2001

Montag, 1. Januar 2001

1:30 Uhr

Ich habe das neue Jahr allein begrüßt. Glenn ist auf einem Kostümfest im Haus seiner Mutter, beunruhigenderweise als Hannibal Lecter verkleidet. William verbringt das Wochenende mit seiner Mutter und ihrem neuen Ehemann, die ihre Flitterwochen in London verbringen.
Ich hoffe, meine Exfrau und ihr neuer Gatte können ihre sexuelle Leidenschaft lange genug im Zaum halten, um sich vernünftig um William zu kümmern. Der Junge hatte in letzter Zeit zwei schwere Enttäuschungen zu verkraften:
1. das gebrochene Versprechen des Weihnachtsmanns, ihm eine Sony PlayStation 2 zu schenken;
2. das gebrochene Versprechen des Weihnachtsmanns, ihm ein Barbie-Flugzeug zu schenken.
Um Mitternacht holte ich die Flasche Chardonnay-Sekt wieder aus dem Kühlschrank, die ich am ersten Weihnachtsfeiertag nicht geschafft hatte, aber er sprudelte nicht mehr. Also goss ich ihn ins Spülbecken.
Als ich die Zahlen 2001 schrieb, fühlte ich mich in ein Klassenzimmer der Neil-Armstrong-Gesamtschule zurückversetzt, genau gesagt in eine Stunde über »die Zukunft«, die unsere Erdkundelehrerin Miss Elf hielt. Im Jahre 2001 – so Miss Elf – wäre die Welt eine einzige große, glückliche, cappuccinofarbene Familie. Ich weiß noch genau, wie sie diese von Grenzen befreite Welt zeichnete. Der Kreidestaub flog nur so durch die Luft!
Miss Elf war eine engagierte und leidenschaftliche Lehrerin. Kurz nachdem ich die Schule verlassen hatte, wurde sie sogar im Anschluss an eine unglückliche Affäre mit einem Kollegen, dem Sportlehrer Podgy Perkins, in die High-Towers-Nervenklinik eingeliefert. Das Verhältnis stand von Anfang an unter keinem guten Stern; er war verheiratet und hatte sieben Kinder, alles Jungen. (Interessanterweise fingen ihre Namen sämtlich mit G an.) Seltsam, was das Gedächtnis so alles wieder ausspuckt.
Jedenfalls stellte Miss Elf sich das Jahr 2001 so vor, dass es keinen Hunger mehr auf der Welt gäbe und dass jeder Mensch Zugang zu sauberem Wasser und einem Klo mit Spülung hätte. Mit einer frischen Schachtel bunter Kreiden zeichnete sie eine typische Weltfamilie aus dem Jahr 2001 an die Tafel. Alle hatten braune Haut und trugen weiße, glänzende Ganzkörperanzüge mit spitzen Schultern. An ihren Knöcheln waren winzige Triebwerke befestigt. Damit konnte die 2001er-Familie fliegen wie die Vögel. Wobei, wie sie betonte, Interkontinentalreisen mehrere Tankstopps erfordern würden.
Vielleicht ist es ganz gut, dass Miss Elf hinter den hohen Mauern einer Einrichtung vor sich hin brabbelt. Es würde ihr das Herz brechen, zu erfahren, dass ihre utopische Vision in so weiter Ferne liegt wie eh und je und dass Israelis und Palästinenser sich immer noch in den Haaren liegen.
 
Meine Vorsätze fürs neue Jahr:
1. Ich werde versuchen, die Menschenrechtsanwältin Dame Helena Kennedy zu engagieren, um meine Mutter aus dem Gefängnis zu holen.
2. Ich werde nicht lockerlassen und weiter versuchen, meine Serienmörderkomödie Der weiße Lieferwagen bei der BBC unterzubringen.
3. Ich werde versuchen, mich weniger von Vorurteilen leiten zu lassen. Vielleicht ist Jeffrey Archer unschuldig. Vielleicht war der Millenium Dome eine Milliarde Pfund wert.
4. Ich werde die buddhistische Religion im Hinblick auf eine mögliche Anhängerschaft meinerseits genauer unter die Lupe nehmen. Ich hatte schon immer einen Horror davor, auf Insekten zu treten. Besonders auf Ameisen.
5. Ich werde versuchen, mich dieses Jahr in eine geeignete Frau zu verlieben. Eine, die nicht viel weint und nicht zu viel blauen Lidschatten verwendet.
6. Ich werde meinen Söhnen die korrekte Verwendung des Apostroph’s beibringen.

Dienstag, 2. Januar

Pandora ist aus Israel zurück, wo sie angeblich zu Recherchezwecken über Jerusalem war. Ich sprach sie auf ihre Sonnenbräune an. »Ja«, sagte sie, »ich konnte mich in Eilat ein paar Tage freimachen und mit den Delfinen schwimmen.« Wie ich Pandora um ihre körperliche Leistungsfähigkeit beneide! Für mich wäre es schon schwierig, mit Goldfischen zu schwimmen.
Ich fragte sie, ob sie ihrem mittelfristigen Ziel, Außenministerin zu werden, schon nähergekommen sei. Sie warf ihr melassefarbenes Haar zurück und erwiderte: »Unter denen, die zählen – Ian Hislop, Auberon Waugh und Andrew Rawnsley -, ist man sich einig, dass Cook gehen muss. Der Mann ist inzwischen vollkommen unverständlich. Wie die armen Ausländer sein wahnsinniges Geplapper verstehen, weiß Gott allein.«

Montag, 8. Januar

Arthur Askey Way
 
Ich wachte um 7:32 Uhr mit Kopfweh auf. Gott sei Dank schliefen die Jungs noch, so dass ich mich wenigstens einmal in Ruhe anziehen und meiner Toilette widmen konnte. Unter der Dusche wusch ich mir nicht die Haare, denn die durch das Einmassieren des Shampoos in die Kopfhaut verursachte Reibung strapaziert meine Follikel und führt zu Haarausfall. Ich war froh, eine der Duschhauben benutzen zu können, die ich über die Jahre in Hotelbadezimmern eingesammelt habe.
 
Mein Spannungskopfschmerz muss damit zusammenhängen, dass Pamela Pigg letzte Nacht hier war. Zumindest den Großteil der Nacht – sie verließ mein Bett um 4:30 Uhr, nachdem sie eineinhalb Stunden geschluchzt und dabei einen meiner schönsten Kissenbezüge mit blauem Lidschatten verschmiert hatte.
Die Verabredung lief an sich ganz gut, wenn man davon absieht, dass Pamela eine schwere Erkältung hatte und ständig den Kellner um weitere Papierservietten bat, um sich damit zu schnäuzen. Wir sprachen über unsere immer mal wieder unterbrochene Beziehung, und Pamela schob es auf unsere sexuelle Unvereinbarkeit, dass sie meistens unterbrochen ist. Sie sagte, sie sei bereit, es noch einmal zu probieren, und erzählte mir, sie habe sich dazu gezwungen, Freude am Sex zu lesen, und sei erstaunt über die Vielfalt der Angebote gewesen. Bei ihr klang es wie der Ikea-Katalog.
Nach einer längeren Auseinandersetzung mit dem Kellner über die Rechnung (ich weigerte mich, 3,50 £ für den extra Service zu zahlen), verließen wir das Restaurant Arm in Arm. Auf dem Heimweg im Auto legte sie ihre rechte Hand auf meine linke. Das machte zwar das Schalten schwierig, aber ich beklagte mich nicht.
 
