er sie bei.

Er liebte die Stringenz der mathematischen Beweisführung – eine Kette von Gleichungen und wahren Aussagen, die zu einer tieferen, reicheren Wahrheit führten, wenn man sie richtig manipulier-175

te. Er hatte das Gefühl, dass seine eigene Sicht der Welt sich her-auskristallisierte und verfestigte wie die Frostmuster, die er in den Kühlschränken sah. Sein Denken beschleunigte sich.

Im Mathematikunterricht wurde er es bald überdrüssig, im gleichen Tempo wie die anderen Kinder arbeiten zu müssen.

Einmal wurde er sogar renitent.

Da wurde er zum ersten Mal bestraft; von einer Schwester, die ihn anschrie und schüttelte.

Er wusste, dass das eine Warnung war: dass dieser Ort doch nicht so freundlich war, wie er schien. Es gab Regeln, die er zu lernen hatte, und je eher er sie lernte, desto weniger Verdruss hätte er.

Also lernte er.

Er lernte, still dazusitzen, wenn er vor den anderen fertig geworden war. Auf diese Art vermochte er seine Arbeit fast genauso effektiv zu erledigen.

Michael schien derjenige zu sein, dem die Mathematik am besten gefiel. Doch die meisten Kinder hatten ein oder zwei Fächer, in denen sie Spitzenleistungen erbrachten. Und dann musste Michael sich anstrengen, während die anderen ruckzuck fertig waren und es riskierten, sich den Zorn des Lehrers zuzuziehen.

Die Kinder, die dieses Talent nicht zeigten, wurden bald wieder von der Schule genommen. Michael wusste nicht, was mit ihnen passierte.

Es war paradox. Wenn man nicht intelligent genug war, wurde man von der Schule genommen. Wenn man zu intelligent war, wurde man wegen seiner Ungeduld bestraft. Michael versuchte auch diese Regel zu beherzigen und sein Licht im Zweifelsfall unter den Scheffel zu stellen.

Im Grunde war es auch egal. Die meiste Arbeit verrichtete er ohnehin im Kopf, im Dunklen, und er erzählte auch keinem etwas davon.

176

Es kamen viele Besucher: Erwachsene, die groß und gut gekleidet waren und sich in den Klassenräumen und Wohnheimen um-schauten. Manchmal brachten sie Leute mit Kameras mit, die lächelten und staunten, als ob die Kinder etwas von großer Bedeutung täten. Einmal nahm eine Frau Michael die Softscreen weg und begutachtete mit einem Ausruf des Erstaunens die Arbeit, die er dort abgespeichert hatte. Er bekam eine neue Softscreen, aber die war natürlich leer und enthielt keine der Arbeiten, die er fertig gestellt hatte. Aber das war ihm auch egal. Das meiste hatte er eh im Kopf.

Es gab hier ein Mädchen namens Anna. Sie war etwas älter und größer als der Rest und schien auch die Regeln schneller zu lernen als die anderen. Michael fiel auf, dass sie große graue Augen hatte, grau und aufmerksam. Sie versuchte den anderen – auch Michael – über die Softscreen verständlich zu machen, was von ihnen erwartet wurde.

Das hatte zur Folge, dass sie öfter bestraft wurde als die meisten anderen, aber sie tat es trotzdem.

Viele Kinder malten blaue Kreise auf ihre Bücher und Softscreens und sogar auf die Haut und an die Wände der Wohnheime. Michael tat das auch; er machte das schon seit langer Zeit, wenn er auch nicht wusste, was das überhaupt bedeutete.

Diese Zeit – im Rückblick eine ebenso seltsame wie schöne Zeit – währte aber nicht lang.

Michael konnte das zwar nicht wissen, aber es war die Veröffent-lichung der Carter-Prophezeiungen – die Botschaft vom Ende der Welt –, die die Veränderungen in den Schulen, einschließlich seiner, herbeiführte.

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Weil die Leute plötzlich Angst bekamen: vor der Zukunft und vor ihren eigenen Kindern.

Leslie Gandolfo:

Offen gesagt, unser größtes Problem, seit dieser Carter-Weltuntergangs-Scheiß veröffentlicht wurde, sind die Fehlzeiten. Sie sind landesweit um mehr als hundert Prozent angestiegen. Nicht nur dass die Produktivität im Keller ist und unser Qualitätsmess-Programm einen drastischen Rückgang in allen Funktionen zeigt.

(Außer dem Rechnungswesen, weshalb auch immer.) Wir hatten auch ein paar Vorkommnisse von Gewaltanwendung, unmorali-schem Verhalten und so weiter am Arbeitsplatz, von denen manche, aber nicht alle, auf den Konsum von Alkohol und/oder Dro-gen zurückgehen.

Es scheint, dass alle diesen pseudowissenschaftlichen Mist glauben und dass es kein Morgen mehr gäbe. Aber natürlich erwarten die Blaumacher, dass wir die Gehälter und Zulagen und Sozialleis-tungen weiter zahlen, wahrscheinlich bis zum Weltuntergangstag und vielleicht noch mit einem Vorschuss oder zwei.

Ich weiß, dass unsre Konkurrenten auch darunter leiden. Aber so können wir nicht weitermachen, meine Damen und Herren. Die Kosten explodieren, und die Gewinne schrumpfen.

Es freut mich zu sehen, dass die Regierung endlich die erforderlichen Maßnahmen ergreift. Seriöse Sprecher, die Carter und Eschatology als Scharlatane entlarven, sind schön und gut. Dass man aber nun rund um die Uhr Sportreportagen, Comedy, Seifenopern und Musik-Videoclips sendet, ist schon ein praktikablerer Ansatz.

Wir haben bereits Großbildschirme in unsren Werken in Tulsa und Palm Beach installiert. Die Produktivität hat natürlich darun-178

ter gelitten, aber zum Glück längst nicht so schlimm wie in anderen Werken ohne Videowände. Wir bieten den fest angestellten Mitarbeitern auch eine vierstündige Gratis-E-Therapie pro Woche an. Fürs Erste stimme ich mit der Regierungsanalyse überein, dass abgelenkte Arbeitnehmer immer noch besser sind als eine Belegschaft, die sich vor lauter Existenzangst in die Hosen macht.

Aber das ist nur ein Herumdoktern an den Symptomen. Wir müssen eine langfristige Lösung finden. Das Ende der Welt mag unvermeidlich sein oder nicht. Die Aktionärsversammlung ist jedoch unvermeidlich. Ich bin für weitere Vorschläge offen …

›Die Stimme der Vernunft‹:

> … Mailen Sie das an zehn Leute, die Sie kennen und sagen Sie ihnen, sie sollen es ihrerseits an zehn Leute schicken, die sie kennen und so weiter. Wir müssen die Spezies gegen den an-steckenden Wahnsinn impfen, der die Menschheit befallen hat, oder diese verdammte Carter-Hypothese wird sich zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung entwickeln.

> WIE WIRD CARTER ENTSCHÄRFT?

> 1) Vor allem nicht als Unsinn abtun. Die Hypothese mag im zeitlichen Zusammenhang falsch sein, aber sie ist weder irrational noch unlogisch. Wir haben es hier nicht mit dem üblichen Weltuntergangsgeschwafel zu tun. Es steckt schon mehr dahinter.

> 2) Beleidigen Sie Ihren Opponenten nicht. Gehen Sie von der Prämisse aus, dass die Leute nicht dumm sind, ob sie nun etwas von Wissenschaft verstehen oder nicht. Wenn Sie sie beleidigen, wird man Sie für arrogant halten, und Sie verlieren die Auseinandersetzung.

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> 3) Der beste Angriff gegen Carter ist der Hinweis darauf, dass der Kosmos radikal indeterministisch ist. Sie können vom Standpunkt der Quantenphysik aus argumentieren, wenn das Publikum Ihnen zu folgen vermag oder mit dem freien Willen, wenn das nicht der Fall ist. Es ist unmöglich vorherzusagen, nicht einmal im Prinzip, wie viele Menschen in der Zukunft existieren werden. Damit ist die Carter-Analogie zwischen der Menschheit und Kugeln in einem Kasten hinfällig.

> 4) Falls das Publikum den entsprechenden Bildungsstand hat, weisen Sie es darauf hin, dass das Argument auf Bayes-Statistiken beruht. Dies ist eine Technik für die Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten eines Ereignisses auf der Grundlage bekannter früherer Wahrscheinlichkeiten. Nur dass wir in diesem Fall keine früheren Wahrscheinlichkeiten haben, auf die wir uns stützen könnten (über die langfristige Zukunft der Menschheit können wir nämlich nur spekulieren). Also ist die Bayes'sche Technik nicht gültig.

> 5) Reduzieren Sie das Argument auf die triviale Ebene. Es ist nämlich ein ganz banaler Sachverhalt, dass die Leute, die Carters Argument diskutieren, heute leben und nicht etwa ein paar hundert Jahre in der Zukunft. Und aus einer Trivialität entspringt auch nur Triviales. Weil die Menschen der Zukunft noch nicht leben, verwundert es auch nicht im Geringsten, dass wir nicht unter ihnen weilen.

> 6) Sie könnten eine reductio adabsurdum versuchen. Eine exponentielle Kurve sieht in jedem Maßstab gleich aus. Man scheint immer am Anfang zu stehen und winzig zu wirken im Vergleich zu dem, was noch kommt. Aus diesem Grund steht die Katastrophe immer dicht unter dem Horizont. (Dieses Argument zieht natürlich nicht mehr, wenn die exponentielle Kurve der menschlichen Bevölkerung sich wirklich in die Unendlichkeit erstreckt. Dann kommen Endlichkeiten und so etwas wie Carter 180

zum Tragen, aber das müssen Sie den Leuten nicht auf die Nase binden, solange sie nicht von sich aus darauf zu sprechen kommen.) > 7) Appellieren Sie an den gesunden Menschenverstand. Werfen Sie einen Blick in die Vergangenheit. Ein Mensch des, sagen wir, Jahres 1OOO nach Christus hätte auf der Spitze einer expo-nentiellen Kurve gesessen, deren Ursprung in der Steinzeit liegt.

Hätte er mit der Deduktion richtig gelegen, dass er zu den letzten Generationen gehörte? Natürlich nicht, wie wir im Rückblick sehen. (Sie müssen damit rechnen, dass Carter-Anhänger damit kontern, das sei eine falsche Analogie; die heutige Menschheit sei wegen des technischen Fortschritts, der Übervölkerung etc.

viel stärker vom Untergang bedroht als im Jahr 1000. Und dass es moderner Erkenntnisse bedurft hätte, um das Carter-Argument überhaupt zu thematisieren. Deshalb haben wir die Carter-Prophezeiung in dem Moment formuliert, wo sie am ehesten auf uns zutrifft. Aber dann können Sie ihnen immer noch damit kommen, dass ihre These statistisch nicht gesichert sei.) <restliche Aufstellung ausgeschnitten> > Achtung! Keins der Gegenargumente ist definitiv. Vielleicht bekommen Sie es mit jemandem zu tun, dessen statistisches Verständnis dem Ihren ebenbürtig oder sogar überlegen ist. In diesem Fall nehmen Sie die Herausforderung an und erschlagen das Publikum mit wissenschaftlichen Floskeln.

> Das Ziel besteht nicht darin, Carter zu widerlegen – das ist vielleicht unmöglich; Sie können das Argument angreifen, nicht aber entkräften. Zumal die einzige Falsifizierung unser weiteres Überleben in 201 Jahren ist – aber wir müssen diese lächerliche Panik wegen Carter beenden, ehe sie uns alle wie ein Flächen-brand erfasst…

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Maura Della:

Dass bald die Welt untergehen sollte, hatte Maura einen Monat, nachdem Cornelius an die Öffentlichkeit gegangen war, fast schon wieder vergessen. Sie ging nämlich in Washington durch die Höl-le: Frühstück mit Reportern, morgendliche Personalbesprechun-gen, simultane Ausschusssitzungen, zwischen denen sie hin und her eilte, Unterredungen mit Lobbyisten, Bürger-Sprechstunden, Anrufe, Besprechungen, Reden, Empfänge und der ständige Vibra-tionsalarm des implantierten Pagers, der sie zwischendurch zur Durchführung von Meinungsumfragen und Prognosen anhielt.

Und dann war da noch ihr Wahlkreis, den sie auch nicht vernachlässigen durfte: ›Fallarbeit‹ – die Vergabe kleiner Vergünstigungen, die aus staatlichen und anderen Fleischtöpfen finanziert wurden – und zielgruppenspezifische Postwurfsendungen, die Sammlung von Wahlkampf-Spenden, Internet-Präsenz und Auftritte in Person, als E-Person oder simuliert. Es war Teil des Dauerwahl-kampfs, eine Tretmühle, aus der es, wie sie wusste, kein Entrinnen gab, wenn sie wiedergewählt werden wollte.

Aber das war nur der übliche Trott der Bundesregierung. Es war, als ob die illegalen Raketenstarts in der Wüste und die düsteren Untergangsprophezeiungen gar nicht stattgefunden hätten.

Die Denkfabriken der Bundesregierung, die versucht hatten, die Plausibilität der Hypothese der Carter-Katastrophe zu ermitteln, hatten sie mit unerfreulicher Lektüre versorgt.

Einerseits vermochte niemand die Behauptung an sich auf der philosophischen oder mathematischen Ebene zu widerlegen. Kein Experte meldete sich zu Wort und sagte, dass er oder sie imstande sei, die verdammte Sache in so einfachen Worten als Unsinn abzu-tun, dass der Präsident es der Nation und der verängstigten Welt mitzuteilen vermochte.

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Andererseits warteten die Berater mit vielen Möglichkeiten auf, wie die Welt vielleicht unterging.

Natürlich durch Krieg: nuklear, biologisch, chemisch.

Eine Katastrophe durch Gentechnik, ob vorsätzlich oder fahrlässig. Der Bericht erwähnte eine Beinahe-Katastrophe in der Schweiz Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts, bei der es um einen Empfängnisverhütungs-Impfstoff ging. Ein genetisch verändertes Salmonellen-Bakterium hatte eine temporäre Infektion in der Vagi-na auslösen sollen, die Antikörper gegen Sperma bildete. Es war mutiert und außer Kontrolle geraten. Hunderttausend Frauen waren auf Dauer unfruchtbar geworden, ehe man die Ausbreitung gestoppt hatte.

