Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert
Ein Nachwort von Jochen Hellbeck
Napoleon ist auf der Flucht. Eine Kanonenkugel durchlöchert seine Hose und reißt ihm den Stiefel vom Fuß. »So ist es geschehen«, kommentieren rote Lettern. Darunter bohrt sich ein Bayonett durch Hitlers Körper. Der Begleittext hierzu: »So wird es geschehen.« Wie dieses im Herbst 1941 in Moskau in großer Auflage gedruckte Poster veranschaulicht, war nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion der Vergleich zwischen Hitler und Napoleon vielen Menschen präsent. Beide Diktatoren mobilisierten präzedenzlose Heeresmassen, um das Riesenreich im Osten niederzuringen; beide starteten ihre Kampagnen fast zeitgleich, Napoleon am 24. Juni, Hitler am 22.; beide folgten der gleichen westöstlichen Trasse nach Moskau. Hitler wusste natürlich um diese Analogien. Je offensichtlicher der versuchte Blitzsieg über Sowjetrussland misslang, desto mehr betonte er, dass sein Feldzug sich von dem Napoleons unterschied, dessen Grande Armée binnen sechs Monaten aufgerieben wurde.4
Umgekehrt bemühte die sowjetische Seite Napoleons Scheitern zum Zweck der eigenen Selbstvergewisserung. Mit Blick auf den »Vaterländischen Krieg« von 1812 erklärte Stalin den Kampf gegen Hitlerdeutschland zum »Großen Vaterländischen Krieg«. Auf der Suche nach Antworten, geschichtlichen wie persönlichen, auf den deutschen Überfall griffen viele Russen zu »Krieg und Frieden«, Lew Tolstois Romanepos zum Krieg von 1812.
»Krieg und Frieden« wurde während der Kriegszeit intensiv rezipiert. Das Kommissariat für Volksaufklärung druckte eine Broschüre mit Anleitungen, wie das für seinen Umfang und seine unüberschaubare Handlung berüchtigte Werk sowjetischen Lesern im Krieg zugänglich gemacht werden solle. Der Roman sei besonders jetzt so wichtig, so erläuterte die Broschüre, weil er von tiefer Kenntnis »der Lebensumstände und der Psychologie des russischen Soldaten« durchdrungen sei. »Bescheidenheit, Einfachheit« und ein tiefverwurzelter patriotischer Geist, die ihn dazu brachten, »in der Gefahr etwas völlig anderes als Gefahr zu erblicken« (Zitate übrigens aus »Krieg und Frieden«) – diese Haupteigenschaften des russischen Soldaten sollten auch die Rotarmisten inspirieren und mobilisieren. Die Beliebtheit von »Krieg und Frieden« lässt sich daran ermessen, dass der Roman im Herbst 1941 in voller Länge (in insgesamt dreißig Folgen) im Moskauer Radio vorgetragen wurde. Im eingekesselten Leningrad wurde eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren gedruckt.5
Wie das Buch unter diesen Bedingungen gelesen wurde, beschreibt die Literaturkritikerin Lydia Ginzburg, die die gesamte Blockadezeit in Leningrad durchstand. »Während der Kriegsjahre verschlangen die Menschen ›Krieg und Frieden‹, um sich selbst zu überprüfen (und nicht etwa Tolstoi, an dessen angemessener Darstellung des Lebens niemand zweifelte).« Tolstois Helden, die im Verlauf des Romans ihr persönliches Leben der »gemeinsamen Sache des Volkskriegs« widmeten, gaben den Standard von Standhaftigkeit und Mut vor, an dem sich ihre sowjetischen Leser maßen. »Wer las«, so Ginzburg weiter, sagte sich: »Aha, das empfinde ich also richtig. So ist das also.«6
In einem Gespräch mit Moskauer Historikern, die Anfang Januar 1943 an die Stalingrader Front fuhren, um Material für eine Chronik des Großen Vaterländischen Kriegs zu sammeln, erzählte Armeegeneral Wassili Tschuikow von seiner Identität als Kommandeur, mit aufschlussreichen Verweisen auf Tolstoi. Persönlich, sagte Tschuikow, sei er nicht immun gegen Angstgefühle während einer Schlacht, doch »Krieg und Frieden« habe für ihn verdeutlicht, wie wichtig es sei, seine Angst vor den ihn umgebenden Offizieren und Soldaten zu verbergen: »Der menschliche Stolz, insbesondere der Stolz des Kommandeurs, ist von entscheidender Bedeutung in der Schlacht. Also, in der Beziehung, da hat Lew Tolstoi recht.«7
Vermutlich dachte Tschuikow an Rajewskij, den General in Tolstois Roman, der seine Männer persönlich in die Schlacht führte und als erster dem Kugelhagel der Franzosen entgegenpreschte.