Als wir nach Hause kamen, war Glenn noch auf und machte seine Sozialkundehausaufgaben. Er hing an einer Frage fest: »Nenne drei Mitglieder des Schattenkabinetts neben William Hague.«
Leider konnten ihm weder Pamela noch ich behilflich sein. Als Pamela auf die Toilette ging, sah Glenn ihr nach und flüsterte: »Du musst echt verzweifelt sein, Dad.« Während ich auf sie wartete, fiel mir zu Glenns Frage wenigstens Ann Widdecombe ein, die Innenministerin von Hagues Schattenkabinett. Dann kam Pamela wieder – nach Poison riechend und mit nachgezogenem pinkfarbenem Lippenstift -, woraufhin Glenn sich taktvoll zurückzog und ins Bett ging.
Ich legte eine Beethoven-CD auf und versuchte, das Licht zu dimmen, aber der Schalter wollte nicht funktionieren, so dass wir unter dem grellen Schein etlicher 500-Watt-Strahler sitzen mussten. Nach einem kurzen Gespräch über meine inhaftierte Mutter gingen wir nach oben. Pamela entschuldigte sich für ihren Sport-BH und die eher praktische Unterhose, ihre besten Sachen seien gerade in der Wäsche. Ich sagte, das sei egal, aber in Wahrheit war ich sehr verletzt. Sie hatte seit über einer Woche von der Verabredung gewusst. Das muss doch wohl ausreichend Zeit sein, um ein paar zarte Fetzen Seide und Spitze von Hand zu waschen und auf der Heizung zu trocknen?
Sie stellte fest, dass die Pickel auf meinem Rücken fast abgeheilt seien, dann schaltete sie die Nachttischlampe aus, und der Liebesakt begann. Die ersten Probleme tauchten auf, als sie mich darum bat – zur Sicherheit -, zwei Kondome übereinander anzuziehen. Gott weiß, dass ich es probiert habe, liebes Tagebuch, aber als ich das erste übergestreift hatte, war das andere im Bett verloren gegangen.
Das zweite Problem war, dass Glenn durch die Wand rief: »Du liebe Güte, Dad, jetzt mach voran und bring’s hinter dich!« Woraufhin Pamela sich auf ihre Seite des Bettes rollte und dort stocksteif und mit zusammengebissenen Zähnen liegen blieb. Ich versuchte, sie wieder zu lockern, indem ich über die Behandlung meines Vaters wegen seiner Krankenhausinfektion sprach, doch sie begann zu weinen. Und nichts, was ich sagte, konnte sie beruhigen.

Eine Stunde später

Glenn kam gerade in die Küche, wütend mit meiner gebrauchten Duschhaube wedelnd, und rief: »Sag dieser Pamela Pigg, dass sie ihr Frauenkondom das nächste Mal mitnehmen soll.« Der Junge hat offensichtlich keine Ahnung von weiblicher Anatomie.

Samstag, 13. Januar

Meine Exfrau Jo-Jo hat mich per Fax gefragt, ob sie William mitnehmen darf, wenn sie zurück nach Nigeria fährt. Für einen – wie sie es nannte – »ausgedehnten Besuch«.
Ich faxte sofort zurück, c/o The Hempel Hotel in Craven Hill Gardens, London. (Sie schwimmt im Geld – ihr neuer Mann importiert elektrische »Viehtreiber« aus der Türkei. Man traut sich gar nicht, darüber nachzudenken, zu welchen Zwecken die Geräte wirklich eingesetzt werden. Ich habe den Verdacht, dass das Ganze nichts mit Vieh zu tun hat.)
Liebe Jo-Jo,
ich komme gleich zur Sache. Nein, du darfst William nicht mit zurück nach Nigeria nehmen. Er ist extrem glücklich hier im kleinen Städtchen Ashby-de-la-Zouch. Der Kulturschock könnte ihn umbringen. Sollte er, wenn er alt und verständig genug ist, seine »Wurzeln entdecken« wollen, dann werde ich ihn dabei unterstützen. Aber er hat mir gesagt, dass er weiterhin bei Mrs Claricoates in die Klasse gehen will, wo er sich vor allem im Ausmalen und in Informatik hervortut. Außerdem ist für Februar ein Schulausflug zum Fylingdales-Moor in Yorkshire geplant. Übrigens bin ich überrascht, was die Wahl deines neuen Gatten betrifft. William erzählte mir, dass der Mann noch nie von Pokémon gehört hat und nicht in der Lage war, die einzelnen Mitglieder der Spice Girls aufzuzählen. Klingt mir nach einem weltfremden Menschen.
Wie konnte eine kultivierte Frau wie du sich einen solchen Tölpel an den Hals laden? Ich kann nicht umhin, mir Sorgen um die Dauerhaftigkeit eurer Ehe zu machen. Wie du noch in Erinnerung haben wirst (vielleicht sogar in guter): Als wir verheiratet waren, pflegten wir uns stundenlang im Bett über die Welt und das Zeitgeschehen zu unterhalten. Wie dem auch sei, Jo-Jo, ich fürchte, du musst ohne William zurück nach Nigeria fahren. Wie immer dein
Adrian

Samstag, 14. Januar

Heute Morgen erhielt ich folgendes Fax:
The Hempel, Craven Hill Gardens, London
 
An Adrian Mole, von Mrs Jo-Jo Mapfumo
Danke für dein Fax. Ich bin natürlich enttäuscht, dass du William nicht erlaubst, mit mir und meinem neuen Mann Colonel Ephat Mapfumo nach Nigeria zu fahren. Meine Familie in Lagos brennt darauf, ihn kennenzulernen. Er ist immerhin mein erster Sohn und wird demnach von ihnen allen hochgeschätzt.
Ich fand deine Bemerkungen über meinen Mann außerordentlich kränkend. Er ist alles andere als ein Tölpel. Er hat an der Sorbonne und an der Militärakademie in Sandhurst studiert. Er spielt Klavier, Geige und Oboe, sammelt zeitgenössische afrikanische Kunst und hat ein hochgelobtes Buch geschrieben: Der Putsch – Eine postkoloniale Alternative zur Demokratie. Was unsere eigene Ehe betrifft, habe ich unsere Gespräche in oder außerhalb unseres Bettes nicht in »guter« Erinnerung. Soweit ich mich entsinne, hast du dich lang und breit über drei Themen ausgelassen: 1. deine unveröffentlichten Romane; 2. Dostojewski; 3. die norwegische Lederindustrie. Mir wurde bereits fünf Minuten nach der Trauung klar, dass unsere Ehe ein Fehler war, als du mir Exhibitionismus vorwarfst, weil ich meine traditionelle Stammestracht trug.
Mit freundlichen Grüßen,
Mrs Jo-Jo Mapfumo
 
 
PS: Wenn du William nicht erlaubst, nach Nigeria zu fahren, dann muss meine Familie ihn in Ashby-de-la-Zouch besuchen. Sobald ich wieder in Lagos bin, werde ich die nötigen Vorkehrungen treffen.
Ich gestehe, dass ich am Tag unserer Hochzeit befremdet war, als ich Jo-Jo auf dem Standesamt erblickte. Sie hatte mir gesagt, sie werde »traditionelle Kleidung« tragen, weshalb ich mit weißer Spitze und Schleier gerechnet hatte – nicht mit einer Orgie aus Mustern und Grundfarben. Einschließlich ihres typisch afrikanischen Turbans kam sie auf eins neunzig. Sie überragte mich deutlich. Wir sahen geradezu lächerlich aus, als wir uns vor der Standesbeamtin aufstellten.
Ganz deutlich hörte ich Pandora (die Trauzeugin) flüstern: »Klarer Fall von gemeinsamer psychotischer Störung.«

Montag, 15. Januar

Bei der letzten Zählung belief sich Jo-Jos engster Familienkreis auf 213 Personen. 213 Menschen kann ich unmöglich auch nur minimale Gastfreundschaft erweisen, wie es der nigerianische Brauch fordert. Vielleicht wäre es einfacher, wenn William zu ihnen führe. Während der Sommerferien zum Beispiel.