Umweltkatastrophen: die fortschreitende Zersetzung der Struktur der Atmosphäre, der Treibhauseffekt.

Ökoterrorismus. Menschen, die für und gegen die Umwelt Krieg führten. Zum Beispiel die Boden-Luft-Rakete, die vor kurzem die Znamya vom Himmel geholt hatte, den riesigen aufblasbaren Spiegel, den man auf eine Umlaufbahn hatte bringen wollen, um den Nachthimmel über Kiew zu erhellen. Zum Beispiel ähnliche Angriffe auf die Riff-Kugeln auf dem Kontinentalschelf des Atlanti-schen Ozeans, die riesigen Betonhalbkugeln, die schnell wachsende Algen anlocken und so überschüssiges Kohlendioxid in der Atmosphäre absorbieren sollten. (Maura stellte mit grimmiger Freude fest, dass Bootstrap einer der Großinvestoren in beiden Projekten war.) Und es war noch viel mehr möglich. Die Umwelt war ›systembe-dingt‹ instabil oder zumindest quasi-stabil. Falls jemand einen Weg fand, diese Stabilität zu erschüttern, dann bedurfte es wirklich nur noch eines kleinen Anstoßes …

Das waren die von Menschen verursachten Risiken. Hinzu kamen Naturkatastrophen. Dieser alte Angstgegner, der Asteroiden-einschlag, rangierte noch immer ganz oben.

183

Und die Erde, so stand zu lesen, sei überfällig für einen gewaltigen Vulkanausbruch, der alle Ereignisse, die in der Geschichts-schreibung dokumentiert waren, in den Schatten stellen würde.

Das Ergebnis wäre ein ›vulkanischer Winter‹, vergleichbar mit den Auswirkungen eines Nuklearkriegs.

Oder die Strahlung einer nahen Supernova merzte alles Leben auf der Erde aus; sie wusste nämlich, dass das Sonnensystem derzeit eine Blase im Weltraum durchquert, die im interstellaren Medium durch eine solche Explosion entstanden war.

Und dann gab es noch etwas, das ihr neu war: Vielleicht würde beim Durchgang der Erde durch eine interstellare Wolke eine neue Eiszeit ausgelöst werden.

Der Bericht endete mit weiteren bizarren Spekulationen. Was war mit der Auslöschung durch Außerirdische? Was, wenn eine fremde Spezies in diesem Moment fleißig damit zugange war, das Sonnensystem umzuformen, ohne überhaupt von unsrer Existenz zu wissen?

Und was war mit dem ›Vakuum-Zerfall‹? Es schien, dass der Weltraum selbst instabil war, wie eine Statue, die auf einem zu schmalen Sockel stand. Sie vermochte kleinen Erschütterungen zu widerstehen (wobei ›klein‹ in diesem Fall solche Dinge wie Explosionen im galaktischen Kern bedeutete), doch ein hinreichend ›starker‹ – vielleicht vorsätzlicher – Stoß würde bewirken, dass die ganze Chose kippte und eine neue Gestalt annahm. Das Fazit schien zu sein, dass so ein ›Schadensfall‹ nicht nur das Ende der Welt bedeutete, sondern das Ende des Universums.

Et cetera. Die spektakuläre Liste der Apokalypse wurde ausführlich fortgesetzt und war sogar mit einer Reihe von Anhängen versehen.

Die Verfasser des Berichts hatten versucht, diese Risiken mit Zahlen zu untermauern. Die Gesamtwahrscheinlichkeit, dass die Spezies über die nächsten paar hundert Jahre hinaus überlebte, 184

wurde mit einundsechzig Prozent veranschlagt – die präzise Angabe belustigte Maura –, wobei dieses Ergebnis noch als ›optimistisch‹ bezeichnet wurde.

Das sollte freilich nicht heißen, dass der Welt all diese Katastrophen erspart blieben; es sollte auch nicht heißen, dass die menschliche Rasse nicht in einem großen Maßstab von Tod und Leid heimgesucht würde. Es sollte damit nur gesagt werden, dass es unwahrscheinlich sei, dass die Welt eine Katastrophe erfahren wür-de, die die Auslöschung der Menschen zur Folge hätte.

Zumindest relativ unwahrscheinlich.

Ob die Welt nun unterging oder nicht, schon die Prognose an sich hatte reale Auswirkungen. Die Wirtschaft steckte in der Krise.

Verbrechen und Selbstmorde schnellten in die Höhe, und die Zuversicht der Investoren schwand. Es hatte auch eine Flucht ins Gold stattgefunden, als ob das helfen würde. Die Mitglieder der Denkfabrik hielten das ironischerweise für eine Nebenwirkung des jüngsten Anstiegs des Verantwortungsbewusstseins. Nach Generationen düsterer Warnungen vor dem desolaten Zustand der Erde hatten die Menschen damit begonnen, Verantwortung für eine Zukunft zu übernehmen, die sich über einen größeren Zeitraum erstreckte als nur über ein oder zwei Generationen. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts mochte die Welt in zwei Generationen unendlich fern erschienen sein. Nun schien sie gleich um die Ecke zu liegen, zum Greifen nah und in den Grenzen heutiger Planun-gen und Handlungen.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass die Leute sich just in dem Moment der ferneren Zukunft zuwandten, als sie ihnen entrissen wurde.

… Vor allem müssen wir uns aber vor Schopenhauer'schem Pessimismus hüten, las sie. Der von der Existenz des Bösen besessene Schopenhauer schrieb, es wäre besser gewesen, wenn der Planet ohne Leben geblieben wä-

re, tot wie der Mond. Von dort ist es nur noch ein kurzer Schritt bis zur 185

Suggestion, dass wir den Tod der Erde herbeiführen sollten. Es mag sein, dass die Zerstörung, die wir seit kurzem in unsren Städten beobachten, dadurch motiviert ist, obwohl die Verwerfungen, die durch das Phänomen der so genannten ›Blauen Kinder‹ auf einer fundamentalen Ebene – das heißt der Ebene der Kern-Familie – verursacht werden, zweifellos dazu beitragen …

Es war ein ganzes Bündel von Reaktionen, durch das eine instabile Spezies nach den schlechten Nachrichten aus der Zukunft in einen Abwärtssog geriet. Vielleicht würde die Menschheit letzten Endes nicht durch Natur und Wissenschaft zu Fall gebracht, sondern durch die schleichende Aushöhlung der Moral.

Inmitten dieser Konfusion erhielt Malenfant eine Vorladung vor den Kongress-Ausschuss für Raumfahrt, Wissenschaft und Technologie in Washington, DC. Ein Auftritt, der – wie Maura sofort erkannte – vielleicht seine letzte Chance war, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Emma Stoney:

An dem Tag, als Malenfant seine Aussage machen sollte, stand Emma früh auf. Sie hatte vor lauter Nervosität eh kaum ein Auge zugemacht.

Sie unternahm einen Spaziergang durch Washington, DC. Es war ein warmer Morgen. Der Verkehrslärm lag als Hintergrund-Brummen in der schwülen Luft.

Sie folgte der Mall, dem als Grünstreifen angelegten Park, der sich eine Meile vom Gebäude des Capitols bis zum Lincoln Me-morial hinzog. Das Gras war gelb, und der Boden war hart und von der Sonne gebacken, obwohl es erst April war. Die Hitze nahm in Wellen zu. Es war, als ob sie über eine heiße Herdplatte ginge. Von dort aus sah sie ein paar der großen Gebäude der Na-186

tion: Regierungsgebäude und Museen. Reichlich neoklassizistischer Marmor, weiträumig verteilt: Wenn es je eine imperiale Haupt-stadt gegeben hatte, dann war das eine – eine Verkörperung der Macht, wenn schon nicht des guten Geschmacks.

Sie spielte mit dem Gedanken, sich die VR-Galerie über die Erforschung der Asteroiden anzuschauen, die Malenfant dem Luft-und Raumfahrtmuseum vermacht hatte. Typisch Malenfant: beeinflusste die öffentliche Meinung mit einer scheinbaren Geste der Großzügigkeit. Vielleicht ein andermal, sagte sie sich.

Sie erreichte das Washington Monument: Nachdem es im Jahr 2008 von christlichen Libertinären fast zerstört worden wäre, erstrahlte es nach einer aufwendigen Restaurierung wieder in altem Glanz. Doch die Flaggen, die das Denkmal umringten, waren alle auf halbmast zum Gedenken an die Amerikaner, die im letzten antiamerikanischen Terroranschlag – wo war das gleich noch mal gewesen, ach ja, in Frankreich – ihr Leben verloren hatten.

Und dann drehte sie sich um und schaute direkt aufs Weiße Haus: noch immer – möglicherweise – die wichtigste Macht-Zentrale der Welt. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Wei-

ßen Haus schien ein Elendsviertel entstanden zu sein, wo Bettler, Protestierer und Religionsfuzzies ihr Geschäft unter dem Schlaf-zimmerfenster des obersten Befehlshabers verrichteten.

DC war ein atmosphärisch dichter Ort, geschichtsträchtig und mit einer Aura der Macht. Im Vergleich dazu muteten Malenfants Abenteuer in der Wüste und im Weltraum geradezu wie alberne Träumereien an.

Nichtsdestoweniger hatte Malenfant sich zum Kampf gestellt.

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Maura musterte Emma. »Also, Malenfant. Was ist nun mit euch beiden?«

»Hmm?«

»Ich verstehe nicht, weshalb ihr immer noch zusammen seid.«

»Wir sind geschieden.«

»Eben drum.«

Emma seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.«

Maura grunzte. »Glauben Sie mir, in meinem Alter ist alles eine lange Geschichte.«

Um die beiden etwas aufzulockern, sagte Maura Della, hätte sie Emma als besonderen Gast in den Fitnessraum des Weißen Hauses mitgenommen, der sich im Keller des Rayburn House-Bürogebäudes befand. Die Räumlichkeiten waren kleiner, als Emma erwartet hatte und umfassten ein Schwimmbecken, Sauna-und Massageräu-me, ein Squashfeld und Trainingsgeräte. Maura und Emma hatten sich für Schwimmen, Sauna und Massage entschieden, und nun genoss Emma das Gefühl der Entspannung, während der mechanische Masseur ihr mit Plastikfingern den Rücken massierte.

Sie hatten jung geheiratet – er war in den Dreißigern, sie in den Zwanzigern. Emma hatte ihre eigene Karriere verfolgt. Trotzdem hatte die Aussicht sie gereizt, seinen schönen, kindlichen und phantastischen Träumen einer menschlichen Expansion ins All zu folgen. Sie wusste, dass sie in der Öffentlichkeit die Rolle einer Soldatenfrau spielen würde, vielleicht einer Astronautenfrau. Und diese Einrichtungen waren so alt und traditionsbewusst, dass man sie sicherlich zwingen würde, ihre Karriere hintanzustellen. Und seine Soldatenkinder aufzuziehen. Aber in Wirklichkeit waren sie Partner, und zwar Partner fürs Leben.

Nur dass Malenfant schon an der ersten Hürde der NASA gescheitert war. Sie hatte es nicht glauben wollen.

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Er war wie ein geprügelter Hund zurückgeschlichen. Er hatte ihr auch nie erzählt, was schief gelaufen war. Und sie hatte auch nicht in ihn gedrungen.

Danach war es nie mehr so wie früher gewesen.

Er wurde nach seiner Ablehnung für ein Jahr zum Dienst am Boden vergattert, bevor er aus der Luftwaffe ausschied und andere Richtungen fand, in die er seine Energien zu lenken vermochte.

Mit der Gründung der Bootstrap Inc. trat Malenfant den Weg zu Reichtum und Macht an. Emma hatte schon in den Gründerzei-ten mit ihm zusammengearbeitet.

Aber er hatte sie weggestoßen.

»Ich weiß noch immer nicht wieso«, sagte sie Maura. »Wir wollten eine Familie gründen, Kinder haben und irgendwo sesshaft werden. Irgendwie war das alles in den Hintergrund getreten. Und dann …«

»Sie müssen es mir nicht erzählen.«

Emma lächelte. Sie fühlte sich plötzlich müde. »Es stand in den Klatschspalten. Er hatte eine Affäre. Ich hatte sie in flagranti er-tappt. Die Ehe war natürlich zerstört. Und nun kommt das eigentlich Merkwürdige. Ich habe ihn noch nie so unglücklich gesehen wie in jenem Augenblick.«

Und überhaupt hatte sie den Eindruck gehabt, dass Malenfant es darauf abgesehen hatte, ihre Ehe zu zerstören: dass er sich die Ge-liebte nicht seinetwegen zugelegt hatte, sondern um den Bruch mit Emma zu provozieren.

Ihre E-Therapeuten sagten, dass er damit auf das Scheitern seines wahren Lebensziels reagierte. Wo er nun wusste, dass er seine Träu-me nie verwirklichen würde, spielte Malenfant wieder mit den Spielzeugen der Kindheit, ehe der Sargdeckel irgendwann über ihm zuklappte.

Vielleicht war es auch eine Auswirkung der Wechseljahre, mutmaßten die Therapeuten.

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»Der einzige Vorteil der E-Therapeuten«, murmelte Maura, »ist, dass ihr Geschwätz billiger ist als das von Menschen.«

»Es hat trotzdem geschmerzt.«

»Und es tut noch immer weh. Stimmt's?«

Emma zuckte die Achseln. »Eines Tages werde ich es verstehen.«

»Und dann schließen Sie die Tür hinter sich?«

»Das habe ich vor. Nun denn. Glauben Sie, dass wir es heute schaffen werden?«

»Ich glaube ja«, sagte Maura energisch und geschäftsmäßig. »Die Gefahr geht von Harris Rutter aus Illinois aus. Einer aus der Ging-rich-Generation. Sie müssen wissen, wer einmal hier ankommt, geht nie wieder, ob man ein Amt bekleidet oder nicht. Es gibt Seil-schaften, die über Jahrzehnte geknüpft wurden … Rutter hat viel Macht. Er sitzt in einer Reihe von Haushalts-Unterausschüssen, die als Verteiler für Steuergelder gelten. Aber Rutter übt seine Macht nur negativ aus. Er gefällt sich als Störer im Parlament, versucht die Verabschiedung von Gesetzen zu verzögern und die Bewilligung von staatlichen Fördermitteln zu verhindern – nur um den Mehrheitswillen zu unterlaufen, bis er bekommt, was er will.

