AUGUSTUS, ERICH
UND MOMOS GRAUE MÄNNER

Die zweite Karriere des Maya-Kalenders

Beginnen wir ganz am Anfang der vielen Missverständnisse und Überfrachtungen der Maya mit Projektionen: bei der spanischen Eroberung seit 1519. Damals war die abendländische Überheblichkeit, die die westliche Welt bis heute kaum abzuschütteln vermag, vor allem christlich geprägt. Die Eroberung von europäischerseits bis dahin unbekannten Winkeln der Erde war zwar insbesondere wirtschaftlich motiviert, weil man sich unermessliche Reichtümer versprach (sowie durch die Tatsache, dass man sich zu diesen Eroberungsfahrten überhaupt in die Lage versetzt sah). Die Gewissheit, der einzig wahren Religion anzugehören und mit jeder Eroberung ihre Kunde weiter in die Welt hinauszutragen, reiste jedoch immer mit und prägte den Blick auf das Neue, Fremde, Exotische. Folglich konnte sich jeder noch so gierige Abenteurer zugutehalten, im Namen der Kirche zu handeln – hatte doch Papst Alexander VI. die Bekehrung aller Heiden ausdrücklich zur vornehmsten Aufgabe der Christenheit erklärt. Widerstand dagegen berechtigte automatisch zur Eroberung und Versklavung, was bekanntermaßen zuhauf praktiziert wurde.

Das Staunen der Eroberer insbesondere angesichts der riesigen Städte mit ihren prachtvollen Bauten brachte dieses Überlegenheitsgefühl nicht nennenswert ins Wanken – die nächsten Jahrhunderte bestimmte der Begriff »Wilde« die Debatte um die Bewohner der Neuen Welt und wie mit ihnen umzugehen sei. Abstufend wurde dabei zwar durchaus unterschieden zwischen umherstreifenden Indios im Amazonasbecken und der beeindruckenden Kulisse Tenochtitláns – aber so wie die Griechen einstmals in Bausch und Bogen alles als barbarisch bezeichneten, was nicht griechisch sprach (bárbaros bedeutet »Stammler«), so galt den Europäern alles als wild, fremd, unzivilisiert, was nicht christlich war. Im Bericht eines spanischen Copán-Reisenden des späten 16. Jahrhunderts heißt es mit Verweis auf die dortigen Reste der klassischen Epoche, dieses einstige Zentrum einer unübersehbar hochkultivierten Macht hätten zweifellos andere Leute erbaut als die jetzigen ungeschlachten Bewohner. Punktum und damit Schluss.

Dieses auf Ignoranz beruhende Missverständnis geht natürlich weit über die westliche Sicht der Maya hinaus, und es prägt und belastet bis heute das Miteinander von Alter und Neuer Welt. Andererseits verdienen die europäischen Abenteurer, aus ihrer eigenen Zeit heraus beurteilt zu werden und nicht allein mit dem Wissen und der Aufgeklärtheit der modernen Perspektive – was natürlich keineswegs bedeuten darf, Lobgesänge auf die Conquistadores anzustimmen.

Der »Wilde«, der Unterdrückung und Sklaverei verdient und dankbar zu sein hat, weil ihm das Christentum aufgezwungen wurde, verwandelte sich in den Augen der europäischen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert zum »edlen Wilden«, der als naturnah, unverdorben und ursprünglich gerühmt wurde. Für den Ruhm des Unverdorbenen stritt insbesondere der französische Denker und Wegbereiter der Französischen Revolution (und dabei privat zutiefst zerrissene Mensch) Jean-Jacques Rousseau, der nicht nur seine Uhr weggeworfen hatte, sondern auch vehement dafür eintrat, die vermeintlichen Segnungen der Kultur als das zu begreifen, was sie seiner Meinung nach eigentlich waren: Wegmarken des Verfalls und der Entwicklung immer weiter weg vom Urzustand des unbefangenen Menschen in der paradiesischen Natur. Nach Rousseau sind die eigentlichen Glücksgüter Einfalt, Unschuld und Armut, und das Unglück der Menschen begann mit dem ersten Eigentum und der auf dem Fuße folgenden Erfindung von Herrschaft. Ergebnis dieser Sichtweise war der verklärte Blick auf alles Natürliche und eben jenen »edlen Wilden«.



In Rousseaus Wirkungszeit fällt auch die Geburtsstunde der modernen Archäologie, aber die Entdeckung der vom Regenwald überwucherten Überbleibsel der versunkenen Zivilisation der Maya ließ noch einige Jahrzehnte auf sich warten. Im 19. Jahrhundert veranlasste ihre Begeisterung für die junge Disziplin Archäologie und ihre Entdeckungslust zwei Freunde, den US-Amerikaner John Lloyd Stephens und den Briten Frederick Catherwood, sich in Mittelamerika auf die Suche nach vergessenen Ruinenstätten der Maya zu machen. Was sie unter anderem in Copán, Palenque und Quirigua entdeckten, würdigten sie kunstvoll und präzise mit Texten und Zeichnungen. Zum einen wollten die reisenden Freunde Stephens und Catherwood erklärtermaßen beweisen, dass die einstigen Besitzer Amerikas keine Wilden waren. Zum anderen begründeten sie im ruinenseligen 19. Jahrhundert eine Faszination für die alten Maya, die bis heute unvermindert anhält. Damit begann die zweite Karriere der Maya und bald auch ihres Kalenders.

