8
Brian MacKinnon knallte die Zeitung auf seinen Schreibtisch und lächelte. Die heutige Ausgabe des Cherokee Pointe Herald, seit vier Generationen im Besitz seiner Familie und von ihr betrieben, würde in wenigen Stunden an den Zeitungsständen sein. Der Artikel, den er persönlich über die beiden brutalen Morde in der Gegend verfasst hatte, begangen gestern und heute Morgen, ließ sowohl Chief Watson als auch Sheriff Butler als stümperhafte Narren dastehen. Er wusste schon seit Jahren, dass Watson ein Witz war und nur deshalb im Dienst blieb, weil Big Jim Uptons Macht und Einfluss ihn dort hielt. Jedermann wusste, dass Big Jim diesen Watson in der Tasche hatte. Butler war etwas ganz anderes. Der Sheriff war von den Menschen des Countys in sein Amt gewählt worden. Trotz seiner Mischlingsherkunft war Jacob Butler bei fast allen beliebt. Seine Vorgeschichte bei der Navy hatte ihn zu einem lokalen Helden gemacht. Über seine Großtaten bei den SEALs kursierten viele Gerüchte.
Brian hatte versucht, sich bei Butler beliebt zu machen. Genny zuliebe. Doch aus irgendeinem Grund hatte der Mann sofort eine Abneigung gegen ihn entwickelt, was Brians Bestreben, die schöne Genevieve für sich zu gewinnen, gewiss nicht zuträglich war. Er wusste nicht genau, wann ihm klar wurde, dass er sich in die hübsche junge Frau verliebt hatte. Das hatte sich so allmählich eingestellt, dass es ihn überrumpelt hatte. Sie war nicht der Typ, den er für gewöhnlich anziehend fand; nicht so wie seine Ex-Frau Phyllis, die weltgewandt und kultiviert gewesen war. Genny verzauberte ihn mit ihrer Schönheit, ihrer Sanftmut, ihrem guten Herzen. So eine wie sie war ihm noch nie begegnet. Natürlich hatte er die Gerüchte gehört – sie sei wie ihre Großmutter Butler, die in der Stadt als Hexe galt. Aber wie konnte jemand, der Genny kannte, nur glauben, dass an einem so engelsgleichen Geschöpf etwas Böses war?
Er hatte länger und härter daran gearbeitet, Gennys Freundschaft zu gewinnen, als es ihn jemals gekostet hatte, eine andere Frau ins Bett zu bekommen. Sie hatte ihn nie ermutigt, ihm nie die leiseste Hoffnung gemacht, dass ihre Beziehung sich zu einer Romanze auswachsen würde, doch er war sich sicher, sie früher oder später zu zermürben. Er brauchte nur Geduld. Vor einigen Monaten, gerade als er beschlossen hatte, er könne Genny bald bitten, ihn zu heiraten, war ein anderer Mann zwischen sie getreten: Royce Pierpont, das Weichei. Der Mann war in seinem glänzenden, silberfarbenen Lexus in die Stadt gefahren, hatte auf der Main Street ein Antiquitätengeschäft aufgemacht und sich sofort auf Genny eingeschossen. Sie war seinem guten Aussehen und seinem Charme erlegen, so wie verschiedene andere Frauen in der Stadt.
Allein der Gedanke, dass Pierpont oder irgendein anderer Mann Genny berührte, trieb Brian schier in den Wahnsinn. Sie hatte sich von ihm küssen lassen, aber mehr nicht. Er vermutete, dass auch Pierpont nicht weiter gediehen war. Seine Genny war rein. Eine wahre Unschuld, was Männer betraf. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie noch Jungfrau war. Er wollte, dass sie unbefleckt blieb, sie sollte in ihrer Hochzeitsnacht rein zu ihm kommen.
Wiederholtes Klopfen an der Tür riss Brian aus seinen köstlichen Gedanken an Genny.
Er blieb sitzen, um so seine Erektion zu verbergen. Immer wenn er daran dachte, mit Genny zu schlafen, wurde sein Penis steif.
