21
Am Mittwochmorgen wartete Kennedy vor dem Hörsaal. Ich wich seinem Blick aus, um an ihm vorbeizueilen, aber er streckte eine Hand nach mir aus. »Jacqueline – rede mit mir.«
Ich ließ mich ein paar Schritte von der Tür wegziehen, blieb jedoch mit Blick zum Hörsaal stehen, um zu sehen, wenn Lucas kam.
Er dämpfte seine Stimme und lehnte sich mit einer Schulter gegen die glatte geflieste Wand. »Chaz meint, du und Mindi, ihr hättet gestern bei der Polizei eure Aussagen zu Protokoll gegeben?«
Ich erwartete Wut oder Frust, entdeckte aber keines von beidem in seinem Gesicht. »So ist es.«
Er rieb sich mit den Fingern über seinen gepflegten Dreitagebart – eine Angewohnheit, bei der ich früher immer genau dasselbe tun wollte. »Ihr solltet wissen, dass Buck behauptet, die Sache mit Mindi wäre im gegenseitigen Einvernehmen passiert und die Sache mit dir wäre an dem Abend, von dem du es behauptest, überhaupt nicht passiert.«
Ich klappte den Mund auf und wieder zu. »Die ›Sache‹ mit Mindi? Die ›Sache‹ mit mir?«
Er ignorierte meine Empörung und fuhr fort: »Offenbar hat er ganz vergessen, dass er Chaz und mindestens einem Dutzend anderer Typen erzählt hat, ihr beide hättet nach der Party in deinem Auto rumgemacht, bevor er angegriffen wurde.«
Ich wusste, dass Buck Gerüchte in die Welt gesetzt hatte, aber die Details hatte ich nicht gehört. »Kennedy, du weißt, dass ich das niemals tun würde.«
Er zuckte mit den Schultern. »Das habe ich auch nicht vermutet, aber ich war mir nicht sicher, wie du auf unsere Trennung reagiert hattest. Ich habe selbst ein paar, äh, unschöne Dinge getan, nachdem … und ich dachte, du hättest das Recht, dasselbe zu tun.«
Ich dachte an die OBBP – Erins und Maggies Lösung für meine Bruchlandung nach der Trennung –, und ich gab – mir gegenüber – zu, dass er mit seiner Einschätzung gar nicht so falsch lag. Trotzdem fragte ich mich, ob er mich überhaupt je gekannt hatte. »Du dachtest, ich könnte so verzweifelt über den Verlust unserer Beziehung sein, dass ich anfangen würde, auf Parkplätzen wahllos mit irgendwelchen Typen herumzuvögeln?«
Er kniff sich in den Nasenrücken. »Natürlich nicht. Ich meine, ich bin im Grunde davon ausgegangen, dass er übertrieben hat. Ich hatte keine Ahnung, dass er …« Sein Kiefer spannte sich an, und seine grünen Augen flackerten. »Ich hätte nie gedacht, dass er so etwas tun würde.«
Diesen Spruch konnte ich bald nicht mehr hören.
Ich sah Lucas im selben Augenblick kommen, in dem er mich entdeckte. Ohne stehen zu bleiben, kam er sofort herüber und stellte sich neben mich. »Geht’s dir gut?«
Ich war süchtig geworden nach diesem Satz von ihm und nach der Art, wie er ihn sagte, mit einer Stimme wie Stahl unter Samt. Ich nickte. »Es geht mir gut.«
Er nickte ebenfalls und warf dann einen kurzen Blick auf Kennedy, der eine tödliche Verletzung versprach, sollte er es für angebracht halten.
Kennedy blinzelte und betrachtete über seine Schulter Lucas, wie er den Hörsaal betrat. »Der Typ ist in unserer Vorlesung? Und was zum Teufel sollte dieser Blick?« Er wandte sich wieder zu mir um, um mein Gesicht genauer zu mustern. »Chaz hat gemeint, irgendein Typ wäre an diesem Abend auf dem Parkplatz gewesen. Und dass er es war, der Buck so zugerichtet hat, nicht ein paar Obdachlose, wie Buck behauptet hat.« Er wies mit einem Daumen hinter sich. »Ist das der Typ, den er gemeint hat?«
Ich nickte.