Während Stephens und Catherwood neugierig waren und eher unbelastet beschrieben und zu verstehen versuchten, was sich ihnen darbot, diente die eben entdeckte versunkene Kultur anderen als willkommene Projektionsfläche. Und als solche wird sie bis heute weidlich ausgeschlachtet – für moderne Ängste ebenso wie für Sehnsüchte oder wilde Fantasien. Der Archäologe David Webster hat die Anhänger solcher Projektionen, dabei vernehmlich zwischen den Zeilen seufzend, als die »Groupies versunkener Zivilisationen« bezeichnet.

Die Geschichte der Maya und die ihrer Erforschung besitzen aber auch das Zeug dazu, »Fans« anzuziehen. Da wären die romantischen Umstände ihrer Entdeckung nach langem Dornröschenschlaf im Regenwald – also Bauten, die nicht wie anderswo in späteren Jahrhunderten umgenutzt, zerstört oder überbaut worden waren; dann das spektakuläre Auf und Ab der Entzifferung ihrer Schrift; die rätselhafte Aufgabe der stolzen Städte; die exotischen Figuren und grimmigen Fratzen auf Skulpturen und in Schriftzeichen; die intellektuellen Errungenschaften, die man einem Urwaldvolk ohne Rad und Metallwerkzeuge nicht zutrauen möchte.

Dabei waren (und sind) auch die Forscher keineswegs gefeit gegen Fehleinschätzungen und Überinterpretationen. Insbesondere weil das Geheimnis der Maya-Schrift erst in den letzten Jahrzehnten gelüftet werden konnte, blieb zuvor reichlich Zeit für Einschätzungen, die anschließend, längst lieb gewonnen, nicht selten anhand der entzifferten Texte revidiert werden mussten – und manchmal erbittert verteidigt wurden.

Zwei schillernde Persönlichkeiten gaben sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts alle Mühe nachzuweisen, die Maya seien nicht nur als Mutterkultur für Mittelamerika anzusehen, sondern hätten auch in Verbindung mit außer-amerikanischen Kulturen gestanden: Augustus Le Plongeon, ein Amateurarchäologe in der Frühzeit der neuen Disziplin und begnadet darin, sich Feinde zu machen, sowie Jean Frédéric Waldeck, der sich auch schon mal einen Adelstitel andichtete, wenn es zum Fortkommen nötig schien. Le Plongeon schrieb ein abstruses Buch über eine angebliche Maya-Königin und die ägyptische Sphinx – er vertrat regelrecht eifernd die Theorie, die alten Kulturen diesseits des Atlantiks verdankten ihre Kultur den Maya – ob Indien, Mesopotamien oder Ägypten. Außerdem habe Jesus für seine letzten Worte am Kreuz die Sprache der Maya benutzt. Waldeck dagegen stieß beispielsweise auf vermeintliche Abbildungen von Elefanten in Hieroglyphen – die diese Interpretation bei näherem Hinsehen keineswegs hergeben. Für ihn stellte seine »Entdeckung« jedoch den Beleg für Kulturkontakte des mesoamerikanischen Volkes nach Asien dar, wofür die Atlantis-Sage als Verbindungsglied herhalten musste.

Andere Interpretationen waren weniger abenteuerlich, erwiesen sich aber trotzdem als falsch und kaum minder als Wunschdenken. Dazu gehört die lange vorherrschende Sicht der Maya als »Griechen der Neuen Welt«, die allein um Geistesarbeit bemüht waren, oder auch die einer heiligen Gemeinde von Priestergestalten, die ein gottgefälliges Leben führten, das ausschließlich von Ritualen und esoterischen Beschäftigungen ausgefüllt war. Ihre Städte seien heilige Zeremonialzentren ohne Wohnbevölkerung gewesen, und nur ein paar einsame Priester seien demütig von Tempel zu Tempel geschlichen. Eine Erklärung, warum Mathematik, Astronomie und Kalenderkunde so weit entwickelt waren, wurde gefunden, lange bevor die Entzifferung der Schrift konkrete Ergebnisse zeitigte. Das jedoch führte zu der Fehleinschätzung, die noch unlesbaren Inschriften enthielten dementsprechend sämtlich gelehrte Inhalte, aber keine Geschichtsschreibung oder Hinweise auf Herrscher. Ein weiterer Gegenstand von Projektionen und Spekulationen war der legendäre Kollaps der Tieflandstädte der Klassik, weil für ihn – bis heute – keine einfachen Erklärungen zu finden sind.

