1.
Mit einem Seufzen stellte Michelle Bryant den Wecker ab. Genüsslich streckte sie sich, dann verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf und dachte an die Party, die am vergangenen Abend in der Englischen Botschaft stattgefunden hatte. Zum Glück war es Sonntag und sie musste nicht arbeiten. Bis in den Morgen hinein hatte sie getanzt. Meist mit Kevin Ormond, einem jungen Engländer aus einflussreicher Familie, der für einige Tage geschäftlich in Athen zu tun hatte.
Ein verträumtes Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau, als sie daran dachte, was für zauberhafte Komplimente Kevin ihr gemacht hatte. Selten zuvor hatte sie einen so attraktiven Mann kennen gelernt. Sie schätzte ihn auf etwa dreißig. Er besaß ein schmales, markantes Gesicht mit glatten, blonden Haaren und blauen Augen. Seine Oberlippe zierte ein kleiner Bart.
Dabei mache ich mir doch sonst nichts aus Männern mit Bärten, dachte Michelle und stand auf. Es war kurz vor zehn. Sie hatte sich mit Kevin Ormond verabredet, um ihm etwas die Gegend zu zeigen. Es wurde allerhöchste Zeit, zu duschen und sich anzuziehen.
Die junge Frau warf einen Blick in den Spiegel und verzog das Gesicht. Sie würde reichlich kaltes Wasser brauchen, um die Spuren der vergangenen Nacht zu beseitigen. Hoffentlich erwartete Kevin nicht, Aphrodite persönlich auszuführen. Oder doch? Immerhin hatte er sie nach dem fünften Tanz mit dieser Göttin verglichen.
Michelle hatte sich gerade eine Tasse Schnellkaffee aufgebrüht, als das Telefon klingelte. Hastig hob sie den Hörer ab. Ob es Kevin war? Vielleicht wollte er sich überzeugen, dass sie seine Einladung auch ernstgenommen hatte.
"Ach, du bist es", bemerkte sie enttäuscht, als sich ihre langjährige Freundin meldete. Wie sie, arbeitete auch Nancy Taylor an der Englischen Botschaft.
"Das klingt nicht gerade begeistert", bemerkte die junge Frau spöttisch. "Hast du etwa einen anderen Anruf erwartet? Wollte sich Mister Ormond bei dir melden?"
Michelle spürte, wie sie errötete. Zum Glück konnte es Nancy nicht sehen. "Kevin hat mich zu einem Ausflug eingeladen", erwiderte sie. "Er wird mich gegen halb zwölf abholen."
"Kevin?" Nancy lachte. "Ihr nennt einander also schon beim Vornamen."
"Es hat sich so ergeben." Unwillkürlich berührte Michelle ihre rechte Wange. Zum Abschied hatte Kevin sie geküsst. Nein, ein Kuss war es eigentlich nicht gewesen. Seine Lippen hatten nur leicht ihre Wange gestreift.
"Sei mir nicht böse, Michelle, aber dein Mister Ormond gefällt mir nicht, auch wenn er der zweite Sohn eines Lords ist. An deiner Stelle würde ich ihm nicht über den Weg trauen. Auf mich wirkt er wie ein Großwildjäger."
Michelle lachte auf. "Und für was hältst du mich, Nancy?“, erkundigte sie sich. "Für einen Löwen, einen Panther oder gar ein Nilpferd?"
"Für ein Mädchen, das es nicht nötig hat, auf den erstbesten Mann hereinzufallen."
"Glaub mir, Nancy, ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen."
"Jetzt bist du ärgerlich."
"Nein, nur etwas enttäuscht, weil du den Stab über einen Menschen brichst, den du nicht einmal richtig kennst." Michelle warf einen Blick zur Uhr. "Für mich wird es Zeit. Wir sehen uns ja morgen im Büro."
"Viel Spaß, Michelle. Bitte, sei mir nicht böse. Ich meine es nur gut."
"Ich weiß, Nancy", erwiderte die junge Frau. "Aber jetzt muss ich mich beeilen. Ich bin noch nicht einmal gekämmt."
"Dann bis morgen."
"So long." Michelle legte auf. Nachdenklich trank sie ihren Kaffee. Nancy war fünfundzwanzig, nur ein Jahr älter als sie, besaß jedoch was Männer bedarf, bedeutend mehr Erfahrung. Ihre Freundin verliebte sich schnell, doch meist folgte bereits wenige Tage später die Ernüchterung. Zur Zeit schwärmte Nancy von dem jungen Griechen, der das kleine Restaurant betrieb, in dem sie oft zu Mittag aßen.