So lebhaft waren Tolstois Aufzeichnungen über den Krieg, dass einige seiner sowjetischen Leser sie für authentisch hielten. Darauf verweist die Szene in »Leben und Schicksal«, in der Kommissar Krymow General Gurjews Fronteinheit in der Stalingrader Stahlfabrik »Roter Oktober« aufsucht. Nachdem Krymow seinen politischen Vortrag zur Hebung der soldatischen Moral gehalten hat, ziehen sich die beiden Offiziere zu einem persönlichen Gespräch bei einer Flasche Wodka zurück. Gurjew beschwert sich über die Journalisten, die in der hintersten Etappe säßen und schlecht über den Krieg berichteten. Keiner von ihnen reiche an Tolstoi heran, der deshalb das beste Buch über den Krieg geschrieben habe, weil er persönlich am Feldzug gegen Napoleon beteiligt gewesen sei. Gurjew reagiert ungläubig und wütend auf Krymows Hinweis, dass Tolstoi 1812 noch nicht einmal geboren war. Dem Kommissar gelingt es nicht, seinen Gesprächspartner von seinen Argumenten zu überzeugen. (»Leben und Schicksal«, 286)
Wassili Grossman war fasziniert von Tolstoi. »Krieg und Frieden« war, wie Grossman selbst sagte, das einzige Buch, das er während der Kriegsjahre las. Er las es zweimal. Im Oktober 1941 begleitete Grossman eine Einheit von Rotarmisten auf ihrem überstürzten Rückzug vor den deutschen Panzerverbänden zwischen Orël und Tula, südwestlich von Moskau. Am Straßenrand sah Grossman ein Hinweisschild nach Jasnaja Poljana, dem Landgut des Grafen Tolstoi. Er überredete die übrigen Insassen in seinem Wagen, dort vorbeizufahren. Das Auto, so notierte er in seinem Kriegstagebuch, »verlässt die verstopfte Chaussee«. In Jasnaja Poljana schienen für Grossman die Vergangenheit und die Gegenwart eins zu werden. Er wurde Zeuge der im Haus herrschenden »Hektik vor der Flucht« und sah zu, wie die beweglichen Güter des Tolstoimuseums kistenweise auf Laster aufgeladen wurden. »Schlagartig« fühlte Grossman sich an die Kahlen Berge erinnert, das Familiengut der Bolkonskijs in »Krieg und Frieden«, das von seinen Bewohnern vor der vorrückenden Grande Armée verlassen werden musste.8
Grossman selbst entkam dem Zangengriff der vorstoßenden deutschen Panzertruppen nur mit Glück. Einer der nächsten Besucher von Tolstois Landgut war General Guderian, der Jasnaja Poljana als sein Hauptquartier für den Angriff auf Moskau wählte.
Für Grossman persönlich begann der Krieg mit einem schweren Schlag. In der ukrainischen Stadt Berditschew geboren, war er in einer Familie von säkularen Juden aufgewachsen, die auf Bildung und Wissenschaft eingeschworen waren, ihre sowjetische und auch russische Identität betonten und sich von den »rückständigen« Traditionen ihrer Vorfahren distanzierten. »In der Stadt Berditschew«, eine von Grossmans frühen Kurzgeschichten, beleuchtet mit viel Ironie das Leben im jüdischen Schtetl. Die Deutschen eroberten Berditschew am 7. Juli 1941, noch bevor die örtlichen Behörden Vorkehrungen für die Evakuierung der zumeist jüdischen Einwohner getroffen hatten. Grossmans Mutter lebte in Berditschew. Das letzte Zeichen, das er von ihr erhielt, war ein auf den 1. Juli datiertes Telegramm. Mehr als zwei Jahre lang lebte der Schriftsteller in Ungewissheit über das Schicksal seiner Mutter. Seine Befürchtung, dass ihr Schreckliches widerfahren war, bestätigte sich im Januar 1944, als Grossman seine soeben von der Roten Armee befreite Heimatstadt besuchte. Anhand von Gesprächen mit überlebenden Einwohnern rekonstruierte er in horrendem Detail, wie weit mehr als zehntausend Juden aus Berditschew an einem Septembertag im Jahre 1941 umgebracht wurden. Diese Interviews machte er nach dem Krieg zu einem Kapitel des »Schwarzbuchs der Russischen Juden«, Grossmans Versuch, den sowjetischen Holocaust zu dokumentieren.
Als Grossman von der Einnahme Berditschews erfuhr, meldete er sich zum Einsatz in der Roten Armee. Grossman, ein stämmiger und stark kurzsichtiger Mann, der eine dicke Brille trug und vor dem Krieg noch nie eine Waffe getragen hatte, bestand darauf, dass sein Platz an der Front sei. Er wurde als Korrespondent der Tageszeitung »Roter Stern« der Roten Armee eingeteilt. Grossman arbeitete während fast der gesamten Kriegsdauer als Berichterstatter von der Front. Sein Schlüsselerlebnis kam im August 1942, als er nach Stalingrad entsandt wurde, um die Schlacht zu dokumentieren, die nach Ansicht vieler das Schicksal der Sowjetunion entscheiden würde. Auf dem Weg von Moskau nach Stalingrad machte Grossman einmal mehr Halt in Jasnaja Poljana.9
Grossman berichtete bis Januar 1943 aus Stalingrad, er war der am längsten dienende Moskauer Korrespondent in der Frontstadt.
Seine Berichte aus Stalingrad machten ihn über Nacht berühmt. Sie schilderten das Schlachtgeschehen aus der Sicht einfacher Soldaten, mit denen er lange Gespräche führte, bevor er sich hinsetzte und seine Berichte schrieb. Die Soldaten erkannten sich in seiner Darstellung wieder.
Ein Veteran erinnert sich, dass seine bei Moskau stationierte Kompanie trotz der enormen Anspannung und Erschöpfung die Kämpfe bei Stalingrad in den Zeitungen aufmerksam verfolgte. Da nur wenige Exemplare des »Roten Sterns« zur Verfügung standen, wurden sie auszugsweise der versammelten Truppe vorgelesen. »Es wurde abgestimmt, welche Berichte wir hören wollen. Beinahe alle einigten sich auf Wassili Grossman.«10
Der »Rote Stern«, schrieb Chefredakteur Ortenberg rückblickend, schuldete seine Beliebtheit bei den Soldaten in großem Maße den lebhaften und realitätsnahen Reportagen Grossmans: »Selbst den Parteibonzen in Moskau war klar, wie sehr seine Prosa die Entschlossenheit der Rotarmisten stärkte, ganz zu schweigen vom Rest der Bevölkerung.«11
Nach dem sowjetischen Sieg in Stalingrad begann Grossman an einem Romanwerk zu arbeiten, das auf seinen Zeitungsberichten fußte, diese jedoch in einen größeren Bedeutungszusammenhang überführte. Sein Vorhaben entsprach einem Trend unter sowjetischen Schriftstellern, sich von Chroniken des täglichen Kriegsgeschehens wegzubewegen und den siegreichen Kriegsverlauf in epischer Form zu schildern. Im Januar 1945 – das Kriegsende war in Sicht – machte Ilja Ehrenburg, einer der bekanntesten sowjetischen Kriegsschriftsteller, eine prophetische Bemerkung. »Künftige Historiker werden die Befreiung Polens und den Kampf um Ostpreußen untersuchen. Wenn unsere Kinder Glück haben, wird ein künftiger Tolstoi die Seele eines jungen Sowjetoffiziers zeigen, der zum jetzigen Zeitpunkt sterbend auf den winterlichen Sternenhimmel blickt.«12
Grossman setzte Ehrenburgs Appell fast wortgenau um. Er folgte dabei jedoch nicht den ideologischen und ästhetischen Vorgaben, die Ehrenburg im Sinn gehabt haben mag. Als »Ingenieure der Seele« hatten Schriftsteller der Stalinzeit die Aufgabe, exemplarische Helden zu zeichnen, deren unerschüttlichen Überzeugungen und übermenschliche Fähigkeiten den Leser zur Selbstaufopferung für das kommunistische System bewegen sollten. Grossman sollte in der Tat einen sterbenden Offizier unter winterlichem Sternenhimmel beschreiben, doch nahm sein Projekt Anstoß an wesentlichen Geboten des sozialistischen Realismus und orientierte sich vielmehr an der Tradition des vorrevolutionären kritischen Realismus, besonders an Tolstoi.