Was auch immer das ist. Aber ich glaube, dass es mir diesmal gelungen ist, ihn auf meine Seite zu ziehen.«

»Wie denn?«

»Mit Staatsknete. Oder zumindest mit dem Versprechen, falls Malenfant durchkommt.«

»Das scheint aber noch in weiter Ferne zu liegen, nicht wahr?«

»Man muss in dieser Stadt immer die Nase vorn haben, Emma«, murmelte Maura und schloss seufzend die Augen, als der Masseur sich wieder an die Arbeit machte. »Wussten Sie eigentlich, dass Frauen diese Sporteinrichtungen erst seit 1985 benutzen dürfen…?«

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Die Anhörung hier im Rayburn-Gebäude fand in einem engen, alt-modischen Konferenzraum statt, um dessen Kühlung eine einzige Klimaanlage sich fast vergeblich mühte. In der Mitte des Raums verliefen zwei Tischreihen, mit Namensschildern für die Kongressabgeordneten auf der einen und für die Befragten auf der anderen Seite. Es war ein Ort der Konfrontation, eine Richtstätte.

Malenfant war schon da. Er machte einen ebenso energischen und ruhigen wie zuversichtlichen und gefassten Eindruck, und seine Glatze schimmerte wie die Abdeckung eines Waffensystems.

Emma schaute ihm in die Augen. Er wirkte so unschuldig und rein wie ein Neugeborenes.

Malenfant trat in den Zeugenstand, und Emma und Maura nahmen an der Rückseite des Raums nebeneinander Platz. Zwei Kongressabgeordnete übernahmen den Vorsitz: Harris Rutter, der ehemalige Rechtsanwalt und Mary Howell aus Pennsylvania, einstma-lige Verfahrenstechnikerin. Beide waren Republikaner.

Der Zweck der Anhörung bestand darin, dass Malenfant erneut begründete, weshalb man seine Firma nicht schließen sollte. Rutter stellte Malenfant unangenehme Fragen in Bezug auf die zweifelhafte Legalität seiner Operationen, vor allem über den ersten Start.

Malenfant reagierte ruhig. Er gestattete sich, Irritation über das Dickicht widersprüchlicher rechtlicher Bestimmungen anklingen zu lassen, durch das Bootstrap sich bewegte und spulte eine vorbe-reitete Rede über sein geplantes bemanntes Raumfahrtprogramm ab: dass er vier Astronautenanwärter, die sich bereits im Training befanden, als repräsentativen demografischen Querschnitt der USA ausgewählt habe. »Es war nicht schwer, Freiwillige zu finden, Sir, obwohl wir ihnen die Gefahr verdeutlicht hatten – nicht der Weltraummission, sondern dass sie den Flug vielleicht gar nicht erst antreten dürften.«

Damit erzielte er einen kleinen Lacherfolg.

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»In diesem Land haben wir eine große Expertise im Start von Weltraummissionen und eine Reserve an Menschen, die von der Raumfahrt-und Rüstungsindustrie freigesetzt wurden – Leute, die darauf brennen, wieder arbeiten zu dürfen. Meiner Ansicht nach ist es ein Verbrechen, ein solches Potenzial zu vergeuden …« Dann führte er aus, dass die Mission in der Hauptsache aus Komponenten bestand, die nicht von den einschlägigen Luft-und Raumfahrt-Kartellen geliefert wurden, sondern von kleineren Betrieben in den Vereinigten Staaten, die teilweise um ihre Existenz kämpften. Es gelang Malenfant, eine lichte Zukunft zu umreißen, wo der Nutzen des neuen, erweiterten Weltraumprogramms von der Mojave in Form von Steuergeldern und neuen Arbeitsplätzen dem ganzen Land zugute käme, nicht zuletzt Illinois und Pennsylvania, den Heimatstaaten seiner Befrager.

»Er trägt ziemlich dick auf, was?« flüsterte Emma Maura zu.

Maura beugte sich zu ihr hinüber. »Sie müssen das größere Bild sehen, Emma. Die meisten staatlich subventionierten Projekte erlangen im Frühstadium breite Zustimmung, wenn viele Abgeordnete hoffen, ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Wenn Malenfant verspricht, dem ganzen Land Wohlstand zu bringen, ohne dass die Regierung viel oder überhaupt etwas dazu beitragen müss-te, dann überzeugt er die Leute zumindest davon, ›im Zweifel für den Angeklagtem zu stimmen‹ …«

Auf jeden Fall schien Malenfant Rutters Kreuzverhör überstanden zu haben. Doch nun ging – zu Emmas Erstaunen – Howell, die Ingenieurin aus Pennsylvania, zum Angriff über. Sie war eine herbe, korpulente Frau von etwa fünfzig Jahren und hatte das graue Haar zu einem Knoten zusammengebunden. Sie wirkte aggressiv und kampfeslustig.

»Oberst Malenfant. Bootstrap ist doch mehr als eine bloße Kon-struktionsfirma, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

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Howell hielt eine Ausgabe der Washington Post hoch, die von einer grellen Schlagzeile über das Feynman-Funkgerät bei Fermilab geziert wurde: ein animiertes Bild mit einer Tonspur von Cornelius Taine, der auf die Carter-Katastrophe verwies. Sie zitierte: »Ein Exklusiv-Interview mit einem Eschatology-Sprecher … Fermilab-Manager empört über den Missbrauch ihrer Einrichtungen …«

»Diese Pressemitteilung hat aber nichts mit mir zu tun.«

»Kommen Sie schon, Oberst Malenfant. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass derartige Verlautbarungen nur mit Ihrer stillschweigenden Zustimmung erfolgen. Also stellt sich die Frage, wieso Sie der Ansicht sind, dass dieser ›Botschaft-aus-der-Zukunft‹-Mumpitz Ihrer Sache hilft. Sie haben doch eine Ausbildung in Ingenieurwissenschaften, nicht wahr, Oberst? Wie ich auch.« Sie fasste ihn kritisch ins Auge. »Ich wage zu behaupten, dass wir in etwa gleichaltrig sind. Also haben wir beide dieselben Veränderungen in der Gesellschaft miterlebt.«

»Veränderungen?«

»Die Technikfeindlichkeit. Der Verlust des Vertrauens in Wissenschaftler und Ingenieure – eine Art der Ablehnung der wissenschaftlichen Methode per se und der wissenschaftlichen Erklärung der Welt. Stimmen Sie mit mir überein, dass wir eine Flucht ins Irrationale erleben?«

»Ja. Ja, ich stimme darin mit Ihnen überein. Aber ich gehe nicht notwendigerweise mit Ihrer Implikation konform, dass das Irrationale an sich schlecht sei.«

»Ach nein?«

»Es gibt viele Geheimnisse, die die Wissenschaft noch nicht ge-lüftet hat und vielleicht auch nie lüften wird. Was ist Bewusstsein?

Wieso existiert überhaupt irgendetwas? Wieso lebe ich hier und jetzt und nicht vor einem Jahrhundert oder in tausend Jahren?

Wir alle werden in der Tiefe unsrer Seele mit solchen Fragen kon-frontiert, jeden Moment des Lebens. Und wenn das Irrationale der 193

einzige Ort ist, an dem man nach Antworten auf solche Fragen suchen kann, dann schaut man eben dort nach.«

Die Kongressabgeordnete Howell rieb sich die Schläfen. »Aber, Oberst Malenfant, Sie müssen mir doch Recht geben, dass es unser Gehirn ist, die Wissenschaft, die die Welt um uns herum erschaffen hat. Es ist die Wissenschaft, die dem Planeten die Kapazität verliehen hat, viele Milliarden Menschen zu tragen. ›Nur durch das intelligente Management der Zukunft werden wir die nächsten Jahrzehnte überleben und langfristig eine Zukunft haben.‹ Ich weiß, dass Sie damit übereinstimmen, denn es handelt sich um ein direktes Zitat aus Ihrem Geschäftsbericht des Vorjahrs. Also kommen Sie uns nicht mit philosophischen Sprüchen …«

Maura beugte sich zu Emma hinüber. »Abgeordnete haben die Möglichkeit, den Kongressbericht zu überarbeiten. Zeugen leider nicht.«

»Glauben Sie wirklich, dass es verantwortungsvoll sei, öffentliche Zustimmung für Ihre höchst zweifelhaften Aktivitäten zu erlangen, indem Sie mit Unsinn über das Ende der Welt und Botschaften aus der Zukunft Hysterie schüren …?«

Doch nun schaltete Rutter aus Illinois sich ein. »Würde die Da-me mir an dieser Stelle das Wort überlassen? Wenn Sie mir für einen Moment das Wort überlassen, hätte ich eine Frage.«

Howell schaute ihn grimmig an. Sie begriff, dass er ihren Angriff abgeblockt hatte.

Rutter war ein korpulenter schwitzender Mann mit einer altertümlichen Fliege. Auf Emma machte er den Eindruck, als sei er seit zwanzig Jahren nicht mehr aus Washington herausgekommen.

»Ich fand Ihre Ausführungen interessant, Oberst Malenfant«, sagte er. »Die meisten von uns sehen keine ethischen Probleme in Ihrer Verbindung mit Organisationen wie Eschatology. Schließlich muss es auch jemanden geben, der sich konstruktive Gedanken um die Zukunft macht. Ich finde es erfrischend, einen Vorschlag wie den 194

Ihren zu hören, der außer dem praktischen Kontext noch einen Subtext hat, wie Sie es bezeichnen würden. Falls es Ihnen gelingt, zu den Sternen zu fliegen, einen Gewinn zu erzielen und noch etwas zu erreichen – nun, etwas Spirituelles, dann ist das, glaube ich, lobenswert.«

»Vielen Dank, Herr Abgeordneter.«

»Sagen Sie mir eins, Oberst. Glauben Sie, dass Ihre Mission zu Cruithne, falls sie erfolgreich ist, uns bei der Suche nach Gott helfen wird?«

Malenfant holte tief Luft. »Mr. Rutter, wenn wir alles finden, was wir auf Cruithne zu finden hoffen, dann glaube ich durchaus, dass wir Gott näher kommen werden.«

Emma drehte sich zu Maura Della um und verdrehte die Augen.

Meine Güte, Malenfant.

Dann kamen noch ein paar Fragen von Howell. Damit hatte es aber auch sein Bewenden, soweit Emma zu sagen vermochte.

Maura grinste. »Er hat es geschafft, dass sie ihm aus der Hand fressen.«

»Alle außer der Abgeordneten Howell.«

»Die Frage, die er mit Rutter abgesprochen hat, hat ihr den Wind aus den Segeln genommen.«

Emma machte große Augen. »Er hat es mit ihm abgesprochen?«

»Ach, natürlich hat er das getan. Kommen Sie, Emma. Das war doch so offensichtlich.«

Emma schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, eigentlich sollte ich mich über nichts mehr wundern, was Malenfant tut. Aber ich muss Ihnen sagen, dass er kein Christ ist und bestimmt nicht an Gott glaubt.«

Maura schürzte die Lippen. »Den Kongress belügen, alle Teufel.

Schauen Sie, Emma, das ist Amerika. Alle naslang muss man hier den lieben Gott bemühen.«

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»Dann hat er also gewonnen.«

»Ich glaube schon. Fürs Erste zumindest.«

Die Kongressabgeordnete Howell, die Verfahrenstechnikerin aus Pennsylvania, die für Rationalität plädiert hatte, drängte sich mit einer gemurmelten Entschuldigung zwischen ihnen hindurch. Howell wirkte niedergeschlagen, frustriert und verwirrt.

Malenfant erschien mit einem abstoßend selbstgefälligen Eindruck. »Auf nach Cruithne«, sagte er.

Maura Della:

»Meine Damen und Herren«, hob Dan an, »willkommen am JPL.

Heute, am 18. Juni 2011, wird ein US-Raumschiff, das von einem gentechnisch intelligenzgesteigerten Cephalopoden gesteuert wird, ein erdnahes Objekt mit der Bezeichnung 3753 beziehungsweise 1986TO, auch Cruithne genannt, erreichen und auf ihm landen.

Es handelt sich um einen fünf Kilometer durchmessenden Asteroiden vom C-Typ. Wir müssten in Kürze die ersten Bilder von einer automatischen Kamera bekommen und eine Verbindung zur Nautilus selbst …«

Er stand in einem Wald aus Mikrofonen und im grellen Licht der TV-Scheinwerfer. Hinter ihm spannte eine riesige Softscreen sich wie ein Gobelin über die Wand. Sie zeigte eine Fülle unverständlicher grafischer und digitaler Zeichen.

Während Dan dem nicht gerade begeisterten Publikum einen Vortrag hielt, ließ Maura die Gedanken schweifen.

JPL, das Jet Propulsiuon Laboratory, sah aus wie ein kleines Krankenhaus, das in einen zubetonierten und smogverhangenen Vorort von Pasadena gequetscht war, der wiederum von den grü-

nen Hängen der San Gabriel Mountains überragt wurde. Eine zentrale, von einem Springbrunnen gezierte Passage zog sich vom Tor 196

in den Hauptarbeitsbereich des Laboratoriums. Und auf der Südseite hatte sie das von Karman-Auditorium gefunden, den Schauplatz der triumphalen Pressekonferenzen und anderen öffentlichen Veranstaltungen, die bis in die glorreichen Zeiten der NASA zu-rückreichten, als das JPL Sonden zu fast jedem Planeten des Sonnensystems gesandt hatte.

Abwesend lauschte sie den Unterhaltungen um sich herum, Erinnerungen an lang vergangene Zeiten, als der Pioniergeist noch un-gebrochen war, alle noch jung waren und es einen klar definierten Feind gab, den es zu schlagen galt.

Die guten alten Zeiten. Vom Winde verweht.

Doch heute war das große alte Auditorium wieder voll, fast wie damals: Missions-Manager, Wissenschaftler, Politiker und ein paar alternde Science Fiction-Autoren drängten sich zwischen den Softscreen-Terminals.