»Warum hast du mir gesagt, du wärst einfach entkommen?«
»Ich will nicht über diesen Abend reden, Kennedy.« Nicht mit dir, fügte ich im Stillen hinzu. Ich würde noch früh genug darüber reden müssen, wenn ich vor den Verteidigern aussagen musste, und dann noch einmal, wenn der Fall vor Gericht kam.
»Na schön. Aber an dem Abend neulich warst du nicht unbedingt aufrichtig zu mir.«
»Ich war aufrichtig, ich habe nur nicht alle Einzelheiten offengelegt. Ich weiß gar nicht, warum ich es dir überhaupt erzählt habe – vor allem nachdem du mich gebeten hast, die Anschuldigungen fallenzulassen, damit die Verbindung das Gesicht wahren kann …«
»Das war ein Fehler. Einer, der berichtigt wurde …«
»Ja, von einem Haufen Verbindungsschwestern, die weitaus mutiger waren als ihr. Mindi war kurz davor, sich eurem Druck zu beugen, und wenn sie ihre Anschuldigungen zurückgenommen hätte, dann hätte ich gar nichts gegen Buck in der Hand gehabt. Ausgerechnet du weißt das doch am besten. Schönen Dank auch, Kennedy, für deine ganze Unterstützung.« Ich seufzte. »Hör zu, ich bin dir dankbar, dass du mit Buck geredet hast, und ich weiß, dass du wirklich nicht wolltest, dass er mir etwas antut. Aber er muss ins Gefängnis gehen, nicht nur von einem Kommilitonen zusammengeprügelt und aus der Verbindung ausgeschlossen werden.« Ich schob mich an ihm vorbei, um den Hörsaal zu betreten.
»Jacqueline – es tut mir leid.«
Ich blieb für einen Moment stehen. Erin hatte recht. Manche Entschuldigungen kamen zu spät. Ich nickte, akzeptierte seine Entschuldigung um all dessen willen, was wir einmal gewesen waren, aber nicht mehr.
Dr. Heller hatte mit seiner Vorlesung bereits begonnen. Ich schlüpfte unauffällig auf meinen Platz, fing Benjis erfreutes Lächeln auf und gratulierte mir selbst dazu, dass ich eine Überlebende geworden war. Ich hatte Kennedys Entschluss überlebt, unsere Beziehung zu beenden. Ich hatte überlebt, was Buck mir anzutun versucht hatte. Zweimal. Und ich würde es überleben, wenn Lucas mir seine persönlichen Dämonen nicht anvertrauen wollte – oder konnte.
Die Bäume hatten ihre Blätter abgeworfen, ohne dass ich es bemerkte. Der Herbst war hier unten immer eine schnelle Angelegenheit – nie die langsame, farbenprächtige Verwandlung, die er weiter oben im Norden vollzog. Ich war zu sehr in Gedanken verloren, um den Wandel wahrzunehmen. Es schien, als wären die Bäume an einem Tag noch dicht und grün gewesen und schon am nächsten alle Blätter verschwunden, bis auf die kleinen, toten Haufen, die sich in Terrassenecken und unter Gartenhecken sammelten.
Die vereinzelten warmen Tage waren ebenfalls vorüber. Lucas und ich hatten uns fest in unsere Mäntel gepackt, und ich hatte mir den Schal zweimal um den Hals geschlungen und übers Gesicht gezogen. Ich atmete in den Schal aus und genoss die Wärme, die mir für einen Moment entgegenschlug.
Lucas zog sich seine Wollmütze etwas tiefer ins Gesicht. »Soll ich heute Nachmittag mitkommen? Ich kann jemanden bitten, meine Schicht bei Starbucks zu übernehmen.«
Ich drehte den Kopf zu ihm um, soweit es der dicke Schal erlaubte. »Nein. Mindis Eltern sind hier. Sie kümmern sich um alles, was wir brauchen. Sie haben sogar angeboten, mir ein Hotelzimmer zu besorgen – sie behalten Mindi die ganze nächste Woche dort bei sich, und nach den Abschlussprüfungen nehmen sie sie gleich mit nach Hause. Ihr Dad schafft ihr Zeug heute Abend aus ihrem Wohnheimzimmer. Erin sagt, dass sie vielleicht gar nicht mehr wiederkommen wird.«
Er legte die Stirn in Falten. »Ich nehme an, es würde nichts nützen, ihnen zu sagen, dass das überall hätte passieren können.«
Ich schüttelte den Kopf. »Vielleicht, wenn sie den ersten Schock verdaut haben. Aber Mindi wird vielleicht sowieso nicht mehr hierher zurückkommen wollen, selbst wenn das stimmt.«
»Verständlich«, murmelte er. Er starrte vor sich hin, während wir weitergingen.