Beinahe zwanzig Jahre lang, von 1943 bis 1960, arbeitete Grossman an einem Stalingradroman, der mit recht als »Krieg und Frieden« des 20. Jahrhunderts gelten kann. Er gliederte das Werk, das ursprünglich den Titel »Stalingrad« trug, in zwei Teile. Den ersten Teil stellte er 1948 fertig. Nach vielen zensierenden Eingriffen erschien er 1952 unter dem Titel »Für die gerechte Sache«. Einige der zensierten Abschnitte übertrug Grossman in einen zweiten Teil, den er als Folgeband konzipierte. Dieser 1960 fertiggestellte Band, »Leben und Schicksal«, stieß bei der Sowjetführung auf stärkste ideologische Vorbehalte. Die Veröffentlichung in der Sowjetunion wurde kategorisch ausgeschlossen. Grossmans Proteste fruchteten nicht; verbittert und krank starb er wenige Jahre später. Den abenteuerlichen Weg seines Manuskripts in den Westen, wo es 1980 erstmals veröffentlicht wurde, beschreibt Wladimir Woinowitsch in seinem beigefügten Nachwort.
»Leben und Schicksal« wird seit seinem Erscheinen als eigenständiges Werk gelesen. Nicht zuletzt werten die Versuche des sowjetischen Regime, das Erscheinen dieses zweiten Bands zu verhindern, den Text in den Augen von vielen Lesern auf, wohingegen allein die Tatsache, dass der erste Teil zu Lebzeiten Stalins erscheinen konnte, ihn diskreditiert.13
Doch eröffnet sich eine gänzlich neue Lektüre, wenn man »Leben und Schicksal« als den zweiten Teil der von Grossman so intendierten Dilogie betrachtet. Der erste Band bricht zeitlich und örtlich dort ab, wo der Folgeband nach den ersten KZ-Szenen wieder einsetzt: in Stalingrad im September 1942. Manche Leser beschreiben Grossman als einen außergewöhnlichen Denker und Philosophen, stufen seine literarischen Fähigkeiten jedoch geringer ein. Das mag aber auch daran liegen, dass fast alle Darsteller in »Leben und Schicksal« schon im ersten Band eingeführt werden. Wer ihn gelesen hat, begegnet denselben Figuren im Folgeband anders – als psychologisch komplexen Menschen von hohem Identifikationswert. So erschließt sich eine menschliche Seite von Grossmans literarischem Werk, die durch den Kalten Krieg gleichsam verschüttet wurde. Sicherlich stimmt es, dass der im Westen praktisch unbekannte erste Band von der stalinistischen Zensur gezeichnet ist, doch behält er große Ausdruckskraft und ist ein zentraler Teil von Grossmans Vorhaben, ein Tolstoisches Epos zu schreiben. Eine Edition, die beide Teile dieses Stalingradromans zusammenführt, ist in Vorbereitung.14
Grossman maß seinen Roman an »Krieg und Frieden«; das machen nicht nur seine Wahl eines ähnlich gewichtigen Titels, der schiere Umfang des Werks und die komplexe Schar von Darstellern deutlich. Wie zuvor Tolstoi versuchte Grossman in epischer Form den Geist einer gesamten historischen Epoche zu bündeln. Von Tolstoi entlehnte er auch die Technik, die vielen individuellen Darsteller durch das Geflecht zweier verzweigter Familien – bei Tolstoi sind es die Rostows und die Bolkonskijs, bei Grossman die Schaposchnikows und Strums – miteinander in Bezug zu setzen. Dem psychologischen Realismus Tolstois verpflichtet, taucht Grossman tief in die innere Gedanken- und Gefühlswelt seiner Darsteller ein. Wie »Krieg und Frieden« offenbart Grossmans Romans eine menschliche Psychologie, die nicht frei ist von moralischen Anfechtungen und Schwächen.
Der Vorhang in »Krieg und Frieden« hebt sich im Jahre 1805 über Anna Scherers Petersburger Salon, in dem sich Aristokraten und Hofdamen geistreich über Napoleons Politik unterhalten, um sich dann mit vermehrtem Interesse den neuesten Intrigen am Zarenhof zuzuwenden. Von hier aus bereist Tolstois Erzähler weite Teile Russlands und Europas – provinzielle Landgüter und hauptstädtische Palais, adelige Offiziersklubs und einfache Soldatenlager, Schlachtfelder in Österreich, Deutschland und Russland. Der Leser ist nicht nur am Hofe Alexanders I. zugegen, sondern erhält auch Einblicke in die methodischen Pläne seines Widersachers Bonaparte, den europäischen Kontinent zu beherrschen. Das Buch gipfelt in der Beschreibung des Morgennebels bei Borodino, dem Austragungsort der entscheidenden Schlacht von 1812, in deren Gefolge Napoleon das von den Russen verlassene und zerstörte Moskau einnahm, aber wegen mangelnder Versorgung wieder aufgeben musste. Der Erzählbogen des Romans macht deutlich, wie sich der kulturelle Graben in Russland, auf den die französisch parlierende Petersburger Elite in der Eröffnungszene verweist, im Krieg von 1812 schließt, wie adelige Offiziere und Bauernsoldaten im Kampf gegen die Franzosen zusammenfinden und ein neues russisches Nationalbewusstsein begründen.