Michelle stellte die leere Tasse in den Ausguss, machte noch rasch ihr Bett und kehrte ins Bad zurück, um etwas Make-up aufzulegen und ihre schulterlangen, schwarzen Haare zu kämmen. Sie probierte einige Frisuren aus, bevor sie sich entschied, die Haare nur einfach im Nacken zusammenzustecken.
Es klingelte. Michelle zählte bis zehn, dann ging sie langsam zur Wohnungstür und meldete sich über die Gegensprechanlage.
"Darf ich nach oben kommen, Michelle?“, fragte Kevin Ormond.
"Gerne", erwiderte sie und öffnete die Tür.
Kevin Ormond brauchte keine zwei Minuten bis in den fünften Stock. Obwohl es einen Aufzug gab, hatte er die Treppe benutzt und war nicht einmal außer Atem. "Fantastisch sehen Sie aus, Michelle", meinte er bewundernd, als sie einander die Hand reichten. Er musterte sie mit einem beinahe unverschämten Blick, dann reichte er ihr einen Strauß hellroter Rosen.
"Danke." Michelle wurde sich nicht bewusst, wie verräterisch ihre dunklen Augen glänzten. "Bitte!" Sie wies in ihre kleine Wohnung. "Ich bin gleich soweit", versprach sie. "Ich möchte nur erst die Rosen ins Wasser stellen. Es wäre schade, wenn sie verdorren."
Kevin Ormond sah sich in Ruhe um. "Wohnen Sie hier völlig alleine?“, erkundigte er sich, als sie mit den Rosen ins Wohnzimmer trat. Er stand vor der offenen Balkontür. Von hier aus ging der Blick über die Dächer der Stadt bis zur Akropolis.
"Ja", erwiderte sie. "Ich habe die Wohnung vor einem Jahr gekauft. Sie gefiel mir auf Anhieb. Es war nicht leicht, mich gegen die anderen drei Bewerber durchzusetzen."
"War das nach dem Tod Ihrer Eltern?"
Michelle zuckte zusammen. "Was wissen Sie davon, Kevin?" Sie konnte sich nicht erinnern, mit ihm über ihre Eltern gesprochen zu haben.
"Tut mir leid. Ich wollte keine Wunden aufreißen." Der junge Mann berührte sanft ihre Schulter. "Einer der anderen Partygäste, ein Mister Cook, erwähnte Ihre Eltern. Er sprach davon, dass sie bei einem Schiffsunglück vor der griechischen Küste ums Leben gekommen sind."
"Schon gut." Michelle atmete tief durch. "Es passierte vor achtzehn Monaten", erzählte sie. "Meine Eltern machten einen Segelausflug zu den einzelnen Inseln. Auf der Rückfahrt stieß ihr Boot mit einer Fährte zusammen. Es gab keine Rettung mehr für sie. Ihre Leichen wurden drei Tage später an Land gespült."
"Es muss furchtbar gewesen sein." Kevin legte den Arm um sie.
Unbewusst schmiegte sich Michelle an den jungen Mann. "An und für sich hätte ich meine Eltern auf den Segelausflug begleiten sollen, aber ich war in der Botschaft unabkömmlich. Das hat mir das Leben gerettet." Sie straffte die Schultern. "Wir können gehen", meinte sie.
"Auf was warten wir dann noch?“, scherzte er. "Die weite Welt erwartet uns."
"Wohin möchten Sie mich überhaupt entführen?“, fragte Michelle, während sie die Treppen hinunterstiegen.
"Wenn ich schon einmal in Griechenland bin, dann möchte ich unbedingt Delphi sehen", sagte Kevin Ormond. Er zwinkerte ihr zu. "Wer weiß, vielleicht wird das Orakel zu mir sprechen. Waren Sie schon in Delphi? Ganz gewiss sogar. Schließlich sind Sie in hier aufgewachsen."
"Nicht nur in Griechenland", stellte die junge Frau richtig. "Als Diplomaten waren meine Eltern selten länger als drei, vier Jahre an einem Ort. Ich habe in Frankreich gelebt, in Deutschland, in Italien ..." Sie hob die Schultern. "In Griechenland bin ich allerdings schon seit neun Jahren."
"Kennen Sie Ihre Heimat überhaupt?"
"Wir sind sehr oft in England gewesen, wenn auch meist nur für zwei, drei Wochen." Michelle dachte daran, dass Nancy und sie für das nächste Jahr einen langen Trip durch England planten. Sie wollten sich dafür zwei Monate Urlaub nehmen.
Auf dem Parkplatz vor dem Haus stand ein rotes Cabriolet. Kevin hatte es gleich nach seiner Ankunft in Athen gemietet. Er hielt für seine Begleiterin den Wagenschlag auf und half ihr beim Anschnallen. "Ich würde vorschlagen, dass wir uns erst einmal ein nettes Restaurant suchen, in dem man gut isst", sagte er und setzte sich neben sie.