Wir schwiegen, bis wir das kleine Gebäude erreichten, in dem mein Spanischkurs stattfand. »Ich wünschte, ich könnte wieder schwänzen, aber wir halten heute die Referate, die in die Gesamtnote eingehen.«
Er streckte lächelnd die Hand aus, um eine widerspenstige Strähne wegzuzupfen, die an meiner Lippe klebte. Mit meinen behandschuhten Fingern bekam ich sie nicht zu fassen. Sein Zeigefinger war leicht grau, und ich nahm an, dass er heute während der Vorlesung wieder gezeichnet hatte. »Ich würde dich gern noch einmal sehen, bevor du nach Hause fährst. Abgesehen von dem Kurs am Samstag, meine ich.« Sein Finger glitt über meine Wange, tauchte in die Tiefen des Schals ein und verharrte unter meinem Kinn.
Ich spürte, wie mir flau im Magen wurde. Mit wortlosen Abschieden kannte ich mich inzwischen gut aus, und in seinen Augen lag ein Abschied. Ich war nicht bereit, ihn zu sehen. »Ich habe heute Abend einen Soloauftritt für eine Abschlussprüfung, am Freitag ein Pflichtkonzert, an dem ich teilnehmen muss, und am Samstag tritt mein Ensemble auf. Aber ich kann morgen Abend bei dir vorbeikommen, wenn du willst.«
Er nickte, während er mir in die Augen blickte. Er sah aus, als würde er mich vielleicht küssen. »Das wäre schön.« Studenten eilten rings um uns noch immer zu ihren Seminaren. Ich war noch nicht spät dran. Er zog mir den Schal wieder übers Kinn und lächelte. »Du siehst aus wie eine halbe Mumie. Als wäre jemand dabei unterbrochen worden, wie er dich in dein Leichentuch gewickelt hat.«
Ein breites Lächeln von Lucas war so selten. Ich war sein geisterhaftes Lächeln, seine düstere Miene und seine eindringlichen Blicke so gewohnt, dass mir der Atem stockte. Und dann erwiderte ich sein Lächeln, und auch wenn er meinen Mund nicht ganz sehen konnte, wusste ich doch, dass ich dieselben Fältchen um die Augen hatte wie er und das dunklere Blau meiner Augen sich in seinen graublauen spiegelte. »Vielleicht habe ich ihm ja mit einem Hammerfaustschlag die Nase demoliert, bevor er mir dieses ganze fiese Mumienzeug antun konnte.«
Er lachte leise, noch immer mit diesem warmen Lächeln im Gesicht, und ich neigte mich zu ihm vor wie eine Blume zum Sonnenlicht.
»Du stehst auf diese Hammerfaustschläge.«
»Vielleicht nicht ganz so sehr wie Erin auf die Eiertritte.«
Er lachte wieder und beugte sich vor, um mich auf die Stirn zu küssen, bevor er mich rasch losließ und sich umsah. Sein Lächeln schwand, und ich glaubte, ich wäre zu fast allem bereit, um es zurückzuholen. »Schickst du mir eine SMS, wenn du heute Nachmittag fertig bist?«
Ich nickte. »Mache ich.«
Ich war mir nicht sicher, was ich finden würde, als ich Lucas’ Namen am Mittwochabend googelte. Ich hoffte auf einen Nachruf, der mir einen ersten Anhaltspunkt liefern würde, und ich fand ihn. Wie so viele Nachrufe gab auch der für Rosemary Lucas Maxfield keinen Hinweis darauf, wie sie gestorben war. Kein »Anstelle von Blumen spenden Sie bitte an« mit dem Namen irgendeiner grässlichen Krankheit am Ende, die eine junge Mutter dahingerafft hatte. Ich googelte ihren Namen, ohne irgendetwas zu erwarten – aber etliche Artikel wurden angezeigt, alle acht Jahre alt. Bei den Überschriften verschlug es mir den Atem. Ich wählte eine davon aus und klickte sie an. Mein Herz pochte so heftig, dass ich die einzelnen Schläge spüren konnte – während ich wünschte, bei diesen Berichten würde es um die Mutter von irgendjemand anderem gehen. Von jemandem, den ich nicht kannte.