»Ja?«
Die Tür ging auf, und seine Sekretärin Glenda steckte den Kopf herein und sagte: »Ihr Onkel Wallace ist hier.«
Verdammt! Wie kam dieser Verrückte dazu, ihn im Büro aufzusuchen? Der jüngere Bruder seines Vaters war die Schande der Familie, ein geistig zurückgebliebener alter Arsch, der schon vor Jahren in ein Heim gehört hätte. Aber wie schon seine Eltern vor ihm hatte Brians Vater sich geweigert, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Wallace wegzusperren. Stattdessen verwöhnten sie ihn, hielten ihn bei Laune und ließen ihn durch die Stadt streifen, als wäre er normal. Wie das Glück es wollte, hatte Genny eine Schwäche für Wallace. Ihre Großmutter hatte Wallace eingestellt, um für sie zu arbeiten, als er zwanzig war. Und nach dem Tod der alten Frau hatte Genny Brians inzwischen siebzigjährigen Onkel bei vollem Lohn weiterbeschäftigt, obwohl er nicht einmal die Hälfte dessen wert war, was sie ihm zahlte.
Brian hatte schon bald in seiner Beziehung mit Genny bemerkt, dass er ihre Zuneigung zu Wallace zu seinem Vorteil nutzen konnte.
»Sagen Sie Onkel Wallace, er soll reinkommen. Und Glenda, bringen Sie uns zwei Dr. Peppers. Die mag Onkel Wallace besonders gern.«
Glenda zog verwundert die Augenbrauen hoch, behielt sämtliche Kommentare aber wohlweislich für sich. Brian wusste, dass er den Ruf hatte, ein echtes Arschloch zu sein. Aber er hatte festgestellt, wenn man Beschäftigten gegenüber zu nachsichtig war, wurde man von ihnen ausgenutzt. Und einen Brian MacKinnon nutzte niemand aus.
Wallace tapste wie ein unbeholfener Grizzlybär ins Büro. Sein Onkel war knapp einsneunzig groß, hatte einen runden Schmerbauch und trug einen Overall und eine Baseballkappe. Ein Büschel grauer Haare quoll auf beiden Seiten unter der Kappe hervor. Wallace hatte stets ein glatt rasiertes Gesicht, dank der täglichen Pflege bei einem Friseur in der Stadt, der von der Familie MacKinnon bezahlt wurde. Wallace verschleuderte seinen eigenen mageren Lohn mit Spenden an das Tierheim des Countys und Almosen an jeden Dahergelaufenen, der eine rührselige Geschichte zu erzählen hatte.
»Was kann ich für dich tun?« Brian blieb sitzen.
»Hast du heute etwas von Genny gehört?«, fragte Wallace, nahm seine Baseballkappe ab und kratzte sich am Kopf.
»Ich habe versucht, sie zu erreichen, aber ihr Telefon geht nicht«, erwiderte Brian. »Das Eis vom Sturm gestern Abend hat Strom- und Telefonleitungen lahmgelegt.«
»Ich war oben. Bill Davis hat mich mitgenommen. Ich war bis an Gennys Haus, um nachzusehen, ob bei ihr alles in Ordnung ist. Und sie war nicht da«, sagte Wallace atemlos, die Worte sprudelten nur so über seine Lippen.
»Sie war nicht zu Hause? Hast du alles überprüft?«
»Ihr Wagen war auch weg.«
»Dann ist sie vielleicht in der Stadt. Ich werde …«
»Ja, genau, wieso bin ich nicht darauf gekommen? Genny ist in die Stadt gefahren.« Wallace streckte die Hand aus, packte Brians Arm und schüttelte ihm ausgiebig die Hand. »Ich hab mir solche Sorgen um Genny gemacht. Du weißt, da draußen ist ein böser Mann, der andere umbringt. Ich will nicht, dass jemand Genny wehtut.«
Brian gelang es, seine Hand mit einem Ruck aus dem festen Griff des Onkels zu befreien. »Wenn du willst, rufe ich Jazzy an. Ich bin mir sicher, wenn Genny in der Stadt ist, wird Jazzy wissen, wo sie sich aufhält.« Lieber würde er nicht mit Jasmine Talbot sprechen, aber wenn es nicht anders ging, würde er es tun. Gennys beste Freundin Jazzy hatte anscheinend nichts für ihn übrig, genau wie Jacob. Ohne Zweifel hatte auch sie versucht, Genny zu überreden, nichts mit ihm anzufangen.