"Wir sollten damit noch etwas warten", meinte Michelle. "Nach Delphi ist es ziemlich weit. Wir sollten uns unterwegs eine Kleinigkeit kaufen und erst heute Abend essen gehen."
"Gut, einverstanden." Kevin wies auf die Straße hinaus. "Und nun walten Sie bitte Ihres Amtes und lotsen mich aus der Stadt. Ich bin zwar schon drei Tage in Athen, aber die Straßen erscheinen mir immer noch wie ein unübersichtliches Wirrwarr."
"Machen Sie sich nichts daraus", erwiderte Michelle lachend. "Selbst mein Vater hat Monate gebraucht, bis er sich hier ausgekannt hat." Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und wies Kevin an, nach rechts abzubiegen.
2.
Es dunkelte bereits, als Michelle und Kevin nach Athen zurückkehrten. Hinter ihnen lagen herrliche Stunden in den Bergen. Der junge Mann hatte zum Vergnügen seiner Begleiterin ausprobiert, ob ihm das Orakel von Delphi etwas zu sagen hatte, aber es hatte geschwiegen. Von der Ruinenstätte waren sie zur Kastalischen Quelle gewandert und dann weiter zum Tempel der Athena. Michelle hatte Kevin viel von der Geschichte Delphis und dessen Bedeutung erzählen können. Es gefiel ihr, dass er sich für alles interessierte.
Sie stellten den Wagen in der Nähe des Alten Schlosses ab und gingen zu einem nahe Restaurant, um erst einmal zu Abend zu essen. Michelle genoss jede Sekunde ihres Zusammenseins mit Kevin. Sie war überzeugt, dass sich Nancy irrte. Der junge Mann hatte nichts von einem Großwildjäger an sich. Sie sprachen viel von ihren Eltern und den Ländern, die sie mit ihnen gesehen hatte. Er gestand ihr, wie sehr er es sich als Kind gewünscht hatte, die ganze Welt kennen zu lernen.
"Es war durchaus nicht mein Lebensziel, Agrarwirtschaft zu studieren, um später unseren Besitz zu verwalten", sagte er, als sie nach dem Essen zur Akropolis aufstiegen. "Mein älterer Bruder hätte einmal Ormond Hall mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen übernehmen sollen."
"Was hindert ihn daran?“, fragte Michelle.
"Kommen Sie." Kevin nahm ihre Hand und half ihr über eine etwas schwierige Wegstrecke hinweg. "Was Edward daran hindert?" Er seufzte auf. "Mein Bruder ist vor Jahren von seinem Pferd in eine Schlucht hinuntergestoßen worden. Von diesem Unfall hat er sich nie wieder richtig erholt."
Michelle sah ihren Begleiter fassungslos an. "Wie konnte das geschehen?"
"Edward war abgestiegen. Er stand am Rand der Schlucht und blickte in die Tiefe. Aus irgendeinem Grund scheute das Pferd. Es bäumte sich auf. Seine Vorderbeine trafen ihn im Rücken. Edward verlor das Gleichgewicht und ... Es war furchtbar. Ich stand nur wenige Meter entfernt, als es passierte. Noch heute sehe ich manchmal in Alpträumen meinen Bruder stürzen."
Michelles Taktgefühl ließ es nicht zu, sich danach zu erkundigen, welche Folgen dieser Sturz für Edward Ormond gehabt hatte. Sie machte Kevin auf zwei Verteidigungstürme aufmerksam, dann traten sie durch das Beuletor und stiegen die zerstörte Marmortreppe zu den Propyläen hinauf.
"Ich habe auch noch einen jüngeren Bruder. Thomas ist vor wenigen Wochen vierzehn geworden", fuhr der junge Mann fort. "Er wurde vier Jahre nach Edwards Unfall geboren. Meine Eltern hatten sich ein Mädchen gewünscht. Es sollte nicht sein."
"Erzählen Sie mir von Ihren Eltern", bat Michelle.
"Da gibt es nicht viel zu erzählen", meinte Kevin. Er legte den Arm um sie. "Sie sollten uns, wenn Sie wieder in England sind, besuchen", schlug er vor. "Sie würden von Ormond Hall begeistert sein." Er führte die junge Frau zu einer halbhohen Mauer, von der aus sie auf das erleuchtete Athen hinunterblicken konnten. "Ormond Hall liegt in den walisischen Bergen", fügte er hinzu. "Als Kind bin ich stundenlang durch die Umgebung gestreift. Jeder Baum, jeder Stein sind mir vertraut. Es ..." Er lachte auf. "Ist es nicht irrsinnig, auf der Akropolis von England zu sprechen?"