Genauso wie die NASA erklärt hatte, dass Malenfants BDB-Konstruktion ein sträflicher Witz sei, der niemals fliegen würde, bis er dann doch geflogen war, hatten ihre Experten erklärt, dass Bootstraps cephalopoden-basierte Asteroiden-Expedition unverantwortlich und absurd sei – bis sie draußen im tiefen Raum ihr Ziel erreicht hatte und, was noch wichtiger war, in der Öffentlichkeit erstmals auf Zustimmung gestoßen war.

Während Sheena 5 nun auf Cruithne zusteuerte, empfanden alle die Freude des Cephalopoden nach.

Während sie auf das Rendezvous warteten, veranstaltete Dan steif eine formelle Präsentation der technischen Aspekte des Raumschiffs.

»… Die Membran, die den Kern der Schiffskonstruktion darstellt, basiert auf einer Technik, die Bootstrap für die untermeerische Methanförderung entwickelt hat. Was die Biosphäre selbst betrifft, ist Effizienz der Schlüssel. Phytoplankton, eine der effektiv-sten bekannten Lebensformen vermag achtundsiebzig Prozent des 197

vorhandenen Stickstoffs in Protein umzuwandeln. Der einfache Aufbau der Algen – keine Stiele, Blätter, Wurzeln und Blüten – macht sie zur idealen Nutzpflanze mit einer hundertprozentigen Verwertbarkeit. Das System ist natürlich nicht perfekt – es ist nicht komplett geschlossen und nicht perfekt gepuffert. Aber unter dem Gesichtspunkt der Betriebszuverlässigkeit ist es immer noch robuster als jedes langlebige mechanische Äquivalent, das wir ins All schicken könnten. Und viel billiger. Ich habe die Zahlen, die …«

Was ist mit den Problemen, Dan?

Das brachte ihn aus dem Konzept. »Sheena muss mehr Zeit als Räuber verbringen, als wir erwartet haben.«

Und was bedeutet das?

»Sie muss pathologische Spezies vernichten, die überhand zu nehmen drohen. Und Sie müssen bedenken, dass das System inhä-

rent instabil ist. Wir müssen es managen. Das heißt, Sheena tut es.

Wir müssen ausgetretene Gase ersetzen, die Temperatur regulieren, den hydrologischen Zyklus überwachen und Schadstoffe aufspü-

ren …«

Und so weiter. Was Ystebo aber nicht sagte und was Maura aus privaten Besprechungen wusste, war, dass die Sache auf der Kippe stand. Es ist so fragil, sagte Maura sich. Sie stellte sich den winzigen Wassertropfen mit Sheena vor, wie er in der unendlichen Weite des interplanetaren Raums trieb – wie ein Gischttröpfchen, das von einer Welle in die Luft geschleudert worden war und sich nie mehr mit dem Meer vereinigen würde.

Was ist eigentlich mit Sheena?

Diese Frage erwischte Dan auf dem falschen Fuß.

Maura wusste, dass Sheena sich geweigert hatte, an den ›medizinischen Besprechungen‹ teilzunehmen oder sich an die Ferndiag-nose zu hängen, mit der Dan ihren Gesundheitszustand überwachte. Nicht dass Dan oder sonst jemand wusste, weshalb sie so wider-198

spenstig war. Maura versuchte die Mimik in Dans bärtigem Gesicht mit dem Doppelkinn zu lesen.

»Sie müssen wissen, dass ich nur einmal am Tag mit ihr sprechen kann. Wenn das Raumschiff über dem Horizont von Gold-stone steht. Sie befindet sich für fünfzehn Stunden am Tag im LOS – im Funkschatten …«

Wie fühlen Sie sich bei der Vorstellung, dass sie nie mehr zurückkehren wird?

»Die Vereinfachung der Missionsziele hat sich günstig aufs Profil ausgewirkt«, wich Dan aus. »Die Kosten des Rückflugs – die zu-sätzliche Masse des Brennstoffs für den Rückweg, die Verbrauchs-güter und den Hitzeschild für die Luftbremsung – vervielfachten sich durch die gesamte Massenkalkulation der Mission.«

Schon klar, aber es ist eine Reise ohne Wiederkehr für Ihren Tintenfisch.

Der Calamari-Express.

Gezwungenes Gelächter.

Dan wand sich. »Bootstrap plant, ethische Gesichtspunkte zu be-rücksichtigen.«

Technokratischer Scheiß, sagte Maura sich; wer auch immer diesen armen Tropf beriet, leistete schlechte Arbeit. Aber sie verspürte dennoch Mitleid mit Dan. Er war wahrscheinlich der einzige Mensch auf dem Planeten, der sich wirklich etwas aus Sheena 5

machte – im Gegensatz zu den sentimentalen Zuschauern vorm Fernseher und im Internet –, und nun musste er sich dafür rechtfertigen, dass sie zum Tod im Weltraum verurteilt war.

… Und nun erschien ein Bild auf der großen Softscreen an der Wand. Bilder aus dem Weltall. Ein Raunen ging durch die Halle.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Maura begriff, was sie da sah.

Es war ein Asteroid.

Er war unförmig und fast schwarz. Die Krater und Risse in der staubigen Oberfläche wurden vom Sonnenlicht konturiert. Das Gebilde sah aus wie eine Kartoffel, die zu lang auf dem Grill gele-199

gen hatte. Und ein golden schimmerndes Raumschiff, das winzig wirkte im Vergleich zu diesem Felsbrocken, befand sich im Anflug.

Es gab Applaus und Jubel. Mach weiter so, Dan! Geh damit gleich zum Präsidenten.

Dan fingerte an einem Touchpad herum, und ein neues Bild erschien auf der Softscreen: Sheena 5, ein karibischer Riff-Kalmar, der in blau-goldenem Schatten trieb – live von der Nautilus. Ihr Kopf wurde von einer Metallmaske verborgen, von der Kabel zu einer klobigen Maschinerie führten.

Dann zog der Cephalopode sich zurück, streifte die Metall-Maske ab und führte einen Tanz auf. Es war bezaubernd. Ihre chroma-tophoren Organe pulsierten in allen Farben des Spektrums und änderten ständig ihre Form: Schwarz, Orange, Aquamarin und Ocker, und die Tentakel und Arme wirbelten, während sie graziös wie eine Ballerina im Tank umherstob. Sie erzeugte offensichtlich Signale: eins, sogar zwei pro Sekunde, Signale, die ineinander flossen und deutlich in der Intensität variierten.

Verstehen Sie, was sie sagt, Dan?

Zögernd begann er mit der Übersetzung. »Haltet inne und schaut mich an. Haltet inne und schaut mich an … Sie müssen wissen, dass ihre sprachlichen Elemente auf denen basieren, die sie von den Cephalopoden-Schulen geerbt hat. Dies ist ein Signal, mit dem sie Beute oder sogar einen Räuber täuscht … Und das hier bezeichnen wir als scheckiges Muster. Wirb um mich. Wirb um mich. Sie sucht Bestätigung. Sie ist stolz. Asteroid. Komm her, komm her. Noch ein Paarungssignal. Es ist, als ob sie den Asteroiden verführen wollte.

Sternenschule um dich rum. Keine Gefahr, keine Gefahr. Es gibt natürlich keine Räuber. Aber sie will damit sagen, dass sie erfolgreich navigiert hat und dass die Systeme ordnungsgemäß funktionieren.

Halt inne und schau mich an. Wirb um mich …«

200

Er starrte mit steifer Körperhaltung auf den Bildschirm. Die Trennung von seiner tanzenden Freundin bereitete ihm schier körperlichen Schmerz.

Die Anwesenden schwiegen, wie Maura abwesend feststellte: in den Bann geschlagen durch diese Darstellung billiger Emotionen.

Die Digitalanzeige sagte ihr, dass das Rendezvous jeden Moment stattfinden musste. Die Aufnahmen der Kamera-Drohnen wurden wieder auf die Softscreen gelegt – eine Einzelbild-Schaltung, die alle paar Sekunden aktualisiert wurde. Der goldene Funke wanderte über die schwarze Oberfläche.

Sheena 5:

Der Asteroid war stark angeschwollen und bedeckte fast den halben Himmel.

Sie sah die Oberfläche des Asteroiden, als ob sie über sandige Untiefen der Karibik geschwommen wäre. Der Körper war mattschwarz. Aber die Polarisation war vielfältig. Sie suchte nach den schattigen Nuancen und Lichtreflexen, die auf gefrorenes Wasser hindeuteten. Hier war ein Flecken, wo das Licht trübe und zufällig reflektiert wurde – Dan hatte sie gelehrt, dass das blankes Metall war. Hier war das Licht stark polarisiert – die Oberfläche war wahrscheinlich mit dichtem klebrigem Staub überzogen. Es kam Sheena wie ein Wunder vor, dass sie allein durch den Anblick der funkelnden Lichtreflexe erkannte, woraus dieser seltsame Weltraum-Fisch bestand.

… Dort. Es sah aus wie ein Loch in der Oberfläche, und es hatte einen flachen schiefen Grund, der wie Wasser funkelte und schimmerte.

Sheena berührte die Waldos, und das Schiff schwebte über der Senke.

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Sie wusste, dass es lang dauern würde, bis Dan von ihrem Erfolg erfuhr. Sie zitterte vor Vorfreude.

Sheena packte die kreisförmige Stütze mit den Armen, schob die zwei langen Tentakel in die glatten, flexiblen Hüllen und berührte die zentrale Schaltfläche mit dem Schnabel.

Zwei hundert Meter lange Kabel wickelten sich aus der Hülle der Nautilus ab. Sheena streckte die Tentakel aus, und aus den Düsen an den Kabelenden quollen kleine Dampfwolken. Die Kabel spannten sich in Richtung des Asteroiden. Sie straffte die Kabel bis zum Anschlag und wechselte dann zur Software des Schiffs.

Sie spürte, wie die Tentakel den Boden erreichten und den Asteroiden berührten. Kontakt.

Sie bog die Saugnäpfe, um an der Oberfläche einen Halt zu finden. Langsam spannte sie die Tentakel an, bis sie jedes Detail des Asteroiden erkannte, sogar den schwachen Schatten, den das Schiff warf.

Sie hatte dieses Manöver während des Flugs immer wieder geübt.

Immerhin war es die wahrscheinlich wichtigste Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte; wenn sie hier versagte, würde die ganze Mission scheitern …

Schließlich spürte sie, wie eine sanfte Druckwelle durchs Wasser und durch den Körper lief, und sie wusste, dass das Ziel erreicht war.

Der Asteroid, dieser große schwarze Wal des Weltraums, war ihre Beute, und sie, die Jägerin, hatte ihn gefangen.

Stolz wallte in ihr auf, und Chromatophoren pulsierten über ihren Körper.

202

Maura Della:

Der Kontakt war sanft und unspektakulär, und die Ziffern wechselten stumm aus dem Minus ins Plus.

Ein graues Staubwölkchen wurde aufgewirbelt. Und dann sah Maura das Schiff, ein grün-goldenes Fragment der Erde, das in die Hülle des Asteroiden eingebettet war.

Das Bild der Innenkamera zeigte, dass Sheena die Waldos abgestreift hatte und von einer Seite des Habitats zur andern huschte.

Dann hielt sie inne und schaute mit dunklen untertassenartigen Augen auf die Landschaft des Asteroiden, bevor sie zu einem neuen Aussichtspunkt jagte. Ihr Panzer war ein wirbelndes Kaleidoskop, und Kopf, Mantel und acht Arme drückten eine prägnante Körpersprache aus.

Maura ließ den Blick über die Gesichter im Raum schweifen. Al-le grinsten.

Dan, erzählen Sie uns, was sie sagt.

Zögernd dolmetschte Dan: »Ich bin stark und fit. Ich bin groß und wild. Seht meine Waffen. Seht meine Kraft. Eine Kombination aus Paarungssignalen und Mimikry-Mustern mit dem Ziel, Räuber ab-zuschrecken. Sehen Sie diese künstlichen Augenringe …?« Dan wandte sich grinsend dem Publikum zu. »Sie prahlt herum. Das hat es zu bedeuten. Es scheint, dass wir Cruithne erreicht haben.«

Der Applaus schwoll an. Die Vorsitzende auf dem Podium umarmte Dan Ystebo, und Maura merkte, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Verdammter Weltraum-Kram, sagte sie sich. Es ist doch immer wieder überwältigend.

203

Sheena 5:

… Derweil auf Cruithne.

Die im kühlen Erd-Wasser treibende Sheena 5 spürte den federleichten Zug neuer Schwerkraft. Über ihr wirbelte der Himmel, und die grelle Sonne drehte sich im Verein mit einer Milliarde funkelnder Sterne. Sie spürte, dass sie sich mit dieser kleinen Welt drehte und im dreidimensionalen Raum herumwirbelte.

Hinter der durchscheinenden Haut des Habitats sah sie einen körnigen schwarz-grauen Boden. Dan sagte ihr, diese Substanz sei älter als alles Gestein auf der Erde, älter als die Meere, vielleicht sogar älter als das Sonnensystem. Und durch die gewölbte Wand des Schiffs sah sie den gekrümmten Horizont dieser Welt, nur ein paar Dutzend Meter entfernt.

Sie triumphierte in einem explosiven Farbenspiel, und es kitzelte im Mantel, als die winzigen Muskeln die Chromatophoren anreg-ten.

Gabriel Marcus:

… Manche Kleinplaneten spielen natürlich schon eine Rolle in der Astrologie. Da diese Welten den Altvorderen unbekannt waren, sind sie Gegenstand moderner Interpretation und manch einer Debatte.

So verhält es sich auch mit Cruithne.

Vielleicht erhalten wir durch die Ableitung des Namens weitere Aufschlüsse. ›Die Cruithne‹ war der alte irische Name für das Volk der Pikten. In einem irischen Dokument aus dem 12. Jahrhundert, der ›Chronik der Könige der Pikten‹, wird Cruithne als der Urahn des Volks der Pikten bezeichnet, und es seien seine sieben Söhne 204

gewesen, nach deren Namen das Königreich der Pikten in Schottland gegliedert wurde.

Aber ›die Cruithne‹ wurde von den Iren auch als Sammelbe-zeichnung für die Eingeborenenvölker benutzt, die vor der Ankunft der Galen in Irland gelebt hatten. Sie scheinen einmal die vorherrschende Macht in Nordirland gewesen zu sein.