»Schon gut«, sagte Wallace. »Ich kann direkt zu Miss Jazzy rübergehen und sie selbst fragen.«
»Schön. Dann mach das.« Brian erhob sich, endlich von seiner peinlichen Erektion befreit. »Und wenn du Genny findest, bitte sie doch, mich anzurufen. Sag ihr, ich hätte mir Sorgen gemacht … um sie.«
»Du magst Genny auch, nicht wahr?« Wallace grinste, was ihn noch einfältiger aussehen ließ.
»Ja. Ich habe sie sehr gern.«
Glenda blieb an der offenen Tür stehen, zwei eiskalte Flaschen Dr. Peppers in den Händen. »Möchten Sie die jetzt haben?«
Brian winkte sie herein. »Klar. Kommen Sie rein.«
Glenda reichte Brian eine Flasche, die andere gab sie Wallace. Sie lächelte Wallace an und fragte: »Wie geht es Ihnen heute, Mr MacKinnon?«
Wallace kicherte. »Ich bin nicht Mr MacKinnon. Das ist mein Bruder Farlan. Ich bin einfach nur Wallace.«
»Und, wie geht’s, Wallace?«, formulierte Glenda ihre Frage neu.
»Mir geht’s gut, danke, Ma’am.«
Brian räusperte sich. Glenda floh aus dem Büro.
»Die Leute sagen, du bist kein sehr netter Mann, aber das stimmt nicht.« Wallace hob die Flasche an den Mund und leerte sie mit einem tiefen Schluck fast bis zur Hälfte. Er grinste Brian an. »Du bist nicht mehr so wie früher. Das ist wegen Genny, nicht wahr?«
Brian wurde nur ungern von seinem verrückten Onkel ins Kreuzverhör genommen, aber er konnte wohl kaum zugeben, dass er sich einzig und allein deshalb Zeit für Wallace nahm, um bei Genny Eindruck zu schinden.
»Ja, wegen Genny. Sie ist eine ganz besondere Lady.«
»Du liebst sie.«
Brian zog kurz die Wangen ein. »Das soll vorerst noch ein Geheimnis und unter uns beiden bleiben. Ich bin noch nicht so weit, dass ich Genny meine wahren Gefühle offenbaren kann.«
»Sie liebt dich auch.«
Brian schlug das Herz bis zum Hals. »Was?«
»Genny liebt dich, und sie liebt mich. Genny liebt alle.«
Brian zwang sich, Wallace auf den Rücken zu klopfen. »Ja, sicher. Und jetzt läufst du zu Jazzy und fragst sie nach Genny.«
»Gut.« Wallace ging zur Tür.
Brian liebte Genny. Bis zum Wahnsinn. Und eines nicht allzu fernen Tages würde sie ihn auch lieben. Aber nicht so, wie Wallace es meinte. Genny würde ihn leidenschaftlich lieben, so wie eine Frau einen Mann liebt. Wenn sie seine Frau war, würde er ihr beibringen, ihn zufriedenzustellen.
Brian spürte eine neue Erektion und ließ sich auf seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen. Dann rief er seinem Onkel nach: »Vergiss nicht, Genny zu sagen, dass ich mir Sorgen um sie gemacht habe.«
»Soll ich nicht zu Jasmine’s rübergehen und Gertie bitten, uns Abendessen zu machen?«, fragte Genny. »Ich weiß, ihr beide habt viel zu besprechen und wollt mich wahrscheinlich nicht dabei haben.«
»Nicht, dass ich dich nicht dabei haben möchte«, erwiderte Jacob. »Nur …«
»Du und Dallas, ihr braucht Zeit, um herauszufinden, ob ihr euch vertraut und ob ihr wirklich zusammenarbeiten könnt. Und wenn ich hier bin, kann keiner von euch brutal ehrlich sein.«
»Sag Gertie, sie soll Suppe und Sandwiches machen und alles herbringen«, trug Jacob ihr auf. »Und dann, nach dem Abendessen, folge ich dir auf dem Heimweg.«
Genny ließ Dallas bei Jacob und wusste, noch bevor sie zur Tür hinaus war, dass Jacob ihr an dem Abend nicht folgen würde. Dallas hatte bereits entschieden, dass er dem Sheriff die Fahrt ersparen würde. Sie spürte, wie hart Dallas seine Zuneigung zu ihr bekämpfte, wusste aber, dass er diese Schlacht am Ende verlieren würde. Er war auf einer persönlichen Suche nach Cherokee County gekommen, nicht um eine Romanze mit einer Frau anzufangen, die behauptete, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen, an die er nicht glaubte. Sie verstand, warum er sich durch nichts von seiner Mission abbringen lassen wollte. Er hatte etwas dagegen, sich durch etwas oder jemanden ablenken zu lassen, der sich in seine Suche nach dem Mörder seiner Nichte einmischen könnte. Und gerade jetzt war die größte Frage, die sich Dallas und Jacob gleichermaßen stellten, ob der Mann, der Dallas’ Nichte umgebracht hatte, derselbe war, der Susie Richards und Cindy Todd geopfert hatte.