Michelle hob den Kopf. Hoch über ihnen stand der Mond. Sein Licht tauchte die Ruinen der Tempel und Heiligen Stätten in flüssiges Silber. Ein geheimnisvolles Raunen schien von den verwitterten Mauern auszugehen und unwillkürlich musste sie an die Menschen denken, die sich früher hier versammelt hatten. Fast glaubte sie ihre Stimmen zu hören.
"Sie scheinen auch den Zauber zu spüren, der über allem liegt", meinte Kevin. "Ich komme mir wie in einer anderen Welt vor. Obwohl wir die Lichter der Stadt sehen können, erscheint sie mir unendlich fern.
"Es ist, als würden wir durch die Vergangenheit wandern", gab Michelle zu. "Ich besuche gerne am Abend die Akropolis. Tagsüber kann sie mir nur wenig geben. Da stolpert man auf Schritt und Tritt über Touristen. Wir ..." Sie sah ihn vergnügt an. "Im Grunde sind wir auch nichts anderes als Touristen."
Er schüttelte den Kopf. "Irrtum, Touristen sind immer nur die anderen", behauptete er amüsiert.
Michelle dachte über seine Worte nach. "Stimmt", gab sie zu.
Aneinandergeschmiegt gingen sie weiter. Michelle sprach von der Geschichte Athens. Sie erzählte, wie sie mit ihrem Vater oft stundenlang durch die antiken Stätten Griechenlands gewandert war und wie er versucht hatte, ihre Augen auch für die kleinen Dinge zu schulen, die von anderen leicht übersehen wurden.
"Sie müssen ihn sehr geliebt haben", bemerkte Kevin.
"Ja, ich habe meinen Vater sehr geliebt", gab die junge Frau zu und spürte wieder die Trauer, die sie nach dem Tod ihrer Eltern empfunden hatte. "Aber ich habe auch meine Mutter geliebt, wenn auch auf andere Art. Mit meinem Vater konnte man sozusagen Pferde stehlen. Die Abenteuerlust habe ich bestimmt von ihm geerbt. Meine Mutter war der letzte Spross einer sehr alten Londoner Familie, in der noch Wert auf Tradition gelegt wurde. Sie versuchte vergeblich, mich zur Dame zu erziehen."
"Also haben Sie ihr das Leben schwer gemacht", scherzte Kevin.
"Ich muss es leider zugeben." Michelle lachte. "Wie oft drohte sie mir damit, mich nach England ins Internat zu schicken, aber ich wusste genau, dass sie es nicht fertig bringen würde. Sie liebte mich über alles. Als ich noch ein kleines Mädchen war, ließ sie mich kaum aus den Augen." Sie dachte an die halbe Münze, die ihr ihre Mutter an ihrem sechsten Geburtstag gegeben hatte. 'Sie wird dich auf all deinen Wegen behüten und beschützen', hatte sie zu ihr gesagt. Jahrelang hatte sie die halbe Münze an einem Goldkettchen um den Hals getragen. Erst mit achtzehn hatte sie sie abgelegt und in die Geldbörse gesteckt.
Sie hatten den Párthenon erreicht, einen Mitte des vierten Jahrhunderts errichteten Tempel. Selbst als Ruine wirkte das Bauwerk noch unvergleichlich schön. Trotz seiner Größe strahlte es eine Harmonie aus, die auch Kevin berührte. Er ließ seinen Arm sinken und machte zwei Schritte auf die riesigen Säulen zu, die den Unterbau umgaben.
Michelle folgte ihm. Sie führte ihn durch die Säulenreihen hindurch in das Innere des Párthenons. Sie erzählte, dass das dieses wundervolle Bauwerk zu Ehren der Göttin Athena errichtet worden war und sprach von den Fresken, vergoldeten Schilden, der Kassettendecke und den Marmorfußböden, die es früher hier gegeben hatte.
"Es gehört einige Phantasie dazu, sich diesen Tempel in seinem früheren Glanz vorzustellen", sagte sie. "Im Mittelschiff stand eine etwa zwölf Meter hohe Statue der Athena Parthenos. Sie soll ganz mit gehämmerten Goldblech und Elfenbein bedeckt gewesen sein. In den Museen gibt es Kopien von ihr. Man nimmt an, dass die Statue im fünften Jahrhundert nach Konstantinopel verschleppt wurde. Sie ..." Die junge Frau spürte, dass ihr Kevin nicht mehr zuhörte. "Was haben Sie?“, fragte sie. Hier im Inneren des Tempels war es zu dunkel, als dass sie mehr als die Konturen seines Gesichtes erkennen konnte.
"Was ich habe?“, wiederholte er leise. Zärtlich ließ er die Fingerspitzen über ihr Gesicht gleiten. "Ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt, Michelle", bekannte er und griff nach ihrer Hand. "Der heutige Tag gehört zu den schönsten meines Lebens, doch ich wusste bereits gestern Abend, dass ich rettungslos verloren bin."