An Krieg war einem derart vergeistigten Club natürlich ganz und gar nichts gelegen – diese Mär der friedliebenden Maya hat sich besonders hartnäckig behauptet. Die Pazifistenthese ist beispielhaft für die Projektion zeitgenössischer Nöte oder Ideale auf die Maya mehr als ein Jahrtausend zuvor, denn es war nicht zufällig eine Sehnsucht des gewaltvollsten aller menschlichen Jahrhunderte, des zwanzigsten, wenigstens in ferner Vergangenheit eine Zivilisation ausmachen zu können, die dem Kriege abgeschworen hatte. Der insgesamt höchst verdiente Maya-Forscher Eric Thompson schrieb dazu: »Wir können mit Sicherheit schlussfolgern, dass die Maya miteinander in Frieden lebten und dass Krieg allein geführt wurde, um sich gegen einfallende Horden aus Mexiko zu verteidigen.« Die Arbeitsteilung in Mesoamerika schien klar: Für Krieg waren die blutrünstigen Azteken zuständig, die Maya hingegen für alles Intellektuelle, Feingeistige. Thompsons Autorität war so groß, dass dieser Glaubenssatz lange Zeit als unumstößlich galt, obwohl unzählige Bildquellen eine ganz andere Sprache sprechen, und selbst dann noch nachwirkte, als Ausgrabungen längst Befestigungsanlagen zutage förderten, die nicht mehr allein mit reinen Verteidigungsanstrengungen erklärt werden konnten.

Insgesamt steht hinter dieser Vielfalt von Fehleinschätzungen der Maya-Kultur, denen noch weitere hinzuzufügen wären, der Anspruch, dieses mittelamerikanische Volk als einzigartig und eben ganz anders als alle anderen in der Menschheitsgeschichte zu identifizieren. Von dieser Vorstellung hat sich auch die Maya-Forschung nur ungern und mühevoll verabschiedet. Und eben diese Motivation steckt auch hinter den meisten der zahlreichen haltlosen Theorien, die ihren Kalender und ihre Zeitrechnung betreffen. Denn bei der Geschichte der Maya im Allgemeinen wie auch bei ihrer Kalendergeschichte im Besonderen bietet die Forschungslage für gewagte Theorien längst keine Grundlage mehr. Wie im Falle des Kalenders, der sich bei näherem Hinsehen als Spielart der Gesamt-Kalender-Geschichte entpuppt, überlagerte bei den Maya insgesamt das Exotische, Andere, vordergründig Unbegreifliche – mit einem Wort: das Rätsel – alles das, was sie in den faszinierenden Reigen früher Hochkulturen einfügt. Die Maya waren als eine der frühen Kulturen zweifellos besonders – ein Sonderfall in jeder Hinsicht aber waren sie gleichwohl nicht. Auch wenn wir inzwischen nachvollzogen haben, dass die Kalender-Geschichte der Maya viele Eigenschaften mit der anderer früher Kulturen teilt und ihre exotischen Elemente sich sinnfällig erklären lassen, ohne dass Aliens herangezogen werden müssen, wollen wir der Karriere des Kalenders jenseits beweisbarer Fakten kurz nachgehen.



Als Jahrhundert der Extreme gab sich das 20. Jahrhundert in Sachen Maya nicht einmal mit Le Plongeons Fantasie der Maya-Kultur als Ursprung alles Menschlichen auf Erden zufrieden. Stattdessen wurde das Weltall bemüht, um die vermeintliche Einzigartigkeit der Maya zu erklären – und nach Kräften auszuschlachten. Herausragendes Beispiel ist der berühmte und überaus selbstgewisse Schweizer Gastronom Erich von Däniken, dessen 1968er Buch Erinnerungen an die Zukunft international Furore machte. Darin dienen Elemente der Maya-Kultur wie die anderer früher Zivilisationen als Staffage einer etwas älteren Theorie, derzufolge das menschliche Leben nicht auf der Erde entstanden, sondern aus dem Weltall gekommen sei. Die dazugehörige Pseudowissenschaft bezeichnet sich selbst als Prä-Astronautik und behauptet, die Schöpfung auf Erden hätten außerirdische Götter zuwege gebracht, die mit Raumschiffen auf die Erde gelangt seien. Als eines der, gelinde gesagt, zweifelhaften Argumente für diese Theorie werden staunenswerte Bauwerke der Menschheitsgeschichte bemüht, darunter Stonehenge, die ägyptischen Pyramiden oder die Statuen der Osterinsel. Weitere fragwürdige Bausteine solcher Hypothesen sind Fehlinterpretationen – sei es absichtsvoll, sei es aus mangelnder Kenntnis – von Symbolen sowie generell Skulpturen, Malereien und anderen Bildquellen, die die Theorien scheinbar stützen. Nach einer dieser Deutungen ist auf der Grabplatte des Königs Pakal von Palenque nicht etwa die posthume Reise des Herrschers abgebildet, der erst durch Xibalba reist und dann zum Himmel auffährt. Auch wenn diese Deutung der Ikonografie und den kosmologischen Vorstellungen der Maya en détail entspricht und Pakal als einer der besterforschten Maya-Herrscher gelten kann: Die Prä-Astronautik erkennt hier einen tollkühnen kosmischen Rennfahrer in einer fliegenden Kiste. Allerdings lässt sich diese Lesart nur dann überhaupt nachvollziehen, wenn man den Sarkophagdeckel nicht im Längs-, sondern im Querformat betrachtet – wodurch aber die Hieroglyphen in ihrer Stellung völlig durcheinandergeraten. Ganz abgesehen davon, dass es grundsätzlich keinerlei ernsthafte Beweise für die Astronautentheorie gibt.