Während Genny die Straße entlang zu Jasmine’s ging, dachte sie darüber nach, wann sie Cindy das letzte Mal gesehen hatte. Die Frau des Bürgermeisters war ungefähr vor einem Monat den Berg hinaufgefahren, um mit ihr zu sprechen, kurz vor Weihnachten. Genny »wahrsagte« grundsätzlich nicht. Doch für ein paar Auserwählte, die verzweifelt Hilfe brauchten, setzte Genny ihre besondere Gabe ein. Wenn jemand Hilfe gebraucht hatte, dann Cindy. Cindy war als Kind missbraucht worden, war mit sechzehn von ihrem Freund schwanger geworden, hatte mit siebzehn das Kind zur Adoption freigegeben und war anschließend drogenabhängig geworden. Ein junges Leben, das einer Horrorgeschichte gleichkam. Als Jerry Lee Todd vor sechs Jahren in Florida Urlaub machte, hatte er Cindy im Sturm erobert und sie nach Cherokee Pointe gebracht. Er hatte ihr eine fingierte persönliche Geschichte angedichtet und versucht, sie als Klasse auszugeben, wie er es nannte. In ihrem Privatleben jedoch war Jerry Lee allmählich ausfallend geworden. Zunächst mit Worten, dann, im letzten Jahr, auch körperlich. Sogar im ersten Jahr ihrer Ehe hatte Cindy Trost bei anderen Männern gesucht und war in alte Gewohnheiten zurückgefallen.
Genny hatte Elend für Cindy vorausgesehen und ihr geraten, Jerry Lee zu verlassen. Sie hatte geglaubt, die Tragödie, die sie in Cindys Zukunft gesehen hatte, könnte abgewendet werden, wenn sie vor ihrem brutalen Mann das Weite suchte. Jetzt aber hatte es den Anschein, als hätte die von Genny vorausgesehene Tragödie nichts mit Cindys Ehe zu tun.
Genny blieb vor dem Restaurant stehen, trat den Schnee von ihren Stiefeln und öffnete eine Hälfte der Doppeltür. Als sie das Restaurant betrat, umfing sie angenehme Wärme. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an das gedämpfte Licht gewöhnt hatten. Nachdem sie den Mantel ausgezogen und über ihren Arm gelegt hatte, begab sie sich am Eingang vorbei zur Küche. Sie schaute sich um und stellte fest, dass eine Handvoll Gäste an verschiedenen Tischen und in Nischen saß. Da es noch früh für den abendlichen Ansturm war, wunderte sie sich, dass das Restaurant nicht leer war. Bevor sie an die Küchentür kam, rief Misty Harte ihr zu.
»Hey, Genny.«
Genny blieb stehen und drehte sich zu der Frau um, die seit geraumer Zeit hinter Jacob her war. Misty war die ältere Schwester von Deputy Bobby Joe Harte. Fünfunddreißig. Zweimal geschieden. Keine Kinder.
»Hi, Misty, wie geht’s dir?«
»Ganz gut. Und was ist mit dir?« Genny musterte die Frau beiläufig. Gebleichtes blondes Haar, zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Hellroter Lippenstift und Nagellack. Ein Paar riesige Goldreifen an den Ohren. Und ihre Kellnerinnenuniform – dunkle Hose und weiße Bluse – umschmeichelte ihre schlanke, langbeinige Figur.