Dienstag, 16. Januar

Arthur Askey Way
 
Clive Box, unser Postbote, hämmerte heute Morgen um 6:15 Uhr an die Tür und schreckte mich dadurch aus dem Schlaf. Aus irgendeinem Grund rechne ich ständig damit, im Morgengrauen von der Polizei abgeholt zu werden, obwohl ich absolut überhaupt nichts getan habe. Clive hatte keinen richtigen Brief für mich, nur einen bunten Umschlag, der mich mit zahlreichen fetten Ausrufezeichen darüber informierte, dass ich 1.000.000 £ gewonnen habe.
Etwas gereizt sagte ich: »Hätten Sie mir das nicht einfach durch den Briefschlitz stecken können?«
»Entschuldigung«, murmelte Box, »aber ich wollte Sie was Wichtiges fragen.«
Hinter Box’ uniformiertem Rücken konnte ich sehen, dass die Siedlung von Reif überzogen war. Box schielte sehnsüchtig nach dem Heizkörper im Flur. Ich bat ihn herein und schloss die Haustür, und er stellte seinen Postsack auf den Fußboden und blies sich in die Hände. Dann betrachtete er das Selbstbildnis Van Goghs an der Wand.
»Wer ist das denn? Ihr Opa?«, wollte er wissen.
»Nein!«, sagte ich. »Das ist Van Gogh, dessen Genie zu Lebzeiten unerkannt blieb. Er verkaufte nur ein einziges seiner Gemälde, bevor er starb.«
»Das überrascht mich nicht«, meinte Clive Box, nachdem er Van Goghs gequälte Miene näher studiert hatte. »Ein hässlicher Sack.«
Der Flur ist winzig, und wir standen zu dicht beieinander. Also ging ich voran in die Küche und steckte den Wasserkocher ein. Box setzte sich an den Tisch und sagte: »Sie sind doch ein gebildeter Mann, Mr Mole, oder?«
Ich entgegnete, ja, ich sei Autodidakt.
»Ihr Sexleben interessiert mich nicht«, gab er zurück, »aber mir sind die Briefe von den Buchklubs aufgefallen, deshalb hab ich mich entschieden, Sie um Hilfe zu bitten. Sprechen Sie Französisch?«
»Mais oui«, antwortete ich.
Er zog ein Blatt Papier aus seiner Uniformtasche und schob es über die Tischplatte. »Wie spricht man das aus?«, fragte er und klopfte mit einem Wurstfinger auf ein Wort in Großbuchstaben mitten in einem Absatz. Ich betrachtete es. Es war mir fremd.
»CONSIGNIA.« Ich sprach es laut und langsam aus. »Consig-nia.«
Daraufhin wiederholte er es viele Male, wie ein Kleinkind, das das Wort Rhinozeros lernt. »Und was heißt das?«, fragte er schließlich.
Ich teilte ihm mit, dass ich keine Ahnung hätte, und las den Zettel vor mir durch. Darin stand, dass die Postbehörde sich selbst einen »modernen und aussagekräftigen Namen« gegeben habe. Und dass die Begriffe »Post« und »Behörde« die Arbeit nicht mehr zutreffend beschrieben, die von dieser Organisation ausgeführt werde.
Zutiefst verwirrt sah Box mich an. »Dann bin ich jetzt also kein Postbote mehr?«, fragte er.
»Offenbar nicht«, entgegnete ich. »Sie sind jetzt ein consignée

Mittwoch, 17. Januar

Im Zug nach London, um meine Mutter im Gefängnis Holloway zu besuchen, fiel mir auf, dass der Schaffner ein Schild mit der Aufschrift »Roger Morris, Einnahmenschutzbeamter« trug.
 
Meine Mutter war bester Laune. Sie hat sich mit ihrer Zellengenossin angefreundet, einer Frau namens Yvonne, die in Haft ist, weil sie keine Fernsehgebühren bezahlt hat. Ihre Verteidigung – dass sie nie BBC1 oder BBC2 einschaltete – ließ das Gericht nicht gelten. Meine Mutter zeigte mir Yvonne am anderen Ende des Besuchsraums.
Yvonne merkte, dass wir sie ansahen, und warf meiner Mutter eine Kusshand zu.
Meine Mutter erwiderte die Geste!
»Du und Yvonne, ihr scheint euch sehr gern zu haben«, sagte ich zu meiner Mutter.
Sie sah mir direkt in die Augen und erwiderte: »Ja, wir haben uns sehr, sehr, sehr gern.«
Daraufhin musterte ich Yvonne eingehender. Sie sieht aus wie Diana Dors, der Schwarz-Weiß-Filmstar.
Verstört taumelte ich durch das Gefängnistor – hat meine Mutter sich auf lesbische Liebe verlegt? So wie sie sich früher mal auf Badminton und Feminismus verlegt hat? Und wenn ja, wird sie bald wieder die Lust daran verlieren, so wie an den genannten Hobbys?

Samstag, 27. Januar

Arthur Askey Way
 
Glenn wird dieses Jahr 14. Zwar eigentlich erst in ein paar Monaten, aber sein Geschenk bekommt er gezwungenermaßen schon etwas früher. Mohammed, dessen Bruder bei der Eisenbahn arbeitet, schenkte mir letzte Woche zwei Gutscheine für den Eurostar nach Paris mit den Worten: »Nimm du die, Aidy. Ich trau mich nicht, das Land zu verlassen. Ich hab Schiss, dass mich die Einwanderungsbehörde hinterher nicht wieder reinlässt.«
»Mohammed«, sagte ich, »du bist in der Entbindungsstation der Uniklinik Leicester geboren, du sprichst mit starkem Leicester-Akzent, du hast geweint, als Martin O’Neill den Leicester City Football Club verlassen hat. Niemand könnte jemals deine englische Staatsangehörigkeit anzweifeln.«
»Ach ja?«, versetzte Mohammed zynisch. »Und wer war das einzige Kind, das auf der Rückfahrt nach dem Schulausflug nach Frankreich in Dover festgehalten wurde?«
Ich dachte zurück an jenen berauschenden Tag, an dem ich ein Europäer wurde. Niemals werde ich den ersten Anblick von La belle France vergessen. Als die Fähre anlegte, versammelte Miss Elf ihre 30 Schüler auf dem von Erbrochenem verschmutzten Deck um sich und sagte: »Mes petits enfants, regardez vous la belle France, la crème de la créme, de la Continent.« (Oder etwas in dem Sinne, liebes Tagebuch. Mein Französisch ist etwas eingerostet, da ich so selten Gelegenheit habe, es anzuwenden.)
In Frankreich verloren wir kostbare Zeit, weil Barry Kent versuchte, von der Fähre auf die Hafenmauer zu springen, bevor der Anlegevorgang ganz beendet war. Er war nicht lange im Wasser, aber als die Gendarmen endlich ihren Papierkram erledigt hatten, waren bereits ein paar Stunden verloren.
Im Bus verkündete Miss Elf, dass wir wegen Barry Kents tollkühnem Sprung keine Zeit mehr für den geplanten Besuch des Soldatenfriedhofs hätten (wir hatten damals ein Klassenprojekt über Lyrik im Ersten Weltkrieg). Einige der empfindsameren Mädchen weinten; allerdings kann ich mich erinnern, dass Pandora nicht dazugehörte. »Stattdessen«, fuhr Miss Elf fort, »werden wir französisches Brot und französischen Kaffee ausprobieren, und wir werden auf einen Markt gehen und die Sorgfalt beobachten, mit der die Franzosen ihr Obst und Gemüse auswählen.«
 
