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Ich saß während der Geschworenenbefragung in der zweiten Reihe, nicht weit von der Richterin entfernt. Sicherheitsbeamte säumten die Wände, bereit, in Aktion zu treten, sobald sich Cavello auch nur an der Nase kratzen würde. Die meisten Marshals wussten, dass ich derjenige war, der Cavello einkassiert hatte, und der Fall für mich eine persönliche Angelegenheit war.
Die Warterei bis zu den Eröffnungsplädoyers,
bis zum Auftritt des ersten Zeugen machte mich fast
wahnsinnig.
Wir hatten Miriam Seiderman als Richterin bekommen. Ich hatte sie
schon in zwei Gerichtsverhandlungen erlebt, und immer schien sie
sich für die Angeklagten ins Zeug zu legen. Aber sie war gründlich
und gerecht und führte die Verhandlungen mit strenger Hand. Es
hätte für uns viel schlimmer kommen können.
Was die Geschworenen betraf, sahen die für mich ganz passabel aus.
Ein paar von ihnen waren ausgesprochen unterhaltsam.
Da war so ein Verizon-Typ mit Neuengland-Akzent, der meinte, er
habe drei Häuser in Brooklyn, die er verwalte, und er werde sowieso
seine Arbeit bei der Telefongesellschaft schmeißen, so dass es ihm
egal sei, wie lange das mit der Gerichtsverhandlung
dauere.
Und ein Krimiautor, der von einer Frau aus der Gruppe erkannt
wurde. Sie las sogar gerade ein Buch von ihm.
Dann die Frau in der dritten Reihe. Die Schauspielerin und
alleinerziehende Mutter. Die war richtig munter und gewitzt, hatte
dichtes, braunes Haar mit rötlichen Strähnen. Auf ihrem TShirt
stand »Bitte nicht stören«. Irgendwie lustig.
Ein- oder zweimal drehte sich Cavello zu mir. Aber die meiste Zeit
saß er einfach da, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte stur
geradeaus.
Ein paarmal kreuzten sich unsere Blicke. Und, wie geht’s, Nicky,
schien sein Lächeln sagen zu wollen, als hätte dieser Typ, der den
Rest seines Lebens im Knast sitzen würde, keine anderen Sorgen im
Leben.
Hin und wieder schoben er und sein Anwalt die Köpfe zusammen. Hy
Kaskel. Wurde auch das Frettchen genannt, nicht weil er seinen
Lebensunterhalt mit der Verteidigung dieser Saukerle verdiente,
sondern weil er viel zu kurz geraten war und einen trommelförmigen
Oberkörper und buschige Augenbrauen hatte, mit denen man sich die
Schuhe hätte polieren können.
Kaskel konnte sich allerdings in Szene setzen. In dieser Beziehung
war er der Beste seiner Zunft. Zwei seiner drei letzten Prozesse
gegen Mafiamitglieder gingen ergebnislos aus, beim anderen erwirkte
er einen Freispruch. Er und seine Leute saßen einfach da, taxierten
die Geschworenen und legten zu jedem Einzelnen ein eigenes Blatt
an. Der Verizon-Typ. Der Betriebswirt. Der Autor.
Ich blickte wieder zu der Schauspielerin. Mit Sicherheit dachte
sie, sie wäre draußen. Aber manchmal sind genau das die Leute, die
man als Geschworene braucht – Leute, die mal ordentlich auf den
Putz hauen, die das Eis brechen.
»Meine Damen und Herren.« Sharon Ann Moran, die Gerichtsdienerin.
Die Verteidigung und die Staatsanwaltschaft hatten ihre Auswahl
getroffen.
Ich dachte, gebt mir einfach zwölf Geschworene, die so gescheit
sind, dass sie die Drohungen und den ganzen Quatsch durchschauen.
Zwölf Geschworene, die sich nicht einschüchtern lassen.
Die Richterin las einen Namen nach dem anderen vor. Zwölf
Geschworene und sechs Stellvertreter. Sie bat sie, vorzutreten und
auf der Geschworenenbank Platz zu nehmen.
Der Krimiautor war dabei. Schockiert. Ebenso wie der Verizon-Typ.
Und die Latino-Haushälterin, diejenige, die für ihre Enkelin
strickte.