»Mir geht’s gut. Ich will zu Jazzy. Ich möchte ein Abendessen zum Mitnehmen bestellen.«
»Sie ist nicht in der Küche«, sagte Misty. »Sie ist in ihrem Büro.«
»Danke. Ich gebe meine Bestellung auf und schau dann kurz in Jazzys Büro rein.«
Genny wollte sich schon abwenden, doch bevor sie einen Schritt machen konnte, fragte Misty: »Holst du Essen für Jacob?«
Genny stöhnte leise auf. »Genau.«
»Ich nehme an, er wird heute Abend lange arbeiten, bei zwei Morden und so. Verdammte Scheiße, das mit Cindy Todd und Susie Richards. Wer hätte gedacht, dass so etwas hier in der Gegend passieren könnte.«
»Ja, Jacob arbeitet lange, und ich habe vor, mit ihm zu Abend zu essen, bevor ich nach Hause fahre.«
»Sag ihm einen schönen Gruß von Misty.«
»Mach ich.« Genny zwang sich zu einem Lächeln. Dabei hatte sie nichts gegen Misty, glaubte jedoch, dass Misty nicht die richtige Frau für Jacob war. Und Misty war nicht der Typ, der einfach aufgab.
Nachdem sie ihr Essen bei Gertie Walker bestellt hatte, der von Miss Ludie ausgebildeten Köchin vom Jasmine’s, ging Genny durch den hinteren Flur zu Jazzys Büro. Bevor sie die angelehnte Tür erreichte, vernahm sie Jazzys Stimme.
»Versuch bloß nicht, mich wiederzusehen«, sagte Jazzy. »Ich habe dir gestern Abend gesagt, dass ich nichts mit dir zu tun haben will. Nie wieder.«
Genny klopfte an die Tür, um Jazzy vorzuwarnen. Sonst wäre sie sich wie eine Lauscherin vorgekommen, obwohl Jazzy ihr bestimmt alles erzählen würde. Die beiden hatten keine Geheimnisse voreinander. Seit ihrer Kindheit hatten sie ihre ureigensten Gedanken und Gefühle ausgetauscht.
»Lass mich in Ruhe, verdammt!« Jazzy knallte den Hörer auf, schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. Sie schaute zur Tür und rief: »Herein.«
»Lass mich raten, wer am Telefon war.« Genny betrat das Büro und machte die Tür hinter sich zu.
»Er meint, wenn er mir nur weiterhin nachstellt, werde ich schließlich nachgeben.« Jazzy kam zu Genny und umarmte sie. »Was machst du in der Stadt? Ich habe heute ein paar Mal vergeblich versucht, dich telefonisch zu erreichen. Vermutlich sind die Leitungen unterbrochen.«
»Ich habe jemanden in die Stadt gebracht, der zu Jacob wollte.«
Jazzy schaute Genny fragend an.
»Er heißt Dallas Sloan, ist FBI-Agent, und sein Wagen ist gestern Abend nicht weit von meinem Haus in einen Graben geschliddert.«
»Das FBI ist eingeschaltet?«
»Nicht offiziell.«
»Das versteh ich nicht.«
»Dallas’ Nichte wurde auf ähnliche Weise ermordet wie Susie Richards und Cindy Todd. Vor knapp einem Jahr in Mobile.«
Jazzy rieb sich ihre Arme. »Diese ganze Geschichte mit einem Kerl da draußen, der Frauen aus Cherokee County als Opferlämmer benutzt, jagt mir eine höllische Angst ein.« Jazzy betrachtete Genny einen Moment lang und sagte dann: »Du nennst diesen Kerl beim Vornamen. Das ging aber schnell. Und wo hat er die vergangene Nacht verbracht?«
Unwillkürlich zuckten Gennys Lippen und brachten fast ein Lächeln zustande. »Er hat bei mir übernachtet, in einem Gästezimmer. Und es ist merkwürdig, aber … ich habe das Gefühl, als würde ich ihn kennen, schon immer.«
»O-oh. Lass mich raten – er ist groß, dunkel, gefährlich und sieht umwerfend gut aus.«
Genny lachte. »Er ist groß, blond, sieht umwerfend aus und« – ihre Miene wurde ernst – »leidet innerlich.«
»Du hast etwas für ihn übrig, nicht wahr?« Jazzy packte Genny an den Schultern und schüttelte sie spielerisch. »War es Liebe auf den ersten Blick?«
