Totò Riina war der sizilianische Auftraggeber. Der italienische Auftraggeber ist bisher noch unbekannt.
Es gibt Verdachtsmomente, Spuren, die in den Staatsapparat führen. Der italienische Auftraggeber ist derselbe, der zusammen mit der Cosa Nostra die Anschläge vom Sommer 1992 in und bei Palermo und die Bombenanschläge 1993 auf dem italienischen Festland plante. Die Mafia von Corleone hatte bereits Ende 1991 beschlossen, Giovanni Falcone auf traditionelle Weise zu ermorden: mit Schusswaffen in einem Hinterhalt in Rom. Doch dann wollte der italienische Auftraggeber einen Sprengstoffanschlag, einen demonstrativen Terrorakt: ein Massaker mit TNT. Deshalb starb Falcone in Capaci und nicht schon ein paar Wochen vorher auf einer Straße in Rom bei einem für die Mafia typischen Anschlag.
Die Mafia wollte Falcone und Borsellino liquidieren. Doch was im Mai und im Juli 1992 geschah, ging über den »einfachen« Mordplan der Mafia weit hinaus. Darüber wurde viel spekuliert. Bei den Anschlägen in Capaci und in der Via D’Amelio sowie drei Jahre zuvor auf den Klippen von Addaura (bei dem gescheiterten Anschlag auf den Untersuchungsrichter Falcone) sollen Leute beteiligt gewesen sein, die nicht zur Cosa Nostra gehörten, jedoch in Abstimmung mit den Bossen die Operationen vor Ort durchführten.
Die Geschichte der Anschläge in Sizilien muss also völlig neu geschrieben werden.
Ihre eigentliche Untersuchung begann mit fast zwanzigjähriger Verspätung. Die Ermittlungen unmittelbar nach den Anschlägen wurden schlampig geführt, es wurden Spuren verwischt und falsche Fährten gelegt mit dem Ziel, Totò Riina und seine Corleoneser als die alleinigen Urheber der Massaker erscheinen zu lassen. Doch die Zusammenhänge hätte man schon damals erkennen können, wenn man die Spuren verfolgt hätte, die über die Cosa Nostra hinauswiesen. Aber das tat niemand.
In einer Reportage der Tageszeitung La Repubblica jedoch wurden bereits am 13. Juni 1992 Details veröffentlicht, die auf einen Zusammenhang zwischen dem missglückten Anschlag von Addaura und dem tödlichen Attentat in Capaci hindeuteten: sechs Phantombilder, die die Kripo von Palermo aufgrund von Zeugenaussagen erstellt hatte. Zeugen hatten die Kleidung der sechs an den Anschlägen beteiligten Männer, ihre Größe und ihren Körperbau sehr genau beschrieben. Auch wird berichtet, dass eines der Fahndungsbilder des Anschlags von Capaci »starke Ähnlichkeit« mit einem Phantombild aufweist, das nach dem Anschlag von Addaura drei Jahre zuvor angefertigt worden war. Offenbar war dieselbe Person an den Schauplätzen beider Attentate gesichtet worden.
Doch irgendjemand hatte es im Juni 1992 eilig, diese Meldung zu dementieren, um jeden Zusammenhang zwischen Addaura und Capaci auszuschließen. Dieses Dementi war vermutlich eine bewusste Irreführung.
Ihre Gesichter sind bekannt […]. Beginnen wir mit dem ersten Phantombild. Der Mann ist etwa fünfzig Jahre alt, rosiger Teint, graumeliertes Haar, kräftiger Körperbau. Größe: nicht mehr als einen Meter siebzig […]. Mehrere Zeugen erinnern sich auch an die auffällige Sportjacke des Mannes: gelb mit einem waagrechten grünen Streifen.
Das zweite Phantombild zeigt das Gesicht eines »etwa Siebenundzwanzigjährigen«, gleichfalls einssiebzig groß. Blasse Haut, dunkles Haar, schmaler Körperbau. Er trug eine dunkle Hose und ein helles Hemd.
Das dritte Phantombild: Diesmal ist das Alter des Mannes weniger präzis angegeben: »zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre«, einsachtzig groß, ausgeprägt muskulöser Körperbau; kastanienbraunes Haar, dichter Schnurrbart.
Das vierte Phantombild zeigt einen Mann »in Bewegung«. Er sitzt am Steuer eines blauen Fiat Croma mit einem rechteckigen Wappen »von roter und gelber Farbe mit der Trinacria [dem Symbol Siziliens] in der Mitte«, wie es an den Autos der Region Sizilien angebracht ist. Dieser Mann ist dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter fünfundsechzig groß (die Polizei verrät nicht, woher sie diese Angabe hat – der Mann saß ja am Steuer des Fiat), hat dunkles Haar, einen dichten Schnurrbart, einen ungepflegten Bart. Er trug eine Sonnenbrille und ein »hellblaues bis graues« Hemd.
Dasselbe Alter – dreißig bis fünfunddreißig – hat auch der Mann des fünften Phantombilds. Er ist knapp einsachtzig, mit kräftigem Körperbau, olivbraunem Teint, schwarzem, glattem, nach hinten gekämmtem Haar, ovalem, länglichem Gesicht und markantem Kinn, kurzem gepflegtem Schnurrbart […]. Er trug Hose und T-Shirt.
Das letzte Phantombild zeigt einen fünfunddreißig- bis vierzigjährigen Mann, zwischen einen Meter siebzig und einen Meter fünfundsiebzig groß, mit kräftigem Körperbau, schwarzem Haar, hoher Stirn, dunklen Augen, gleichfalls mit einem schwarzen, gepflegten Schnurrbart […]. Er trug einen grünen Overall.