Als ich an diesem Abend spät nach Hause zurückkehrte, wartete meine Mutter auf dem Parkplatz der Neil-Armstrong-Gesamtschule auf mich. Ich stieg aus dem Bus aus und sagte zu ihr: »Maman, ich habe das Paradies gesehen und geschmeckt. Du musst deinen Instantkaffee und dein Toastbrot wegwerfen und baguette und café au lait in dein Leben lassen.« An den genauen Wortlaut ihrer Antwort kann ich mich nicht mehr erinnern, aber das Ganze wurde von einem Knurren begleitet.
Um auf Mohammed zurückzukommen, liebes Tagebuch, so entgegnete ich ihm: »Du warst selbst schuld, dass dich die Grenzer in Dover festgehalten haben – du hast offen eine Gauloises Disque Bleu geraucht und warst immerhin erst zwölf.«

Sonntag, 28. Januar

Ich plane, mit Glenn zu seinem Geburtstag nach Paris zu fahren. Es soll eine Überraschung werden, deshalb muss ich meine Vorbereitungen hinter seinem Rücken treffen. Heute Abend wusch und bügelte ich seine gangsterartig aussehenden Kleider und versteckte sie im Schrank. An seiner Frisur und dem neuen Buffy – Im Bann der Dämonen -Tattoo auf seinem Handgelenk kann ich nichts ändern, aber mit ein bisschen Glück wird es so kalt sein, dass er die Ärmel herunterkrempelt. Ich freue mich schon darauf, ihm den Louvre zu zeigen – der Junge hat’s gut; ich habe erst mit 26 herausgefunden, dass die Mona Lisa das Schlangestehen nicht wert ist.

Dienstag, 30. Januar

Heute Abend habe ich meine Reisecheckliste erneut geprüft und gegengeprüft. Zwei Tickets für den Eurostar, Travellerschecks, Nurofen-Tabletten, Stadtplan von Paris, französisch-englisches Wörterbuch, Pässe, Schirm. Etwas fehlte. Und dann traf mich die Erkenntnis wie eine Orange, die einem ein Kleinkind im Supermarkt aus dem Einkaufswagen an die Stirn wirft: GLENN HAT KEINEN REISE-PASS!

Mittwoch, 31. Januar

Pandora hat ihre Hilfe bei der Beschaffung eines Passes für Glenn im Schnellverfahren verweigert. Ich habe unseren Abgeordneten für Leicester, Keith Vaz, angerufen, aber es war gerade niemand verfügbar, um meine Anfrage entgegenzunehmen.

Freitag, 2. Februar

Arthur Askey Way
 
Heute Abend saß ich mit einer Tasse Instant-Hühnersuppe am Küchentisch und wartete auf den Beginn der Archers, als ich zu meinem Erstaunen meinen Namen im Radio erwähnt hörte. Ich stellte lauter und lauschte mit wachsendem Entsetzen einem »Trailer« für eine Fernsehserie über einen Mann namens Adrian Mole, einen ehemaligen Innereienkoch, dessen Elternhaus sich in Ashby-de-la-Zouch befindet.
Dieser Fernseh-Mole hat eine Mutter mit Namen Pauline und einen Vater, der George heißt. Das kann doch kein reiner Zufall sein – jemand hat mein Leben veröffentlicht und schlachtet es zu kommerziellen Zwecken aus. Sofort rief ich Peter Elf, den Anwalt meines Agenten, an und hinterließ ihm eine Nachricht. Die BBC muss daran gehindert werden, diese Serie auszustrahlen. Ich muss doch wohl das Urheberrecht an meinem eigenen Leben besitzen?
Ich konnte mich gar nicht richtig auf die Archers konzentrieren und verpasste dadurch einen wichtigen Handlungsstrang: Wird Kate mit ihrem schwarzen Liebhaber zurück nach Südafrika ziehen und ihr erstgeborenes Kind mitnehmen?

Samstag, 3. Februar

Mehrere Leute, einschließlich Pandora, haben angerufen, um sich nach der Mole-Fernsehserie zu erkundigen. Pandora gab sich empört, obwohl ich ihr anmerkte, dass sie sich geschmeichelt fühlt, weil sie von Helen Baxendale gespielt wird.

Montag, 5. Februar

Heute Morgen um 7:00 Uhr rief ich im Büro von Greg Dyke an, dem Oberboss der BBC, aber die alte Schlafmütze war noch nicht am Platz. Finanzieren wir Gebührenzahler einem Mann ein Vollzeitgehalt, der ganz offensichtlich nur in Teilzeit arbeitet? Es kommt mir ganz so vor.
 
Mr Elf warnte mich davor, eine gerichtliche Verfügung gegen die BBC zu erwirken. Er sagte: »Das wäre eine David-gegen-Goliath-Situation.« Ich wies ihn darauf hin, dass der kleine David immerhin den Riesen Goliath besiegt habe, worauf Elf erwiderte: »In meinen Augen hatte David mit dem Stein einfach Glück. Goliaths Schädeldecke muss sehr dünn gewesen sein.«
 
Heute Vormittag kam Tania Braithwaite vorbei und brachte mir die BBC-Programmzeitschrift Radio Times von letzter Woche. Darin abgedruckt war ein »Filmset-Tagebuch«, das angeblich von einem Kerl verfasst worden war, der sich Adrian Mole nannte. Dieser Mole war ebenfalls verärgert, dass aus seinem Leben Kapital geschlagen wurde.
Eine Freundin von Tania, die in der Verlagsbranche arbeitet, hatte ihr erzählt, dass eine verkrachte Schriftstellerin namens Sue Townsend bereits seit Jahren versuche, die geheimen Tagebücher des Adrian Mole zu verkaufen, unter der Behauptung, es handele sich um reine Fiktion. Tania zeigte mir einen Ausschnitt aus dem Manuskript, und ich las mit wachsender Verwunderung die Enthüllung von Einzelheiten aus meinem Privatleben. Woher weiß diese Frau so viel über mich? Zapft sie mein Telefon an? Hat sie mein Haus verwanzt? Tania sagte, diese Townsend sei seit einem von Adrian Henri und Roger McGough geleiteten Lyrik-Kurs der Arvon Foundation sehr verbittert. Henri hatte ihr damals bescheinigt, sie sei keine Dichterin und werde nie eine werden, nachdem sie ein Gedicht mit dem Titel »Betrachtungen über den Stuhlgang von Ohrwürmern« eingereicht hatte:
Wie nur wiegt man Ohrwurm-Mist?
Woher weiß man, wie viel es ist?
Man braucht extra Waagen, ganz gewiss
für so kleine Häufchen Ohrwurmschiss.
Townsend brach daraufhin in eine hysterische Hasstirade gegen moderne Lyrik aus und rannte aus dem Kurs hinunter zum Fluss. Sie drohte damit, sich hineinzustürzen, falls Adrian Henri ihr Ohrwurmgedicht nicht mit der Empfehlung, einen dicken Gedichtband mit ihren Werken in Auftrag zu geben, an Bloodaxe Books schicken würde. Adrian Henri stellte sich ans gegenüberliegende Ufer und brüllte über den Fluss: »Spring schon rein, dann ist endlich Ruhe.«
Seit jenem Tag hasst Townsend alle Männer, die Adrian heißen. Der Schriftsteller A. A. Gill ist ebenfalls so eine manische Besessenheit von ihr. Ist sie etwa der Grund dafür, dass meine eigenen literarischen Bemühungen immer wieder gescheitert sind?