»Sei nicht albern. Niemand ist verliebt. Wir fühlen uns lediglich zueinander hingezogen«, gab Genny zu. »Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass er ein Problem mit meinem … meinem sechsten Sinn hat.«
»Er weiß, dass du …«
»Ich hatte wieder eine Vision … eine Vorahnung von Cindys Tod. Nur wusste ich nicht, dass es Cindy war.«
»Mein Gott, Gen, wie hast du das allein geschafft – oh, du warst ja nicht allein, oder? Dieser Dallas war bei dir.«
»Er war sehr nett, aber er hat nicht begriffen, warum ich so erschöpft war oder warum ich so etwas sagte. Ich glaube, er hält mich entweder für verrückt oder für eine Schwindlerin.«
»Aber er fühlt sich zu dir hingezogen?«
»Das weiß ich nicht.« Genny schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht freiwillig. Im Übrigen ist es der falsche Zeitpunkt für ihn, sich mit jemandem auf eine Romanze einzulassen. Er ist hier, weil er nach Antworten sucht. Er sucht nach dem Mörder seiner Nichte.«
»Und er glaubt, derjenige, der Susie und Cindy umgebracht hat, ist derselbe, der seine Nichte getötet hat?«
»Er hält es für möglich.«
»Was meint Jacob?«
»Er ist unentschlossen, aber er steht der Angelegenheit offen gegenüber.« Das Telefon klingelte. Jazzy schaute kurz auf das Display.
»Wieder Jamie?«, fragte Genny.
»Er hat heute sechs Mal angerufen.«
»Soll ich drangehen?«
»Lass es einfach klingeln.« Jazzy nahm Genny am Arm. »Komm, wir holen uns Kaffee und Kuchen.«
»Ich habe bei Gertie Suppe und Sandwiches bestellt. Ich dachte, ich esse mit Jacob und Dallas zu Abend, bevor ich nach Hause fahre.«
»Bleib doch bei mir, bis der Mörder gefasst ist. Es heißt, wenn man zu mehreren ist, sei man sicherer.« Sie gingen aus Jazzys Büro und ließen das beharrliche Klingeln des Telefons hinter sich.
»Ist schon gut. Ich habe Drudwyn. Und ich kann für gewöhnlich spüren, wenn jemand kommt.«
Bevor sie den Gastraum erreichten, kam Misty Harte auf sie zugelaufen. »Dieser verrückte alte Idiot, Wallace MacKinnon, ist hier und macht eine Szene. Er will Genny sehen. Als er fragte, ob sie hier sei, hatte ich ja keine Ahnung, dass er durchdrehen würde. Er sagt, er hat ihr etwas von Brian auszurichten.«
Jazzy lachte. »Na dann komm, Gen. Am besten besänftigst du das wilde Tier. Der arme alte Wallace war wahrscheinlich verzweifelt, als er versucht hat, dich zu erreichen, und keinen Erfolg hatte.« Sie wandte sich an Misty. »Geh zu Wallace und sag ihm, dass Genny gleich zu ihm rauskommt. Und Misty, bezeichne Wallace nie wieder als Idionten.«
Nachdem Misty beleidigt abgezogen war, sagte Jazzy zu Genny: »Wallace hat sich selbst zu deinem Schutzengel ernannt, als du noch klein warst, und er nimmt seine Beschützerrolle sehr ernst. Ich schwör dir, ich weiß nicht, was du an dir hast, dass Männer dich anbeten und sich um dich kümmern wollen. Mich wollen sie nur ficken.«
Genny grinste. »Jazzy, du bist unmöglich! Du willst, dass alle dich für richtig schlecht halten. Du hast dein Image als böses Mädchen kultiviert und lässt niemanden hinter die Fassade auf dein wahres Ich schauen.«
»Du siehst es.«
»Ja, aber ich kenne dich, seit wir in den Windeln steckten.«
»Und du weißt besser als alle anderen, dass das böse Mädchen nur teilweise Fassade ist. Ich bin nicht blütenrein, und das wissen wir beide. Ich habe mehr als genug Unfug getrieben. Typisches Beispiel: Jamie Upton.«
»Du hast Jamie geliebt. Er ist so dämlich, nicht einzusehen, wie wundervoll du bist.«
Wallaces beinahe hysterische Stimme hallte durch den Flur.