Grossmans Stalingrad-Epos setzt ebenfalls mit einer politischen Diskussion ein. Hitler und Mussolini, die beiden selbsternannten Herren Europas, kommen im April 1942 in den kalten Sälen des Erzbischöflichen Palais in Salzburg zusammen, um nach dem steckengebliebenenen Vorstoß des Vorjahres im erneuten Anlauf das Schicksal der Sowjetunion und Europas zu besiegeln. Im Anschluss hieran eröffnet Grossmans Erzähler ein kontinentales Panorama. Er begleitet Einheiten von Rotarmisten, die verzweifelt gegen die überlegenen Deutschen ankämpfen, und verfolgt den Exodus der nach Osten ziehenden Flüchtlingstrecks; er ist bei letzten Familientreffen zugegen, in deren Gefolge ein Teil der Familie ins Hinterland evakuiert wird und ein anderer an die Front eilt; er dokumentiert die Zerstörung russischer Städte durch deutsche Luftangriffe und schildert das Leben von russischen Soldaten in der Etappe, auf dem Weg zur Front und in den Schützengräben und Ruinen von Stalingrad. Er wohnt Stalin im Kreml bei und Hitler in der Berliner Reichskanzlei. Der Roman berichtet auch aus dem sibirischen Gulag, und er begleitet sowjetische Juden auf ihrem letzten Weg in deutsche Gaskammern. Die eindrucksvolle Eröffnungsszene von »Leben und Schicksal« beschreibt ein NS-Todeslager im nebligen Morgengrauen – womöglich ein Verweis auf Tolstois Nebel bei Borodino. Ähnlich wie Tolstoi zeichnet Grossman die Entfaltung eines Geistes der nationalen Befreiung im Krieg nach, und wie Tolstoi glaubt auch er, dass der Krieg dank des außergewöhnlichen Einsatzes von gewöhnlichen Soldaten gewonnen wurde; Tolstoi bezeichnete diese russische Elementarkraft als die »Keule des Volkskriegs«. Insgesamt ist Grossmans Erzählton jedoch weit dunkler als der Tolstois. Der tragische Ausklang von »Leben und Schicksal« ist dem heiteren, lebensbejahenden Geist von »Krieg und Frieden« gänzlich fremd.
Tolstoi ging es in seinem Roman besonders um die Frage, wie der geschichtliche Prozess funktionierte. Aus diesem Grund ordnete er seine Darsteller mit ihren kleinen alltäglichen Gedanken und Sorgen auf der Trasse des weltgeschichtlichen Geschehens an. Dass Napoleons Truppen auf ihrem Vormarsch nach Moskau an den Kahlen Bergen, dem Familiengut der Bolkonskijs vorbeizogen, ist nur ein Beispiel. Als Sendboten, Beobachter oder zufällige Augenzeugen sind Tolstois Helden immer wieder bei historischen Begebenheiten zugegen. Die Schilderung ihrer persönlichen Lebensgeschichten ist umrahmt von den Gedanken des Erzählers über den Sinn und die Bedeutung der menschlichen Existenz. Ebenso wie Tolstoi suchte Grossman den Charakter der epochalen Zeit zu verstehen, deren teilnehmender Beobachter er war. Wie in »Krieg und Frieden« nimmt Grossmans Erzähler zuweilen den Platz eines über den begrenzten Wirkungsfeldern der einzelnen Akteure thronenden philosophischen Betrachters ein, der aus der Vogelschau verfolgt, wie sie in den unheilvollen Sog des geschichtlichen Geschehens geraten.
Grossman teilte auch die von Tolstoi beschworene Verpflichtung zur Wahrheitssuche. Beide Schriftsteller sahen den Zweck der Literatur nicht in der Unterhaltung des Lesers, sondern in seiner Erziehung und Vervollkommnung. Eingedenk dieser Verantwortung hatte sich der realistische Schriftsteller mit den wichtigen sozialen und moralischen Themen seiner Zeit auseinanderzusetzen. Um vor seinen Lesern moralisch zu bestehen, musste er sein gesamtes persönliches Leben der Wahrheitssuche widmen, bis zu einem Grad, an dem die Positionen von Autor und Erzähler und die Bereiche von Leben und Kunst, sozialer Wirklichkeit und literarischer Repräsentation miteinander verschmolzen. In seinem Protestschreiben an Chruschtschow nach der Beschlagnahmung seines Roman-Manuskripts betonte Grossman diese gesellschaftlichen und moralischen Verpflichtungen des russischen Schriftstellers.
Und doch gingen Grossmans und Tolstois Überzeugungen in einem wichtigen Punkt auseinander. Tolstoi suchte die Hybris von selbsternannten weltgeschichtlichen Persönlichkeiten wie Napoleon zu offenbaren, indem er zeigte, wie sehr das Leben von zufälligen Ereignissen gesteuert war, die sich der menschlichen Kontrolle entzogen. Allein im Zusammenspiel aller menschlichen Handlungen eröffneten sich die Konturen eines geschichtlichen Prozesses, der jedoch so facettenreich war, dass selbst die genaueste wissenschaftliche Analyse ihm nicht vollends gerecht werden könnte. Dem Verständnis des Menschen weitgehend entzogen, folgte die Geschichte dennoch präzisen, vorbestimmten Bahnen. Der Gang der Weltgeschichte, so philosophiert Tolstois Erzähler während der Beschreibung der Schlacht von Austerlitz, spiegele sich auf dem Ziffernblatt einer weithin sichtbaren Turmuhr. Das gemessene Vorrücken der Zeiger verweise auf den Sieg der einen Nation und die Niederlage der anderen, den Triumph des einen Oberbefehlshabers und die Schmach des anderen. Doch die wirklichen Gründe für Sieg oder Niederlage entzögen sich dem Beobachter. Sie seien in den Bewegungen von zahllosen Rädchen und Rollen im Inneren der Uhr zu finden, deren Ineinandergreifen den Uhrenmechanismus antrieb, genau so wie die Handlungen der hunderttausenden Soldaten auf dem Schlachtfeld von Austerlitz den weltgeschichtlichen Prozess steuerten.