Inmitten dieser einfältig zusammengerührten Ideen taucht immer wieder die Zeitrechnung der Maya auf. Bei einem »einfachen Bauernvolk« müsse es doch einen Grund dafür geben, einen derart ambitionierten Kalender auszutüfteln, riesige Zeitabschnitte zu berechnen und den Sternenhimmel akribisch zu beobachten. Das Schöpfungsdatum der Maya erklärt sich in dieser wenig substanzreichen Theorie mit der Ankunft der Götter aus dem Weltraum – die Menschen wurden also 3114 v. Chr. nicht aus Mais, sondern sozusagen aus Sternenstaub erschaffen.

Zu solchen verstiegenen Theorien tritt häufig eine willkürliche Zahlenmystik, die jeden noch so gewieften Maya-Arithmetiker ob ihrer Dreistigkeit hätte erblassen lassen. Wie bei Verschwörungstheorien werden vage oder abstruse Hinweise zu Indizien erklärt und willkürlich miteinander in Zusammenhang gebracht, sodass eine vermeintlich hieb- und stichfeste Beweiskette entsteht, bei der man nonchalant übergeht, dass sie keinen einzigen echten Beleg enthält, sondern hübsch angerichtet im luftleeren Raum schwebt wie der Heiligenschein über der Gottesmutter. Solche spektakulären Theorien finden immer wieder ein Publikum, das die Fiktionen für bare Münze nimmt. Folglich werden die alten Maya-Gassenhauer immer wieder neu aufgelegt oder leicht variiert aufgewärmt.

All diese Theorien können trotz fehlender Grundlage ein großer Spaß sein, zumal wenn man die Fragwürdigkeit der einzelnen Bausteine im Kartenhaus solcher Konstruktionen kennt – ganz ähnlich wie die Lektüre des Romans Da Vinci Code/Sakrileg gerade dann höchst vergnüglich sein kann, wenn man nachzuvollziehen vermag, wie und wo Dan Brown seinen Eintopf zwar willkürlich, aber durchaus gekonnt zusammengerührt hat. Die Ideen Dänikens und anderer Fantasten haben denn auch zahlreiche Schriftsteller inspiriert, und einige der so entstandenen Romane nehmen das Jahr 2012 zum Anlass für handfeste Katastrophenszenarien. Dazu gehört Steve Altens Schatten der Verdammnis, wo der Sohn eines verstorbenen, in der Fachwelt in Ungnade gefallenen Wissenschaftlers in die Psychiatrie gesperrt wird. In den Wochen und Monaten vor dem Weltende à la Maya aber kommt er frei und versucht mithilfe einer schönen Frau die Welt vor dem Untergang zu retten. Alten zieht dabei das ganze Register der Pseudowissenschaften, von den Pyramiden von Gizeh über die Linien von Nazca bis nach Yucatán, und natürlich spielen außerirdische Raumschiffe, über Jahrtausende am Meeresgrund verborgen, eine explosive Rolle. Ganz ähnlich verfährt Whitley Striebers 2012 – The War for Souls. Auch hier muss die Welt vor dem Untergang gerettet werden, auch hier sind Außerirdische und ihr Zugriff auf Mutter Erde unumgänglich, ebenso dient der Story die Verantwortungslosigkeit der Weltpolitik angesichts der drohenden Katastrophe. Höchst spektakulär beginnt der Roman mit der Explosion der ägyptischen Cheopspyramide, die keinem Pharao als letzte Ruhestätte, sondern einem Raumschiff der Außerirdischen als vorübergehende Zufluchtsstätte gedient hat. Wer es gehaltvoller mag und anspruchsvolles Amüsement und Ironie dumpfem, vorhersehbarem Katastrophengetöse vorzieht, ist mit Brian D’Amatos 2012 – Das Ende aller Zeiten besser bedient. Hier ist es ein Antiheld, ein sympathischer nerd und gebürtiger Maya, der sich der Frage ausgesetzt sieht, ob an der These vom Weltuntergang vielleicht doch etwas dran ist. Seine Virtuosität bei einem Maya-Wahrsagespiel und andere Wunderkind-Fähigkeiten bringen ihn auf eine Zeitreise, bei der er sich, nach einem Rezept gegen das drohende Ende suchend, mit den alten Maya selbst herumschlagen muss.



Neben der katastrophischen Verwertung von Maya-Versatzstücken und Spekulationen darüber hat der Esoterik-Markt sich des Themas Maya-Kalender angenommen. Seriöse Wissenschaftler finden diese sogenannten alternativen Theorien über die Maya, über ihr »geheimes Wissen«, das angeblich eine »Transformation des Bewusstseins« mittels ihres heiligen Kalenders ermöglicht, oder die vermeintlich unumstößlichen Prophezeiungen zum Weltende 2012 meist nicht sonderlich witzig. Das ist verständlich, denn die selbst ernannten Fachleute bedienen sich an mühsam errungenen Forschungsergebnissen wie in einem Selbstbedienungsladen: Was zu ihrer Theorie passt, wird verwendet, was dagegen spricht, wird hingegen angezweifelt – um im gleichen Atemzug der Wissenschaft und ihren Methoden jede Autorität und Existenzberechtigung abzusprechen, weil sie nicht in der Lage sei zu sehen, was die Überreste der Maya-Kultur wirklich bedeuten. Gleichzeitig bedienen sich manche Autoren geheimnisvoller, Kompetenz suggerierender Pseudonyme und großzügig interpretierter akademischer Titel.