ZWEI TOTE BEI MÖRDER-SUIZID
Die Behörden haben die entsetzlichen Einzelheiten zu einem Mord mit anschließendem Selbstmord bestätigt, der sich am frühen Dienstagmorgen bei einem Einbruch in ein Privathaus ereignet hat. Nach Angaben der Polizei ist Darren W. Smith, ein Handwerker aus der Gegend, am Dienstagmorgen gegen vier Uhr in das Zuhause von Raymond und Rosemary Maxfield eingedrungen. Dr. Maxfield befand sich zu der Zeit auf Geschäftsreise. Nachdem er ihren Sohn in seinem Zimmer gefesselt hatte, vergewaltigte Smith Rosemary Maxfield mehrmals, bevor er ihr die Kehle durchschnitt. Todesursache war ein massiver Blutverlust aufgrund mehrerer brutaler Schnittverletzungen. Anschließend erschoss Smith sich selbst. Zu den am Tatort gefundenen Waffen gehörten ein sieben Zoll langes Jagdmesser und eine 9-mm-Pistole.
Smith gehörte zu einer Gruppe von Handwerkern, die im Sommer am Haus der Maxfields gearbeitet hatten. Ein anderer Zusammenhang zwischen Smith und den Maxfields ist nicht ersichtlich, trotz der überwachungsartigen Aufnahmen von der Familie, die die Ermittler gestern in Smiths Wohnung fanden. Die Polizei geht davon aus, dass Smith von Dr. Maxfields Abwesenheit wusste.
Da er seine Frau oder seinen Sohn am Dienstagabend noch immer nicht erreichen konnte, bat Raymond Maxfield Freunde der Familie, Charles und Cindy Heller, nach dem Rechten zu sehen. Gegen sieben Uhr abends entdeckte das Paar Rosemary Maxfield blutüberströmt in ihrem Schlafzimmer, neben Smiths Leiche, der sich mit einem Kopfschuss getötet hatte. Der minderjährige Sohn wurde ins Bezirkskrankenhaus gebracht und wegen Dehydrierung, Schock und kleinerer Verletzungen aufgrund der Fesselung behandelt, er blieb ansonsten aber unverletzt.
Heller gab an diesem Abend eine kurze Erklärung ab, in der er die Presse und die Bevölkerung bat, Maxfield und seinem Sohn etwas Privatsphäre zu lassen, um den Schock zu verarbeiten, nachdem sie ihre 38-jährige Ehefrau und Mutter auf solch entsetzliche Weise verloren hatten. »Ich war in der Armee. Special Forces. Ich habe ein paar schlimme Dinge erlebt. Aber das war das Schlimmste, was ich je gesehen habe, und ich werde es immer bereuen, meine Frau an diesem Abend mitgenommen zu haben«, erklärte Heller. Die Hellers und die Maxfields sind seit über sechzehn Jahren eng befreundet. »Rose war eine fürsorgliche Ehefrau und Mutter, eine liebevolle und wunderbare Freundin. Wir werden sie schrecklich vermissen.«
»Danke, dass Sie mich außerhalb Ihrer Sprechzeiten empfangen.« Ich holte einmal tief Luft und setzte mich, die Hände im Schoß verknotet. »Ich muss mit Ihnen über Lucas reden. Es gibt etwas, das ich über ihn wissen muss.«
Dr. Heller furchte die Augenbrauen. »Ich bin mir nicht sicher, was ich preisgeben darf. Wenn es persönlicher Art ist, sollten Sie ihn besser selbst fragen.«
Ich hatte schon befürchtet, dass er das sagen würde, aber ich musste mehr wissen, bevor ich Lucas wiedersah. Ich musste wissen, ob diese Nacht ursächlich für die Narben an seinen Handgelenken war oder ob mehr dahintersteckte. »Ich kann ihn nicht fragen. Es geht um das … was mit seiner Mutter passiert ist. Mit ihm.«
Dr. Heller starrte mich an, als hätte ich ihm mit der Faust in den Magen geschlagen. »Er hat Ihnen davon erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe seinen Namen gegoogelt, auf der Suche nach ihrem Nachruf. Als dieser mir keinen Hinweis darauf gab, wie sie gestorben war, habe ich Ihren Namen gegoogelt. Und Ihr Name stand in dem Artikel, den ich gefunden habe.«
Seine Miene verdüsterte sich. »Miss Wallace, ich bin nicht gewillt, darüber zu reden, was mit Rose Maxfield passiert ist, nur um irgendjemands morbide Neugier zu befriedigen.«
Ich holte zitternd Luft. »Es ist keine Neugier.« Ich rutschte auf die Stuhlkante vor. »Seine Handgelenke – sie sind beide voller Narben. Ich habe noch nie jemanden gekannt, der versucht hat … das zu tun, und ich habe Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Sie kennen ihn schon sein ganzes Leben. Ich kenne ihn erst seit ein paar Wochen, aber er bedeutet mir viel. Sehr viel.«
Er dachte einen Augenblick nach, und ich wusste, dass er abwägte, was er mir sagen konnte, während er mich unter seinen buschigen Brauen hervor musterte. Es war schwer vorstellbar, dass dieser stille blasse Mann einmal den Special Forces angehört hatte. Schwer vorstellbar, dass er es gewesen war, der eine seiner engsten Freundinnen brutal ermordet aufgefunden hatte.