Dienstag, 6. Februar

Der aus Leicester stammende Maler Adrian Hemming ist ins Ausland geflohen, als er hörte, dass Townsend ein Bewunderer seiner Arbeit ist. »Ich hörte, dass sie eines meiner ›Wellen‹-Bilder kaufen und sich ins Badezimmer hängen wollte«, berichtete er aus seinem Versteck. »Ich muss meinen guten Namen schützen.«

Sonntag, 11. Februar

Arthur Askey Way
 
Ist in Psychologenkreisen die Ikea-Wut ein offiziell anerkanntes Krankheitsbild? Ich glaube, ich erlitt heute drei separate Schübe. Der erste davon ereilte mich auf dem Parkplatz, als ein kleines Kind, das augenscheinlich für die Einweisung der Fahrzeuge zuständig war, mich von einem Behindertenparkplatz abwies. Ich zeigte dem Jungen die Fotokopie eines Briefs meines Arztes, der klar zum Ausdruck bringt, dass ich eine Krankheit habe, doch er winkte mich trotzdem aus der Lücke und ließ dort eine alte Schnepfe mit Halskrause parken. Hier ist Dr. Ngs Brief:
Lieber Mr Mole,
bezugnehmend auf Ihre zahlreichen Besuche in meiner Praxis diese Woche: Ihre Blutuntersuchung kam aus dem Labor zurück und beweist zweifelsfrei, dass Sie weder an HIV noch einem Gehirntumor oder einem multiresistenten Erreger leiden. Ihr Herz wie auch Nieren, Leber, Lunge und Gehirn funktionieren völlig normal für einen Mann Ihres Alters. Woran Sie allerdings leiden, ist schwere Hypochondrie. Ich habe Ihren Fall mit meinen Kollegen Dr. Singh und Dr. O’Neil diskutiert, und sie bestätigten mir meine Diagnose. Meine Empfehlung an Sie lautet, sich den übrigen Bereichen Ihres Lebens zuzuwenden, um die Ursache für Ihre persönliche Unzufriedenheit zu ermitteln.
Dr. Ng
 
 
PS: In Zukunft kommen Sie bitte nur in die Praxis oder bitten um einen Hausbesuch, wenn Sie absolut sicher sind, an einer lebensbedrohlichen Krankheit zu leiden.
Die zweite Attacke von Ikea-Wut ereignete sich in der Abteilung mit den Aufbewahrungssystemen, als Glenn meine Abmessungen für die Billy-Regalwand, die ich im Wohnzimmer aufstellen will, in Zweifel zog. »Glaub mir, Dad, du kriegst niemals drei von den Dingern an die hintere Wand«, sagte er. Wir standen einander Nase an Nase gegenüber, während müde Einkäufer an uns vorbeischlurften, und ich konnte geradezu spüren, wie das Testosteron durch Glenns pubertierenden Körper pulsierte. »Du hast meinen Berechnungen gefälligst nicht zu widersprechen«, donnerte ich, und Glenn stürmte mit eingezogenem Schwanz davon. Schließlich holte ich ihn bei den Badezimmern wieder ein, wo er in einer Duschkabine stand und missmutig die Armaturen untersuchte. In der SB-Halle half er mir schweigend, drei Billy-Kartons auf einen Wagen zu wuchten. Wäre er in der Armee gewesen, hätte ich ihn wegen nonverbaler Unverschämtheit zur Rechenschaft ziehen können.
Mein dritter Anfall kam dann in der Schlange vor der Kasse, als ungefähr zehn Kunden vor mir eine Frau darauf bestand, ihre fünf Kartons, die einen Einbauschrank enthielten, zu öffnen und sämtliche Schrauben durchzuzählen. Meine Schläfen pochten vor Zorn so heftig, dass ich Angst hatte, ein Aneurysma zu erleiden und in einem Ikea-Sarg zur Selbstmontage hinausgetragen zu werden.

Montag, 12. Februar

Ich rief Pandora im Unterhaus an und bat sie, die schwedische Anleitung für den Zusammenbau der Billy-Regale für mich zu übersetzen. Während ich auf ihr Fax wartete, wunderte ich mich über ihren höflichen, hilfsbereiten Tonfall am Telefon. Dann fiel es mir wieder ein: Sie wird im Mai in einem besonders hart umkämpften Wahlkreis antreten, in dem jede Stimme zählt, einschließlich meiner.

Dienstag, 13. Februar

Ich habe bei dem Versuch, die Billy-Regale zusammenzubauen, versagt. Etwas in meinen Erbanlagen macht es mir unmöglich, in der einen Hand einen Schraubenzieher zu halten, während ich mit der anderen eine Schraube in ein Loch in einem Holzbrett stecke. Ich teile die Welt jetzt ein in Menschen, die Ikea-Möbel zusammenbauen können, und solche, die das nicht vermögen. Wer es kann: Paul Daniels, Frank Bruno, William Hague, Madonna, Princess Anne, Glenn Bott. Wer es nicht kann: Peter Mandelson, Caroline Aherne, Prince Charles, Sir Edward Heath.

Mittwoch, 14. Februar

Valentinstag
 
Keine einzige Karte. Nicht eine. Nichts. Glenn hat elf bekommen. Sie stehen stolz auf den beiden Billy-Regalen, die er gestern Abend aufgebaut hat. Das dritte passte nicht mehr an die Wand.

Donnerstag, 15. Februar

Heute Morgen traf eine Valentinskarte von Pamela Pigg ein. Knickerig, wie sie ist, hatte sie nur eine Briefmarke zweiter Klasse aufgeklebt, weswegen der Brief erst heute ankam. Auf die Innenseite hatte sie geschrieben: »Lass es uns nochmal versuchen.«