Dementiert wurde ein beharrlich seit dem Vormittag umlaufendes Gerücht: dass das Phantomfoto des zweiten Mannes starke Ähnlichkeit mit einem der beiden Phantomfotos aufweist, die drei Jahre zuvor nach dem gescheiterten Anschlag auf Falcones Haus über den Klippen von Addaura erstellt wurden. Tatsächlich ähneln die beiden Gesichter einander sehr, die Angaben zu Alter und Körpergröße sind identisch, nur der Körperbau ist unterschiedlich.
La Repubblica, 13. Juni 1992
Doch die jüngsten Ermittlungen von Sergio Lari, dem Leitenden Oberstaatsanwalt von Caltanissetta (die Justizbehörde ist für die Untersuchung der Anschläge von Palermo zuständig), gehen auch den Irreleitungen bei den Nachforschungen im Zusammenhang mit Addaura nach, als versucht wurde, Giovanni Falcone mit achtundfünfzig Dynamitpatronen in die Luft zu sprengen.
Nach zwanzig Jahren muss der gesamte Ablauf jenes gescheiterten Attentats neu rekonstruiert werden, da Zeugenaussagen eine andere Wahrheit enthüllen und die Hypothese eines staatlichen Auftraggebers erhärten.
Demnach muss der Zeitpunkt des Anschlags um vierundzwanzig Stunden vorverlegt werden: Die Tasche mit dem Sprengstoff wurde nämlich nicht am 21. Juni 1989, sondern bereits am Vormittag des 20. Juni deponiert. Laut den Ermittlern waren an jenem Tag vor Falcones Haus offenbar zwei Gruppen am Werk: eine an Land, bestehend aus Mitgliedern der Mafiafamilie des palermitanischen Viertels Acquasanta und aus Agenten des Geheimdienstes; die andere auf dem Meer, auf einem gelben oder orangefarbenen Schlauchboot mit zwei Tauchern an Bord. Sie waren nicht die »Unterstützung« der ersten Gruppe, sondern sollten verhindern, dass der Sprengstoff explodierte. Über die Identität der beiden Taucher gibt es zwar keine Gewissheit, es besteht aber der begründete Verdacht, es könnte sich um Antonino Agostino und Emanuele Piazza gehandelt haben.
Antonino Agostino war offiziell Polizeibeamter im Kommissariat San Lorenzo, Palermo, in Wirklichkeit jagte er untergetauchte Mafiosi. Er wurde am 5. August 1989 zusammen mit seiner Frau Ida Castellucci ermordet, nicht einmal zwei Monate nach Addaura. Seine Mörder wurden nie dingfest gemacht. Sogar Totò Riina ordnete eine interne »Untersuchung« an, weil er wissen wollte, wer den Polizisten getötet hatte. »Auch er bekam nichts heraus«, berichtete der Mafiaaussteiger Giovan Battista Ferrante. »Er wurde getötet, weil er die Mafiaverbindungen einiger Beamter im Polizeipräsidium Palermo aufdecken wollte. Auch seine Frau wusste davon, deshalb musste auch sie sterben«, behauptete hingegen der Kronzeuge Oreste Pagano. Bei den Ermittlungen zur Ermordung Antonino Agostinos verfolgte die palermitanische Polizei monatelang die unwahrscheinliche Spur eines »Verbrechens aus Leidenschaft«. Vor ein paar Monaten vernahm die Staatsanwaltschaft Palermo einen Polizeibeamten als Zeugen, der aussagte, Untersuchungsrichter Falcone habe ihn eines Abends im Kommissariat aufgesucht und ihm anvertraut: »Dieser Mord [an dem Polizisten Antonino Agostino] war gegen mich und gegen Sie gerichtet.«
Der zweite Taucher, Emanuele Piazza, war ein ehemaliger Polizist, der gleichfalls mit dem Geheimdienst (dem Inlandsgeheimdienst SISDE) zusammenarbeitete, um untergetauchte Mafiosi aufzuspüren. Piazza wurde am 15. März 1990 getötet. Ein Maulwurf hatte die Mafiosi darüber informiert, dass der ehemalige Polizist für den Geheimdienst tätig war. Die Bosse lockten ihn in eine Falle und erdrosselten ihn. Auch in diesem Fall konzentrierte die palermitanische Polizei ihre Untersuchungen zunächst auf eine falsche Spur, nämlich »eine Flucht des Opfers nach Tunesien in Begleitung einer Frau«. Die Ermittlungen zu beiden Morden liefen also in eine völlig falsche Richtung. Der gescheiterte Anschlag von Addaura offenbart heute erschreckende Zusammenhänge: Es scheint, dass ein Teil des Staates Falcone liquidieren, ein anderer ihn am Leben lassen wollte.
Ein Krimi innerhalb des Krimis verbirgt sich in anderen Kapiteln der Akte Addaura. Seit Monaten werden die Phantombilder der beiden Taucher gesucht, die damals den Angaben einiger Badender entsprechend angefertigt wurden. Die Zeugen befanden sich am 20. Juni 1989 in dem Strandabschnitt, wo Falcone ermordet werden sollte. Zeitungen und Nachrichtenagenturen hatten ausführlich von der Existenz dieser beiden Phantombilder berichtet. Heute erhärtet sich der Verdacht, dass sie der Staatsanwaltschaft nie übergeben wurden. Bei den Ermittlungen zum Fall Addaura scheinen die Fahnder immer tiefer in tückischen Treibsand zu geraten.
Die Affäre Addaura ist ein wichtiger Schlüssel für die Ermittlungen zu allen anderen Anschlägen in Sizilien, und es ist eine Geschichte mit zu vielen Toten.
Es starb Francesco Paolo Gaeta, ein Kleinkrimineller aus dem palermitanischen Viertel Acquasanta, der am Tag des gescheiterten Attentats zufällig die Anschlagsvorbereitungen vor Falcones Haus beobachtet hatte. Er wurde mit Pistolenschüssen niedergestreckt. Der Fall wurde als Abrechnung zwischen Drogendealern ad acta gelegt.