Er räusperte sich. »Raymond Maxfield und ich wurden während unseres Aufbaustudiums gute Freunde. Wir schrieben beide an unserer Doktorarbeit, aber während ich vorhatte, den eher typischen Weg von Forschung und Lehre einzuschlagen, verfolgte Ray entschlossen eine besser bezahlte, nichtakademische Laufbahn.
Eines Abends gingen wir zu einer kleinen Zusammenkunft bei einem unserer Professoren, dessen Tochter studierte und noch zu Hause wohnte. Sie war hinreißend – dunkle Haare und dunkle Augen –, und als sie auf dem Weg zur Küche an uns vorbeikam, erhob sich Ray mit der Ausrede, Eis zu holen, und ich folgte ihm. Er war mein bester Freund, aber bei einem solchen Mädchen würde ich ihm nicht einfach den Vortritt lassen. Da kämpfte jeder Mann für sich selbst.« Er schmunzelte.
»Fünf Minuten später war ich mir meiner Chancen verdammt sicher. Er hatte sie nach ihrem Hauptfach gefragt, und als sie ›Kunst‹ antwortete, platzte er heraus: ›Dein Vater ist Dr. Lucas – einer der führenden Köpfe der modernen Wirtschaftswissenschaft –, und du studierst Kunst? Was zum Teufel willst du mit einem Abschluss in Kunst denn anfangen?‹« Er lächelte mit verträumter Miene, während er sich erinnerte. »Sie richtete sich zu ihren ganzen ein Meter sechzig auf, und ihre Augen blitzten, als sie erwiderte: ›Ich werde die Welt schöner machen. Und was wirst du tun? Geld verdienen? Ich bin ja so beeindruckt.‹ Sie wandte sich auf dem Absatz um und verließ die Küche. Tagelang war Ray stocksauer, dass er keine passende Antwort parat hatte, während sie dort stand.
Eine Woche später lief ich ihr in der Cafeteria über den Weg. Sie fragte mich, ob ich ebenso wenig von Kunst halten würde wie mein Freund. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, also rief ich: ›Aber nein – ich weiß, wie wichtig die Kunst für den Ausdruck des Menschlichen in uns ist!‹ Und so lud sie mich zu einer Ausstellung ein, an der sie teilnahm, und sagte mir, ich könne Ray mitbringen. Ich bereute sofort, dass ich es ihm überhaupt erzählte, denn er war entschlossen, all die schlauen Retourkutschen anzubringen, die er sich seit dem Abend, an dem sie sich kennenlernten, zurechtgelegt hatte.
Die Galerie befand sich eingezwängt zwischen einem Spirituosengeschäft und einem Möbelverleih. Als wir auf den Eingang zugingen, machte Ray eine Bemerkung über die ›schönere Welt‹, die sie offenbar nicht schaffte, und ich wollte mich wieder dafür ohrfeigen, dass ich ihn mitgebracht hatte.
Rose kam auf uns zu, in einem hauchzarten Kleid, das Haar hochgesteckt – ganz die Kunststudentin. Neben ihr stand eine schick gekleidete Blondine – Rays üblicher Typ –, die sie als ihre beste Freundin vorstellte, die ebenfalls Finanzwesen studierte. Ray hatte kaum Augen für das andere Mädchen. ›Wo ist dein Zeug?‹, fragte er Rose. Seine Frage schien sie ein wenig milder zu stimmen. Sie war nervös, als sie uns zu der Wand führte, an der ihre Gemälde – lauter Aquarelle – ausgestellt waren. Wir warteten alle angespannt darauf, dass Ray sein Urteil verkündete.