Sonntag, 18. Februar

Heute Abend habe ich meine Bibliothek sortiert, unter Verwendung meines ganz eigenen alphabetischen Systems. Das erste Buch in meinem Billy-Regal waren also die Gesammelten Werke von A. A. Gill, das letzte das Handbuch der Schlaflosigkeit von zzz.
Dazwischen kamen selbstredend die Werke aus der Feder der Meister und Meisterinnen der Literatur. Wie ich mich danach sehne, ihnen anzugehören!
Nachdem ich noch eine Ladung Buntwäsche in die Maschine gesteckt hatte, ging ich ins Bett, wachte aber schon eine Stunde später wieder auf, weil ich mir Sorgen um die Eskalation der Lage im Irak machte. Glenn stellt mir ständig unbeholfene Fragen über Englands Rolle beim Schutz der Flugverbotszone. So wie: »Wieso heißt es denn Schutz, Dad, wenn doch alte Leute und Kinder getötet werden?« Er hat ein schlichtes Gemüt und begreift die Feinheiten der Situation nicht so ganz.
Ich warf mich auf meinem Kissen herum, gequält von vergangenen Demütigungen: dem Elternabend der Neil-Armstrong-Gesamtschule, zu dem meine Mutter in einer gelben Strumpfhose erschien; dem Tag, als mein Vater und ich zusammen im Bus saßen und er plötzlich anfing, »If I Ruled The World« zu singen; meiner Hochzeitsnacht, in der ich die Kordel meiner Pyjamahose nicht aufbekam und meine Braut Jo-Jo sie mit der Schere an ihrem Schweizer Armeemesser aufschneiden musste; meine Schreie damals riefen den Nachtportier auf den Plan, der von einem leicht reizbaren Manager im Nachbarzimmer alarmiert worden war.
Um 4:10 Uhr gab ich es auf und ging nach unten. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch in der Wohnzimmernische und schrieb unwillkürlich den Anfangssatz eines neuen Romans nieder. Einen Titel habe ich noch nicht, aber mit der ersten Seite bin ich recht zufrieden.
KAPITEL 1
Larry Topper blinzelte durch seine eulenartige Brille, als die Privatschule The Academy in Sicht kam. Er wandte sich zu seinem Vormund Onkel Edward um (seine Eltern waren beide während einer Urlaubsreise im Irak bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen). »Denk dir nur, Onkel Ted«, piepste Larry, »ich glaube, ich werde hier sehr vergnügt und fidel sein.« Larry betrachtete die Formschnitte der Bäume und Sträucher, die den weitläufigen, leuchtend grünen, ordentlich gemähten, unter den Füßen weichen Rasen übersäten. Onkel Teds gütige Augen blitzten wie eine Lichterkette, kurz bevor die Sicherung durchbrennt.
»Das will ich doch hoffen, junger Mann«, brummte Ted mit seiner Stimme, die klang wie das ferne Grollen eines startenden Jagdbombers.
Onkel Edward knirschte mit seinem Oldtimer über die Kiesauffahrt, bis er vor dem Haupteingang zum Stehen kam, wo ein gelangweilt wirkender Junge stand und eine St.-Moritz-Menthol-Zigarette rauchte. Das war Brett Longshank, Schulsprecher und Aristokrat, Star des Rugbyfelds und ein Genie in der Schule.
Larry bestaunte ehrfürchtig Bretts vornehme Nonchalance. »Denk dir nur, Onkel«, sagte er, »was für ein famoses Vorbild dieser Bursche abgibt.«
Onkel Ted legte die Stirn in Falten, so dass sie aussah wie ein Acker, nachdem mehrere Pferde einen Pflug darüber gezogen haben.
»Das ist Lady Nancy Longshanks Sohn«, sagte er missbilligend. »Und ich weiß zufällig, dass er cracksüchtig ist. Halt dich von ihm fern, Larry, hörst du mich? Halt dich bloß von ihm fern.«

Montag, 19. Februar

Vielleicht verleihe ich Larry Zauberkräfte. Ich könnte hier auf einem total originellen Bestseller sitzen!

Dienstag, 20. Februar

Pamela Pigg verfolgt mich mit romantischen, ja sogar sexuell expliziten SMS. Ich schrieb zurück und bat sie, damit aufzuhören, aber ihre Inbrunst schien dadurch noch angefacht zu werden. Ihre letzte Nachricht kam um 2:15 Uhr. Sie lautete: »Du g-hörst mir, i. weiß, du liebst mich auch.«
 
Ich habe mir überlegt, meinen neuen Roman Larry Topper, der Zauberlehrling zu nennen, und habe meinem Agenten Brick Eagleburger die erste Seite gemailt.

Mittwoch, 21. Februar

Habe geträumt, dass Gordon Brown Premierminister ist. Erhielt eine SMS von Brick: »JK Rowling sind Sie nicht, aber dafür dämlich.«

Sonntag, 11. März

Arthur Askey Way
 
Mein Nachbar Vince Ludlow hat einen neuen Job. Er nennt sich jetzt Tiereinäscherungsangestellter. Für diese Arbeit ist er außergewöhnlich gut qualifiziert, da er bereits mehrere Haftstrafen im Jugendarrest wegen Brandstiftung verbüßt und außerdem eine erklärte Abneigung gegen Tiere hat. Seiner Meinung nach »verschandeln Tiere die Landschaft«. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich eine Verschlimmerung der Maul- und Klauenseuche wünscht und ungeduldig darauf wartet, dass der Notstand ausgerufen wird. Von den Überstunden, die er macht, hat er vor, dem Wohnungsamt das Haus abzukaufen, in dem er wohnt.
Zu meinem Schrecken erfuhr ich, dass er Samstagabend auf dem Parkplatz des Lamb’s Head billiges Rindfleisch aus seinem Lieferwagen heraus verkauft hat.

Montag, 12. März

Peter Mandelson klingt immer mehr wie die heilige Johanna von Orleans. Man kann quasi die lodernden Reisigbündel unter seinen Füßen sehen. Vor ein paar Tagen wurde in den Nachrichten gezeigt, wie er Äpfel an Schulkinder in Hartlepool austeilte. Er machte einen leicht unheimlichen Eindruck: Ich wurde unwillkürlich an Schneewittchen erinnert, dessen schlichtes, gutgläubiges Wesen sich die alte Hexe zunutze machte, als sie ihm am Fenster einen Cox Orange anbot.
 
Pamela Piggs Nachname bereitet ihr beträchtlichen Kummer. Die Frau in der Reinigung kicherte unverhohlen, als Pamela ihren Namen nannte. Dann machte sie auch noch einen derben Scherz über die Maul- und Klauenseuche und gespaltene Hufe. Weinend floh Pamela aus dem Laden und fuhr zu mir. Ich war gerade dabei, den ersten Absatz meines neuen Romans, Krog von Gork, zu beenden, als sie mich unterbrach. Fürsorglich kochte ich Pamela eine Tasse von dem Löwenzahntee, den sie so gern mag, und versuchte teilnahmsvoll zuzuhören, als sie die zahllosen Demütigungen aufzählte, die sie ihres unseligen Namens wegen schon erlitten hat. Jedoch schweiften meine Gedanken immer wieder zu Krog von Gork ab.
Während Pamela bei dem Gedanken an ihren ersten Tag als Referendarin in der Schule schluchzte, verfasste ich im Geiste den zweiten Absatz von Krog …
Krog erklomm die Kuppe des Hügels. Er blickte hinab in die Öffnung der Höhle. Seine Frau stocherte mit einem Zweig im Feuer. Krog seufzte tief. Er wünschte, seine Frau wäre schön, aber Schminke und Haarfärbemittel waren noch nicht erfunden. Ebenso wenig wie Enthaarungscreme. Krog pflückte eine Handvoll roter Beeren und lief beschwingt den Hügel hinab zum Feuer und der Frau, die er liebte. Sprache gab es noch nicht, aber er grunzte seiner Frau zur Begrüßung zu, und sie grunzte zurück. Krog bot ihr die Beeren dar; sie riss sie ihm aus der Hand und stopfte sie sich zwischen die schwarzen Zähne. »Es sollte etwas geben, was sich Manieren nennt«, dachte Krog, als er den Saft der Beeren aus ihrem Mund spritzen sah. Ein Dinosaurier brüllte in der Ferne; der Klang hallte über die Neandertal-Landschaft. Krog hob seinen Speer auf und legte den Arm schützend um seine Frau. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, die Lippen waren rot verschmiert. »Mein Gott, bist du schön«, grunzte Krog. Seine Lenden regten sich. Er führte seine Frau in seine Höhle.
Pamela Pigg blieb über Nacht, aber es kam zu keinerlei Intimitäten. Um 23:00 Uhr machte ich ihr den Vorschlag, eine offizielle Namensänderung zu beantragen. Sie sagte, das würde ihren Vater umbringen. Die Piggs reichten zurück bis ins 12. Jahrhundert zu den Plantagenets. Ihre einzige Rettung, sagte sie, wäre, ihren Namen durch Heirat zu ändern. Sie sah mich eindringlich an. Ich drehte den Kopf weg und stellte mich schlafend.