Es starb der Mafioso Luigi Ilardo, ein Informant des Carabinieri-Oberst Michele Riccio. Er hatte dem Oberst gesagt: »Wir wussten, dass es in Palermo einen Polizisten gab, der merkwürdige Sachen machte und sich immer an merkwürdigen Orten aufhielt. Sein Gesicht war verunstaltet. Wir haben erfahren, dass er auch in der Nähe von Villagrazia war, als der Polizist Agostino getötet wurde.« Wenige Tage, bevor er seine Aussagen zu Protokoll geben konnte, wurde Ilardo ermordet.
Ilardo musste sterben. Falcone musste sterben. Der Polizist Nino Agostino musste sterben. Der SISDE-Agent Emanuele Piazza musste sterben.
Die Jagd auf den Mann mit dem verunstalteten Gesicht ist eröffnet. Die einen sagen, man sei seiner Identifizierung sehr nahe, die anderen schwören, dass man diesen Mann niemals finden werde, weil auch er schon seit Jahren tot sei. Auch auf andere »Geheimagenten«, die mit den Bossen von Corleone in Verbindung stehen, ist die Jagd eröffnet. Da ist insbesondere einer, der einmal »Carlo«, einmal »Signor Franco« genannt wird, ein Mann der Apparate, der zwanzig Jahre lang an der Seite des ehemaligen Bürgermeisters von Palermo, Vito Ciancimino, stand und im Sommer 1992 mit ihm und Totò Riina verhandelte.
Die Geheimdienste sind also auf zwei verschiedenen Ebenen in die Anschläge verwickelt: Einerseits stehen sie im Verdacht, mit der Mafia verhandelt zu haben, andererseits, aktiv an den Attentaten beteiligt gewesen zu sein.
Wenn diese Zusammenhänge unaufgedeckt bleiben, werden wir nie erfahren, wer Falcone und Borsellino tatsächlich ermordet hat und warum. Jedes Massaker in Sizilien riecht nach Geheimdienst. Nach Geheimnissen der Mafia, die eng mit den Geheimnissen des Staates verflochten sind.
101. Wer innerhalb des Staatsapparats hatte ein Interesse daran, die beiden sizilianischen Ermittlungsrichter zu liquidieren?
Das Motiv liegt bisher im Dunkeln, denn noch sind die politischen Akteure hinter der Strategie des Terrors unbekannt.
Vor ein paar Monaten verlangte die Staatsanwaltschaft Caltanissetta, die die Ermittlungen im Mordfall Falcone und Borsellino führt, die Freigabe einiger als geheim klassifizierter Dokumente. Die Forderung wurde dem Inlandsgeheimdienst AISI (Agenzia Informazioni e Sicurezza Interna) und dem militärischen Nachrichtendienst AISE unterbreitet. Geklärt werden sollte, ob in jenen Jahren einige Polizeibeamte und Carabinieri-Offiziere auf der Gehaltsliste des Inlandsgeheimdienstes SISDE (der im August 2007 durch AISI ersetzt wurde) oder des militärischen Nachrichtendienstes SISMI (jetzt AISE: Agenzia Informazioni e Sicurezza Esterna) standen und für diese Dienste arbeiteten. Eine parallele Untersuchung konzentrierte sich auf das Hochkommissariat zur Bekämpfung der Mafia, einen mit Agenten durchsetzten, schwerfälligen Apparat, der seit Mitte der achtziger Jahre in Palermo als Geheimdienstzentrale operierte. An der Spitze dieser Behörde stand Bruno Contrada, der Weihnachten 1992 verhaftet und wegen externer Beteiligung an einer mafiaartigen Vereinigung zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Er hatte mit dem Feind, den Mafiosi, verhandelt und Abmachungen mit ihnen getroffen.
Die Ermittlungen zu den blutigen Anschlägen in Sizilien beschränken sich aber keineswegs auf Capaci und die Via D’Amelio. Die Strategie des Terrors begann bereits Monate zuvor mit dem Mord an Salvo Lima, Andreottis Mann in Sizilien. Nach Capaci und der Via D’Amelio setzte sie sich fort mit der Ermordung Ignazio Salvos und außerhalb Siziliens mit den Bombenanschlägen von 1993: am 23. Mai in der Via Georgofili in Florenz, am 27. Juli in der Via Palestro in Mailand, am 28. Juli vor der Basilika San Giovanni in Laterano und vor der Kirche San Giorgio al Velabro in Rom. Zehn Tote und einhundertsechs Verwundete. In derselben Nacht waren im Palazzo Chigi, dem Sitz des Ministerpräsidenten, die Telefonleitungen gestört – ein mysteriöser Vorfall. In jenen Monaten fand in Italien ein weiteres halbes Dutzend Anschläge statt, die jedoch scheiterten: auf den Journalisten, Regisseur und Fernsehmoderator Maurizio Costanzo und auf das Olympiastadion, bei dem mindestens hundert Carabinieri hätten sterben sollen; Bomben und Sprengsätze wurden in Saxa Rubra und in mehreren italienischen Städten gelegt. Zwei Mafiaaussteiger erzählten von einem Plan, den Schiefen Turm von Pisa in die Luft zu sprengen und den Strand von Rimini mit HIV-verseuchten Spritzen zu übersäen.
Totò Riina und die Corleoneser galten über Jahre hinweg als alleinverantwortlich für die Blutbäder in Palermo und ganz Italien. Aber die Strategie der Spannung (der Plan, das Land mit Attentaten zu destabilisieren, um den Italienern Angst einzujagen und in der Öffentlichkeit Panik und Unsicherheit zu schaffen), die sich nicht auf Sizilien begrenzte, hatte mit der Cosa Nostra und ihrer Vorgehensweise wenig zu tun. Das vermuteten die Ermittler bereits zu Beginn ihrer Untersuchungen. »So etwas lag nicht in unserer DNA«, erklärte 2010 auch Gaspare Spatuzza, der 2008 sein Schweigen brach und mit der Justiz zusammenarbeitete. Er war ein Killer im Auftrag der Brüder Graviano aus dem palermitanischen Viertel Brancaccio gewesen, die Totò Riina treu ergeben waren.