»Sieh lieber zu, dass du ihn beruhigst, bevor er die paar Gäste vertreibt, die ich da draußen habe«, sagte Jazzy.
Genny eilte in den Gastraum. Wallace ging von Tisch zu Tisch, suchte nach Genny und rief ihren Namen.
»Wallace«, sagte sie freundlich, aber bestimmt.
Er blieb auf halbem Weg durch den Raum stehen, drehte sich um und lächelte selig. Wallaces Lächeln war sehr nett und liebenswürdig. Wie das eines kleinen Kindes, das er in vieler Hinsicht auch war. Ein kleines, liebevolles Kind, das im Körper eines großen, körperlich starken Siebzigjährigen steckte.
Er stapfte auf sie zu, grinste, kicherte in sich hinein und breitete die Arme aus. Als er Genny erreichte, hob er sie in einer Bärenumarmung vom Boden, wobei er ihr den Mantel vom Arm riss.
»Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Ich bin bei deinem Haus gewesen, und du warst nicht da.«
»Heute bin ich in die Stadt gefahren«, erklärte sie ihm.
»Das hat Brian auch gesagt. Er sagte, Genny ist wahrscheinlich in der Stadt. Geh rüber zu Jazzy und frag sie. Die wird es wissen.«
»Lass mich wieder runter, Wallace«, sagte Genny mit ruhiger Stimme.
Er kam ihrer Bitte nach, hob ihren Mantel vom Boden auf und reichte ihn ihr. »Brian hat sich auch Sorgen um dich gemacht. Das soll ich dir ausrichten.«
»Das war sehr lieb von dir und Brian, sich um mich zu sorgen, aber wie du siehst, geht es mir gut.«
»Brian mag dich.«
»Ich mag Brian auch.«
Wallaces Lächeln wurde breiter. »Er ist ein guter Mann, nicht so wie früher. Er ist jetzt immer nett zu mir. Er spricht sogar mit mir.«
»Das ist schön.« Genny hakte sich bei Wallace unter. »Soll ich dich nicht nach Hause bringen? Es ist fast Zeit für das Abendessen, und ich bin mir sicher, Miss Veda wird Mr Farlan auf die Suche nach dir schicken, wenn du bei Einbruch der Dunkelheit nicht zu Hause bist.«
Jazzy pfiff, um Genny auf sich aufmerksam zu machen. »Bring ihn mit meinem Jeep nach Hause. Der steht hinter dem Haus.« Jazzy langte in die Hosentasche ihrer Jeans, zog einen Schlüsselbund heraus und warf ihn Genny zu, die ihn in der Luft auffing.
»Fahren wir wirklich mit Jazzys rotem Jeep?«, fragte Wallace.
»Ja, das machen wir.« Genny führte Wallace durch die Küche, zur Hintertür hinaus und in die Nebenstraße, in der Jazzys schnittiger Jeep Liberty neuester Bauart auf sie wartete.
»Möchten Sie Kaffee?«, fragte Jacob. »Ich kann eine frische Kanne machen.«
»Nein, danke«, erwiderte Dallas. »Wissen Sie, mir ist klar, dass Sie keinen Grund haben, mit mir zusammenzuarbeiten, aber wenn ich recht habe, und dieser Mörder ist derselbe, der in den vergangenen acht Jahren eine Serie von jeweils fünf Morden in verschiedenen Bundesstaaten verübt hat, dann weiß ich wahrscheinlich mehr über ihn als jeder andere. Und ganz unter uns« – Dallas sah Jacob direkt in die Augen und ging das Risiko ein, ihm zu vertrauen – »ich habe einen Fallanalytiker beim FBI, der mir ein Profil von diesem Kerl erstellt.«
»Inoffiziell?«
Dallas nickte.