Aber die größte Überraschung war die Schauspielerin. Auch sie war
dabei! Noch nie habe ich ein so verblüfftes Gesicht gesehen. Ich
glaube, niemand hier im Gerichtssaal konnte sich ein Lächeln
verkneifen.
»Ms. DeGrasse, Geschworene Nummer elf, Sie können auf der
Geschworenenbank Platz nehmen«, forderte sie die Richterin ebenso
amüsiert auf. »Sie haben die Rolle bekommen, meine
Liebe.«
Der gläserne Fahrstuhl des Marriott Marquis erhob sich immer höher
über den Times Square, und das Glitzern unten auf der Straße rückte
für Richard Nordeschenko in immer weitere Ferne. Das hätten wir
hinter uns!
»Zum ersten Mal im Marriott, Mr. Kaminsky?«, fragte der Page auf
dem Weg in den einundvierzigsten Stock.
»Ja«, log Nordeschenko.
Die Wahrheit war, er hatte schon alle Hotels rund um den Times
Square abgeklappert. Die Gegend übte einen besonderen Reiz auf ihn
aus. Nicht die Lichter oder das nächtliche Vergnügungsangebot, an
dem er keinen Anteil nahm. Es war die Menschenmenge. Falls etwas
schiefging, brauchte er sich, egal zu welcher Tages- oder
Nachtzeit, nur unter die Leute zu mischen.
»Kiew, oder?« Der Page grinste ihn an. Das war keine Frage, eher
eine Feststellung. »Sie sind aus der Ukraine, oder? Ihr Akzent. Das
ist so eine Art Spiel für mich. Zwanzig Stockwerke, mehr brauche
ich normalerweise nicht.«
»Tut mir leid.« Nordeschenko schüttelte den Kopf. »Tscheche.«
Innerlich kochte er vor Wut. Dieser geschwätzige Page hatte sich an
ihm festgebissen. Vielleicht war es einfach nur der Jetlag, aber er
hatte sich wohl zu sehr gehen lassen.
Der Fahrstuhl öffnete sich, und der Page deutete den Flur entlang.
»Immerhin nahe dran.« Nordeschenko lächelte mit einem
entschuldigenden Achselzucken. »Aber – wie sagt man hier? – knapp
daneben ist auch vorbei.«
Er war ohne Pause achtzehn Stunden unterwegs gewesen, mit
Zwischenstopp in Amsterdam unter holländischem und in Miami mit
einem Geschäftsvisum. Auf dem Flug hatte er zur Entspannung Chopin
und Thelonious Monk eingelegt und ein Schachprogramm auf seinem
Computer auf Stufe 8 besiegt. Das hatte die Reise erträglich
gemacht.
Das und die bequemen Erste-Klasse-Sitze auf Dominic Cavellos
Rechnung.
»Von Zimmer 4223 haben Sie einen wundervollen Blick auf den Times
Square, Mr. Kaminsky.« Der Page öffnete die Zimmertür. »Es gibt ein
Aussichtsrestaurant und eine Lounge, im Zwischengeschoss das
Gourmet Renaissance Restaurant. Mein Name ist übrigens Otis, wenn
Sie während Ihres Aufenthalts etwas brauchen.«
»Danke, Otis.« Nordeschenko lächelte und drückte ihm einen
Geldschein in die Hand. Dass Otis seinen Akzent erkannt hatte,
erinnerte ihn daran, dass er nicht vorsichtig genug sein
konnte.
»Ich danke Ihnen.« Die Augen des Jungen leuchteten auf. »Wenn Sie
eine Ablenkung brauchen, lassen Sie es mich wissen. Die Bar oben
hat bis etwa zwei Uhr geöffnet. Ich kenne ein paar Orte, die auch
danach noch offen haben, wenn Sie so etwas brauchen. Sie wissen ja,
die Stadt, die niemals schläft.«
»Velký jablko«,
erwiderte Nordeschenko in perfektem Tschechisch.
»Vel-ký jab-lko?« Der Page kniff die Lider
zusammen.
»The Big Apple.« Nordeschenko zwinkerte ihm zu.
Otis lachte und deutete mit dem Finger auf ihn, während er die Tür
hinter sich schloss. Nordeschenko legte seinen Aktenkoffer aufs
Bett und nahm seinen Rechner heraus.