Befragt von den Staatsanwälten in Florenz, die zu den Anschlägen auf dem italienischen Festland 1993 ermitteln, sprach Spatuzza von einer Verwicklung Silvio Berlusconis und Marcello Dell’Utris in diese Anschläge. Sie seien die »politischen Gewährsleute« der Cosa Nostra gewesen, so hätten es ihm die Bosse gesagt.
Die rechte Hand Berlusconis wurde bereits Ende 2004 in Palermo zu neun Jahren Haft wegen externer Beteiligung an einer mafiaartigen Vereinigung verurteilt. Dell’Utri pflegte eine brisante Freundschaft zu den Bossen der Cosa Nostra und wurde im Juni 2010 vom Berufungsgericht für die Zeit vor 1992 erneut zu sieben Jahren Haft verurteilt. Für die Zeit nach 1992 wurde er freigesprochen, aber die Staatsanwaltschaft Palermo geht hier in die Berufung. Unterdessen gerieten er und Berlusconi wieder ins Fadenkreuz der Ermittler in Florenz.
Unter dem Verdacht der »Mitwirkung bei Anschlägen« wurden schon im Sommer 1996 gegen Silvio Berlusconi und Marcello Dell’Utri Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Florenz eingeleitet. Sie wurden unter den Codenamen Autore 1 und Autore 2 geführt, 1998 jedoch eingestellt. Im selben Jahr 1998 nahm die Staatsanwaltschaft Caltanissetta im Zusammenhang mit dem Anschlag von Capaci Ermittlungen gegen Berlusconi und Dell’Utri auf, diesmal unter den Codenamen Alfa und Beta – und wegen des Verdachts auf »Mittäterschaft bei Anschlägen mit terroristischer Absicht«. »Wegen Brüchigkeit der Indizien« wurden zwei Jahre später auch diese Ermittlungen eingestellt.
Aus dem Beschluss zur Einstellung des Verfahrens, erlassen
am 14. November 1998 durch den Untersuchungsrichter
Giuseppe Soresina in Florenz, und aus dem Beschluss zur
Einstellung des Verfahrens, erlassen am 3. Mai 2002
durch den Untersuchungsrichter Giovan Battista Tona
in Caltanissetta
Für seine enge Verbindung zu Marcello Dell’Utri, der ab Mitte der siebziger Jahre und vielleicht schon vorher zu vielen Bossen der Cosa Nostra eine enge Beziehung pflegte, erhält Berlusconi jetzt die Quittung. Hinzu kommt, dass seit nunmehr zwanzig Jahren unklar ist, woher sein Kapital zum Aufbau seines unternehmerischen Imperiums eigentlich stammte und wie alles begann. Er selbst hat sich nie klar dazu geäußert. Die Gelegenheit hatte er am 26. November 2002, als er von den Staatsanwälten aus Palermo im Palazzo Chigi, dem Sitz des Ministerpräsidenten, vernommen wurde. Damals zog er es vor, »von seinem Recht Gebrauch zu machen, die Aussage zu verweigern«.
Seit 1993 kursieren immer wieder Gerüchte über schmutzige Gelder aus Sizilien, mit denen angeblich die Trabantenstadt Milano 2 finanziert worden sei. Ermittlungen wurden begonnen und wieder eingestellt. Aussagewillige Mafiosi tauchten auf und verschwanden wieder. Seit zwanzig Jahre schwelt der Verdacht, und bis heute ist in der Frage der Beziehungen zwischen Berlusconi und der Mafia das letzte Wort noch nicht gesprochen.
In all den Jahren ist es den Justizbehörden nicht gelungen, definitive Erkenntnisse zu gewinnen. Und Berlusconi hat nie stichhaltige Beweise vorgelegt, die ihn von dem Vorwurf der Beziehungen zur Cosa Nostra entlasten könnten.
Die Hintermänner dieser Anschläge verfolgten zwei Ziele.
Erstens wollten sie Berlusconi in diese Bombenattentate hineinziehen und machten sich dabei die Tatsache zunutze, dass sein Freund Marcello Dell’Utri mit der palermitanischen Mafia in Beziehung stand. Und zweitens sollte der Cosa Nostra nach den Anschlägen die Deckung entzogen werden. Meiner Ansicht nach wurde die sizilianische Mafia für diese Anschläge benutzt und danach ihrem Schicksal überlassen: lebenslangen Freiheitsstrafen, einem Leben hinter Gittern.
Wir kennen die Drahtzieher dieser Anschläge nicht, aber wahrscheinlich wollten sie den Führer der Partei Popolo della libertà, in der sich 2008 Forza Italia und Alleanza Nazionale unter Berlusconi zusammengeschlossen haben, in Schach halten und sich gleichzeitig der Corleoneser entledigen. Die Bosse aus Corleone waren mehr als zwanzig Jahre lang geschützt und zu Anschlägen gegen staatliche Institutionen herangezogen worden, bevor man sie als Gegner betrachtete, die man zerschlagen und liquidieren musste. Totò Riina und seine Gefolgsleute wurden ab 1993 zuerst geschützt und dann geopfert – so wie fünfzehn Jahre vorher die alteingesessenen Familien der Cosa Nostra, die Bontate und Inzerillo, zuerst geschützt und dann geopfert worden waren. Jede Epoche der italienischen Geschichte braucht ihre Mafia – bisweilen eine unauffällige und unsichtbare Mafia, bisweilen eine aggressive und gefährliche.