Wie könnte er Sheriff Butler überzeugen, damit er ihm vertraute und mit einer Zusammenarbeit einverstanden war? Mit einigen örtlichen Polizeibeamten hatte er kein Glück gehabt, während andere, die er angesprochen hatte, sich ein Bein ausgerissen und großes Entgegenkommen gezeigt hatten, weil er FBI-Agent war. Aber keiner der anderen neuen Fälle, die er sich vertraulich angeschaut hatte, wies am Ende genug Ähnlichkeiten mit Brookes Fall auf, um weitere Ermittlungen zu rechtfertigen. Bei den beiden Morden von Cherokee County verhielt es sich anders. Bisher passte alles im Zusammenhang mit dem Tod dieser beiden Frauen zur Vorgehensweise des Kerls, der Brooke umgebracht hatte.
»Versetzen Sie sich in meine Lage«, sagte Dallas. »Was wäre, wenn jemand, den Sie lieben, diesem Unhold zum Opfer fiele? Würden Sie nicht alles in Ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu finden und vor Gericht zu bringen?«
Jacob nickte.
»Dann lassen Sie mich in diesen Fällen mit Ihnen zusammenarbeiten. Sie helfen mir, und ich helfe Ihnen.«
»Ich habe Sie überprüft, verstehen Sie«, sagte Jacob.
»Das habe ich mir gedacht.«
»Sie haben einen recht beachtlichen Lebenslauf. Aber schon vor dem Mord an Ihrer Nichte haben Sie sich nicht immer an die Regeln gehalten. Und seitdem geht Ihnen der Ruf eines ziemlich rauen Agenten voraus.«
»Ich erledige meine Arbeit. Was ich in meiner Freizeit mache, ist meine Angelegenheit.«
»Sind Sie bereit, Ihren Job zu riskieren, um diese Sache zu Ende zu bringen?«
»Wenn es nötig sein sollte.«
»Genny scheint Sie für vertrauenswürdig zu halten, und ich baue auf Gennys Einfühlungsvermögen, obwohl sie dazu neigt, alle zu mögen. Also gut.«
»Was?«
»Ich werde unserer Zusammenarbeit eine Chance geben, doch wenn Sie die Grenze überschreiten, werden Sie mir gegenüber Rechenschaft ablegen.«
Dallas konnte sich vorstellen, dass die meisten Männer sich davor fürchteten, Jacob Butler Rechenschaft schuldig zu sein, ein Schicksal schlimmer als der Tod. Dallas war kein Narr. Lieber würde er sich nicht mit dem Sheriff anlegen, weder jetzt noch in Zukunft. Aber Butler schüchterte ihn nicht ein. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann das zuletzt einem Mann gelungen war.
Eine bestimmte Frau jedoch schüchterte ihn ein ohne Ende. Genevieve Madoc.
»Susies Leiche ist zur Autopsie in Knoxville«, sagte Jacob. »Cindys Leiche ist auf dem Weg hierher. Ich habe bei beiden um Eile gebeten, obwohl Peter Holt, unser örtlicher Coroner, mir einen vorläufigen Bericht liefern konnte.«
»Lassen Sie mich raten.« Dallas beugte sich vor, ließ die Hände zwischen seinen Oberschenkeln hängen und legte die Fingerspitzen aneinander. »Ihr Coroner fand Sperma zwischen den Brüsten und am Bauch beider Opfer.«
Jacob kniff die Augen zusammen, bis sie nur noch Schlitze waren. »Gehört das zu der Vorgehensweise des Mörders, nach dem Sie suchen?«
»Liege ich richtig?«, wollte Dallas wissen.
»Ja.«
»Wenn der Gerichtsmediziner in Knoxville seine Sache gründlich macht, wird er eine weitere Grausamkeit entdecken.«
»Und die wäre?«
»Er wird menschlichen Speichel, vermischt mit dem Blut des Opfers, an den gesamten Rändern der Schnittwunde finden.«
Jacob legte die Stirn in tiefe Falten. »Soll das heißen, dieser Typ …«
»Trinkt Blut seines Opfers und leckt es dann ab.«
»Heiliger Strohsack.« Jacob sprang von seinem Stuhl auf, ging an die Fenster und schaute über die schneebedeckte Fläche draußen. »Sobald dieser Kerl festgenommen ist, sollte mehr als genug DNA-Beweismaterial vorliegen, um ihn in die Todeszelle zu stecken.«
»Mehr als genug«, sagte Dallas. »Aber alles DNA-Beweismaterial der Welt ist wertlos ohne einen Verdächtigen.«