Er musste mit einigen Leuten Kontakt aufnehmen und ein paar Dinge
in die Wege leiten. Am nächsten Morgen erwartete ihn viel
Arbeit.
Doch in einer Sache hatte der Page gar nicht so Unrecht
gehabt.
Für heute Abend hatte er vor, sich auf seine eigene Art zu
vergnügen.
Heute Abend würde er pokern – mit Dominic Cavellos Geld. »Ihr
Einsatz.« Der Geber nickte in seine Richtung, woraufhin
Nordeschenko einen neuen Hundert-Dollar-Chip in die Mitte des
Tisches warf.
Er saß in einem schicken Pokerclub auf der Upper East Side, genauer
gesagt in einem großen Raum mit Kassettendecke und hohen
palladianischen Fenstern, die mit goldbestickten Vorhängen
abgedeckt waren. Hier schienen alle Typen von Menschen vertreten zu
sein – attraktive Frauen in Abendkleidern, die sich an gesonderten
Tischen mit kleinen Einsätzen begnügten, und die üblichen Gäste mit
dunklen Brillen, die um alles zu spielen schienen, was sie
hatten.
Es war schon nach ein Uhr nachts, und an den vier Tischen herrschte
noch reger Betrieb.
Nordeschenko nippte an seinem Stoli Martini, als er vom Geber zwei
niedrigere Karten bekam. Er spielte das, was sie hier einen
Freeze-Out nannten. Sein Startgeld von dreitausend Dollar hatte ihm
Chips im Wert von zehntausend eingebracht. Wer hat, dem wird
gegeben.
Um zehn Uhr hatten acht Leute um den Tisch gesessen, jetzt waren es
nur noch drei: Nordeschenko, Julie, eine attraktive Frau mit
glattem blondem Haar und eng geschnittenem Hosenanzug, und jemand,
dem Nordeschenko den Spitznamen Cowboy gegeben hatte, ein
unangenehmer, mit den Fingern trommelnder Idiot mit Cowboyhut und
Pilotensonnenbrille, der sich nicht davon abbringen ließ,
Nordeschenko wegen seines Akzents Iwan zu nennen.
Nordeschenko hatte den ganzen Abend geduldig darauf gewartet, dass
er am Ende mit ihm alleine wäre.
Er blickte auf seine Karten hinab. Ein Ass und eine Königin von
einer Farbe. Sein Herz schlug schneller. Als es um den Einsatz
ging, warf er einen Fünfhunderter-Chip in die Mitte.
Früher war Nordeschenko, wenn ihn seine Reisen nach New York
geführt hatten, immer in einen russischen Club in Brooklyn
gegangen, um Schach zu spielen, manchmal um tausend Dollar pro
Spiel. Er hatte sich behaupten können, und bald schon war ihm sein
Ruf vorausgeeilt, womit er aber Aufmerksamkeit auf sich zog. Doch
Aufmerksamkeit war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Derzeit
war also Poker angesagt.
Julie, die am wenigsten Chips vor sich liegen hatte und vorsichtig
spielte, wollte die Karten sehen, doch Cowboy, der die Hände
aneinanderrieb, schob einen Stapel mit zehn Grünen in die Mitte des
Tisches. »Tut mir leid, meine kleine Süßwasserperle, aber bei
diesen Karten kann ich nicht still sitzen bleiben.«
Nordeschenko hätte mit seinem scharfen Blatt diesem Hanswurst die
Luftröhre durchschneiden können. Er überlegte zu erhöhen, was seine
Karten nahelegten, entschied sich aber wie die Blonde
dagegen.
»Ach Gott, sind wir hier auf Schmusekurs?«, prahlte Cowboy und ließ
seinen Stuhl nach hinten kippen.
Der Geber blätterte drei Karten hin – eine Sechs, ein Ass und eine
Neun. Damit bekam Nordeschenko seine Asse und hatte, aller
Wahrscheinlichkeit nach, die High-Hand. Er setzte dreitausend
Dollar.
Julie tippte zögernd mit ihren lackierten Nägeln auf den Tisch.
»Ach, was soll’s.« Schließlich lächelte sie. »Das ist doch nur das
Geld für die Miete, oder?«
»Nun, die Miete wurde gerade erhöht, Schätzchen«, meinte Cowboy und
schob Chips für weitere fünftausend Dollar in die Mitte.