Mit seinem Einstieg in die Politik (der berühmten discesa in campo) 1994 geriet auch Silvio Berlusconi in dieses Räderwerk. Stets stand er im Ruch von Mafiakontakten. Stets war er eine Zielscheibe für Vorwürfe mehr oder weniger aufrichtiger, mehr oder weniger manipulierter Mafiaaussteiger. Stets stand er im Verdacht, Mafiagelder aus Palermo entgegengenommen oder mit den Bombenanschlägen zu tun gehabt zu haben, die am Vorabend der Gründung seiner Partei Forza Italia explodierten – einer Partei, die das Schicksal Italiens für immer verändern sollte.
104. Warum wurde ein Ermittlungsverfahren wiederaufgenommen, das siebzehn Jahre zuvor eingestellt worden war?
Die sizilianischen Staatsanwälte entdeckten, dass in einigen Fällen die Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt worden und damit fehlerhaft waren. Falsche Kronzeugen, die Einflüsterungen folgten, Zeugen, die sich selbst beschuldigten, manipulierte Ermittlungen, verschwundene Beweismittel, Mafiosi, die keine Anschläge verübt hatten, gleichwohl aber zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, wie es nach Paolo Borsellinos Ermordung geschah. In anderen Fällen waren die Ermittlungen nicht weit genug gegangen, sei es vorsätzlich, sei es aus Nachlässigkeit. Dann plötzlich tauchten zwei Zeugen auf, die die Karten des Spiels neu mischten: Gaspare Spatuzza, wie beschrieben ein Mafioso aus Brancaccio im Dienst der Brüder Giuseppe und Filippo Graviano, und Massimo Ciancimino, der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters von Palermo.
Ob die beiden Kronzeugen tatsächlich einen Durchbruch bei den Ermittlungen bewirken können oder ob sie im Gegenteil neue Störelemente einbringen, kann man noch nicht abschließend sagen. Für die Mafia braucht man einen langen Atem. Aber offenkundig erzählen die beiden eine glaubwürdige Geschichte, auch wenn ihre Aussagen nicht immer durch belastbare Beweise gestützt werden. Wir haben nur ihr Wort. Und es bleiben nach wie vor starke Zweifel bezüglich der Frage, warum sie erst nach so vielen Jahren mit ihrer Wahrheit herausrücken. Massimo Ciancimino steht wegen Sprengstoffbesitz in Palermo unter Hausarrest. In Caltanissetta laufen Ermittlungen gegen ihn wegen Verleumdung, weil er den Ex-Polizeichef Gianni De Gennaro als »Signor Franco« identifizierte, eine mysteriöse Figur der Geheimdienste, der mindestens zwanzig Jahre lang Kontakt zu seinem, Cianciminos, Vater hatte.
Sein Boss war Giuseppe Graviano, den er »Madre Natura« (Mutter Natur) nannte und dem er fünfundzwanzig Jahre seines Lebens opferte. Gaspare Spatuzza war ein Killer. Er verübte vierzig Morde, war an sechs Anschlägen beteiligt und wurde an dem Tag zum »Ehrenmann«, an dem »Madre Natura« ihn zum Bezirkschef (capomandamento) von Brancaccio ernannte. Im Frühsommer 2008 entschloss er sich auszupacken. Seit Spätsommer 1993 ist Spatuzza ein gottesfürchtiger Mensch – seit dem Mord an Don Pino Puglisi, an dem er als Auftragskiller beteiligt war. Im Gefängnis verbrachte er schlaflose Nächte und las Die fünf großen Weltreligionen von Emma Brunner-Traut und Dio uno e trino (»Der eine und dreifaltige Gott«) von Piero Coda. Er sagt, er habe nur einen Wunsch: »das Böse zu bannen«, das er so lange in sich trug. »Madre Natura« befahl, und er gehorchte. Und tötete.
La Repubblica, 27. November 2009
Mit seinen Aussagen zum Attentat auf Paolo Borsellino gewann der Mafiaaussteiger Spatuzza Glaubwürdigkeit. Er behauptete, er habe den Fiat 126 gestohlen, in dem die Autobombe in der Via D’Amelio versteckt wurde. Damit bezichtigte er Vincenzo Scarantino der Lüge. Scarantino hatte siebzehn Jahre zuvor ausgesagt, er habe das Auto gestohlen und mit dem Sprengsatz in die Via D’Amelio gefahren.
Die Geschichte ist aus mehreren Gründen verblüffend. Spatuzza und Scarantino schildern die Vorbereitung des Anschlags in der Via D’Amelio auf identische Weise, nur dass jeder von ihnen behauptet, er selbst sei beteiligt gewesen. Die ermittelnden Staatsanwälte von Caltanissetta suchten ein Jahr lang nach Belegen für die beiden Versionen und befanden schließlich Spatuzza für glaubwürdig. Jetzt untersuchen sie, wer den falschen Kronzeugen Scarantino »aufgebaut« und der Polizei von Palermo in die Hände gespielt hat, um die Ermittler von Anfang an in die Irre zu führen. Scarantino nannte zwar der Polizei ein paar Namen, ließ aber die Suche nach Borsellinos Mördern letztlich ins Leere laufen.
Nach den Enthüllungen Spatuzzas muss der Prozess zum Anschlag in der Via D’Amelio, in dem fünf Angeklagte aus der zweiten Reihe der Cosa Nostra rechtskräftig verurteilt wurden, teilweise neu aufgerollt werden.
Aber Spatuzza äußerte sich nicht nur zum Attentat auf Borsellino, sondern auch zu den Brüdern Graviano und ihren Machenschaften in Mailand. Kurz vor dem Anschlag, den Spatuzza im Januar 1994 auf das Olympiastadion in Rom verüben sollte, vertraute ihm sein Boss Giuseppe Graviano an, »alles sei zu einem guten Ende gekommen […], wir hätten bekommen, was wir wollten. Dann nannte er den Namen Berlusconi und bestätigte mir auf meine Frage, es sei der von Canale 5; es gebe da auch einen Landsmann von uns, und er nannte mir den Namen Dell’Utri. Und dann sagte er: ›Jetzt haben wir das Land in unserer Hand.‹«
Jetzt wurden die Ermittlungen zu den Anschlägen auf dem italienischen Festland wiederaufgenommen, ebenso die Untersuchung des tödlichen Anschlags auf Paolo Borsellino. Sagt Spatuzza die Wahrheit? Und falls er ganz oder teilweise die Wahrheit sagt – hat er sich aus freien Stücken entschlossen zu reden, oder wurde er von den Brüdern Graviano geschickt?