Ein Nonfiction-Bestseller zum Gänsehautthema Weltuntergang mit dem Titel Das Götterorakel von Yucatán fragt rhetorisch, wer denn der Wissenschaftler sei. »Ist es der Professor mit einer Reihe von Buchstaben hinter seinem Namen, der oft nichts anderes tut, als an seinem Schreibtisch zu sitzen, oder ist es der Außenseiter, der wirklich neuartige Erklärungsmodelle anzubieten hat?« Außenseiter haben die Maya-Forschung durchaus immer wieder bereichert und vorangetrieben – aber sie mussten und müssen ihre Ergebnisse wissenschaftlichen Prinzipien unterwerfen und nicht selten verwerfen, wenn die Kollegen Gegenbeweise anführen können. »Alternative« Forscher ziehen sich in solchen Fällen gerne darauf zurück, die Maya hätten eben mehr gewusst als wir heute – ihre Kultur dient als beliebte Zuflucht in einer hoch technisierten modernen Welt, die für existenzielle Fragen weniger Antworten parat hält als die kosmologische Weltsicht der Maya oder anderer Völker der Weltgeschichte.

Interdisziplinarität ist in der seriösen Maya-Forschung längst zum Status quo geworden. Archäologen, Archäoastronomen, Paläografen, Kunsthistoriker, Ethnologen, Anthropologen und Kollegen vieler anderer Disziplinen arbeiten miteinander, um das Maya-Puzzle aus den verbliebenen Stücken immer weiter zusammensetzen. Die »alternative« Maya-Forschung zeichnet sich aber durch Beliebigkeit aus sowie durch die schlechte Angewohnheit, nur zu sehen, was die eigene Theorie bestätigt, wie man im eben genannten Werk nachlesen kann:



Über die Maya sind zahlreiche Bücher geschrieben worden, doch bis heute hat niemand erklären können, wie die Maya zu ihrem exakten Kalender oder zu den genannten Datumsangaben gelangten. Zwar hat man viel über den Aufbau ihres Kalenders in Erfahrung gebracht, doch die Gründe, warum sie derart komplexe Systeme der Zeitmessung wie etwa den Tageskalender (»Long Count«) entwickelt haben, blieben bislang im Dunkeln. Erst jetzt, da der von ihnen prophezeite Untergang des Zeitalters bevorsteht, können wir zumindest ahnen, was diese Menschen bewegt hat. Wir erkennen allmählich, dass sie über ein Wissen verfügten, das nicht nur für ihre eigene Zeit, sondern für das Überleben des gesamten Menschengeschlechts in unserer Gegenwart von entscheidender Bedeutung war und ist.



Das Buch mixt einen hübschen Cocktail, der die Zutaten Sonnenflecken, Klapperschlangenkult, Atlantis und Ägypten enthält und unter anderem mit Zahlenakrobatik und höchst eigenwilliger Auslegung von Ikonografie und Ornamentik der Maya (abermals muss Pakals Grabplatte herhalten) einen weiten Bogen schlägt. Das Ergebnis: Die Bewohner von Atlantis fanden nach dem Untergang des mythischen Kontinents Zuflucht in Yucatán und beglückten mit ihren Kenntnissen und ihrer hoch entwickelten Kultur die Einheimischen. Daraus spricht wie schon bei Waldeck ein gerüttelt Maß eurozentristischer Überheblichkeit, wenn tatsächliche oder sagenumwobene Ahnen der westlichen Welt bemüht werden, um die Errungenschaften der Maya zu erklären, weil das mesoamerikanische Volk – gemäß dieser Logik – diese niemals eigenständig hätte ausbilden können.

Ähnliche Ideen wurden auf den Maya-Kalender im Besonderen angewandt. Verbindungen tauchten unversehens auf, so zwischen dem chinesischen I Ging und dem Tzolk’in. An anderer Stelle wurde der Tzolk’in (13 × 20 Tage) als Kleinversion des ungleich längeren Abschnitts bis 2012 (13 × 20 k’atun) ausgemacht, um daraus mathemagische Bezüge herzustellen. Ganze Wagenladungen von angeblichen Prophezeiungen aus aller Welt werden zusammengetragen, vorzugsweise von Vertretern unbelasteter Naturvölker, die mit der vorgeblichen Maya-Prophezeiung für 2012 übereinstimmen – von den Maoris Neuseelands bis ins tibetische Hochland. Beigemischt werden Winkelzüge, um die jüdisch-christliche Überlieferung und Texte anderer Weltreligionen ebenfalls für die Agenda 2012 zu reklamieren. Selbst die unverdächtige US-Notenbank ist davor nicht sicher, denn findige Menschen haben auf dem Siegelwappen der USA, das auch auf der Rückseite der Ein-Dollar-Scheine abgebildet ist, für die Pyramide unter dem sogenannten »Auge der Vorsehung« eine kalendarische Symbolik ausgemacht, die – wer wollte es bezweifeln – geradewegs auf 2012 verweist. Und natürlich liefert eine ungleich größere Pyramide als steinerner Kalender den Bezug auf die Zeitenwende 2012: die Cheopspyramide.