Eine weitere Unschärfe erlangt die Bedeutung des Namens dadurch, dass manche frühen Schriftsteller behaupten, die Abstam-mungslinie der Pikten beruhe auf der mütterlichen und nicht auf der väterlichen Linie. Dann war Cruithne also – falls eine solche Person überhaupt jemals existiert hat – vielleicht kein Mann, sondern eine Frau.

Auch was seine astronomischen Eigenschaften betrifft, ist Cruithne eine ungewöhnliche Welt.

In astrologischer Hinsicht ist sie vielleicht insofern einzigartig, als dass sie weit von der Ebene der Ekliptik abschweift und damit weit von den traditionellen Häusern; manchmal ist sie sogar mit dem Teleskop über (oder unter) den Erdpolen zu sehen. Trotzdem ist sie eng mit der Erde verbunden; wir wissen, dass ihr typischer ›Hufeisen‹-Orbit durch die Schwerkraft der Erde bedingt ist.

Und die direkteste Verbindung ist natürlich hergestellt worden, nachdem der Tintenfisch Sheena als erstes Geschöpf der Erde seit den Apollo-Astronauten eine fremde Welt erreicht hat.

Cruithne: Mutter-Vater, Person und Volk, mit der Erde verbunden durch ein Geflecht aus kosmischen Einflüssen und Leben. Kein Wunder, dass diese kleine, ferne und mysteriöse Welt in astrologi-schen Zirkeln eine solche Unruhe stiftet.

Es sei als Randnotiz erwähnt, dass der Name ›Cruithne‹ von den australischen Astronomen, die den Kleinplaneten benannt hatten, zunächst nicht favorisiert wurde. Zuerst sollte er nämlich respekt-los auf ›The Chunder Wonder‹, den Spitznamen eines Mitarbeiters getauft werden. Wir können dankbar sein – wenn nicht erstaunt –, 205

dass das Schicksal bei der Verleihung des angemessenen Namens Regie geführt hat…

Sheena 5:

Obwohl sie ihr Wasser-Habitat nicht zu verlassen vermochte, war sie dennoch imstande, Forschungen zu betreiben.

Leuchtkäfer-Robots wurden aus dem Habitat ausgeschleust und schwärmten über die Oberfläche des Asteroiden aus. Jeder Robot war mit miniaturisierten Instrumenten beladen, die so filigran waren wie ein Kristall und ihr Vorstellungsvermögen weit überstiegen.

Aber die Leuchtkäfer hatte sie unter Kontrolle.

Sie benutzte den Waldo, die handschuhartige Vorrichtung, in die sie mit den langen Greifarmen schlüpfte und mit der sie die Bewegungen jedes Leuchtkäfers zu steuern vermochte. Durch Kameras, die in den Panzer des Leuchtkäfers integriert waren, sah sie mit eigenen Augen das, was der Feuerkäfer sah – als ob sie direkt dane-benschwömme. Die Gravitation war so schwach, dass durch eine unachtsame Bewegung die kleinen Metallgeräte von der Oberflä-

che weggewirbelt und für immer verloren gewesen wären. Deshalb waren die Gliedmaßen der Leuchtkäfer mit Haken und Saugvor-richtungen besetzt, um zu gewährleisten, dass sie ständig im dünnen Regolith verankert waren. Und weil sie mit Fingerspitzenge-fühl und Sorgfalt vermied, dass die Feuerkäfer in Spalten und Krater gerieten, waren sie auch niemals in Gefahr.

Ihre Feuerkäfer schwärmten im Umkreis von ein paar hundert Metern um die eingefallene Membran der Nautilus aus.

Sheena fand das alles bemerkenswert.

Sie hatte in einem Universum Bewusstsein erlangt, das dreidimensional und unendlich war. Allmählich hatte sie begriffen, dass 206

der Ozean, den sie bewohnte, Teil der Hülle einer riesigen Sphäre war. Sie hatte diese Meeres-Welt von außen erblickt und zu einem fahlen Lichtpunkt schrumpfen sehen.

Und nun war sie auf eine Welt gekommen, die so klein war, dass sie das Gefühl hatte, sie mit ausgebreiteten Armen umfassen zu können, und sie warf einen Blick auf das sternenübersäte Universum, in dem diese kleine Welt schwamm. Sie kaute abwesend den Krill, den die Strömung ihr in den Schnabel beförderte und beobachtete verzaubert, wie die neue Welt – ihre Welt – sich vor ihr entfaltete.

Ihre Welt. Sie hatte nicht erwartet, dieses Gefühl des Triumphs zu verspüren. Die Müdigkeit und das Gefühl der Isolation waren vergessen. Sie pulsierte vor Stolz, und die Chromatophoren juck-ten.

Und sie wusste, dass sie bereit war.

Emma Stoney:

Die Missionskontrolle für die Nautilus hatte nichts mit den kli-scheehaften Bildern zu tun, die Emma von Houston kannte – die Reihen schimmernder Terminals, die Ränge junger, Brillen tragender Ingenieure, die ihre Hemden durchschwitzten, wenn die Astronauten im Orbit in die nächste Krise gerieten. Das war das bemannte Raumfahrtprogramm. Dies hier war etwas ganz anderes.

Der Raum für Flugoperationen am JPL war eng, mit allen möglichen Geräten vollgestellt, und mutete alt an. Es gab große Massen-speicher-Geräte, riesige Aktenschränke und Berge von Papier. Alles wirkte morbide und alt.

Dan hatte einen eigenen Raum. Er hatte eine Softscreen auf dem Schoß ausgerollt und trug einen VR-Helm, der wie eine Badekappe am Kopf anlag. Die Augen waren hinter Gummiklappen verbor-207

gen. Überall lag Zeug herum: Bilder der Nautilus, wie sie die Umlaufbahn verließ, Aufnahmen vom Schiff, wie es auf dem Asteroiden landete und Abbildungen von Sheena 5. Außerdem eine Menge des üblichen Technikkrams, Spielzeug-Raumschiffe, Plastik-Aliens, Getränkedosen, Schokoladenpapier und Filmposter.

Dan drehte sich lächelnd zu ihnen um. Mit den versteckten Augen war das jedoch irritierend. »Hallo, Malenfant, Emma. Willkommen in der Geekosphäre …« Für ihn schwebten sie vielleicht vorm Hintergrund des pechschwarzen Cruithne. Aber sie bemerkte, dass er imstande zu sein schien, mit der Softscreen zu arbeiten, obwohl er sie unordentlich auf dem Schoß drapiert hatte und zudem überhaupt nicht sah. »Möchten Sie Kaffee oder eine Limo? Es gibt hier eine Shit-Maschine …«

»Ich möchte nur ein paar Neuigkeiten hören, Dan«, sagte Malenfant. »Vorzugsweise gute.« Seine Stimme klang sehr angespannt.

Dan streifte die VR-Kapuze ab. Die Augen waren gerötet und tränten, und die Maske hatte weiße Abdrücke auf der Stirn und den Wangen hinterlassen. »Volltreffer«, sagte er. »Das kohlenstoff-haltige Erz enthält Wasserstoff, Stickstoff, Methan, Kohlenmonoxid und -dioxid, Schwefeldioxid, Ammoniak …«

»Und Wasser?« fragte Emma.

Er nickte. »O ja. Als Permafrost und hydrierte Mineralien. Zwanzig Prozent der Masse, bei Gott. Alle Prognosen sind erfüllt und sogar noch übertroffen worden.«

Malenfant klatschte in die Hände. »Das ist ein wahrer Schatz dort oben.«

Dan klebte eine große Softscreen über die Poster, Fotos und den anderen Kram an der Wand und tippte darauf. Es erschien ein Bild der Asteroidenoberfläche – grobkörnig und zerfurcht wie Dreck am Straßenrand, sagte Emma sich – mit einem der Mikro-robots, die als ›Feuerkäfer‹ bezeichnet wurden.

208

Vor ihren Augen quoll ein kleines Dampfwölkchen aus der Unterseite des Feuerkäfers. Er stieg fast senkrecht von der Oberfläche des Asteroiden auf, schwenkte in einer sauberen Kurve ein und schoss einen Pfeil ab, der eine Leine in der Art einer Angelschnur hinter sich her zog. Die Leine straffte sich und wickelte sich selbst auf, wobei sie den Feuerkäfer an die Oberfläche zurückzog.

»Die Feuerkäfer bewähren sich hervorragend«, sagte Dan. »Uns werden sicher hunderte von Anwendungen für diese Babies einfallen: im LEO, auf anderen Asteroiden und sogar auf dem Mond.

Das Antriebssystem ist Spitze. Es handelt sich um einen digitalen Antriebschip: eine Batterie von Festbrennstoff-Raketenmotoren, die man einzeln ansteuern kann, töfftöfftöff, um ein Höchstmaß an Manövrier-und Steuerfähigkeit…«

»Und Sheena bedient diese Dinger?« fragte Emma.

»O ja.« Dan grinste stolz. »Sie hat einen großen Waldo-Handschuh in ihrem Habitat, in den sie mit dem ganzen Körper schlüpft. Die Entwicklung war natürlich ziemlich aufwendig. Weil Sheena kein Knochengerüst hat, fehlt ihr das Gespür für die räumliche Position der Arme. Also versorgen die Waldos sie mit Informationen über Druck und Textur … Sie macht das wirklich gut.

Sie ist imstande, acht von diesen Babies gleichzeitig zu bedienen.

In vielerlei Hinsicht ist sie uns überlegen.«

»Trotzdem lassen wir sie dort draußen sterben«, sagte Emma.

Es trat ein verlegenes Schweigen ein, als ob sie mit der Erwähnung dieses Umstands einen Fauxpas begangen hätte.

Dan zog sich wieder die VR-Maske über den Kopf und ging die weiteren Daten über den Asteroiden durch. Emma machte sich auf die Suche nach einer Kaffeemaschine.

209

Sheena 5:

… Und auf Cruithne legte Sheena ihre Eier.

Sie wurden von einer gallertartigen Schicht umhüllt, und jede Röhre enthielt ein paar hundert Stück. Es gab hier natürlich keinen Ort zum Laichen. Also deponierte sie die Eiersäcke über der Maschinerie im Herzen des Miniaturozeans, der sich nun in der Oberfläche von Cruithne verankert hatte. Die Gärten aus Eierbe-hältern baumelten dort und bildeten einen weichen, organischen Kontrast zur harten Maschinerie.

Kleine Fischschwärme kamen herbei und begutachteten die Eier.

Sie wartete ab, bis sie sicher war, dass die Fische von der gallertartigen Masse abgeschreckt wurden, die die Eier umhüllte – das war nämlich ihre Funktion.

Sie verspürte keinen Instinkt, zu den Eiern zurückzukehren und sie zu wiegen. Aber sie wusste auch, dass dies besondere Umstände waren; diese kleine Kugel aus Wasser, die zu einer dicken Linse auf dem Asteroiden zusammengefallen war, war kein nährstoffreiches Meer. Also entwickelte sie die Angewohnheit, alle paar Stunden zu den Eiern zurückzukehren und sie mit einem schwachen Wasserstrahl zu benetzen, um sie mit Sauerstoff zu versorgen.

All das spielte sich außerhalb des Erfassungsbereichs von Dans Kameras ab. Sie sagte ihm nicht, was sie getan hatte.

Michael:

Es kamen immer mehr Kinder an, doch nun wirkten sie verwirrt und ängstlich. Sie alle hatten blaue Kreise auf ihre Hemden oder Jacken genäht. Die Kinder jammerten und weinten, bis sie die erste Regel lernten, die auch Michael gelernt hatte und die da lautete, niemals zu jammern und zu weinen.

210

Einige Kinder wurden auch weggebracht.

Manche wurden von besorgt wirkenden Leuten abgeholt, die den Arm um ein verängstigtes Kind legten. Michael wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht war es auch nur ein Trick.

Die Kinder, die abgeholt wurden, hatten alle weiße Haut. Die Kinder, die gebracht wurden, hatten fast alle schwarze oder braune Haut. Bald waren fast nur noch Kinder mit brauner oder schwarzer Haut da, einschließlich Michael. Was das zu bedeuten hatte, wusste er auch nicht.

Eines Tages sah er einen Bruder, der einen goldenen Ring trug.

Der neuerliche Anblick von Gold, der tiefe Glanz der zeitge-dehnten Elektronen in seiner Struktur faszinierte Michael. Er kam näher und starrte den Ring an. Der Bruder lächelte ihn an und streckte die Hand aus, damit er besser sehen konnte.

Dann holte der Bruder ohne Warnung aus und schlug Michael mit der Faust gegen die Schläfe. Michael spürte, wie der Ring sich ins Fleisch grub und warmes Blut hervorquoll. Der Bruder lächelte und ging davon.

Zu seiner Schande weinte Michael.

Er lief ins Wohnheim zurück. Er lief über den Flur zu seiner Pritsche. Dort stand eine Schwester, packte ihn am Arm und schrie ihn an. Er verstand sie nicht, doch dann wies sie auf den Boden. Er hatte eine Blutspur hinterlassen. Er musste Wischmop und Eimer holen und das trocknende Blut vom Boden kratzen.

Aber das Blut floss noch immer, und er musste sich immer stärker mühen, den Boden sauber zu halten, und es schien nie mehr aufzuhören.

211

Diese Momentaufnahme, der Zwischenfall mit dem Ring, war ein einschneidendes Erlebnis in Michaels Leben, so wie Licht von Dunkel geschieden wird.

Die Besucher wurden immer weniger, bis überhaupt niemand mehr kam.

Und der Unterricht wurde unregelmäßiger. Manchmal wurde er durch Arbeitseinsätze ersetzt, in denen die Kinder die Hütten streichen, den Boden wischen oder die Toiletten sauber machen mussten. Manchmal fiel der Unterricht auch ganz aus.

Die Kühlschränke und Schüsseln mit Essen verschwanden. Nun gab es nur zu den festgelegten Zeiten Essen: zwei Mahlzeiten am Tag.

Es wurden auch keine frischen Kleider mehr an die Kinder ausgegeben. Sie bekamen Hemden, Shorts und Schuhe, die mit kleinen blauen Kreisen markiert waren – eine Garnitur pro Kind. Die Kleidung wurde bald schmutzig und fadenscheinig.