Die zweite Schlüsselfigur in dieser Angelegenheit trägt den gewichtigen Namen Ciancimino. Massimo Ciancimino ist der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters von Palermo, Don Vito Ciancimino, eines Mafioso aus Corleone, der bis zu seinem Tod am 19. November 2002 ein Hauptakteur der sizilianischen Politik war.
Um ihn zu bestrafen, kettete ihn sein Vater an und sperrte ihn allein zu Hause ein, oft stundenlang. Massimo Ciancimino, für seine Freunde Massimuccio, war ein rebellisches Kind. Die Erinnerungen des jüngsten Kindes des zur Mafia gehörenden Bürgermeisters von Palermo, des Lebemanns und Draufgängers Massimo, der die Dolce vita, Luxus und den Jetset, Yachten, Ferraris, Villen und Geld liebte, bergen die letzten Geheimnisse Siziliens. Massimo Ciancimino hat die Geheimnisse seines Vaters bisher für sich behalten. Jetzt lässt er Palermo erzittern.
La Repubblica, 13. Januar 2010
Mit seinen Aussagen, die er Mitte 2008 in Palermo gegenüber den Staatsanwälten Antonio Ingroia und Antonino Di Matteo machte, löste er in den Justizbehörden ein wahres Erdbeben aus. Ingroia und Di Matteo ermitteln zu den Verhandlungen zwischen der Cosa Nostra und dem Staatsapparat, die schon vor den Anschlägen begonnen hatten und danach weitergingen.
Massimo Ciancimino enthüllte die Hintergründe einer Reihe von Absprachen zwischen den Corleonesern und Beamten der Carabinieri-Sondereinheit ROS (Raggruppamento operativo speciale), insbesondere General Mario Mori und Carabinieri-Hauptmann Giuseppe De Donno. Er erzählte von Totò Riinas mysteriöser Festnahme, die angeblich von Bernardo Provenzano eingefädelt worden war. Er sprach über die Kontakte seines Vaters zu den Geheimdiensten, die dieser selbst dann noch aufrechterhielt, als er unter Hausarrest stand. Und schließlich übergab er den Staatsanwälten von Palermo das berühmte »Papello«, das Blatt mit den Forderungen, die Totò Riina über General Mori (der dies jedoch stets bestritt) an geheimnisvolle Empfänger übermittelte.
Um den Attentaten ein Ende zu setzen und weitere Opfer zu verhindern, soll Totò Riina den italienischen Staat mit einem Forderungskatalog erpresst haben – auf einem weißen Blatt Papier mit wenigen, in Blockschrift geschriebenen Zeilen: insgesamt zwölf Forderungen, die die Mafia nach der Ermordung Falcones und vor der Ermordung Borsellinos erhob (also zwischen dem 23. Mai und dem 19. Juli 1992).
Das Papello ist (neben den berühmt-berüchtigten pizzini, den »Zettelchen« Bernardo Provenzanos) eines der ersten Beispiele für »schriftliche« Dokumente einer Mafia, die über Generationen hinweg ihr Wissen nur mündlich weitergegeben hatte. Auch hierin zeigt sich, wie sehr sich die Cosa Nostra mittlerweile verändert hatte.
-
Revision des Urteils im Maxi-Prozess
-
Aufhebung des Gesetzesdekrets 41 b
-
Revision des Rognoni-La Torre-Gesetzes
-
Reform der Kronzeugenregelung
-
Vergünstigungen für Aussteiger – Rote Brigaden – auch für Verurteilte wegen Mitgliedschaft in der Mafia
-
Hausarrest für über Siebzigjährige
-
Schließung der Hochsicherheitsgefängnisse
-
Inhaftierung in der Nähe des Wohnsitzes der Familie
-
Keine Zensur der Korrespondenz mit den Angehörigen
-
Keine Beschlagnahme des Familienvermögens
-
Verhaftung nur auf frischer Tat
-
Aufhebung der Benzinsteuer wie in Aosta
Dokument der trattativa, der Verhandlungen zwischen der
Mafia und dem Staat, das Massimo Ciancimino
am 29. Oktober 2009 dem Oberstaatsanwalt von Palermo,
Antonio Ingroia, übergab
Diese zwölf Punkte, die in nuce die Geschichte des Sommers 1992 in Sizilien erzählen, enthalten die absurden Forderungen Totò Riinas und zeigen, dass es für Teile des Staates ganz normal war, mit der Mafia zu verhandeln. All das muss vor dem Hintergrund der Ermordung Paolo Borsellinos gesehen werden. Die Ermittlungshypothese ist klar: Der Staatsanwalt hatte entdeckt, dass es solche Verhandlungen gab, und musste sterben, weil man ihn als ein Hindernis auf dem Weg zu diesen Abkommen betrachtete.