Michelles spürte, wie ihr Herz schnell zu schlagen begann. Sie gestand sich ein, dass sie seit Stunden auf diese Worte gewartet hatte, wenngleich sie sich sagte, dass das alles viel zu schnell ging. Konnte das, was sie für Kevin empfand, wirklich Liebe sein? Nie zuvor hatte sie sich so zu einem Mann hingezogen gefühlt. Mit jeder Faser ihres Herzens sehnte sie sich danach, dass er sie in die Arme nahm und küsste.
"Warum sagst du nichts?“, fragte er und berührte sanft ihre Lippen. "Fühlst du wie ich? Weißt auch du, dass wir wie füreinander geschaffen sind?"
"Wir sollten uns Zeit lassen", flüsterte die junge Frau benommen.
"Zeit?" Kevin lachte leise auf. "Übermorgen kehre ich nach England zurück, aber ein Teil von mir wird hier bei dir bleiben." Er zog sie heftig an sich. "Ich liebe dich. Ja ich liebe dich, Michelle. Ich ..." Impulsiv küsste er sie.
Lass es nicht zu, dachte Michelle. Wehr dich dagegen. Sie wollte sich aus seinen Armen winden, ihr Gesicht zur Seite biegen, aber sie tat es nicht. Leidenschaftlich schmiegte sie sich an ihn und wünschte sich, dass dieser Abend niemals ein Ende nehmen würde.
3.
Die nächsten drei Monate erlebte Michelle Bryant wie im Trance.
Außerhalb ihrer Arbeit bewegten sich ihre Gedanken und Wünsche fast nur noch um Kevin Ormond. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht miteinander telefonierten. Wenn es auch meist nur für einige Minuten war, sie musste seine Stimme hören. Sie war sich sicher, dass er sie genauso liebte wie sie ihn. Wann immer er es einrichten konnte, kam er über das Wochenende nach Athen. Er brachte ihr Fotos von Ormond Hall, Früchte und Blumen mit. Einmal überraschte er sie mit einem Lesezeichen, das seine Mutter für sie bestickt hatte.
Sie kannten sich auf den Tag genau zwölf Wochen, als Kevin Ormond Michelle fragte, ob sie seine Frau werden wollte. "Ich kann es nicht mehr ertragen, dich über Tausende von Kilometern von mir getrennt zu wissen", sagte er. "Du gehörst zu mir, zu meiner Familie, Michelle. Wir erwarten dich."
Während der vergangenen Wochen hatte die junge Frau sehr oft darüber nachgedacht, wie es wohl sein würde, an Kevins Seite zu leben. Sie stellte es sich wundervoll vor. Durch Kevins Erzählungen waren ihr selbst seine Eltern bereits so vertraut geworden, als würde sie sie seit einer Ewigkeit kennen.
"Ja, ich will", erwiderte sie und sah ihm in die Augen.
"Das macht mich unendlich froh, Darling." Zärtlich strich er ihr durch die Haare. "Eines Tages wirst du die Herrin von Ormond Hall sein, denn Edward ist nicht in der Lage zu heiraten. Gemeinsam werden wir dafür sorgen, dass der Name 'Ormond' niemals seinen guten Klang verliert."
"Bist du dir ganz sicher, dass du dir nicht zuviel von mir erwartest?“, fragte Michelle. Sie hatte plötzlich Angst, ihr vertrautes Leben zu verlassen und sich Menschen auszuliefern, die sie nur über Kevin kannte.
"Ja, das bin ich", versicherte er und küsste sie, dann nahm er ein kleines Kästchen aus seiner Jackettasche und öffnete es. Michelles Blick fiel auf den schönsten Ring, den sie je gesehen hatte. "Dieser Ring ist seit vielen Jahren in unserer Familie", sagte er und steckte ihn ihr an den Finger. "Er wird von jeder Braut der Ormonds getragen."
Michelle hob ihre Hand. Plötzlich spürte sie eine eisige Kälte. Sie schien vom Ring auszugehen. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht.
"Was hast du?“, fragte ihr Freund besorgt. "Fühlst du dich nicht wohl?"
"Nein, es ist nichts." Sie schenkte ihm ein Lächeln. "Mir ist es nur etwas kalt."
"Kalt?" Er lachte auf. "Ich finde es ausgesprochen warm." Er zog sie an sich. "Eines kann ich dir versprechen, Darling. Wenn wir erst zusammen auf Ormond Hall leben, werde ich schon dafür sorgen, dass du nie wieder in deinem Leben frierst."