Nordeschenko blickte ihm in die Augen. Dieses Arschloch machte es
einem ganz schön schwer. Was hatte er bloß auf der Hand? Den ganzen
Abend schon ging er mit und wartete auf eine bestimme
Karte.
»Und, was sagt Ihre Fahrkarte, Iwan?« Cowboy fummelte mit seinen
Chips herum. »Sind Sie noch dabei, oder wird’s Zeit
auszusteigen?«
»Vielleicht an der nächsten Haltestelle.« Nordeschenko zuckte mit
den Schultern und sah zu Julie hinüber.
»Bin dabei«, sagte sie und schob den Rest ihrer Chips in den
Pot.
Vier Pik. Nordeschenko hatte Recht gehabt. Er hatte es ihr
angesehen, dass sie versucht hatte, einen Flush zu spielen. Er
hatte immer noch die High Hand. Und der Cowboy bluffte.
Der Dealer gab ihm eine Karo-Dame. Nordeschenko verzog keine Miene.
Jetzt hatte er seine Asse und Königinnen.
Julie seufzte. Sie hatte es mit ihrem Flush nicht
geschafft.
»Hm, was meinen Sie, schaufeln wir noch ein paar Kohlen in den
Heizkessel und sehen mal, was der Fluss uns bringt?« Cowboy
gackerte lautstark und schob seine restlichen Chips über den Tisch
– zehntausend Dollar.
Die Umstehenden begannen leise zu murmeln. Es war klar, dass dies
das letzte Spiel sein würde. Der Gewinner würde den gesamten
Einsatz von dreißigtausend Dollar abräumen.
Cowboy starrte ihn an, aber diesmal ohne zu lächeln. »Sind Sie noch
dabei, Iwan?«
»Miroslav«, sagte Nordeschenko.
Cowboy nahm seine Sonnenbrille ab. »Hä?«
»Ich heiße Miroslav«, wiederholte Nordeschenko und zog
nach.
Der Geber drehte seine letzte Karte um. Eine Herz Zwei.
Julie stöhnte.
Nordeschenko dachte, mit seinen Assen und Königinnen müsste er
gewinnen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, was dieses
Arschloch von einem Cowboy auf der Hand hatte. Er zählte zwanzig
Hundertdollarscheine ab und warf sie außerhalb des Pots als
Nebenwette auf den Tisch.
Aber Cowboy erhöhte um weitere fünftausend. Nordeschenko war
verblüfft.
»Iwan, sind Sie noch dabei?« Cowboy kippte mit dem Stuhl nach
hinten und ließ sein widerliches Gackern wieder hören.
Nordeschenko griff in seine Jacke, zählte fünftausend Dollar in
Hundertdollarscheinen ab und legte sie auf den Tisch. Ein Vergnügen
war dieses Spiel schon lange nicht mehr.
»Asse und Königinnen.« Er legte seine Karten auf den
Tisch.
»Oh.« Cowboy blinzelte, als wäre er verblüfft.
Aber dann grinste er. »Das wird wehtun, Iwan.«
Auch er drehte sein Blatt um. Zwei weitere Zweier. Mit der letzten
Karte hatte er den dritten bekommen. Nordeschenko hatte das Gefühl,
von einer Klippe zu stürzen. Dieser Wichser hatte den Pot nur mit
zwei Zweiern in die Höhe getrieben.
Cowboy schnellte nach oben, während er wie ein Esel schrie und
seine Chips zusammenrechte. Nordeschenko hätte ihm am liebsten das
Grinsen aus dem Gesicht poliert, doch er hatte seinen irrationalen
Trieb gleich wieder unter Kontrolle.
Heute Nacht nicht. Wichtige Arbeit wartete am Morgen auf ihn. Was
er an diesem Abend verloren hatte, war nur ein Bruchteil dessen,
was er verdienen würde.
»Wissen Sie, wie man zu so was sagt, Iwan?« Cowboy sackte seinen
Gewinn ein. »Manchmal ist es besser, Glück zu haben, als gut zu
spielen. Nichts für ungut«, setzte er hinzu und streckte seine Hand
aus.
Nordeschenko erhob sich und schlug ein. In einer Sache hatte der
Idiot Recht: Er hatte an diesem Abend Glück. Mehr Glück, als er
sich überhaupt vorstellen konnte.
Der Israeli würde ihn am Leben lassen.