Massimo Ciancimino legte auch die Beziehungen seines Vaters zu »Ingenieur Lo Verde« alias Bernardo Provenzano offen, dem Boss, der zwischen September 1963 und dem 11. April 2006 im Untergrund lebte. Vito Ciancimino und Provenzano trafen sich regelmäßig in Sizilien oder auch in Rom, in der schönen Wohnung an der Spanischen Treppe, wo der Ex-Bürgermeister seine letzten Lebensjahre verbrachte. Die Aussagen seines Sohnes sind auch für den Prozess gegen General Mario Mori, den ehemaligen stellvertretenden Kommandanten der Carabinieri-Sondereinheit und späteren Chef des Inlandsgeheimdienstes SISDE in Palermo, relevant. Er wird beschuldigt, den untergetauchten Bernardo Provenzano gedeckt zu haben. Der General, der schon vorher im Verdacht stand, am 15. Januar 1993 das Versteck Riinas nicht durchsucht zu haben (aus diesem Grund wurde das Hauptverfahren wegen Begünstigung gegen ihn eröffnet, er wurde aber freigesprochen), steht auch wegen Begünstigung vor Gericht, weil er am 31. Oktober 1995 Provenzano in einem Landhaus in Mezzojuso nicht verhaften ließ. Auch im Zusammenhang mit den Verhandlungen zwischen Mafia und Staat wird gegen Mori ermittelt.
105. Nicht durchsuchte Verstecke und jahrelange Unauffindbarkeit: Wer hat die Mafiabosse gedeckt – und warum?
Die Abmachungen zwischen der Cosa Nostra und den Apparaten reichen weit in die Vergangenheit zurück, in die Zeit der Landung der alliierten Truppen in Sizilien. Aber was nach den Attentaten 1992 und 1993 geschah, liegt bis heute im Dunkeln. Riinas Versteck zum Beispiel. Es wurde unter den Augen von Oberstaatsanwälten, Präfekten, Carabinieri-Generälen, Polizeichefs und Richtern von vier Mafiosi komplett ausgeräumt. Am 15. Januar 1993, dem Tag, an dem Totò Riina ins Gefängnis kam, vollzog sich in Palermo das größte Täuschungsmanöver, das es im Kampf der Justizbehörden gegen die Cosa Nostra je gegeben hatte. Die Chronik der Ereignisse spricht eine deutliche Sprache.
Wenige Minuten nach Riinas Verhaftung auf dem Viale Lazio, ein paar hundert Meter von dem Haus entfernt, wo er sich mit Frau und Kindern verschanzt hatte, begannen die beiden Carabinieri-Offiziere Domenico Minicucci und Andrea Brancadore und der mit den Ermittlungen beauftragte Staatsanwalt Luigi Patronaggio mit der Durchsuchung der Villa, die Riina als Versteck gedient hatte. Diese Durchsuchung wurde auf Befehl General Moris gestoppt. Der General und Gian Carlo Caselli, der kurz zuvor die Leitung der Staatsanwaltschaft Palermo übernommen hatte, hatten beschlossen, die Tatortbesichtigung zu verschieben. Es sei besser, die Villa zu überwachen, um weitere Bosse festnehmen zu können. Neunzehn Tage lang versicherte der General Caselli und den anderen Staatsanwälten, das Haus werde »lückenlos und rund um die Uhr überwacht«. In Wirklichkeit zogen Moris Leute nur wenige Stunden nach Riinas Festnahme ab – und damit konnten Tage später einige Bosse ungestört ins Haus eindringen und es komplett ausräumen. Es besteht der Verdacht, dass irgendjemand Totò Riinas Geheimarchiv beiseitegeschafft hat.
Sie haben mit dem Staubsauger alle Spuren verwischt, sie haben Kleider, Dokumente und die wichtigsten Sachen fortgeschafft. Sie haben die Wände gestrichen und den Tresor aus der Wand geholt und gleichfalls fortgeschafft und das Loch wieder zugemauert, so dass nichts mehr zu sehen war. Es wurde beschlossen, Riinas Angehörige aus dem Haus wegzubringen und alles zu vernichten, was auf die Anwesenheit Onkel Totòs schließen ließ […]. Es wurden Wände niedergerissen und neue hochgezogen.
Aussage des Mafioso Gioacchino La Barbera im Prozess
zur nicht durchgeführten Durchsuchung von Totò Riinas
Versteck; Hochsicherheitsgerichtssaal des römischen
Gefängnisses Rebibbia, 18. November 2005
In einem Tresor hatte Riina Geld, Dokumente, Notizen, Abrechnungen und notarielle Unterlagen aufbewahrt. Ich kenne zwar nicht den genauen Inhalt, weiß aber, dass es zu der Zeit immer um die Vergabe öffentlicher Aufträge und um Drogenhandel ging. Sie wollten alle Spuren beseitigen, die auf ihn hindeuteten.
Aussage des Mafioso Giovanni Brusca im Prozess zur nicht
durchgeführten Durchsuchung von Totò Riinas Versteck;
Hochsicherheitsgerichtssaal des römischen Gefängnisses
Rebibbia, 18. November 2005
Warum wurde das Haus nicht durchsucht, in dem sich der Boss der Bosse der Cosa Nostra versteckt hielt? »Ein Missverständnis«, rechtfertigte sich General Mori. Es war eine Abmachung, sagen heute, Jahre später, die Staatsanwälte von Palermo, die zu den Geheimverhandlungen zwischen Mafia und Staat ermitteln. Riinas Festnahme im Tausch gegen die Unterlagen in seinem Versteck. Und im Tausch gegen die Unantastbarkeit des untergetauchten Bernardo Provenzano.
Als das »Missverständnis« ans Licht kam, schrieb Staatsanwalt Caselli einen Protestbrief an den Generalkommandeur der Carabinieri. Aber Mori wurde für sein Handeln nie zur Rechenschaft gezogen. Es bedurfte erst mehrerer Zeitungsartikel und eines Kronzeugen, bevor Ermittlungen aufgenommen wurden. Viele wandten den Blick auch diesmal ab. Es lag auf der Hand, dass die Festnahme Totò Riinas ein Geheimnis barg. Aber die offizielle Antimafia, auch innerhalb der Justiz, ignorierte dieses Geheimnis lange Zeit.