Am nächsten Vormittag kehrte Kevin Ormond nach England zurück. Michelle hatte ihn zum Flughafen gebracht. Sie hatte nicht eine Minute mit ihrem Verlobten versäumen wollen. Während der nächsten Wochen konnte er nicht nach Griechenland kommen. Er wurde auf Ormond Hall gebraucht.
Niedergeschlagen fuhr die junge Frau zur Englischen Botschaft. Sie fragte sich, wie sie die Wochen ohne Kevin überstehen sollte. Wie hatte sie es nur geschafft, jemals ohne ihn zu leben?
"Habt ihr euch gestritten?“, erkundigte sich Nancy Taylor, als Michelle ihr Büro betrat. Auch wenn sie nach wie vor nicht viel von Kevin Ormond hielt, es tat ihr leid, die Freundin so unglücklich zu sehen.
"Nein, wir haben uns nicht gestritten", erwiderte Michelle. Sie atmete tief durch. "Ich werde kündigen", fügte sie hinzu. "Kevin und ich wollen heiraten." Sie zeigte ihrer Freundin den Ring. Er fühlte sich zwar nicht mehr kalt auf ihrer Haut an, bereitete ihr jedoch immer noch ein leichtes Unbehagen. Sie nahm an, dass sie sich das nur einbildete. Obwohl ihre Eltern sehr wohlhabend gewesen waren, hatte sie nie zuvor so wertvollen Schmuck getragen.
"Donnerwetter", entfuhr es Nancy, dann schüttelte sie den Kopf. "An deiner Stelle würde ich mir diese Heirat gut überlegen. Ihr kennt euch doch kaum. Willst du wirklich alles aufgeben, um einem Mann zu folgen, der dir sonst was erzählt haben kann."
"Hältst du Kevin etwa für einen Heiratsschwindler?“, fragte Michelle amüsiert. Nancy schaffte es meistens, wenn auch unfreiwillig, sie aufzuheitern.
"Keineswegs", meinte ihre Freundin, "aber der Mann hat etwas an sich, dass bei mir sämtliche Alarmglocken schrillen lässt. Ich ..." Sie hob die Schultern. "Vielleicht kann ich auch nur nicht den Gedanken ertragen, in Zukunft ohne dich auskommen zu müssen." Sie umfasste Michelles Hand. "Glaube mir, ich wünsche dir alles Glück der Erde. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich mich in deinen Verlobten täusche."
"Du täuschst dich, Nancy, da bin ich mir ganz sicher", erwiderte die junge Frau. Sie nahm ihre Freundin in die Arme. "Dass ich Griechenland verlasse, muss nicht das Ende unserer Freundschaft bedeuten. Eines Tages wirst auch du nach England zurückkehren. Zu meiner Hochzeit bist du ohnehin bereits eingeladen."
"Und ich bitte mir aus, auch die Patin deines ersten Kindes sein zu dürfen", sagte Nancy. Sie drückte Michelle an sich. "Lass dir von mir nicht bange machen. Deine Zukunft wird bestimmt so schön, wie du sie dir vorstellst."
Wenn nicht noch schöner, dachte Michelle und begleitete in Gedanken ihren Verlobten. Sie freute sich bereits darauf, am Abend mit ihm zu telefonieren. Er hatte ihr versprochen, sie aus London anzurufen. Sie blickte auf seinen Ring. Er erschien ihr plötzlich wie ein Pfand künftigen Glücks.
4.
Es regnete, als Michelle einige Wochen später in England eintraf. Der Sommer war vergangen. Es wurde Herbst. Nach der Hitze Griechenlands erschien ihr das Wetter in der Heimat unfreundlich und kalt. Trotzdem konnte Michelle das Glück kaum fassen, ihren Verlobten endlich wiederzusehen. Sie wusste, dass Kevin sie abholen wollte und hatte sich vorgenommen, sich nicht gleich in seine Arme zu stürzen, aber als sie ihn in der Ankunftshalle des Flughafens sah, war es mit ihrer Beherrschung vorbei.
"Sieht aus, als hättest du mich vermisst, Darling", meinte der junge Mann und küsste sie zärtlich. "Während der letzten Tage habe ich auch die Stunden bis zu unserem Wiedersehen gezählt." Er hielt sie ein Stückchen von sich ab. "Fast erscheint es mir, als wärst du in den vergangenen Wochen noch schöner geworden."
"Du und deine Komplimente." Sie stieß ihn leicht gegen die Schulter. "Ich kann es kaum noch erwarten, deine Familie kennen zu lernen. Schade, dass du nicht wenigstens deinen kleinen Bruder mit zum Flughafen gebracht hast."
"Thomas wollte mich begleiten, doch ich wollte noch einige Stunden mit dir alleine sein", erwiderte Kevin Ormond. "Deshalb fahren wir auch nicht auf direktem Weg nach Ormond Hall, sondern bleiben bis morgen in London. Von unserem Stadthaus habe ich dir bestimmt erzählt."
