TEIL VIER HAIFA
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Wäre ich mir meiner Liebe zu Andie DeGrasse nicht sicher gewesen, hätte der Flug nach Israel alle Zweifel ausgeräumt. Die meiste Zeit saßen wir Händchen haltend nebeneinander. Ich spürte einen stetigen Fluss von ihr zu mir. Sie schlief, den Kopf an meine Schulter gelehnt. Sie stärkte mir den Rücken. Sie gab milden Mut, das zu tun, was ich für das Richtige hielt.
Unseren ersten Abend in Tel Aviv verbrachten wir beim Essen in einem ruhigen Café auf der Shenkin Street, wo wir gegen den Jetlag ankämpften. In unserem Hotelzimmer schliefen wir miteinander und versuchten, zumindest für einen Abend, zu vergessen, warum wir hier waren. Am nächsten Morgen wollten wir nach Haifa fahren.
Die Fahrt dauerte nur etwa eineinhalb Stunden. Entlang der Küste kamen wir durch mehrere Orte hindurch. Aber die Schönheit von Haifa überraschte mich. Die Stadt erstreckte sich malerisch am Abhang des Karmelgebirges. Ganz unten befanden sich der Hafen und die Altstadt mit ihren antiken, von Kreuzfahrern errichteten Steinmauern. Auf halber Höhe lag das geschäftige Zentrum mit den Bäckereien, Basaren und modernen Geschäften, und darüber wohnten die Reichen der Stadt.
Dort oben standen moderne Hotels, feudale Häuser mit traumhaftem Blick übers Mittelmeer und schicke Restaurants und Geschäfte auf Prachtstraßen.
Auch Kolya Remlikov wohnte hier oben.
Natürlich war Remlikov in Haifa unter einem anderen Namen gemeldet,
der aber keine Rolle spielte. Wir brachten unser Gepäck ins Dan
Panorama Hotel. Der Blick aus dem vierundzwanzigsten Stock war
umwerfend.
»Es ist wunderschön«, schwärmte Andie und schaute aus dem
Fenster.
»Das ist es.« Ich nickte und legte meine Hände auf ihre Schultern.
»Denk aber daran, warum wir hier sind.«
»Aber deswegen können wir uns doch die Zeit gönnen, um im
Mittelmeer zu schwimmen.«
»Geh ruhig.« Ich nahm ein paar Sachen aus meinem Koffer: ein
Fernglas, eine Landkarte, meine Waffe, die registriert war. »Ich
bin bald wieder da.«
»Nick.« Andie drehte sich mit besorgtem Blick zu mir. »Tu nichts
ohne mich. Versprochen?«
»Immer mit der Ruhe.« Ich lächelte. »Ich gehe mich nur umschauen.
Versprochen.«
Ich hatte einen Ford gemietet, der vor dem Hotel stand, und setzte
mich ans Steuer, wo ich die Karte wieder zusammenfaltete. Ich hatte
mir diese Route so oft im Voraus angeschaut und kannte den Weg
schon auswendig.
Yehudi Street 225.
Ich fuhr den Berg auf dem Yefe Nof weiter hinauf, einem kleinen
Weg, der am Hotel vorbeiführte. Dort oben lag das Karmel-Center –
Parks, Museen, schicke Cafés. Von hier aus wand sich die Straße in
immer enger werdenden Kurven mit Blick aufs Meer hinauf. Ich bog
auf die Hayem, dann an der Vashar Street ab. Hier oben gab es teure
Häuser mit spektakulärem Ausblick. Aber ich fuhr noch höher. Die
Straße klebte an der felsigen Seite des Karmelgebirges. Das
leuchtende Mittelmeer lag über dreihundert Meter unter
mir.
Schließlich fand ich die Yehudi Street. Es war eine ruhige
Wohnstraße mit umwerfendem Blick. Die Nummer 225, ein weißes,
zeitgenössisches Flachdachhaus mit gepflasterter Einfahrt, lag
weiter hinten. Wut stieg wieder in mir auf, als ich daran
vorbeifuhr. Hinter der nächsten Kurve blieb ich an einer Stelle
stehen, an der ich mich unbeobachtet glaubte. Dort stieg ich aus
und blickte durchs Fernglas zum Haus zurück.
Das Haus war teuer. Für Mord bekommt man immer ein hübsches
Sümmchen bezahlt. Es war keine Menschenseele zu sehen, weder vor
noch im Haus. In der Einfahrt stand ein blauer Minivan, ein
europäisches Modell.
Nachdem ich das Grundstück ein paar Minuten beobachtet hatte, war
mir klar, dass ich besser weiterfahren sollte, weil in diesem
reichen Viertel wahrscheinlich Polizisten ihre Runden drehten. Ich
konnte zwar immer behaupten, ich wäre wegen der Aussicht hier, aber
es war nicht gut, allzu lange hier herumzuhängen.
Plötzlich wurde das Garagentor geöffnet.
Ein weißer Audi fuhr rückwärts heraus. Ich holte ihn mit dem
Fernglas heran. Die Scheiben waren getönt, aber die auf der
Fahrerseite war nach unten gekurbelt.
Er war es! Remlikov! Er trug eine Sonnenbrille, doch ich erkannte
ihn sofort. Mein Herz machte einen Satz, als hätte es einen
Elektroschock verpasst bekommen.
Er saß nicht alleine im Wagen. Ich schwenkte das Fernglas ein Stück
zur Seite. Es war ein Junge. Auf dem Beifahrersitz. Er sah aus wie
zehn, vielleicht etwas älter. Als der Audi in der Einfahrt wendete,
hatte ich einen perfekten Blick auf Remlikov.
Jetzt habe ich dich, Remlikov, du Schwein!
Der Audi bog auf die Yehudi Street und fuhr davon.
Ich blieb noch einige Minuten stehen und machte mir Notizen zum
Haus. Ich wollte ihm noch nicht folgen. Das hatte ich Andie
versprochen. Ich stieg wieder in meinen Wagen und fuhr ebenfalls
los.
Als ich am Haus vorbeikam, hielt ich kurz vor dem Briefkasten an
und zog die Klappe auf. Rasch siebte ich die Post durch und
schnappte mir die unauffälligste Werbesendung, die ich finden
konnte. Auch in Israel wurde man mit Werbung versorgt.
Als ich ins Hotel zurückkam, lag Andie auf dem Bett, wo sie gerade
ein Nickerchen machte. Sie drehte sich zu mir. »Was hast du
herausgefunden?«
»Ich habe mir das Haus angesehen. Es liegt ganz in der Nähe. Ich
zeige es dir morgen.«
Andie setzte sich auf und nickte etwas zögernd.
»Und das hier.« Ich warf den Brief zu ihr aufs Bett, ein
Werbeschreiben eines örtlichen Teppichreinigers. »Ein Andenken. Er
heißt nicht Remlikov oder Kollich.
Er heißt Richard Nordeschenko.«