Der Verzicht auf die Durchsuchung der Villa des Bosses wurde später mit dem Verzicht auf die Festnahme Bernardo Provenzanos in Verbindung gebracht. Dies war Phase zwei der Verhandlungen zwischen der Mafia und dem Staat. Die erste Phase waren die Verhandlungen mit Totò Riina zur Beendigung der blutigen Anschläge gewesen. In der zweiten Phase (nach der von Provenzano eingefädelten Festnahme Riinas) ging es darum, mit einer Cosa Nostra ohne blutige Anschläge die Ordnung in Sizilien wiederherzustellen. Dies ist die Ermittlungshypothese, mit der die Staatsanwälte von Palermo seit mehr als zwei Jahren arbeiten.
Zunächst schien es, als seien die einzigen Akteure dieses Plans ein paar Offiziere der Carabinieri-Sondereinheit ROS unter Federführung von General Mori und Hauptmann De Donno. In Wahrheit waren sehr viel mehr Leute aus den Apparaten an diesen Verhandlungen beteiligt – Agenten der Geheimdienste, die jeden Schritt der Cosa Nostra kannten und vor und während der Anschläge Kontakt zu den Bossen von Corleone hielten. Heute ist es nicht gewagt, eine andere Hypothese zu äußern: dass nicht die Carabinieri-Sondereinheit die Operation zur Aushebung des Verstecks von Totò Riina leitete, sondern dass auch sie, die Carabinieri des ROS, entgegen ihrer eigenen offiziellen Darstellung nur Befehlsempfänger waren und höhere Stellen im Sinne einer wie auch immer gearteten Staatsraison das Kommando führten.
Ermittelt wird auch zum Verzicht auf die Festnahme Bernardo Provenzanos. Der Boss von Corleone ging erst dann ins Netz, als die Fahnder – erstmals – beschlossen, für ihre Ermittlungen keine Telefon- und akustische Raumüberwachung einzusetzen, da sie in den entsprechenden Telecom-Einrichtungen undichte Stellen vermuteten. Der stellvertretende Polizeipräsident Renato Cortese konnte den Boss erst nach einer Sichtung mit dem Fernglas in aller Heimlichkeit festnehmen, ohne dass Informationen über diese Operation über den engsten Kreis seiner Einsatztruppe hinausdrangen. Das ist ein weiteres großes Rätsel.
Massimo Ciancimino, der Sohn des Ex-Bürgermeisters von Palermo, behauptet, neben seinem Vater habe auch Senator Marcello Dell’Utri Kontakt zu dem untergetauchten Provenzano gehabt; und beim Bau der Trabantenstadt Milano 2 seien Gelder der Cosa Nostra eingesetzt worden. Berlusconis Partei Forza Italia, so Ciancimino weiter, sei das Ergebnis von Verhandlungen zwischen der Mafia und dem Staat. Eine ganze Lawine von Enthüllungen. Alles wahr? Alles falsch? Aus den Tiefen Palermos tauchen die Geister der Vergangenheit auf.
Auch das Rätsel einer anonymen Botschaft ist in Palermo noch nach all den Jahren ungelöst. Bis heute unbekannt ist der Verfasser eines achtseitigen Briefes, der in der Zeit zwischen der Ermordung Falcones und der Borsellinos geschrieben wurde. Darin taucht erstmals das Wort Vereinbarung (accordo) auf. Und erstmals wird das Szenario von Verhandlungen zwischen Mafia und Staat beschrieben. Ein papello im wahrsten Sinn des Wortes, das älter ist als der Brief Totò Riinas.
Der anonyme Brief wurde an neununddreißig Adressaten geschickt: an den Quirinalspalast, den Sitz des Staatspräsidenten, ebenso wie an die Chefredakteure italienischer Tageszeitungen, an einige Oberstaatsanwälte und an den Polizeichef. Keiner nahm ihn wirklich ernst. Heute wird der Brief in die Ermittlungen zu den Anschlägen einbezogen und entsprechend den Erkenntnissen bewertet, die in den letzten Monaten über den Pakt zwischen den Corleonesern und den Polizeiapparaten gewonnen wurden. Auf diesen acht Seiten ist bereits vieles festgehalten: das Motiv für die Ermordung Salvo Limas und auch die Geschichte, wie der Anschlag von Capaci Giulio Andreottis Aufstieg in das Amt des Staatspräsidenten vereitelte.
Aus der Zeit der blutigen Anschläge in Sizilien gibt es viele solche Spuren: Telefonate der Bosse mit Geheimdienstbehörden; Briefe mit den Telefonnummern von Leitern der Sicherheitsapparate, die an den Schauplätzen der Verbrechen gefunden wurden; Kontakte von Experten zur Abwehr gegen Lauschangriffe mit mutmaßlichen Attentätern; das rote Notizbuch, in dem Paolo Borsellino wichtige Informationen und Termine festhielt und das kaum eine Stunde nach dem Anschlag spurlos verschwand.
Protagonist des letzten Kapitels des sizilianischen Intrigengeflechts ist Totò Riina. Im Juli 2009 erzählte er erstmals von den Anschlägen der Jahre 1992 und 1993. Zur Ermordung Borsellinos bemerkte der Boss der Bosse: »Den haben sie umgebracht.« Er meinte die Leute aus den Apparaten. Und dann fügte er hinzu: »Schaut nicht immer nur auf mich, schaut auch bei euch selber.« Das hatte schon Paolo Borsellino prophezeit: »Sie werden mich töten, aber es wird keine Rache der Mafia sein, die Mafia rächt sich nicht. Vielleicht werden es Mafiosi sein, die mich physisch töten, aber meinen Tod gewollt werden andere haben.«
Sizilien war schon immer Schauplatz tödlicher Anschläge. Schauplatz von Blutbädern der Mafia. Blutbädern des Staates wie jenem von Portella della Ginestra. Blutbädern um Brot. Blutbädern um Land. Blutbädern um Wasser. Und schließlich auch von Blutbädern, die erstmals die terroristische Ader der corleonesischen »Familien« offenbarten. Von Blutbädern mit einem sizilianischen und einem italienischen Auftraggeber.