Dann hörte der Unterricht ganz auf, und die Softscreens wurden eingesammelt.

Viele Kinder weinten und sträubten sich, nicht aber Michael.

Er hatte damit gerechnet, dass das eines Tages passieren würde.

Die Schule war ihm überhaupt wie ein bizarrer Traum erschienen.

Er besaß aber die Fähigkeit, im Kopf zu arbeiten. Solang er in Ruhe gelassen wurde, wie damals im Dorf.

212

Emma Stoney:

Jeden Morgen musste Emma nun den Spießrutenlauf durch die lärmende Menge vor dem Bootstrap-Büro in Vegas antreten. Als an diesem Morgen ihr Wagen vorfuhr, durchbrachen sogar ein paar Leute die Polizeiabsperrung. Das Auto spürte warme menschliche Körper voraus und bremste ab. Emma vergewisserte sich, dass die Scheiben geschlossen waren, deaktivierte den SmartDrive und fuhr im Schritttempo weiter.

Langsam wichen die Leute zurück, jedoch nicht ohne so nah an sie herangekommen zu sein, um sie durch die Frontscheibe hindurch anzuschreien. Es gab Öko-Freaks mit Körperbemalung, eine Vielzahl religiöser Gruppierungen, die sie nicht zu identifizieren vermochte, aber auch Gegendemonstranten: Leute, die Bootstrap und seine Projekte befürworteten. Dazu zählten hauptsächlich junge weiße Männer mit US-Flaggen und anderen nationalen Kenn-zeichen, die Parolen über Pioniere und die neue Grenze skandier-ten. Ein paar von ihnen trugen animierte T-Shirts mit einem Bild von Malenfant, wie er irgendwo eine Rede hielt. Ein paar Worte und ein Lächeln liefen in einer Endlosschleife übers zerknitterte Gewebe. Sie schnitt eine Grimasse und fragte sich, wie viel Geld in irgendeinem Winkel von Bootstrap damit wohl gemacht wurde. Ei-ne Kette von Polizisten, die durch Sicherheitspersonal der Firma (das ein enormer Kostenfaktor war, wie Emma wusste) verstärkt wurde, trennte die beiden Gruppen.

Da war ein stämmiger, hinkender Typ mit kahl geschorenem Kopf, der mit einem grünen T-Shirt und einer gleichfarbigen Hose bekleidet war. Er sah aus wie ein Veteran und trug ein vergrößertes Bild eines kränklich wirkenden Kinds, das die Kerzen auf einer Geburtstagstorte ausblies. »Gelbe Babies!« schrie er. »Sieh, was du getan hast, Malenfant! Sieh, was du getan hast.«

Emma schreckte vor seiner Wut zurück.

213

Doch als sie auf dem Firmengelände war und nachdem das Tor sich hinter ihr geschlossen hatte, hörte sie die Parolen der Demonstranten nicht mehr: nur ein leises, kaum hörbares Rauschen wie von fließendem Wasser.

Fast beruhigend.

Sie erreichte den Konferenzraum mit Verspätung. Leise nahm sie an der Rückseite des verdunkelten halb leeren Raums Platz und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen.

George Hench leitete ein ingenieurswissenschaftliches Seminar über den Entwurf eines Wohnmoduls für die geplanten bemannten Folge-Missionen zu Cruithne.

An der Stirnseite des Raums stand ein Technikfritze an einem Pult; eine Softscreen von der Größe eines Vorhangs hing hinter ihm an der Wand. Andere Techniker saßen in den vordersten Reihen. Sie hatten die Arme um die Rückenlehnen der Stühle geschlungen und die Füße hochgelegt.

Bei diesen Technikern handelte es sich überwiegend um Männer, überwiegend schlecht gekleidet und fast alle mit Bart. Sie schmückten sich mit Doktortiteln und anderen Qualifikationen. Viele von ihnen kamen direkt von der NASA, aus Ecken und Winkeln dieses krakenartigen bürokratischen Großreichs, die als Missions-Defini-tions-Büro oder Büro für Marserforschungs-Studien bezeichnet wurden. Hinter jedem dieser Kerle lag eine ganze Flotte schöner Raumschiffe, die nur als Konstruktionszeichnungen, Massenschätzungen und ein paar Vorführ-Modellen existiert hatten und die nur als klare, softwaregenerierte NASA-Bilder und in den Träumen ihrer Schöpfer auf dem Mond oder Mars gelandet waren.

Nach Malenfants spektakulärem ersten Start und seiner Ankündigung, dass er bemannte Missionen zu Cruithne und zu ferneren Himmelskörpern plante – und trotz der gewaltigen rechtlichen Schwierigkeiten, in denen das Unternehmen steckte – war es Bootstrap nicht schwer gefallen, solche Leute zu rekrutieren.

214

Der Referent beschrieb gerade die hochmoderne Konstruktion des Wohnmoduls für die Cruithne-Mission. Er nuschelte in Richtung der Softscreen, und der Bildschirm zeigte einen regelrechten Sturm konfuser Bilder.

Das Wohnmodul war eigentlich nur eine fünfzehn Meter lange Blechbüchse. Sie hatte eine kleine Kapsel für die Rückkehr zur Erde – einen Kegelstumpf in der Form einer Apollo-Kapsel – am unteren Ende. Die Kapsel würde auch als Schutz vor einem Sonnensturm dienen. Große flügelartige Solarzellen-Module waren auf Auslegern montiert, die aus den Seiten der Blechdose wuchsen. Diverse Antennen, Schubdüsen und Luken waren unter Schichten aus kalkweißen Isolierungsmatten zu erkennen. Es erinnerte Em-ma ein wenig an uralte Bilder vom Skylab. Das Wohnmodul rotierte im animierten Bild um die Querachse, um zumindest an den Enden der Blechbüchse eine künstliche Schwerkraft für die Besatzung zu erzeugen. Der Referent betonte die Massenbeschränkungen, unter denen das Raumschiff würde operieren müssen; es schien, dass die ganze Konstruktion sich am äußersten Limit dessen bewegte, was Malenfants BDB ins All zu befördern vermochte.

Die Entwicklung von Lebenserhaltungssystemen fiel ganz und gar nicht in Emmas Ressort. Aber die Teilnahme an solchen Veranstaltungen war Teil ihrer übergeordneten Strategie, Malenfant zu kontrollieren. Sie kannte Malenfant gut genug, um zu wissen, dass, während sie ihr Netz so weit wie möglich auswarf, es ratsam war, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, um sich selbst ein Bild zu machen. Denn selbst hier, im Herzen von Malenfants Reich, musste sie jederzeit mit unliebsamen Überraschungen rechnen.

Es war charakteristisch für Malenfant, die Entwicklung, Konstruktion und sogar die Fertigung seines Raumschiffs zu forcieren, während die langsamen Mühlen der Bürokratie noch mahlten.

Nicht nur das, er war noch schwerer zu erreichen als sonst, weil er 215

sich selbst um jeden Aspekt der Schulung des Kaders der angehen-den Bootstrap-Astronauten kümmerte – sogar in dem Maß, dass er persönlich Flugstunden und Zeit in der Zentrifuge zuteilte.

Übers Schicksal von Bootstrap war aber immer noch nicht entschieden.

Der Umstand, dass sein nächster Flug (falls er überhaupt zustande kam) menschliche Passagiere befördern würde, komplizierte die bürokratischen Prozeduren nur noch mehr. Emma hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass sogar vergleichsweise kurze menschliche Raumflüge mit allerlei Risiken behaftet waren, die Körperschaften wie die OSHA, die Behörde für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, für unvertretbar hoch hielten.

So würden die Astronauten zum Beispiel außerhalb des Magnetfelds der Erde von Strahlung bombardiert, sporadischen heftigen Entladungen von der Sonne und einem steten Schauer kosmischer Strahlen: schnelle Teilchen, Überreste aus fernen Gegenden des Universums, von denen ein einziges Teilchen den Impuls eines Baseballs besaß, wie George Hench ihr einmal gesagt hatte. Dann waren da noch die bekannten Gefahren der Schwerelosigkeit: Knochenschwund, Schwächung des Immun-und Herz-Kreislauf-Systems und Muskelatropie.

Vor Emmas geistigem Auge formte sich das düstere Bild, wie die Besatzung in einem engen, stinkenden und rotierenden Modul durchs All schlich, ständig in der Tretmühle steckte, nur um zu überleben und jedes Mal in Deckung ging, wenn ein Sonnensturm tobte.

Dennoch standen die Chancen für Bootstrap nicht schlecht, und zwar wieder einmal wegen der Schwäche und Unschärfe der gel-tenden Bestimmungen. Zum Beispiel verfügte die OSHA über keine Grenzwerte für die Strahlenbelastung bei bemannten Weltraum-Missionen. Die NASA benutzte als interne Grenzwerte für die Strahlendosis für Raumschiffsbesatzungen die Zahlen, die Gre-216

mien wie die Nationale Akademie der Wissenschaften und der Nationale Beirat für Strahlenschutz und -messungen definiert hatten.

Dennoch hatte die NASA Schlupflöcher offen gelassen, die da lauteten, dass die Grenzwerte für alle Missionen außer für ›außeror-dentliche Forschungsmissionen‹ Gültigkeit hätten.

Reid Malenfant folgte bereitwillig der Richtung, die die NASA vorgegeben hatte.

Der Referent näherte sich dem Ende des Vortrags und erging sich in philosophischem Geschwafel. Vor Kopernikus glaubten die Menschen, die Menschheit sei durch kristallene Sphären vom Himmel getrennt. Nun, diese Sphären existieren noch immer, nur dass sie nicht aus Glas bestehen, sondern aus Furcht. Tun wir es. Zerschmettern wir diese Sphären.

Jubel, gereckte Fäuste, vereinzelter Applaus.

Diese Techniker hatten den Tunnelblick, sagte sie sich. Für sie bedeutete die Mission alles, und die verschiedenen Hindernisse waren Steine, die man ihnen in den Weg zum Erfolg legte. Und wenn sie dann gezwungen waren, sich mit diesen Hindernissen auseinander zu setzen, nahmen sie Zuflucht zu Klischees: ptolemä-

ische Sphären, die Grenze des Wilden Westens, der amerikanische Traum, ›Nichts ist unmöglich‹, der Geist der Luft-und Raumfahrt-pioniere, der organisatorische Wille, der uns befähigte, einen ganzen Kontinent zu erschließen, der Sieg im Zweiten Weltkrieg und so fort.

Aber vielleicht mussten sie auch so sein, sagte sie sich, um überhaupt etwas zu erreichen. Nur unkomplizierte Träume ließen sich nämlich verwirklichen.

Nun trat ein anderer Techniker vor und präsentierte eine andere Grafik. Sie bildete den Fluss von Rohstoffen zur Fertigung des Wohnmoduls ab: elektrische Bauteile aus Fabriken im ganzen Land, strukturelle Bauteile von den großen Unternehmen der Luft-217

und Raumfahrtindustrie, Halbfabrikate von einer Vielzahl von Herstellern, ein Geflecht aus Quellen, Flüssen und Senken.

In der Ecke links unten war ein Kästchen, dessen Inhalt Emma kaum zu lesen vermochte. Sie beugte sich nach vorn und schaute angestrengt hin.

Das Quell-Kästchen war mit ›Dounreay‹ gekennzeichnet. Und das Produkt, das ihm entsprang, war angereichertes ›U-235‹.

Und das war die nächste unliebsame Überraschung für Emma.

Sie erhob sich vom Stuhl und verließ den Raum.

Nachdem sie in ihr Büro zurückgekehrt war, fuhr sie die Softscreen hoch und startete eine Abfrage über Dounreay.

Und dann buchte sie den nächsten Flug nach Schottland.

Sie gelangte zu einem Ort namens Sandside: ein winziges Dorf, das nur aus Ferienhäusern und einem Pub bestand. Sie stieg aus dem Auto – einen SmartDrive gab es nicht – und erklomm einen flachen Hügel am Dorfrand.

Sie war an der Nordküste von Schottland, nur ein paar Meilen von John O'Groats, dem kleinen Touristenort entfernt, der den nördlichsten Punkt der britischen Hauptinsel markierte. Unter ihr erstreckte sich ein weiter Strand, und dahinter das aufgewühlte graue Meer unter einem bedeckten Himmel. Am Horizont machte sie weitere Landmassen aus, den Old Man of Hoy und die Ork-ney-Inseln. Es war ein rauer Ort, eingezwängt zwischen Meer und Himmel, und der pfeifende Wind schien ihr die letzte Wärme aus dem Körper zu ziehen.

Und dort, am östlichen Horizont, breitete sich Dounreay aus: eine meilenlange Gebäudeansammlung mit einem Gebilde in der Form eines riesigen Golfballs, große graue und braune Hallen und 218

Schornsteine. Obwohl sie die Funktion dieses Orts kannte, empfand sie seine optische Anmutung seltsamerweise nicht als abstoß-

end.

Und da kam auch schon Malenfant, dessen hagere Gestalt in einen dicken Steppmantel gehüllt war.

»Du siehst krank aus«, sagte sie.

Er zuckte die Achseln. »Ich glaube, das Klima hier bekommt mir nicht. Obwohl auch schottisches Blut in meinen Adern fließt. Vielleicht hat der ganze Sonnenschein in Vegas mich etwas verweich-licht.«

»Was hast du nun schon wieder vor, Malenfant?«

Er seufzte. »Ich tue, was getan werden muss.«

Sie schaute ihm ins Gesicht. »Hör mir wenigstens einmal zu, du Arschloch. Wenn du planst, nukleares Material ins All zu befördern, oder wenn du auch nur vorhast, atomaren Schrott um den Planeten zu schicken, begehst du gleich eine ganze Reihe von Ge-setzesverstößen. Und wenn du Bootstrap darin verwickeln willst – wenn du mich darin verwickeln willst –, dann sag es gleich.«

»Ja, das will ich«, sagte er. »Aber wir haben keine andere Wahl.«

»Ach, Malenfant. Du …«

Er nahm ihren Arm, und sie spazierten über den Hügel.