Als Zeuge eines Zeitalters von unvorstellbarer Gewalt und Zerstörung konnte Grossman den Vorsehungsglauben Tolstois nicht teilen. Pierre Besuchows freudige Erkenntnis, dass Gott überall ist und ohne seinen »Willen kein Haar vom Haupte eines Menschen fällt«, war mit den mörderischen und trostlosen Erfahrungen der Menschen in »Leben und Schicksal« nicht vereinbar. Angesichts des dezidiert amoralischen Auftretens des Nationalsozialismus erschien es widersinnig, die Geschichte in der Tradition des 19. Jahrhunderts als einen moralisch vernünftigen Prozess zu verstehen. Anfänglich hatte Grossman allein die faschistische Ideologie im Visier, doch mit der Zeit begriff er, dass Hitlerdeutschland nur die Variante einer weltweit sich im Anwachsen befindenden unmenschlichen Staatsform darstellte, die das Arsenal der modernen Wissenschaft und Technologie an sich gerissen hatte und willkürlich über das Schicksal von Individuen und ganzen Nationen richtete.
Letztlich war es Tolstois persönlicher Zuversicht, wie auch der Zuversicht des 19. Jahrhunderts insgesamt geschuldet, dass er einer deterministischen Philosophie anhing, in der die Menschen unabhängig von ihrem Willen gesteuert wurden. Wenn Grossman hingegen an einen Restbestand des freien Willens glaubte, so tat er das, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Dieser Glaube war seine letzte Hoffnung. Seine Kernfrage lautete: was kann – ja, was muss – der Mensch tun, um seine Menschlichkeit zu bewahren? Grossman verstand dies als die Kernfrage seines Jahrhunderts. Sie ist unverändert aktuell.
Unter den Rotarmisten in der Frontstadt Stalingrad – das beschreibt Grossman nicht nur in seinem Roman, er hält es auch in seinem Kriegstagebuch fest – wird ein neuer menschlicher Geist geboren. Dies geschieht in Entgegensetzung zu den Deutschen, die nicht Menschen sind sondern infernalische Maschinen. In einer Szene von »Für die gerechte Sache« erscheint Generaloberst Paulus als ein Mechaniker. Sein Befehl zum Großangriff auf die Stadt setzt »Hunderte von Rädern und kleinen Rädchen« in Bewegung, die in ihrer Zusammenwirkung dazu führen, dass die »schwere Axt des deutschen Krieges« über Stalingrad hereinbricht. Das Bild ist ein deutlicher Verweis auf die Turmuhr in »Krieg und Frieden«. Doch sind es nicht nur die Deutschen, die den menschlichen Geist und Zusammenhalt ihrer Widersacher fördern. Die Rotarmisten erleben auch untereinander neue Formen der Kameradschaft, sie lösen sich vom Misstrauen, dass die sowjetische Gesellschaft der Vorkriegszeit lähmte.
Der Roman erzählt dies durch die Figur des Parteikommissars Krymow, der im Krieg zu neuem Leben erwacht, sich an »die Stürme seiner revolutionären Jugend« erinnert fühlt und vom Mut und der Opferbereitschaft seiner Soldaten fasziniert ist. Wie sehr Krymow der Figur des Autors Grossman entspricht, kann man daraus entnehmen, dass der Kommissar im Roman ebenfalls Tolstois Gut in Jasnaja Poljana besucht, mit denselben Empfindungen, wie sie Grossman in seinem Tagebuch beschrieb. Krymows Glaube an die kathartische Wirkung dieses Kriegs wurde von Grossman geteilt. Sein langjähriger Freund Semjon Lipkin erinnert sich an eine Unterhaltung, die er mit Grossman in Stalingrad während der Schlacht führte: »Dieser Krieg, glaubte Grossman, würde den gesamten Stalinistischen Dreck vom Antlitz Russlands wegspülen. Das heilige Blut dieses Kriegs würde uns von den Blutflecken der zu Unrecht verfolgten Kulaken und der Säuberungen von 1937 reinigen.«15
In seinem Kriegstagebuch bemerkte Grossman zum gleichen Thema: »Im Krieg legt der Russe seiner Seele gleichsam ein weißes Hemd an. Sein Leben kann sündig sein, aber sein Sterben ist heilig. An der Front beweisen viele eine vollkommene Reinheit des Denkens und Fühlens, eine geradezu mönchische Bescheidenheit. Das Hinterland lebt nach einem anderen Gesetz und kann moralisch mit der Front niemals eins sein. Sein Gesetz ist das Leben, der Kampf ums Dasein. Heilig leben können wir nicht, aber heilig sterben durchaus. Die Front ist das Heilige des russischen Sterbens, das Hinterland das Sündige des russischen Lebens. An der Front alles zu ertragen, unvorstellbar Schweres ohne Murren hinzunehmen – das können nur starke Menschen. Das ist die Leidensfähigkeit eines gewaltigen Heeres, in der sich die unglaubliche Größe der Volksseele zeigt.«16 Unwillkürlich denkt man an die Figur Platon Karatajews in »Krieg und Frieden«, Sinnbild des asketischen, Natur und Gott gleichermaßen verbundenen russischen Bauernsoldaten.