Dienstag, 13. März

Heute Abend behauptete ein Bauer namens Bailey im Fernsehen auf Midlands Today, dass er gezwungen sei, seinem Vieh Antibiotika und Essenreste von British Airways zu verfüttern und es in dunklen Käfigen zu halten, weil die Öffentlichkeit billige Nahrungsmittel verlange. Seltsam, ich kann mich gar nicht an die Krawalle vor dem Parlament erinnern, mit denen die Bürgerschaft die Senkung des Rindfleischpreises um fünf Pence pro Pfund erzwingen wollte. Allerdings prophezeie ich, dass es nicht lange dauern wird, bis Hoteliers, Rugbyspieler, Jockeys, Kanufahrer, Anorakhersteller, Bergstiefelverkäufer und Abenteuerreisen-Busfahrer mobilmachen und in die Downing Street marschieren, um Kompensation zu fordern.

Freitag, 16. März

Heute habe ich meinen Vater auf der Quarantänestation besucht. Eigentlich hätte er gestern entlassen werden sollen, aber er hat sich mit einem weiteren Krankenhaus-Superbazillus angesteckt. Ein bisschen Blut sowie mehrere seiner Schleimhäute werden gerade im Labor getestet. Tracy, seine Quarantäneschwester, las ihm laut einen Artikel über die Maul- und Klauenseuche aus dem Daily Telegraph vor. Als sie zitierte: »Die Bauern sind die Hüter der ländlichen Regionen«, donnerte mein Vater: »Diese Dreckskerle haben die verfluchten ländlichen Regionen ruiniert. Sie haben die Hecken hochgezogen, die Flüsse vergiftet, ihre Tiere mit Scheiße gefüttert und den Steuerzahler ausgeblutet.« Mein Vater hat die schlimmsten Vorurteile gegen Bauern. In den Anfangstagen ihrer Ehe verdächtigte er meine Mutter, eine Affäre mit einem Maschinenbauer zu haben. Merkwürdig, wie eine solch vage Verbindung unsere Sichtweise beeinflussen kann. Ich selbst habe keinen Fuß mehr in die Grafschaft Kent gesetzt, seit mein Feind Barry Kent für den Booker Prize nominiert wurde.
Ich blieb nicht lange am Krankenbett meines Vaters, da ich darauf brannte, zu meinem prähistorischen Roman Krog von Gork zurückzukehren. Mich reizt die Herausforderung, ein Buch zu schreiben, das in einer Zeit vor der Erfindung der Sprache spielt. Ich versuchte auch, meinen Vater für diese Herausforderung zu begeistern, aber sein Gähnen und die geschlossenen Augen verrieten mir, dass er nur wenig Interesse an meiner jüngsten literarischen Unternehmung hat. Nach einem halbherzigen Gespräch über die Vermittlungsversuche in Sri Lanka verließ ich die drückende Atmosphäre des Quarantänezimmers.
Tracy las weiter die Zeitung vor. Als ich das Ende des Stationsflurs erreichte, hörte ich meinen Vater rufen: »Niemand hat mich entschädigt, als die Nachtspeicherofenbranche zusammengebrochen ist! Niemand hat die rostenden Haufen ausrangierter Geräte auf den Feldern gefilmt!«

Samstag, 17. März

Meine Mutter wurde aus dem Gefängnis entlassen. Die Staatsanwaltschaft hat die Unterlagen zu ihrem Fall verloren. Sie war bestürzt, als sie erfuhr, dass ihr einigermaßen neuer Ehemann Iwan Braithwaite wieder in The Lawns bei seiner Exfrau Tania wohnte. Sie behaupten, wie Bruder und Schwester zusammenzuleben.

Sonntag, 18. März

Mittagszeit
 
In den Mittagsnachrichten wurde eine Bauersfrau gezeigt, die schluchzte, weil ihre gesunden neugeborenen Lämmer geschlachtet werden sollen. William, Glenn und ich hatten Tränen in den Augen. Dann sagte Glenn, nachdem er sich die Nase geputzt hatte: »Dad, was wäre denn mit den Lämmern passiert, wenn die Maul- und Klauenseuche nicht ausgebrochen wäre?«
Ich versuche, meine Söhne nie anzulügen, deshalb antwortete ich: »Die kleinen Schäfchen wären in einen Lastwagen getrieben, in ein weit entferntes Schlachthaus gekarrt, getötet und an einem Haken aufgehängt worden, bevor man sie in Stücke zerteilt hätte.« Vielleicht hätte ich nicht ganz so anschaulich sein sollen, denn beide Jungs haben mich inzwischen darüber informiert, dass sie sich ab sofort nur noch vegetarisch ernähren wollen. Das ist extrem ärgerlich. Während ich diese Zeilen verfasse, schmort eine Lammkeule im Ofen.

Montag, 19. März

Ich rief Pandora auf dem Handy an; sie war gerade in Wells-next-the-Sea, wo sie versuchte, eine misstrauische Menge von Wellhornschneckenfischern für sich zu gewinnen. Wie es aussieht, mutieren weibliche Wellhornschnecken und entwickeln Penisse. »Und der blöde Kabeljau ist praktisch verschwunden«, klagte sie. Um sie zu trösten, sagte ich: »Wenigstens wurdest du nicht vorgeladen, um vor Elizabeth Filkin und ihrer Kommission in der Keith-Vaz-Sache auszusagen.« Unvermittelt brach die Verbindung von ihrer Seite ab. Der Empfang an der Küste von Norfolk muss wohl schlecht sein.

Dienstag, 20. März

Fortschritte am Roman:
Krog hockte hinter seiner Frau und zupfte ihr Läuse aus dem verfilzten Haar. Ihr schwangerer Bauch wölbte sich dick. Krog wusste nicht, warum. Krog wollte seiner Frau sagen, wie sehr er sie liebte. Er wünschte, dass jemand sich beeilen und endlich die Sprache und Kleider und Shampoo erfände. Dann sprach Krog zu seiner Gattin: »Du Frau, ich Mann.«

Freitag, 23. März

Heute kam per FedEx ein Brief von Hamish Mancini aus den Vereinigten Staaten an. Ich habe ihn seit mehr als fünfzehn Jahren nicht gesehen, obwohl wir einander immer noch Weihnachtskarten schicken. Er lebt jetzt mit seiner alkoholkranken Mutter in Idaho.
Idaho, 22. März, 2001
Hi, Aidy!
Du, hör mal, ich hab ein echtes Problem und brauche dringend deinen Rat. Ich wollte ab Sonntag, dem 1. April, in England Urlaub machen. Jetzt hat Moms spiritueller Berater, der Reverend Moses Hick, mir und Mom erzählt, dass er im Fernsehen verrückte Kühe auf der Landepiste von Heathrow hat brennen sehen. Er sagt auch, dass die Themse Schloss Windsor überflutet hat und dass der Verzehr jeglichen englischen Viehs einen in ungefähr fünfzehn Jahren wahnsinnig macht. Ist die Lage wirklich so schlimm? Ich hatte gehofft, dich besuchen und ein paar Tage bleiben zu können; mit Mom zu verreisen ist immer total mühsam. Sie braucht inzwischen zwei Flaschen Jack Daniel’s pro Tag. Bitte schreib schnellstens zurück.
 