Michelle nickte. Obwohl sie sehr gespannt auf seine Familie war, hatte sie nichts dagegen, noch etwas mit ihm alleine zu sein. Trotz ihrer täglichen Telefonate hatten sie einander soviel zu erzählen und sie wollte auch Kevins Nähe genießen. "Ich kann es noch gar nicht fassen, dass ich jetzt wirklich bei dir bin", meinte sie und schmiegte sich an ihn.
"Soll ich dich kräftig kneifen, damit du merkst, dass es kein Traum ist?“, scherzte er, während er den Gepäckboy zum Parkplatz rollte.
"Untersteh dich", drohte sie. "Ich würde so laut schreien, dass alle Leute zusammenlaufen."
"So etwas ist einer zukünftigen Lady Ormond nicht würdig", erwiderte ihr Verlobter.
"Und was ist ihrer würdig?"
"Ein untadeliges Leben zu führen, über jeden Zweifel erhaben zu sein, niemals in der Öffentlichkeit die Beherrschung zu verlieren, stets ..."
"Halt!" Michelle blieb stehen. "Das klingt, als sollte ich in die königliche Familie einheiraten."
"Nicht in die königliche Familie, sondern in meine", sagte Kevin Ormond so ernst, als seien seine vorhergehenden Worte kein Scherz gewesen. "Du wirst sehr bald erkennen, dass die Ormonds nicht irgendeine Familie sind. Seit Jahrhunderten geben wir in unserer Gegend den Ton an."
Ein Anflug von Angst streifte die junge Frau. "Bist du dir wirklich sicher, in mir die richtige Frau gefunden zu haben", fragte sie.
Kevin legte den Arm um ihre Schultern. "Hundertprozentig sicher, Darling", beteuerte er. "Wir lieben einander, und nur darauf kommt es an. Meine Mutter wird dir helfen, dich in unserem Leben zurechtzufinden." Er küsste sie auf die Wange. "Nun lass uns fahren. Ich verspreche dir, ganz Ormond Hall und alles was dazu gehört, werden dir zu Füßen liegen."
Das Stadthaus der Ormonds erhob sich unweit des St. James’ Palace in der Nähe eines kleinen Parks. Es war Ende des sechzehnten Jahrhunderts im Auftrag des Königs erbaut worden. Nach dem unterirdischen Gang, den es zum Palast geben sollte, hatten Generationen von Ormonds vergeblich gesucht.
Die junge Frau war von dem imposanten Gebäude beeindruckt. Sie erinnerte sich, es schon früher bei ihren Besuchen in London bemerkt zu haben, aber damals hatte es keinerlei Bedeutung für sie gehabt. Jetzt schlug ihr Herz bis zum Hals, als sie an der Seite ihres Verlobten die Eingangsstufen hinaufstieg.
Ein älterer Mann in einem dunklen Anzug öffnete ihnen die Tür und hieß Michelle in London willkommen. Kevin machte sie miteinander bekannt. John Durand stand seit über vierzig Jahren im Dienste der Ormonds und verwaltete das Stadthaus. Zusammen mit seiner Frau Elisa bewohnte er einige Räume im Dachgeschoss.
"Was für ein freudiger Tag, Miss Bryant", meinte Elisa Durand, als sie ihr das Zimmer zeigte, dass für sie zurechtgemacht worden war. "Wir sind so glücklich, dass Master Kevin in Kürze heiraten wird. Die letzten Jahre waren für ihn nicht leicht, aber nun wird sich alles zum Guten wenden."
Michelles Stolz ließ es nicht zu, Elisa auszuhorchen, doch als wenig später Kevin zu ihr kam, fragte sie ihn, ob irgend etwas Schwerwiegendes während der letzten Jahre vorgefallen war.
"Wie meinst du das, Darling?" Ihr Verlobter hob die Augenbrauen.
Sie sprach von Elisas Bemerkung. "Mach ihr deswegen bitte keine Vorwürfe", bat sie. "Sie wollte mir nur sagen, wie glücklich sie für dich ist."
"Schon gut, ich habe nicht vor, ihr den Kopf abzureißen." Kevin Ormond nahm seine Braut in die Arme. "Edward machte uns während der vergangenen Jahre ziemlichen Kummer", sagte er. "Er hielt uns pausenlos in Atem." Bekümmert seufzte er auf. "Wir hofften, dass sich sein Zustand mit der Zeit bessern würde, stattdessen ist das Gegenteil eingetreten." Zärtlich strich er ihr die Haare zurück, dann gab er sie frei und wies durch den freundlich eingerichteten Raum. "Wie gefällt dir dein Domizil?"