Andere Autoren nutzen die Exotik der Maya-Zeitrechnung als Hintergrund, vor dem sich ein esoterisches Weltbild und der Aufruf zur spirituellen Erneuerung vortrefflich arrangieren lassen. Auch hier soll die wissenschaftliche Welt außen vor bleiben, wie es in einem esoterischen Buch über die Maya als Weber der Zeit, Spieler des Universums heißt:



Für die Maya sind unsere Wissenschaftler und Archäologen wie Spieler, die nur die Wand sehen. Die großen Bedeutungen und Zusammenhänge können sie aber so lange nicht erkennen, bis sie nicht mit all ihren Fähigkeiten in dieses Spiel einsteigen. Sie sind wie ein Zaungast bei den großen Kulturen der Welt und schauen durch ein Gitter, das sie sich selbst gemacht haben. Klar, dass sie damit nur einen Bruchteil sehen und das Ganze bestenfalls erahnen können.



Die Zeitenwende 13.0.0.0.0 oder 2012 dient in diesem Buch allerdings nicht der Angstmacherei oder der katastrophenseligen Indiziensuche für den Weltuntergang, sondern als Gelegenheit, sich auf andere als die Werte der modernen Welt zu besinnen: eine ganzheitliche Weltsicht, so wie sie hier den Maya zugeschrieben wird. Die Autorin benutzt als Sprachrohr für ihre Botschaft fiktive Maya-Weise, die sie in ihrem Buch allerlei Kluges äußern lässt. Man fühlt sich ein wenig erinnert an den armen Häuptling Seattle aus dem späteren US-Bundesstaat Washington, dem noch nach fast anderthalb Jahrhunderten eine Rede zugeschrieben wird, die er gar nicht gehalten hat – weil sie der Umweltbewegung so schön aus der Seele sprach.

In ähnlichem Gestus befindet Zeit ist Kunst, die weisen Maya könnten dem gebeutelten modernen Menschenkind helfen, wieder »in Einklang mit den natürlichen Rhythmen der Erde und dem zyklischen Fluss des Lebens« zu kommen. Der Maya-Kalender sei die gebotene Alternative zum gregorianischen, einer »spätmittelalterlichen Zeit-Messvorrichtung. Die Amtsgewalt über diese Zeit-Messvorrichtung wird vom Vatikan gehalten, der geografisch der kleinste Staat auf der Welt ist und der politisch von den westlichen Großmächten gestärkt und geschützt wird.« Der Maya-Kalender als Ausdruck des notwendigen Widerstands:



Der gregorianische Kalender ist ein hypnotischer Zauber, der alle unlösbaren Tatsachen der Geschichte festhält, die hinter der unlogischen Sequenz von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren versteckt sind. Diesem Kalender weiterhin zu folgen kann uns nur dahin führen, wo wir uns heute befinden, nämlich in einer Offenbarung von Apokalypsen, in denen Unheil, Ignoranz und Irrtum sich selbst in einer fortwährend sich aufreibenden Sinnlosigkeit erhalten.



Die »unglaublich geistig anspruchsvolle Vielschichtigkeit« des Maya-Kalenders, beflissen mit der Auszeichnung »heilig« versehen, dient als Gegenentwurf zum »christlichen« Kalender, der den Menschen seiner Naturgebundenheit entfremde. Die Zyklen der Maya-Zeitrechnung mit ihren »harmonischen Zeiteinheiten« dagegen seien das Echo der Natur, der Tzolk’in folge gar einem »galaktischen Impuls« – zusammengesetzt aus den »13 Tönen der Schöpfung« und den »20 solaren Glyphen« –, der die Menschheit zu erlösen in der Lage ist.

Die meisten Autoren solcher Bücher kümmert es nicht, dass ihr Befund wenig bis gar nichts mit den Maya zu tun hat. Ein anderes Buch mit dem vielversprechenden Titel Der Maya Kalender und die Transformation des Bewusstseins geht über die angebliche spirituelle Botschaft noch erheblich hinaus:



Was ich hier anbiete, ist eine völlig neue Sicht der Menschheitsgeschichte, eine Sichtweise, in der die Energien des Maya-Kalenders, die vom Weltenbaum ausgesendet werden, die entscheidende Rolle in der Gestaltung der Menschheitsgeschichte wie auch der Mentalität der Menschen spielen, die in verschiedenen Teilen der Welt leben.



Der Autor beansprucht nichts weniger, als die »universelle Wahrheit« des Kalenders zu enthüllen – und zu beweisen, dass eine Art kosmischer Intelligenz die Geschicke der Welt bestimmt und dies nach dem Zeitplan des Maya-Kalenders. Und wieder bietet dieser die Alternative zum gregorianischen Weltkalender:



Was ist, wenn dieser Kalender [der gregorianische Kalender, d. Verf.] eine schleichende Indoktrination ausübt, über die sich die meisten Menschen gar nicht bewusst sind und die eine Weltanschauung bekräftigt, die falsch ist? Dieses Buch ist teilweise geschrieben, um diese Indoktrinationen zu beleuchten und den wahren Heiligen Kalender als Alternative vorzustellen.