Die andere Romanfigur bei Grossman, die ihrem Autor besonders stark ähnelt, ist der Kernphysiker Viktor Strum: ein säkularer Jude, der sich der sowjetischen, ja russischen Intelligenzija zugehörig fühlt – bis der Krieg ausbricht. Viktors Mutter lebt, ebenso wie Grossmans Mutter, in Berditschew. Anders als Grossman jedoch erhält Viktor von seiner Mutter einen Abschiedsbrief aus dem jüdischen Ghetto. Der Brief, der in »Leben und Schicksal« ein ganzes Kapitel umfasst und auf ergreifende Weise das Leid der Juden Osteuropas schildert, bewirkt bei Viktor eine nachhaltige Veränderung: Er beginnt als Jude zu fühlen, und er empfindet eine neue Verantwortung für seine jüdischen Mitmenschen, unabhängig von seiner kulturellen und beruflichen Identität als Russe und sowjetischer Wissenschaftler. Was seine geistige Tätigkeit betrifft, so erlebt Strum ebenso wie Krymow die Kriegszeit als befreiend. Lange Zeit hatte Strum das Gefühl, dass seine physikalischen Experimente stecken geblieben waren, doch die ungebundene Arbeitsatmosphäre im evakuierten Institut verschafft ihm plötzlich neue Erkenntnisse über die Eigenschaften des Atoms. Er steht vor der Entdeckung der Kernfusion.
Die bittere Ironie bei Grossman besteht darin, dass die Freiheit, die zum Zeitpunkt der Schlacht um Stalingrad zur höchsten Ausfaltung gelangt, nur von kurzer Dauer und letztlich illusorisch ist. Just als der menschliche Geist das infernalische Prinzip des NS-Staates überwindet, erhebt sich eine neue Kraft, die diesen Sieg für sich beansprucht: die Staatsmacht. »Leben und Schicksal« ist deswegen so brisant, weil der Roman nicht nur Hitlerdeutschland, sondern auch das stalinistische Regime als totalitär geißelt. Beide Staaten mobilisieren ihre Gefolgschaft durch Ideologien von betörender Kraft, beide praktizieren Antisemitismus, und beide erscheinen als monströse Maschinerien, die Menschen in Arbeitslagern willkürlich zu Staub zerreiben.
Das Wiedererstarken des totalitären Staats wird wiederum durch das Schicksal Krymows und Strums erzählt. Nach einer Denunziation wird Kommissar Krymow verhaftet und nach Moskau gebracht, wo ihm der NKWD ein Geständnis abpressen will, ein deutscher Spion zu sein. Krymow gesteht nicht. Doch spielt sich sein eigentlicher Prozess nicht in der Folterkummer ab, sondern in seinem eigenen Kopf. In seiner Gefängniszelle grübelt Krymow über die Anklagepunkte, von denen er weiß, wie absurd sie sind. Doch kann er sich nicht gegen sie auflehnen, denn sie sind von der Partei verfasst worden, der er seine Identität als Kommunist verdankt. Der totalitäre Staat, so Grossman, funktioniert nicht nur mit nackter Gewalt, er fesselt auch durch seine verführerischen Reize. Krymow ist gebannt von der »Kraft der Revolution«. Sein innerer Kampf endet mit dem Sieg des abgehärteten, selbstlosen Revolutionärs über dem mit persönlicher Urteilskraft ausgestatteten Menschen. Krymow selbst unterdrückt die Freiheit und Individualität, die er kurz zuvor in Stalingrad entdeckt hatte. Der Roman endet vor der Urteilsverkündung, doch lässt er keinen Zweifel daran, dass Krymow eine lange Strafzeit im Gulag bevorsteht.
Auf noch perfidere Art bemächtigt sich die Staatsmacht Viktor Strums. Nach der Kriegswende bei Stalingrad kehrt das Physik-Institut von Kasan nach Moskau zurück. Am alten Ort macht sich das von Misstrauen und Überwachung genährte Klima aus der Vorkriegszeit wieder breit und vergiftet die Arbeitsatmosphäre unter den Wissenschaftlern. Obendrein wird Strum zur Zielscheibe einer antisemitischen Kampagne. Seine bahnbrechenden Arbeiten werden als unrussisch und schädlich verschrien. Nur eine schriftliche Beichte kann seine Stellung am Institut retten. Strum sitzt allein zu Hause und überlegt, was er tun soll. Er spürt, wie eine unsichtbare Macht ihn niederdrückt. (LS 814-815)
Strum schreibt die Beichte nieder, beschließt aber in einer plötzlichen Eingebung, sie nicht abzuschicken. Er kompromittiert sich auf andere Weise. Nach einer überraschenden Intervention Stalins wird der Physiker in vollen Ehren rehabiliert. In seiner Freude verkennt er jedoch, dass seine Kernforschungen dem Staat dienen und für Ziele genutzt werden, die seinen eigenen Prinzipien von Freiheit und Menschlichkeit widersprechen.
Der Mensch hat kaum Chancen, sich gegen die konzentrierte Staatsmacht zu behaupten. Nicht nur ist er ständig von Vernichtung bedroht; in entscheidenden Momenten wird er selbst zum willigen Handlanger des Staates. Gesteuert von der verführerischen Kraft staatlicher Ideologie oder von der Angst vor Vereinsamung, fügt sich der Einzelne in die Reihen des Volkskörpers ein. Was allein bleibt, sind kleine Aktionsradien, fast unscheinbare Regungen, die direkt dem Herzen entspringen und die Grossman als »sinnlose Güte« bezeichnet. Die Geschichte der Menschheit, erklärt der Mönch Ikonnikow, mit dessen Position sich Grossmans Erzähler identifiziert, ist nicht der Kampf des Guten zur Überwindung des Bösen. Es ist der Versuch eines großen bösen Prinzips, den letzten Kern von menschlicher Güte zu zerstören.
