14. Kapitel
Jeder Mensch,
alle Ereignisse in deinem Leben
sind da, weil du selbst sie
angezogen hast.
Was du mit ihnen an fängst,
ist deine Sache.
»Fühlst du dich nicht manchmal einsam, Don?« Wir saßen in einer Imbißstube in Ryerson im Bundesstaat Ohio, als es mir einfiel, ihn danach zu fragen.
»Ich bin überrascht, daß du dies...«
»Schschsch«, sagte ich, »ich bin mit meiner Frage noch nicht fertig. Fühlst du dich nicht manchmal ein ganz klein wenig einsam?«
»Was du darunter...«
»Warte! All diese Menschen. Wir sind nur ein paar Augenblicke mit ihnen zusammen. Ab und zu taucht ein Gesicht in der Menge auf und leuchtet, irgendeine wunderbare, strahlende Frau, die mich wünschen läßt, dableiben und guten Tag sagen zu können, mich auszuruhen und ein wenig zu unterhalten. Aber entweder fliegt sie zehn Minuten mit mir, oder sie läßt es sein. Dann ist sie verschwunden, und am nächsten Tag geht's weiter nach Shelbyville, und ich werde sie nie wiedersehen. Das ist einsam. Aber man kann wohl kaum bleibende Freunde finden, wenn man selbst nirgendwo länger bleibt.«
Er schwieg.
»Oder?«
»Darf ich jetzt reden?«
»Ich denke schon, ja.« Die Hamburger in dieser Snackbar waren zur Hälfte in dünnes Ölpapier eingewickelt. Wenn man sie auspackte, war alles voller Sesamkörner - nutzlose kleine Dinger, aber die Hamburger schmeckten gut. Er aß eine Zeitlang schweigend weiter und ich auch, wobei ich mich fragte, was er wohl sagen würde.
»Hör zu, Richard, sagen wir einmal, wir sind Magneten, ja? Nein, keine Magneten. Wir sind Eisen, mit Kupferdraht umwickelt. Jedesmal, wenn wir uns magnetisieren wollen, können wir es. Wir brauchen nur unseren inneren Strom durch die Drähte fließen zu lassen, und wir können anziehen, was immer wir wollen. Einem Magneten ist es einerlei, wie er funktioniert. Er ist einfach da und so beschaffen, daß er einiges anzieht, anderes nicht.«
Ich aß einen Kartoffelchip und zog die Stirn kraus.
»Etwas hast du dabei aber ausgelassen. Wie mache ich das?« »Du machst gar nichts. Kosmisches Gesetz, weißt du noch? Gleich und gleich gesellt sich gern. Sei nur, wer du bist, sei ruhig und klar und hell. Ganz von selbst und während wir uns strahlend offenbaren, sollten wir uns jeden Augenblick fragen, ob wir genau dies wirklich tun wollen, und es nur dann tun, wenn die Antwort ja ist. Das weist dann ganz von selbst alle diejenigen zurück, die nichts von dem, was wir sind, erlernen können, und es wird diejenigen anziehen, die glauben, sie könnten etwas lernen, und von denen auch wir etwas lernen können.«
»Aber dazu gehört eine große Glaubensstärke, und unterdessen ist man ziemlich einsam geworden.«
Er sah mich über seinen Hamburger hinweg mit einem seltsamen Ausdruck an. »Alles Humbug mit dem Glauben! Man braucht dazu überhaupt keinen Glauben. Was man wirklich braucht, ist Phantasie.« Er schob alles, was auf der Tischplatte zwischen uns stand, beiseite: Salzstreuer, Pommes frites, Ketchup, Gabeln, Messer. Ich war gespannt auf das, was sich vor meinen Augen ereignen sollte. »Wenn du Phantasie hast«, sagte er, »wie ein Körnchen Sesam« - er schob es mitten auf den leergefegten Tisch -, »sind dir alle Dinge möglich.«
Ich betrachtete das Sesamkorn, dann ihn. »Ich wünschte, ihr Erlöser könntet erst mal untereinander einig werden. Ich habe immer gedacht, man müsse Glauben haben, besonders dann, wenn sich die ganze Welt gegen uns wendet.«
»Nein. Ich wollte das, als ich noch arbeitete, zurechtrücken. Aber das war ein langer Kampf bergauf. Vor zwei- oder auch fünftausend Jahren hatte man kein Wort für Phantasie, und Glauben war noch das Beste, was man einem ziemlich ernsten Haufen von Anhängern zu bieten hatte. Und außerdem kannten sie keine Sesamkörner!«
Ich wußte, daß sie sehr wohl Sesamkörner besaßen, aber ich ließ ihm diese Lüge durchgehen. »Soll ich mir vorstellen, wie diese Materialisierung vor sich geht? Ich stelle mir eine bezaubernde, kluge, rätselvolle Frauengestalt vor, die auf einer Weide mitten in der Menschenmenge in Tarragon im Bundesstaat Illinois erscheint, ja? Gewiß kann ich das; aber das ist auch alles, das ist eben nur meine Phantasie.« Verzweifelt warf er einen Blick zum Himmel, der im Augenblick aus einer Weißblechdecke und kalten Neonröhren von Em und Ednas Café bestand.