Er beschrieb ihr ein paar Merkmale von Dounreay. Es war das zweitgrößte britische Atomkraftwerk nach Sellafield. Früher hatte man hier Strom erzeugt, medizinische Isotope erzeugt, drei Wiederaufbereitungs-Straßen und ein atomares Endlager betrieben.

Der ›Golfball‹ war ein Schneller Brüter aus dem Jahr 1959. Er war ein paarmal in Brand geraten und überhitzt. Nun war er abgeschaltet und galt bizarrerweise als Industriedenkmal. Die großen grauen Hallen dienten der Wiederaufbereitung atomarer Abfälle und der Gewinnung von Brennstoff aus den Brennelementen.

Hinter dem Golfball war der Schacht zum in sechzig Meter Tiefe gelegenen Endlager. Dort lagerten fünfzehntausend Tonnen Ab-219

fall, die mit Uran und Plutonium vermischt waren. Höchst instabil; es hatte schon zwei Wasserstoffexplosionen gegeben, bei denen der radioaktive Müll überall verteilt worden war.

»Mein Gott«, sagte sie. »Was für ein Irrsinn. Hier liegen die Träume einer weiteren Generation von billiger Energie begraben.

Und wir müssen nun bis in alle Ewigkeit mit dem Scheiß leben.«

»Es ist nicht ganz nach Plan verlaufen«, gestand er. »Das sollte ursprünglich ein Nuklear-Park mit sechs Reaktoren werden. Aber die Technik war ihrer Zeit voraus.«

»Ihrer Zeit voraus?«

»Alles lief nach den Gepflogenheiten der damaligen Zeit ab. Sogar die Geheimhaltung, wenn du es wissen willst. Du musst bedenken, dass wir damals im Kalten Krieg lebten. Man hatte damals nicht solche Sicherheitsbedenken wie heute. Eine Besessenheit, die uns seit ungefähr 1970 behindert hat. Und rate mal – die Anwoh-ner lieben das Kraftwerk. Auch wenn es kein einziges Watt mehr produziert, wird Dounreay noch für hundert Jahre bestehen. Qua-litativ hochwertige und hoch qualifizierte Arbeit für vier Generationen der hiesigen Menschen. So lang wird es nämlich dauern, das Werk außer Dienst zu stellen.«

»Dann beantworte mir noch eine Frage: Wenn die britische Regierung die Anlage schon in den Neunzigern geschlossen hat, wie hast du es dann geschafft, hier angereichertes Uran zu bekommen?«

»Es war völlig legal«, sagte er.

»Mein Gott, Malenfant.«

»Schau.« Er kramte eine kleine zerknitterte Softscreen aus der Tasche hervor und entfaltete sie mit steifen Fingern. Sie zeigte ein Bild von etwas, das Ähnlichkeit mit einem Raketentriebwerk hatte – eine himmelblaue Düse, die von einer komplexen, großen Maschinerie überwölbt wurde. Die Grafik war mit Text garniert, der aus kleinen unleserlichen Buchstaben bestand. »Das ist es, was wir 220

bauen«, sagte Malenfant. »Es ist ein Kernreaktor, der eigens für Weltraum-Missionen entwickelt wurde. Hier oben ist der Reaktor.«

Er zeigte mit dem Daumen auf die besagte Stelle und arbeitete sich abwärts. »Dazu kommen Pumpen, die Abschirmung und ein Kühler. Das ganze Ding hat eine Höhe von etwa dreieinhalb Metern und wiegt zirka eine Tonne. Der Reaktor hat eine thermische Ausgangsleistung von 135 Kilowatt und eine elektrische Leistung von 40 Kilowatt…

Emma, du musst das verstehen. Wenn wir Menschen mit einer neuen Nautilus ins All schicken, haben wir eine Mission, die um eine Größenordnung aufwendiger ist als Sheenas. Und dann wäre da noch der Energiebedarf für Oberflächen-Operationen. Um den Saft, den wir benötigen, aus Solarzellen-Modulen zu gewinnen, brauchten wir eine Fläche von der Größe eines halben Fußballfelds. Das Gewicht wäre immens. Nicht einmal der BDB wäre fä-

hig, das zu transportieren …«

»Und deshalb plant ihr den Bau dieses Reaktors? … Ach so. Ihr baut ihn bereits. Stimmt's?«

Er schien mit sich zufrieden. Schau, was ich getan habe. »Wir haben russische Ingenieure eingestellt. Wir haben sogar ein paar reaktiviert. Die Vereinigten Staaten haben keine moderneren nuklearen Energiequellen als die Radioisotopen-Wärmeerzeuger entwickelt, die wir auf den unbemannten Missionen verwendet haben.

Die Clinton-Regierung hat unsre Weltraum-Kernkraftforschung sogar eingestellt. Was soll man dazu noch sagen? Als wir die Kernkraft aufgaben, gaben wir die Zukunft auf.

Aber die Russen führen schon seit den Sechzigern nuklear betriebene Aufklärungsflüge durch, und sie haben sogar einen Testflug mit einer Konstruktion namens Topaz durchgeführt, auf der dieses Baby beruht. Es ist uns natürlich gelungen, die Konstruktion deutlich zu verbessern.«

»Malenfant…«

221

Er tippte auf den kleinen Bildschirm. »Alles, was wir brauchen, sind fünfzig Pfund angereichertes Uran-235 in Form von Urandio-xid-Pellets. Als Moderator dient Zirkoniumhydrid, und kontrolliert wird die Reaktion, indem man diese Zylinder an der Außenseite des Kerns dreht, die …«

»Und wie willst du diesen Scheiß überhaupt in die Mojave schmuggeln?«

»Schmuggeln ist ein hartes Wort.«

»Komm schon, Malenfant. So ein Wüstenhimmel ist glasklar.

Beobachtungssatelliten …«

»Willst du es wirklich wissen? Man kann die Positionen aller Satelliten im Internet abrufen und ermitteln, wo sie zu einem bestimmten Zeitpunkt stehen. Man wartet nur, bis sie über einem vorbeigezogen sind. Noch besser, man wartet bis zur Nachtschicht in der National Imagery and Mapping Agency in Fairfax. Dort gibt es immer etwas Interessanteres zu sehen als Bilder von jemandem wie mir, der in der Wüste rumhampelt.«

»Erst schießen, dann fragen. Wie beim BDB-Start. Wie es überhaupt deine Art ist.«

»Emma, du musst mir vertrauen. Wenn es mir gelingt, einen oder zwei Topaz zu betreiben und zu beweisen, dass er sicher ist, werde ich die Genehmigungen schon bekommen, die ich brauche.

Vorher muss ich mit dem Atomkram aber Probeläufe durchführen.«

»Und die Einwohner von Vegas sollen dir auch vertrauen, bis angereichertes Uran vom Himmel regnet? Weißt du, du bist ein Träumer, Malenfant. Du glaubst wirklich, dass wir eines Tages alle zur Besinnung kommen, dir Recht geben und dich als Helden fei-ern werden.«

»Ich bin doch schon ein Held.« Er zwinkerte ihr zu. »Es steht sogar auf T-Shirts. Schau, Emma – ich behaupte nicht, dass ich über alles glücklich bin, was ich tun muss. Nicht mehr als du.

222

Aber wir müssen weitermachen. Es geht nicht nur um Bootstrap und den Profit, nicht einmal um das große Bild, unsre Zukunft im All…«

»Cornelius. Die Carter-Katastrophe. Botschaften aus der Zukunft.«

Er musterte sie. »Ich weiß, wie du dazu stehst. Du hast das alles in eine Schublade im Bewusstsein gesteckt, die du nur dann öff-nest, wenn es sein muss. Aber es ist real, Emma. Wir beide haben diese Neutronen-Impulse gesehen.«

»Neutrinos, Malenfant«, sagte sie leise.

»Wir stecken schon zu tief drin, Emma. Wir müssen weitermachen.«

Sie schloss die Augen. »Malenfant – Geduld ist bisher immer unsere Stärke gewesen. Du brauchst keine lausigen russischen Reaktoren und dubiose Uran-Lieferungen. Lass dir Zeit und finde einen anderen Weg, dein Raumschiff zu bauen.«

»Das geht nicht.« Seine Stimme klang angespannt.

Und natürlich wusste sie das.

Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf den Kopf.

Sie seufzte. »Du weißt, dass ich dich nicht verraten werde. Ich stecke schon zu lang mit dir zusammen, ein halbes Leben lang.

Aber hast du schon mal darüber nachgedacht, was es vom ethischen Standpunkt aus bedeutet, wenn du mich und andere in einen solchen Scheiß mit reinziehst…? Du musst mir gegenüber ehrlich sein, Malenfant.«

»Das werde ich«, sagte er. »Ich verspreche es.«

Sie wusste natürlich, dass er log.

Überhaupt war sie nützlicher für ihn, wenn sie es nicht wusste.

Es machte ihre Dementis entsprechend glaubwürdiger und bot ihr wahrscheinlich sogar einen gewissen Schutz.

Aber das würde bei seinen Überlegungen nicht an erster Stelle stehen; es war sozusagen ein Nebeneffekt. Malenfant ging es nur 223

darum, sich ihrer beim Erreichen seiner Ziele möglichst effektiv zu bedienen. Wie ein beliebiges Werkzeug, das er benutzte.

Dessen war sie sich voll und ganz bewusst. Was sie im Grunde ihres Herzens aber nicht verstand, war, weshalb sie das überhaupt noch mit sich machen ließ.

Reid Malenfant:

Wie können wir einen Asteroiden in Raketenbrennstoff verwandeln? Klingt wie Zauberei, nicht?

… Zuerst zerlegen wir Asteroidenwasser durch Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff. Denken Sie an den Chemie-Unterricht mit den entsprechenden Versuchsaufbauten zurück. Um Wasser in seine Bestandteile zu zerlegen, muss man nur einen elektrischen Strom hindurchschicken. Genau das werden wir auch tun. Nur dass die Geräte, die wir verwenden, etwas fortschrittlicher sind.

Dia, bitte.

Dies ist ein Festpolymer-Elektrolyt oder SPE-Elektrolyse-Gerät. Es besteht aus mehreren in Elektrolyt getränkten Kunststoff-Platten, die durch ein Metallgeflecht voneinander getrennt sind. Die ganze Anordnung wird von Metallstäben zusammengepresst, die längs durch die Zellen verlaufen.

SPEs werden auf Atom-U-Booten und in der Raumstation eingesetzt. Sie sind praktisch wartungsfrei.

Was das Methan betrifft, werden wir es zum Teil direkt aus dem Asteroidenmaterial, hauptsächlich aber durch die Umwandlung von Kohlendioxid gewinnen. Wir benutzen dazu einen so genannten Sabatier-Reaktor. Dia. Wir verflüssigen den Wasserstoff aus den Elektrolyse-Bänken und leiten ihn zusammen mit Kohlendioxid in den Reaktor. Auf der anderen Seite kommen Wasser und Methan heraus – das eine Verbindung aus Kohlenstoff und Was-224

serstoff ist. Die Reaktion hat einen sehr hohen Wirkungsgrad, fünfundneunzig Prozent in Zahlen ausgedrückt. Und sie ist exo-therm, was bedeutet, dass für den Ablauf keine Wärme zugeführt werden, sondern nur ein Ruthenium-Katalysator vorhanden sein muss.

Sabatier-Reaktoren werden bereits für Lebenserhaltungs-Anwendungen im All eingesetzt. Sie sind von der NASA und der Air & Space Force getestet worden und kommen auch in der Raumstation zum Einsatz.

Sie finden in Ihren Mappen weitere Informationen darüber, wie wir das Mischungsverhältnis des Methan-Sauerstoff-Zweikompo-nententreibstoffs optimieren wollen sowie über diverse Hilfspro-zesse, die wir benötigen. Wir können Ihnen auch einen Versuchsaufbau-Prototyp vorführen. Wasserstoff ist aber schwer zu verflüssigen und zu speichern: niedrige Temperatur und großes Volumen.

Methan ist wie Sauerstoff eine leichte cryogene Mischung, und davon haben wir uns bei unsren Überlegungen leiten lassen.

Das alles hört sich ziemlich exotisch an. Aber wir haben hier eine robuste und ausgereifte Konstruktion, die auf einer Jahrhunderte alten Technik beruht. Es handelt sich nur um eine neue Anwendung.

Meine Damen und Herren, die Ausbeutung eines Asteroiden ist leicht.

Dia, bitte.

Sheena 5:

Die Babies schlüpften schon: Sie sprengten der Reihe nach die zer-fallenden Eier und schwammen gewandt und neugierig davon. Mit einem sanften Wasserstrahl leitete sie sie zum Seegras, wo sie gra-sen würden, bis sie die Geschlechtsreife erlangt hatten.

225

Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, was dann geschehen würde.

In der Zwischenzeit hatte sie zu arbeiten.

Als Sheena den ›Steinbeißer‹ hochfuhr, war sie nervöser als zu irgendeinem Zeitpunkt nach der Landung. Sie lag reglos im Waldo-Handschuh und versuchte die Systeme des Steinbeißers zu spüren: die Gleisketten, die sich in die lockere Oberfläche des Asteroiden gruben, die große, klaffende Schaufel an der Vorderseite und den Ofen in seinem Bauch, der einem warmen Herzen glich. Als ob sie sich in die große rumpelnde Maschine verwandelt hätte, die bald wie eine Krabbe über den Asteroidenboden kriechen würde.

Sie wusste, weshalb sie dieses Gefühl der Anspannung verspürte.

Der Steinbeißer war eine komplexe Maschine. Er musste beobachtet werden, während er sich um den Asteroiden fraß, damit er sich nicht zu tief in die Oberfläche grub oder damit die Ketten nicht auf einem losen Gesteinsbrocken durchdrehten, wodurch das Gerät in den Raum geschleudert werden und auf Nimmerwiederse-hen verschwinden konnte.

Aber er war im Prinzip auch nicht schwieriger zu steuern als die kleinen Feuerkäfer-Robots, und an die hatte sie sich inzwischen ge-wöhnt. Es bereitete ihr sogar Freude, sechs, sieben oder acht auf einmal zu einer Schule von Robots zu vereinigen, und sie wartete auf die Gelegenheit, Dan ihr Können zu zeigen.