Die Zukunft der Menschheit hängt von diesen kleinen individuellen Handlungen ab. Allein sie können sich der Staatsmaschine entgegenstellen, die sich aus den Kräften von moderner Technik und totalitärer Massenideologien speist. Moralischen Wert hat keine dieser Ideologien mit ihren Aufrufen, sich um »eine Rasse, einen Gott, eine Partei oder einen Staat« zu scharen. Was sie allein bewirken, ist die weitere Förderung der Staatsmacht. Dies liest sich als ein interessanter Kommentar zu Tolstoi. Der vorseherische Determinismus, an den Tolstoi glaubte, erweist sich als ein Mittel zur Beförderung eines unmenschlichen Prinzips. Die Menschen können nur überleben, wenn sie deterministischen Philosophien entkommen, welche im 20. Jahrhundert zu Waffen des totalitären Staates geworden sind. Wie bewusst Grossman diesen Dialog mit Tolstoi führte, geht daraus hervor, dass er Ikonnikow als einen ehemaligen Tolstoi-Anhänger beschreibt, der den Glauben an weltanschauliche Überzeugungen jeder Art, einschließlich der Philosophie Tolstois, aufgegeben hat. Ikonnikow bezeugt, am 15. September 1941 – dem Todestag von Grossmans Mutter – der Hinrichtung von zwanzigtausend Juden beigewohnt zu haben. »An dem Tag habe ich begriffen, dass Gott so etwas nicht hätte zulassen können, und mir wurde klar, dass es ihn nicht gibt.« (LS, 26).
Individuen können auf eine weitere Art ihre Fähigkeit zu unabhängigem moralischen Handeln bewahren, und zwar durch das Gespräch mit jenen, die der Staatsmacht zum Opfer gefallen sind. Das moralische Opfer der Toten hat die Kraft, die Lebenden in ihrem Menschsein zu bestärken. Dies kann allerdings nur dann geschehen, wenn die Kriegstoten ins Leben zurückgerufen werden, und zwar von Schriftstellern, die sie mit einem Gesicht und individuellen moralischen Zügen versehen. Grossmans Versuch, das menschliche Leiden im Krieg zu individualisieren, ist der rote Faden, der sich durch sein Schreiben seit den Kriegsjahren zieht. Die folgende Passage in »Leben und Schicksal« verdeutlicht, wie der Autor Leben und Tod miteinander in Dialog setzt: Vera, die Frau des Jagdfliegers Viktorow, ist aus Stalingrad auf einen Lastkahn am gegenüberliegenden Wolgaufer evakuiert worden. Dort erfährt sie vom sowjetischen Gegenangriff gegen die deutschen Truppen. Vera hält ihren Säugling auf dem Schoß umschlungen und bricht in Tränen aus, während sie der Radioansage zuhört: »Ein unsichtbares beglückendes Band spannte sich zwischen ihnen und jenen Männern, die jetzt, das Gesicht mit der Hand vor dem Wind schützend, durch den Schnee marschierten, und mit jenen, die im Schnee in ihrem Blut lagen und sich mit dunklem Blick vom Leben verabschiedet hatten.« Veras Gedanken wenden sich ihrem Mann, dem Piloten, zu: Unter Tränen malte sie sich freudig aus, wie ihr Mann zu ihr hierherkommen würde, wie die Frauen, Greise und Arbeiter ihm Platz machen und zu ihm sagen würden: »Junge!« (LS 740)
Abrupt, ganz im Stil Tolstois, schneidet Grossman auf der nächsten Seite zu einer neuen Szene: der Diensthabende im Stab erstattet dem Chef einer Luftarmee Meldung über den Einsatz der Jagdflieger am ersten Tag der Offensive. Am Ende seines Berichts vermerkt der Offizier, dass das Flugzeug von Oberleutnant Viktorow in Brand geschossen worden sei und es nicht mehr zurückgeschafft habe. Der Pilot sei auf einer Höhe im Niemandsland gelandet. Versuche von Rotarmisten, ihn zu retten, seien von den Deutschen abgewehrt worden. Der Befehlshaber hört zerstreut zu, während er sich mit dem Bleistift an der Nase kratzt. Das kurze Kapitel, weniger als eine Seite lang, endet so: »Die ganze Nacht lag der tote Flieger auf dem schneebedeckten Hügel. Es herrschte klirrender Frost, und die Sterne leuchteten hell und klar. In der Morgendämmerung färbte sich der Hügel rosa, und der Flieger lag auf einem Rosenhügel. Dann brach ein Schneesturm los und begrub ihn unter sich.« (LS 741) In diesen Zeilen schien Grossman den Appell Ehrenburg umzusetzen, dass ein sowjetischer Tolstoi die Seele eines jungen Sowjetoffiziers zeige, wie er sterbend unter dem winterlichen Sternenhimmel Ostpreußens liegt.
Grossman beschäftigte wie Tolstoi die Frage des Todes, doch befolgte er damit eine andere Absicht als sein Vorgänger. Tolstoi ging es um den Tod als ein plötzliches Ende der menschlichen Existenz. Warum leben wir, wenn wir wissen, dass wir ohnehin sterben müssen? Eigentlich ging es Tolstoi also um den Sinn des Lebens. Bezeichnenderweise sind Tolstois Soldaten in »Krieg und Frieden« selbst unter den schwersten Schlachtbedingungen munter und kindlich fröhlich. Grossman hingegen suchte den Sinn des Todes zu erfassen. Er lotete die Gefühlszustände individueller Rotarmisten aus, von denen jeder bisweilen mit seinen Gedanken allein blieb und keiner gegen Angst gefeit war, im Gegensatz zu Tolstoi, der den Mythos des furchtlosen russischen Soldaten propagierte. Für Grossman war es wichtig, die Zweifel und Ängste der todgeweihten Soldaten zu beleuchten; damit unterstrich er nur den moralischen Wert ihres Tods.