Im Übrigen werde der Maya-Kalender meist völlig falsch dargestellt, weil seine spirituellen Aspekte – das eigentlich Bedeutsame – unterschlagen würden. Eine Art Weltverschwörung der Wissenschaft gegen diese einmalige ganzheitliche Heilungschance für die Menschheit?

Wieder andere sehen nur eine Möglichkeit, dem vermeintlich rätselhaftesten aller Kalender und der angeblich neurotischen, angsterfüllten Himmelsschau der Maya auf die Spur zu kommen – mit der Diagnose eines »katastrophischen Hintergrunds« des Maya-Kalenders. »Gelehrtes Wunschdenken« widerlegend, wird der Tzolk’in als Schaltregel verortet, die eine frühere Jahresregelung von 360 Tagen (tun) auf 365 Tage (Haab) hieven muss, nachdem vor Jahrtausenden die Venus ihre heutige Erdumlaufbahn einnahm und das Erdenjahr verlängerte. Diese Theorie ist nicht nur absonderlich, sondern bedient sich mit eigenwilliger Zahlenakrobatik nach Belieben an Kalenderelementen, in Unkenntnis und glatter Missachtung von Forschungsergebnissen und gesundem Menschenverstand.

Abermals andere behaupten, die Maya hätten das Weltende in Verbindung mit einer einzigartigen Himmelskonstellation im »galaktischen Äquator« vorhergesehen, die uns 2012 blühe – mit dem kleinen Schwachpunkt, dass dafür selbst die geübten Augen der Maya-Astronomen mit Sicherheit nicht ausreichten – man braucht Radioteleskope, die aber erst in den 1930er-Jahren entwickelt wurden.

Das neuere Buch eines US-amerikanischen Autors mit dem Titel 2012 – The Return of Quetzalcoatl setzt noch etwas zeitgeistiger beim derzeit verbreiteten Unbehagen des Westens an, das die Beschleunigung mit sich bringt, und zeichnet ein tristes Bild der gegenwärtigen Welt zwischen Terror und Treibhauseffekt, Wirtschaftsdiktatur und Ressourcenkriegen, um frohgemut in Aussicht zu stellen, mit dem Eintritt in einen neuen Zyklus 2012, der einer neuen Bewusstseinsstufe gleichkomme, werde die Menschheit in die Lage versetzt, ihre Probleme zu lösen. Das komme einem Quantensprung gleich, befindet das Buch; jedenfalls wenn die Menschheit bereit sei, sich darauf einzulassen – und dem Propheten zu folgen.



Das vorliegende Buch jedoch handelt nicht von den unzähligen, mehr oder weniger abstrusen Theorien zum Maya-Kalender, seiner globalen Bedeutung und dem Weltuntergang, den er angeblich prophezeit, weshalb wir es bei dieser rein willkürlichen Auswahl kurzweiliger Hypothesen belassen wollen. Das eigentlich Interessante daran ist die Frage, warum überhaupt solche Theorien auch weiterhin wie Pilze aus dem Boden schießen und quantitativ auf mehr Resonanz stoßen als alle begründeten Erklärungen und tragfähigen Forschungsansichten über die Zeitrechnung der Maya. Ein Grund dafür ist die sicher weithin bestehende Unzugänglichkeit vieler Forschungsergebnisse, die zunächst oft in reinen Fachzeitschriften publiziert werden, aber das macht nur einen sehr kleinen Teil der Erklärung aus. Der wichtigere lautet: Spektakuläre und tröstende Theorien finden ihr Publikum, weil sie Bedürfnissen nachkommen – sei es demjenigen, eigene Ängste auf ein angeblich drohendes Weltende zu projizieren und dabei noch den Mitnahme-Effekt des Grusels zu genießen. Die Orientierung moderner kommerzieller Medien an Quote und Sensation kommt diesem Bedürfnis zusätzlich entgegen: Es ist erfolgversprechender, irrationale Ängste der Fernsehzuschauer zu bedienen, als ungleich nüchterner trockene Forschungsergebnisse darzulegen. Außerdem entlastet der Kinobesuch eines Katastrophenfilms das moderne Seelchen – ganz ähnlich, wie vor eintausend Jahren Endzeitbeschwörungen die Ängste der mittelalterlichen Christen linderten. Für sensiblere Zeitgenossen mit Hang zur Esoterik liegt der Trost in der trügerischen Gewissheit, dass es wenigstens damals im mittelamerikanischen Regenwald ein Völkchen gab, das die Geheimnisse des Lebens kannte und damit umzugehen wusste.