»Nur deine Phantasie? Selbstverständlich ist es deine Phantasie! Diese ganze Welt beruht doch nur auf deiner Vorstellungskraft, hast du das vergessen? Wo dein Denken ist, da ist deine Erfahrung. Wenn ein Mensch denkt, existiert er Das, was ich fürchtete, hat mich ereilt. Denke und werde reich: kreative Vorstellungskraft zum Spaß und zum Profit. Wie werde ich beliebt und bleibe mir selbst treu ? Deine Phantasie verändert das Sein um keinen Deut, es wirkt sich überhaupt nicht auf die Realität aus. Denken wir an Traumfabriken von Hollywood, an Warner-Brothers-Welten, MGM-Lebzeiten; jede Sekunde davon besteht aus Illusionen und Phantasien. Alles Träume mit Symbolen, wie wir Tagträumer sie für uns selbst heraufbeschworen haben.« Er arrangierte Gabel und Messer, als wollte er eine Brücke zwischen uns bauen. »Du möchtest wissen, was deine Träume bedeuten? Du solltest lieber fragen, was die Dinge, die dich täglich und als wacher Mensch umgeben, bedeuten. Du, der du in einer Welt voller Flugzeuge lebst.«
»Ja, Don, du hast recht.« Dabei wünschte ich, er würde langsamer machen und mir nicht alles auf einmal aufladen. Eine Meile pro Minute ist mir für meine Gedanken etwas zu schnell. »Wenn du von Flugzeugen träumtest, was würde das für dich bedeuten?«
»Zuerst einmal Freiheit. Flugzeugträume bedeuten Flucht, Flug und Befreiung.« »Wie deutlich soll ich es noch machen? Der Wachtraum ist dasselbe: Du möchtest dich von allem, was dich zurückhält, lösen: Routine, Autorität, Langeweile, Schwerkraft. Was du nicht erkannt hast, ist, daß du schon frei bist, immer frei gewesen bist. Hättest du nur einen Bruchteil der Freiheit dieses Sesamkorns hier, wärst du bereits Herr und Gebieter über dein Zauberreich. Nur Phantasie! Was sagst du dazu?« Die Serviererin hatte ihm ab und zu einen neugierigen Blick zugeworfen, während sie Geschirr abtrocknete, zuhörte und sich fragte, was das sein mochte.
»Also fühlst du dich niemals einsam, Don?«
»Nur, wenn ich es selber will. In den anderen Dimensionen habe ich Freunde, die manchmal um mich sind. Auch du hast sie.«
»Ich meine aber diese Dimension hier, diese imaginäre Welt. Zeig mir, was du meinst, demonstriere mir ein kleines Wunder des Magneten .. . Ich will es wirklich lernen.«
»Zeig du es mir«, erwiderte er. »Um etwas in dein Leben hineinzuzaubern, stelle dir vor, es sei schon da.«
»Zum Beispiel was? Meine bezaubernde Frauengestalt?« »Irgend etwas. Nicht deine Dame. Zuerst einmal etwas Kleines.«
»Und das soll ich jetzt üben?« »Ja.«
»Einverstanden... Eine blaue Vogelfeder.« Entgeistert sah er mich an. »Eine blaue Vogelfeder?« »Du hast gesagt: keine Dame, sondern etwas Kleines.« Er hob die Schultern. »Also gut. Eine blaue Vogelfeder. Stelle sie dir vor in allen Einzelheiten, den Rand, die Spitze, V-förmige Zwischenräume, wo sie zerrissen wurde, Flaum um den Kiel. Nur eine Minute lang. Dann setz sie frei.«
Ich machte die Augen zu und sah im Geiste eine Vogelfeder, fünfzehn Zentimeter lang, blauschimmernd, mit Silbertönen am Rande. Eine helle, scharf umrissene Feder, die in der Dunkelheit schwebte.
»Wenn du willst, kannst du sie in einem goldenen Licht erstrahlen lassen. Das heilt und tut gut und hilft, sie wahr zu machen. Aber mit dem Materialisieren funktioniert es ebenfalls.«
Ich umgab die Feder mit einem goldenen Schein. »Wird gemacht.«
»So, das genügt. Du kannst die Augen wieder aufmachen.«
Ich machte die Augen auf. »Wo ist meine Feder?«
»Wenn du sie dir genau vorgestellt hast, dann rollt sie gerade mit aller Wucht auf dich zu wie ein dicker Brummer von einem Lastwagen.«
»Meine Feder? Wie ein Lastwagen?«
»Bildlich gesprochen, Richard.«
Den ganzen Nachmittag hielt ich Ausschau nach der Vogelfeder, aber sie erschien nicht. Erst am Abend, als ich gerade ein getoastetes Sandwich mit Puter Fleisch aß, sah ich sie. Ein Bild, ganz kleingedruckt auf einem Milchkarton: Abgepackt für Scott Dairies von den Blue Feather Farms in Bryan, Ohio.
»Don! Meine Feder!«
Er sah hin und hob die Schultern. »Ich hatte geglaubt, du wolltest eine echte Feder haben.«
»Genügt das nicht für den Anfang?«
»Hast du dir nur eine separate, frei im Raum schwebende Feder vorgestellt, oder hattest du sie in der Hand gehalten?« »Es war eine frei schwebende Feder.«
»Darum. Wenn du mit dem Zusammensein willst, was du materialisierst, mußt du dich selbst mit ins Bild setzen. Verzeih, daß ich dir das nicht erklärt habe.«
Ein unheimliches, seltsames Gefühl. Es funktionierte! Ich hatte ganz bewußt etwas materialisiert! »Heute eine Feder«, sagte ich, »und morgen die ganze Welt!«
»Sei vorsichtig, Richard«, sagte er, und seine Stimme klang unheilverkündend, »oder es könnte dir leid tun...«