Es war nicht einmal die Bedeutung dieser Operation für die Mission. Sie wusste, dass die Feuerkäfer nicht mehr getan hatten, als zu messen, wiegen, analysieren und beobachten. Nun würde sie zum ersten Mal etwas tun, das den Asteroiden veränderte und etwas aus seiner lockeren uralten Substanz erschaffen. Wenn sie versagte, würde das bedeuten, dass sie auch an der großen Aufgabe scheiterte, die unvorstellbaren Reichtümer des Asteroiden zur Erde zu bringen.

Aber das war nicht der Grund für ihre Unruhe.

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Ein Scheitern würde bedeuten, dass ihre Jungen und sie hier einen sinnlosen Tod sterben würden, abgeschnitten von der Schule.

Darauf kam es ihr an. Sterben war eine Sache; für nichts zu sterben war eine andere. Diese Angst war ihr ständiger Begleiter, ein Wissen, das sie umkreiste wie ein Räuber, der auf ein Anzeichen von Schwäche bei ihr wartete.

Deshalb würde sie nicht schwach werden und versagen, auch wenn sie erschöpft war und alt wurde.

Es wurde Zeit. Sie zog am Handschuh.

… Und sie spürte, wie der Steinbeißer das schaufelartige Maul in den lockeren Boden von Cruithne grub.

Die ersten Bewegungen waren unbeholfen. Durch die Mikro-Kameras, die in die Oberseite des Steinbeißers eingebettet waren, sah sie, wie Regolithbrocken, Staub und größere Bruchstücke aufgewirbelt wurden. Die Brocken verschwanden auf schleifenförmigen Bahnen aus ihrem Blickfeld. Manche entwichen dem schwachen Schwerefeld des Asteroiden, schlugen eigene Umlaufbahnen ein und kreisten als ›Baby-Asteroiden‹ um die Sonne.

Geduldig verlangsamte sie das Tempo, justierte den Winkel des Trichters und regelte die Geschwindigkeit, mit der das Gerät über die Oberfläche pflügte und versuchte es erneut. Bald hatte sie den Bogen raus, und ein steter Strom aus Asteroiden-Gestein wanderte durch den Trichter ins Mahlwerk des Steinbeißers.

Kleine Förderbänder und Schaufeln beförderten den Regolith in die Verarbeitungskammern. Zuerst wurde das Erz zermahlen und durch Klauen, Walzen und Rüttelsiebe geschickt. Dann zogen Magnetfelder Nickel-Eisen-Granulat heraus. Schließlich wurde das 227

zerstampfte Erz in einen Ofen befördert, der von der gebündelten Wärme der Sonne betrieben wurde.

Eine Gesteinsschmelze sammelte sich in einem Kondensations-Tank und driftete unter der geringen Schwerkraft als große Kügelchen umher.

Dieser eine Steinbeißer, der geduldig über die Oberfläche des Asteroiden wanderte, würde täglich literweise wertvolles Wasser aus dem nackten Gestein des Asteroiden gewinnen. Das Wasser würde weiterverarbeitet und in vielen anderen, weit komplexeren Maschinen verwendet werden. Und so würde dieser Asteroid aus einem uralten Schlackebrocken in etwas Wundervolles, etwas Lebendiges verwandelt werden.

Als sie mit der Arbeit des Steinbeißers zufrieden war, schlüpfte sie aus dem Handschuh und schwamm zur Stelle, wo das Rohr, das vom Steinbeißer zurücklief, in die Membran mündete. Und sie entdeckte ein Rinnsal aus frischem Asteroiden-Wasser.

Sie schwamm um die Asteroiden-Quelle herum, sodass das Wasser ihren Panzer umspülte und durch die Kiemen strömte. Es war warm, vielleicht durch den Brenner im Herzen des steinfressenden Robots, und es war auch nur ein dünnes Rinnsal, das sich mit der großen Masse des Habitats mischte. Doch Sheena schwamm immer wieder hindurch, und ihre Haut pulsierte aufgeregt.

Sie schwamm als erstes Geschöpf der Erde in Wasser, das nicht von ihrem Heimatplaneten stammte, Wasser, das früher als die Sonne entstanden war – Wasser, das in diesem dunklen Gesteinsbrocken eingeschlossen geschlummert hatte, bis sie es befreit hatte.

Sie wusste, dass das Dans Mission war und nicht ihre; sie wusste, dass sie Dans Geschöpf war und nicht aus sich selbst heraus existierte. Aber sie war stolz, weil sie die Erste war; kein anderes Lebewesen, das je existiert hatte oder je existieren würde, vermochte ihren Ruhm zu schmälern.

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Sie verlieh ihrer Freude durch wilde Schwünge und ein explosives Farbenspiel Ausdruck.

Sheena versammelte die Feuerkäfer an einem Pol von Cruithne, wo sie in diffiziler Kleinarbeit eine kleine Chemiefabrik errichteten, mit Röhren, Tanks, Pumpen und einer Düse, die gen Himmel wies. Bohrer gruben sich in die Oberfläche von Cruithne und förderten Regolith sowie tiefer gelegenes Gestein und Eis zutage.

Wertvolle Solarzellen, die auf der staubigen Oberfläche des Asteroiden ausgebreitet wurden, erzeugten Strom und verteilten ihn über Kabel, die über den Regolith liefen.

Die Fabrik nahm die Arbeit auf.

Der ganze Vorgang mutete Sheena wundersam an. Man nehme uraltes Gestein und Eis und wandle es in etwas Neues um …

Schließlich öffneten unter Sheenas Regie sich klickend ein paar simple Ventile. Auf den Bildern, die von Feuerkäfer-Kameras an die Laserprojektoren auf ihren Augen übertragen wurden, sah Sheena, wie eine Flamme aus der Düse schlug und in den Himmel stach. Und nun wurden Verbrennungsrückstände erzeugt, Eiskris-talle, die das Sonnenlicht reflektierten und in schnurgeraden Linien sich ausbreiteten. Es war eine Feuer-Quelle, schön anzuschauen.

Von nun an kontrollierten Menschen von der Erde aus die Operation. Asteroiden-Wasser und unverarbeitetes Gestein würden in riesige Beutel gepackt, die von Raketen wie diesem Testgerät aufgehalten und wie vom Mantelstrahl eines Kalmars durchs leere Meer des Alls zur Erde geschleppt würden.

Dan sagte ihr, dass bei Bootstrap groß gefeiert würde. Er sagte freilich nicht, dass die Feier hauptsächlich aus dem Grund statt-229

fand, weil Sheena ihren Auftrag erfüllt hatte, bevor sie starb – aber das wusste sie auch so.

Sie wandte sich vom Waldo-Handschuh und den Bilderzeugern, den menschlichen Maschinen ab und hielt Ausschau nach ihren Jungen.

Sie wuchsen explosionsartig und wandelten die Hälfte der zugeführten Nahrung in Körpermasse um.

Zuerst waren sie asozial gewesen und hatten allein in den See-grasbetten gejagt. Zwischenzeitlich hatten sie aber trotz ihres zar-ten Alters schon Schulen gebildet. Sie beobachtete die Männchen beim Kampf: aggressives Signalisieren, Schläge mit den Flossen, Verfolgen und Fliehen – kleinmaßstäbliche Kämpfe, die die größeren Konflikte vorwegnahmen, die in der Paarungszeit ausbrechen würden.

Ein paar der Jungen machten bereits Jagd auf die kleineren Fische und zeigten dabei die Verhaltensmuster, die ihrer Art in die Wiege gelegt waren. Sie unterhielten sich sogar in der einfachen und ausdrucksstarken Zeichensprache, von der Dan sagte, dass sie ihnen von Millionen Generationen ins Gehirn programmiert worden sei: Ich bin groß und wild. Schau meine Waffen. Ich bin Seegras, ich bin kein Kalmar. Ich bin stark. Schau mich an!

Sie wusste, dass Dan mittlerweile über die Existenz der Jungen im Bilde war. Das zunehmende Ungleichgewicht in der kleinen Ökosphäre war ihm sicher nicht verborgen geblieben. Doch er sagte nichts, und sie erwähnte es auch nicht.

Die meisten Jungen waren dumm. Vier waren intelligent.

Sie trennte die vier von den anderen und schwamm in der Mitte ihrer kleinen Schule. Sie wurde nun alt und ermüdete schnell.

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Dennoch lehrte sie die Jungen, wie man jagt – und zwar hoch entwickelte Techniken, die ihre dummen Geschwister nicht begriffen.

Sie brachte ihnen bei, ahnungslose Fische zu täuschen. Sie hielten die Arme mit entfärbten Enden hoch und wedelten damit, um die Aufmerksamkeit der Fische abzulenken und dann mit den viel gefährlicheren Tentakeln zuzuschlagen.

Sie brachte ihnen bei, auf die Pirsch zu gehen und sich von hinten an einen Fisch anzuschleichen, wo seine Sicht am schlechtesten war.

Sie brachte ihnen bei, eine flüchtende Beute mit Raffinesse zu verfolgen und sich ihr so weit zu nähern, um sie mit dem letzten, entscheidenden Satz zu packen.

Sie brachte ihnen bei, getarnt zu jagen. Sie imitierten Beerentang und hingen mit baumelnden Armen im Wasser, um pfeilschnell über einen unvorsichtigen Fisch herzufallen. Oder sie schwammen mit falschen Augentupfen und gebündelten Armen rückwärts und wedelten wie ein Fischschwanz.

Nachdem sie mit kleinen Fischen geübt hatten, machte einer von ihnen die anderen Kalmare aus, ihre Geschwister.

Sie lehrte sie über das Riff, die vielen Geschöpfe, die dort lebten und starben und dass sie zusammengehörten, auch wenn sie miteinander konkurrierten und kämpften und sich jagten. Sie versuchte, ihnen etwas über Räuber beizubringen. Sie schlüpfte in die Rolle eines Räubers, stieß auf sie herab wie ein Meeraal und versuchte sie mit den Armen und dem Schnabel zu erwischen. Aber sie waren jung und gewandt und entkamen ihr leicht; und sie spürte, dass sie ihr die Geschichten von Ungeheuern nicht glaubten, die imstande waren, einem Kalmar die Arme abzubeißen oder sogar einen ganzen Kalmar zu verschlucken, ob er nun ein verstärktes Gehirn hatte oder nicht.

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Und sie lehrte sie Sprache, die abstrakten Zeichen, die Dan ihr beigebracht hatte. Sobald sie die Sprache gelernt hatten, wanderten lauter Fragen über ihre Mäntel. Wer? Wieso? Wo? Was? Wie?

Sie wusste nicht immer eine Antwort. Aber sie zeigte ihnen die Maschinerie, die sie am Leben hielt und lehrte sie über die Sterne und die Sonne, über die Natur der Welt und des Universums und über die Menschen.

Die Jungen schienen sehr schnell zu begreifen, dass Sheena und ihre Kinder die Ressourcen dieses einen Habitats bald erschöpfen würden. Das Habitat war dafür konzipiert, einen Kalmar – also Sheena – für einen begrenzten Zeitraum am Leben zu erhalten, ein Zeitraum, der fast abgelaufen war. Es waren auch schon etliche Probleme mit den fest geschlossenen Umweltschleifen aufgetreten: unvorhergesehene Abnahmen und Zunahmen in der Phytoplankton-Population, ein Schwund oder exzessive Konzentrationen von Spurenelementen mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Krill und die Fische.

Die Jungen waren sehr intelligent. Bald vermochten sie in Bahnen zu denken, die selbst Sheenas Vorstellungsvermögen überstiegen.

So sagten sie zum Beispiel, dass sie diese Fabrikschale vielleicht nicht nur reparieren, sondern erweitern sollten. Vielleicht, sagten die Jungen, sollte man sogar neue Kuppeln bauen und sie mit Wasser füllen.

Sheena, die nur dafür ausgebildet war, die primäre Mission durchzuführen, fand diesen Gedanken merkwürdig.

Es gab nicht mehr genug Fisch und zu wenig Krill. Das Wasser wurde brackig und mit Schadstoffen verseucht.

Das war völlig inakzeptabel.

Also brachten die Jungen ihre dummen Geschwister der Reihe nach zur Strecke und fraßen sie auf, bis nur noch diese vier und Sheena übrig waren.

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Michael:

Seine Erinnerungen waren konfus.

Als noch Touristen ins Dorf gekommen waren, hatten sie mit ihren Kameras Schnappschüsse gemacht und manchmal ans Dorf geschickt. Michael sah sich auf Bildern als Person, die nicht mehr existierte und jemanden anlächelte, der auch nicht mehr existierte – wie zwei Geister. Manchmal kamen die Bilder in verkehrter Reihenfolge, sodass er sich in einem T-Shirt mit einem Loch darin sah, und auf dem nächsten Bild erschien er vielleicht etwas kleiner und mit auf wundersame Art und Weise geflicktem T-Shirt.

Als man ihn aus dem Dorf fortgebracht hatte, wusste er nicht, wie ihm überhaupt geschah, und die Erinnerungen waren durcheinander geraten wie diese Schnappschüsse.

Aber er hatte noch immer einen Himmel über sich, mit Sternen und einem Mond, auch wenn sie sich an einem anderen Ort befanden als während seiner Zeit im Dorf.

Und wenn er nachts auf der Pritsche im stillen Raum die Augen schloss, spürte er im tiefsten Innern, wie die Zeit verging, unerbittlich verstrich, unsichtbar gemessen von der Entstehung seiner eigenen Gedanken. Es kam nicht darauf an, dass seine Erinnerungen keinen Sinn ergaben und dass das, was ihm widerfahren war, keine Logik oder Erklärung hatte. Es genügte, dass er im tiefsten Innern wusste, dass das Universum noch funktionierte.

Die Regeln hier an der Schule hatten sich vereinfacht.

Essen war alles.

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Wenn man nicht weiß, wann es das nächste Mal etwas zu essen gibt, musste man alles Essbare, das man fand, entweder gleich verzehren oder horten.

Es war aber besser, möglichst viel zu horten und es in den Klei-dern oder in einem Versteck aufzubewahren, damit man mehr davon hatte. Deshalb hatte Michael ein Versteck in der Wand der Wohnheim-Hütte angelegt. Wenn man Essen hatte, besaß man Macht. Wenn ein andrer Essen hatte, besaß der Macht über einen.

Es gab auch noch andere Regeln.