In Michael Endes Kinderbuchklassiker Momo führt die Titelheldin – ein liebenswertes kleines Mädchen, das durchaus die gemeinsame Tochter von Pippi Langstrumpf und dem kleinen Prinzen sein könnte – todesmutig einen Kampf gegen die Armee der grauen Männer. Diese Truppe, stets mit Zigarre ausgerüstet und unangenehme Kälte verbreitend, ist zu nichts weniger angetreten, als die Menschen zu versklaven: indem sie ihnen vorgaukeln, sie müssten unentwegt Zeit sparen, anstatt sie bei Müßiggang und Plauderei, bei zwischenmenschlichen Nettigkeiten oder kurzweiligen Spielen zu vergeuden. Damit nehmen sie den Menschen das Wertvollste weg, ihre Lebenszeit und die Möglichkeit, frei und entspannt darüber zu verfügen, ohne sich dabei beirren oder hetzen zu lassen. Die fiesen grauen Männer tun das, weil sie von dieser gestohlenen Zeit leben, die ein gutmütiger alter Weiser namens Meister Horus den Menschen in Form wunderschöner Blumen schenkt. Man erkennt dahinter unschwer den Konflikt zwischen Erwachsenen und Kindern wegen ihres höchst unterschiedlichen Umgangs mit Zeit. Denn Kindern läuft es zuwider, mit dem Blick auf die Uhr zu spielen und der Zeit so etwas wie einen rationalen Wert beizumessen – sie sind in Sachen Beschleunigung und Zeitdiktat noch unverdorben. Aber natürlich geht es Michael Ende um viel mehr als den Eltern-Kind-Konflikt, nämlich um unseren gehetzten Umgang mit der Zeit. Nur ein Kind kann zum Retter der Menschen werden, weil die Erwachsenen das Phänomen der grauen Männer begünstigt, ja hervorgebracht haben. Die aber sind in Wirklichkeit nichts: »Sie entstehen, weil die Menschen ihnen die Gelegenheit geben, zu entstehen. Das genügt schon, damit es geschieht. Und nun geben die Menschen ihnen auch noch die Möglichkeit, sie zu beherrschen«, erklärt Meister Horus. Denn »alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren, wie die Farbe des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben«. Also nimmt Momo, dabei tatkräftig unterstützt von einer partiell hellseherischen Schildkröte namens Cassiopeia, den Kampf gegen die graue Horde der Zeit-Diebe auf und obsiegt.

Nennen wir also die Motivation, die dafür gänzlich ungeeignete Kalenderwirtschaft der Maya zur Heilung des gehetzten modernen Menschen in der Zeitfalle heranzuziehen, den Momo-Effekt. Denn es ist eben dieses moderne Unbehagen – von Michael Ende in seiner wunderbaren Geschichte einer kleinen Heldin aufgegriffen –, das so viele unwissenschaftliche, wohlmeinende Autoren zu ihren zwischen Buchdeckel und auf Websites gepackten Befunden über den Maya-Kalender und seine angeblichen Heilkräfte oder Wahrsagefähigkeiten oder ganzheitlichen Aussagen oder Lebenssinn-Erklärungen motiviert. Die Sache hat allerdings den markanten Haken, dass die moderne Entfremdung von der natürlichen Zeit rein gar nichts mit einem Kalender zu tun hat, dessen Urheber von den Beschädigungen der modernen Existenz nichts wussten und ihn somit auch nicht auf deren Heilung ausgerichtet haben.

Letzten Endes geht es um jenen Trost, den vor Jahrtausenden Menschen am abendlichen Lagerfeuer verspürten, wenn der Gruppen-Schamane unterhaltsam und nachvollziehbar darlegte, was es mit dem rätselhaften Funkeln am Nachthimmel auf sich hat und warum sich daraus der Sinn des Lebens erklären lässt. Wir modernen Zeitgenossen verfügen weithin nicht mehr über sinnstiftende kosmologische Erklärungsmodelle der Welt. Vernunft und Moderne haben zwar ermöglicht, dass wir ein Leben führen, das bequemer nie war – aber was es mit diesem Leben überhaupt auf sich hat und wie man darin sinnvoll reift, Erklärungen zu liefern, die nicht nur erklären, sondern auch trösten und Hoffnung spenden, das kann der entzauberten Moderne schwerlich gelingen. Also dienen uns versunkene, exotische Kulturen wie die Maya als willkommene, wenn auch gänzlich wirkungslose Projektionsfläche, weil ihre vermeintliche Ursprünglichkeit entlastende Erklärungen bereithält. Zupackender und wirkungsvoller wäre da die Aussteiger-Variante à la Rousseau: Zeitfessel abstreifen und Uhrzeit verlernen – denn unser Problem ist keine Kalenderdiktatur, gegen die ein anderer, mutmaßlich »gesünderer« Kalender sozusagen ein geeignetes Gegengift abgeben könnte. Vielmehr leiden wir an der allgegenwärtigen Uhr und der einstweilen munter voranschreitenden Beschleunigung.

Für entlastende Projektionen besser geeignet wäre ohnehin der gänzlich kulturferne Hirte, der irgendwo in Mittelasien vor Jahrtausenden mit seiner Herde durch endlose Weiten zieht, irgendwann zu Staub zerfällt und in die Unermesslichkeit des Wüstensands eingeht. Aber dieser Hirte hat keine fantasiereichen Bilder zu bieten, keine geheimnisvolle Geschichte, keine eindrucksvollen Tempelbauten voller rätselhafter Inschriften und keinen faszinierenden Kalender – er bleibt geschichtslos. Der Maya-Kalender aber hat es verdient, ernst genommen und in Geschichte und Funktion so genau erforscht und wahrheitsgetreu dargestellt zu werden, wie es Geschichtsforschung nur kann, wenn sie der Vergangenheit nachspürt.