Grossman war davon überzeugt, dass die gefallenen Soldaten für einen moralischen Zweck starben. Sie opferten sich, damit andere leben konnten. Sie starben für das sowjetische Volk und eine bessere Welt. In späteren Jahren kritisierte Grossman die monumentale Kriegserinnerung seitens des sowjetischen Staats, und er predigte stattdessen eine kleine und unbedachte »schlichte menschliche Güte«, doch gab er nie seinen Glauben an das Kriegsheldentum des »Sowjetvolks« auf. Diese widersprüchlichen Überzeugungen behielt Grossman bis zu seinem Lebensende bei, genauso wie er seine jüdische Identität zu artikulieren begann, ohne sich dabei von seiner anderen Selbstwahrnehmung als sowjetischer oder russischer Schriftsteller zu lösen. Aus den Erinnerungen der Tochter Grossmans wissen wir, wie sehr ihr Vater dem Mythos vom sowjetischen Volkskrieg verpflichtet war. Bei abendlichen Zusammenkünften der Familie wurden häufig Lieder aus dem Krieg gesungen. Unweigerlich steuerte der Abend seinem Höhepunkt zu: Mit seiner unmelodiösen, donnernden Stimme intonierte ihr Vater das berühmte Lied vom »Heiligen Krieg«. Das Lied übte eine solche Macht auf ihn aus, dass er aufstehen musste. »Vater steht stramm, die Hände an der Hosennaht, als wäre er auf einer Parade. Sein Gesicht ist ernst und feierlich. ›Steh auf, steh auf du Riesenland / Heraus zur großen Schlacht / … Dies ist ein Krieg des Volkes / ein heiliger Krieg / Den Nazihorden Widerstand! / Tod der Faschisten-Macht!‹«17
Für Grossman barg das Heldenopfer des Volkes die Wahrheit des Krieges in sich – die Wahrheit nicht im Sinne eines Sozialhistorikers, der die im Roman unterdrückten, schmutzigen und dezidiert unheroischen Seiten des Krieges in den Blick nehmen würde, sondern im moralischen Verständnis eines Schriftstellers, dem es darum ging, die geistigen Ressourcen und Antriebsfedern in seiner Gesellschaft freizulegen und damit den Weg für eine bessere Zukunft zu bahnen.
Grossmans Darstellung der soldatischen Kriegserfahrung besitzt Glaubwürdigkeit und Stärke, weil sie seinem eigenen Leben und dem Leben der Menschen in seiner Umgebung entlehnt war. Das unterschied ihn von Tolstoi, der, wie Grossmans Kommissar Krymow bemerkte, die Napoleonische Zeit selbst nicht erlebte und den Krieg von 1812 aus einer Distanz von über fünfzig Jahren beschrieb. Ferner war Graf Tolstoi, der als Offizier im Krimkrieg diente, durch erhebliche soziale Barrieren von den einfachen Soldaten getrennt, deren Volksgeist er zu erfassen suchte. Umgekehrt verfügte Grossman über eine sprichwörtliche Fähigkeit, das Vertrauen von Rotarmisten im Handumdrehen zu gewinnen.18
Tolstoi schrieb »Krieg und Frieden« in einer glücklichen Phase seines Lebens, was den überschwänglichen Ton des Romans mit erklären mag. Selbst die von Leichen übersähten Wiesen bei Borodino erscheinen im erlösenden Glanz der Natur. Der Nebel hat sich gelichtet, und die »schrägen Strahlen der aufsteigenden hellen Sonne warfen über das ganze Gelände in der reinen Morgenluft ein scharfes, golden und rosafarben schimmerndes Licht«. Grossmans Tonalität ist viel düsterer. Kein Sonnenstrahl durchdringt den Nebel, der das Konzentrationslager in den Morgenstunden umhüllt. Allein die Scheinwerfer einer militärischen Lastwagenkolonne beleuchten die Szene. Ihr Licht fällt auf die Stacheldrahtreihen des Lagerzauns, während im Hintergrund Sirenen heulen.
Die moralische Verpflichtung, der Toten zu gedenken, zieht sich leitmotivartig durch Grossmans Werk. Sie prägte sein gesamtes Leben nach dem Krieg. Sie war auch der Grund für sein Bemühen, dokumentarische Zeugnisse der Massaker an den sowjetischen Juden in der Form eines »Schwarzbuchs« zu sammeln – ein von Albert Einstein angeregtes Projekt, an dem Grossman im Auftrag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees arbeitete. Die Arbeit des Komitees wurde von den Behörden torpediert. »Man darf die Toten nicht aufteilen«, lautete der Einwand staatlicher Stellen auf alle Initiativen, jüdisches Leid zu dokumentieren. Alle Völker der Sowjetunion hätten unter den Deutschen gelitten; keinem einzelnen Volk gebühre hierbei ein besonderes Gedächtnis. Statt von ermordeten Juden sprach man von der »Vernichtung friedlicher Sowjetbürger«, was einer Leugnung des Holocaust nahekam. Die antisemitische Kampagne der späten Stalinzeit führte zur Schließung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees wie auch des jüdischen Verlags, in dem das »Schwarzbuch« bereits druckfertig war. Auch nach Stalins Tod durfte die Dokumentation nicht in der Sowjetunion erscheinen.19
Für Grossman war es essentiell, den Horror der deutschen Verbrechen nicht in Form abstrakter Tabellen und Statistiken zu erfassen, denn dies würde der Dehumanisierung der Opfer nur noch weiter Vorschub leisten. Das »Schwarzbuch« hat einen sehr persönlichen Fokus, es erwähnt einzelne Menschen bei ihrem Namen und enthält viele persönliche Details, eben weil es darum ging, einer größtmöglichen Zahl von Opfern als einzigartigen Individuen zu gedenken. Am bewegendsten zeigt sich dieses Bemühen, mit den Toten zu kommunizieren, in Wassili Grossmans Verhältnis zu seiner Mutter. Im Unterschied zu seinem Romanhelden Viktor Strum erhielt Grossman keinen letzten Brief von seiner Mutter. Er hingegen schrieb wiederholt an ihren Todestagen Briefe an sie, als könnte er sie dadurch ins Leben zurückrufen. Ganz im Geist dieser namentlichen Erinnerung, die Wassili Grossman im »Schwarzbuch« pflegte und die sein Leben seit dem Krieg prägte, versah er seinen Roman »Leben und Schicksal« mit einer persönlichen Widmung an seine Mutter Jekaterina Saweljewna Grossman.
Gekürzte und überarbeitete Fassung eines in englischer Sprache in der »Raritan Review (Spring 2007)« erschienenen Essays