Er begutachtete jedes Werk kommentarlos, dann sah er sie an und sagte: ›Sie sind wunderschön. Ich glaube, du solltest nie irgendetwas anderes tun als das hier.‹ Drei Monate später schloss sie ihr Studium ab, und an dem Abend steckte er ihr einen Ring an den Finger. Sobald er seinen Doktor in der Tasche hatte, heirateten sie, und er nahm seine Karriere so entschlossen in Angriff, wie er es immer vorgehabt hatte.
Seltsamerweise kam ich mit der hübschen Finanzstudentin zusammen, und wir heirateten bald nach den beiden. Wir vier blieben eng befreundet. Landon ist für unsere drei Kinder wie ein älterer Cousin.«
Dr. Heller brach ab, bevor er traurig Luft holte. Mein Unbehagen kehrte wieder.
»Ray arbeitete für die FDIC, die amerikanische Einlagensicherungsbehörde. Er war viel auf Reisen. Ich lehrte in Georgetown. Wir wohnten vielleicht zwanzig Minuten voneinander entfernt. Als er die beiden an jenem Abend nicht erreichen konnte, fuhren Cindy und ich hin, um nach dem Rechten zu sehen. Wir fanden Rose in ihrem Schlafzimmer, neben Smiths Leiche, und Landon in seinem Zimmer.« Dr. Heller schluckte. »Er war so heiser vom Schreien, dass er nicht sprechen konnte, und seine Handgelenke waren mit Kabelbindern an den Bettpfosten gefesselt. Er hatte dieses Bett so weit gezerrt, bis es gegen andere Möbel stieß und er nicht mehr weiterkam. Seine Handgelenke waren blutig geschürft, nachdem er immer wieder versucht hatte, sich von diesen Fesseln zu befreien, um zu seiner Mutter zu gelangen. An seinen Armen und am Bettgestell klebte getrocknetes Blut. Daher stammen die Narben. Er war fünfzehn, sechzehn Stunden in diesem Zustand gewesen.«
Dr. Hellers Stimme war tonlos. Ich spürte, dass er sich von den Erinnerungen distanzierte, so gut er konnte. Ich kam mir grausam vor, ihn diese entsetzliche Nacht noch einmal durchleben zu lassen. Mir wurde flau im Magen, und Tränen strömten mir übers Gesicht.
»Rose war das emotionale Herz der drei. Ray liebte sie über alles, und sie auf diese Weise zu verlieren, während er nicht da war, um sie zu beschützen … Er machte dicht. Er hatte riesige Karrieresprünge gemacht, aber jetzt warf er das alles hin. Die beiden zogen zurück in das Haus seines Dads an der Küste, zurück zu dem Fischerboot, mit dem er nie wieder etwas zu tun haben wollte, als er mit achtzehn von zu Hause wegging. Sein Vater starb ein paar Jahre später und vermachte ihm alles.
Landon machte auf eine andere Art dicht. Cindy und ich versuchten Ray zu erklären, dass er nicht aus seinem gewohnten Umfeld herausgerissen werden sollte und dass er bestimmt eine Therapie bräuchte, aber Ray war vor Trauer nicht mehr bei Verstand. Er hielt es nicht aus, noch länger in diesem Haus oder dieser Stadt zu bleiben.«
Er blickte von der Tischplatte auf, und als er mein Gesicht sah, nahm er ein Taschentuch aus einer Schublade. »Ich denke, den Rest müssen Sie sich von Landon – ich meine, Lucas – erzählen lassen. Er hat seinen Namen um einen zweiten Vornamen – den Mädchennamen seiner Mutter – ergänzt, als er hierher aufs College kam. Ein Versuch, sich neu zu erfinden, schätze ich. Aber eine achtzehn Jahre alte Gewohnheit lässt sich nicht so leicht ablegen.« Er sah mich fest an und seufzte. »Ich wünschte, ich hätte nie gesehen, wie Sie aus seiner Wohnung gekommen sind. Was mich betrifft, gibt es keine Studenten-Tutor-Verbote mehr. Nur … damit Sie es wissen.«
Ich tupfte mir die Augen mit einem Taschentuch ab und bedankte mich bei ihm.
Universitätsverbote waren meine geringste Sorge.