"Lenk nicht ab, Kevin." Bisher hatte Michelle es vermieden, ihren Verlobten über seinen Bruder auszufragen, aber nun wollte sie alles über Edward wissen. "Was ist mit ihm?“, fragte sie und sah dem jungen Mann in die Augen. "Wie wirkt sich Edwards Behinderung aus? Ist er gelähmt? Kann er nicht sprechen?"
"Nun gut, du wirst Edward ja ohnehin morgen begegnen, wenn auch nur kurz." Kevin führte Michelle zu einer kleinen Couch, vor der ein Tischchen mit einem prächtigen Rosenstrauß stand. "Edward erlitt bei seinem Sturz in die Schlucht eine schwere Hirnverletzung", berichtete er, während er wie geistesabwesend eine Rose aus der Vase zog und ihre Blüten zerpflückte. "Auf den ersten Blick merkt man meinem Bruder seine Behinderung nicht an. Er bewegt sich wie ein völlig normaler Mensch, aber man kann sich nicht mit ihm unterhalten. Abgesehen davon, dass sein Sprachzentrum gestört ist, kann er auch nicht mehr schreiben und lesen. Wir sind uns nicht einmal klar, wie viel er von dem, was man zu ihm sagt, versteht. Hin und wieder gerät Edward völlig außer Kontrolle und bekommt fürchterliche Wutanfälle. Er ..."
"Ist dein Bruder gefährlich?“, fragte die junge Frau erschrocken.
"Sagen wir, es könnte sein", erwiderte Kevin. "Edward lebt in einem abgesonderten Flügel von Ormond Hall. Er wird von einem Pfleger betreut, der eine spezielle Ausbildung im Umgang mit geistigbehinderten Menschen hat."
Michelle dachte darüber nach. "Könnte es nicht sein, dass dein Bruder diese Wutanfälle bekommt, weil er keine Möglichkeit hat, sich euch gegenüber verständlich zu machen?“, fragte sie.
"Leider ist es nicht an dem", sagte Kevin. "Edwards Wutanfälle beruhen auf seinem verwirrten Verstand." Er stand auf und trat ans Fenster. Für einen kurzen Moment schob er die Gardine beiseite und blickte hinaus, dann wandte er sich wieder seiner Verlobten zu.
"Während der vergangenen Jahre wurde Edward immer wieder von den besten Ärzten des Landes untersucht. Meine Eltern haben keine Möglichkeit außer acht gelassen, um ihm zu helfen. Mehrmals wurde mein Bruder in speziellen Kliniken behandelt. Man hat versucht, sein Sprachzentrum zu regenerieren, er hatte Privatlehrer, deren einzige Aufgabe darin bestand, ihm wieder Schreiben und Lesen beizubringen ..." Er stieß heftig den Atem aus. "Es war alles umsonst. Außer seinen Pflanzen gibt es nichts, was Edward interessieren könnte."
"Pflanzen?"
"Ja, Edward ist ein leidenschaftlicher Gärtner. Er verbringt fast den ganzen Tag im Freien. Es hat etwas Rührendes an sich, wie er auf die Pflanzen zugeht. Manchmal ..." Kevin straffte die Schultern. "Meinst du nicht, dass wir genug von Edward gesprochen haben, Darling?" Er wies zur Uhr. "Du musst dich noch umziehen. Immerhin möchte ich dir heute Abend London zu Füßen legen."
Michelle wäre lieber zu Hause geblieben, aber sie wollte Kevin die Freude nicht verderben. Sie stand auf und trat ins angrenzende Bad.
Kevin folgte ihr. Leicht küsste er sie auf die Schulter. "Ich werde Elisa bitten, dir eine Erfrischung zu bringen. In einer Stunde hole ich dich dann ab. Wirst du bis dahin fertig sein?"
Die junge Frau schenkte ihm durch den Spiegel einen verliebten Blick. "Ich werde keine Stunde brauchen", sagte sie. "Oder verlangst du große Abendrobe?"
"Gleich was du trägst, du wirst immer bezaubernd aussehen", erwiderte er und schlang leidenschaftlich die Arme um sie.
Michelle befreite sich lachend. "Mach, dass du 'rauskommst, sonst wird aus unserem Ausgehen nichts." Sie schob ihn in Richtung Tür. "Vor einer Stunde will ich dich nicht wiedersehen."
"Das fängt ja gut an", meinte Kevin und drohte ihr mit dem Finger. "Aber was bleibt mir anderes übrig, als der Gewalt zu weichen?" Er küsste sie flüchtig auf die Wange, dann ließ er sie alleine.
Michelle kehrte ins Bad zurück. Langsam kleidete sie sich aus. Sie dachte an Edward. Obwohl sie sich sagte, dass es keinen Grund dazu gab, fürchtete sie sich vor ihm.