Hamish Mancini, dein ehemaliger Brieffreund
Ich antwortete umgehend.
Lieber Hamish,
komm auf gar keinen Fall nach England. Heathrow ist von Armeepanzern umstellt. Die Felder sind von toten Tieren übersät. Die Nahrungsmittel in den Geschäften sind ungenießbar. Wir leben von Nüssen und Beeren, die wir von den wenigen verbliebenen Sträuchern und Hecken pflücken. Entgleiste Züge haben unseren Eisenbahnverkehr zum Erliegen gebracht. Benzin kostet inzwischen 20 $ pro Gallone, und es wird immer schwieriger, auf unseren Schnellstraßen zu fahren. Man kommt praktisch nicht vom Fleck wegen der häufigen Leibesvisitationen durch die Polizei, die ständig auf der Suche nach dem Maulund-Klauenseuchen-Virus ist.
Nichts hätte mir mehr Freude bereitet, als dir und deiner reizenden Mutter Kost und Logis anzubieten. Dennoch rate ich dir DRINGEND davon ab, dieses mein von Gott verlassenes Heimatland zu besuchen. Wie immer dein
Adrian
 
 
PS: Wenn ich du wäre, würde ich mindestens die nächsten fünf Jahre nicht einmal daran denken, England zu besuchen. NICHT, wenn dir dein Leben lieb ist.
Ich besitze nicht genug Decken und Kissenbezüge für Besuch, und zudem sprechen Hamish und seine Mutter mit Ausrufezeichen. Außerdem habe ich in meiner vorletzten Weihnachtskarte behauptet, ich würde in einem strohgedeckten Cottage auf dem Land wohnen. Wohingegen ich in Wirklichkeit leider in einer sozial ausgegrenzten Zone lebe, in der ein Baum auf eintausend Menschen kommt.

Samstag, 24. März

William und Glenn haben ihrer Mutter (nicht ein und dieselbe Frau) eine Muttertagskarte gebastelt. Glenns Karte zeigte Sharon auf einem Sofa sitzend und eine Kippe rauchend. Auf die Innenseite hatte er in pseudoaltertümlicher Schrift notiert: »Alles Gute zu deinem Ehrentag, ich lieb dich mehr, als ich zu sagen vermag, deine schlechte Laune kennt keine Pause, deshalb wohn ich viel lieber bei Dad zu Hause.«
Auf Williams Karte sieht man eine schwarze Strichmännchen-Frau mit zehn Fingern an jeder Hand. Mit meiner Hilfe hat er geschrieben: »Kann ich bei Dir in Afrika wohnen? Hier werden alle Tiere erschossen. Liebe Grüße von Deinem Sohn William.«
Ich selbst kaufte an der Tankstelle eine fertige Glückwunschkarte mit einer Giraffe, aus deren Maul eine Sprechblase kommt: »Du stehst bei mir hoch im Kurs, Mum.« Es war die Einzige, die noch da war. Der innen abgedruckte Vers lautete: »Liebevoll, treu, ein Goldstück! Dir verdanke ich all mein Glück.« Das war krasse Heuchelei von meiner Seite. Meine Mutter ist mehr oder minder eine Soziopathin und praktisch allein für meine generelle Unzufriedenheit verantwortlich.

Sonntag, 25. März

Muttertag
 
Rosie und ich führten unsere Mutter heute zum Mittagessen ins Holiday Palace Hotel aus. Das Menü kostete 16,99 £ pro Nase. Nur die Toiletten waren noch ekliger als das Essen. Wachte nachts auf und machte mir Gedanken über das Schweinehirn, das ich einmal für John Prescott gekocht habe, als ich noch ein Innereienkoch in London war. Habe ich das Todesurteil des armen Mannes unterzeichnet?
Ein weiterer Absatz für Krog von Gork:
Krog strich mit den Fingern über das Gesicht seiner Frau. Er liebte ihre vorspringende, niedrige Stirn. Er hasste es, wenn Frauen zu intellektuell waren.

Samstag, 31. März

Ich bin froh, dass dieser verwünschte Monat endlich zu Ende ist. William ging in den Garten, um seine neuen roten Gummistiefel auszuprobieren. Minuten später musste er von mir und Glenn gerettet werden, weil er bis zur Hüfte in dem morastigen Sumpf versunken war, der früher einmal unser Rasen gewesen ist.
 
Michael Fish erzählte mir und meinen englischen Fernsehzuschauerbrüdern und -schwestern heute um die Mittagszeit, dass die vergangenen zwölf Monate die nassesten seit Beginn der Wetteraufzeichnung gewesen seien. »Das überrascht mich nicht, Mike«, sagte ich zu Michael.
Ich wollte ihm gerade von Williams Gartenunfall erzählen, als mir zu meinem Entsetzen einfiel, dass Michael Fish mich ja gar nicht hören konnte. Ich muss unbedingt mehr unter Leute.
 
Während ich den Jungs heute Abend Tofuburger zubereitete, hatte ich plötzlich eine tolle Idee. Ich wählte Pandoras Durchwahl im Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Fischereiwesen. Sie war sofort am Apparat. Aus Spaß verstellte ich meine Stimme und gab mich als Amtstierarzt von Norfolk aus. Ich sagte: »Moin liebes Mädel, ich bin der Amtstierarzt von Norfolk. Es tut mir sehr loid, aber ich habe schlechte Neuigkeiten. Hier unten gab es oinen schlimmen Ausbruch der Schnabel- und Krallenseuche. Mehr als elf Millionen Hühner und Truthähne sind befallen.«
Sie schnappte hörbar nach Luft. Dann fragte sie: »Großer Gott, was denn noch alles? Kann man die Eier noch unbedenklich essen?«
Mit meinem neu erworbenen Norfolk-Akzent antwortete ich: »Noin, moine Gute, die müssen alle aus den Ställen aufgesammelt und oinen Stempel kriegen: ›NICHT ZUM VERZEHR GEEIGNET. DIESES EI IST ÜBERTRÄGER DES SCHNABEL-UND-KRALLEN-SEUCHEN-VIRUS! ‹«
Es folgte Stille, ein unterdrücktes Schluchzen. Dann brüllte sie quer durch ihr Büro: »Hol Tony, aber dalli!« Sie redete eindringlich auf jemanden in ihrer Nähe ein, woraufhin ich eine männliche Stimme rufen hörte: »Verfluchte Scheiße, in Norfolk ist die Schnabel- und Krallenseuche ausgebrochen!« Der Mann klang hysterisch.
Allmählich bereute ich meinen Streich, doch als Pandora mich fragte, ob sie Vorkehrungen treffen sollte, das Geflügel zu schlachten und die Eier zu entsorgen, antwortete ich aus irgendeinem Grund: »Die Vögel müssen aus ihrem Elend erlöst werden, aber die Eier könnte man vielleicht noch gut gebrauchen – um in der heißen Phase vor der nächsten Wahl Politiker damit zu bewerfen.«
Nachdem ich den Hörer aufgeknallt hatte, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Pandora war so stolz auf ihre jüngste Beförderung zur Staatsministerin für Geflügel. Ich versuchte, nochmal anzurufen, aber sämtliche Leitungen in ihrem Büro waren ununterbrochen besetzt. Ursprünglich hatte ich den Vorschlag machen wollen, dass – anstatt die infizierten Schafe zu vernichten – doch besser jeder Haushalt in England ein gehäutetes, ausgenommenes Schaf zum Einfrieren bekommen sollte. Immerhin stellt die Maulund Klauenseuche keine Gefahr für den Homo sapiens dar. (Der Gerechtigkeit halber könnten Vegetarier ja einen Gutschein für einen Sack Steckrüben oder so was bekommen.) Das würde New Labour sicherlich Stimmen einbringen.

Sonntag, 1. April

Eine Kurierfirma aus Leicester namens 24-7 weckte mich heute Morgen sehr früh mit dem wunderbarsten Brief meines Lebens:
Sehr geehrter Adrian Mole,
mein Name ist Louise Moore. Ich bin Lektorin bei Penguin Books Ltd. Ich will gleich zur Sache kommen. Als ich gestern mit Will Self und Martin Amis im Ivy zu Mittag aß, hörte ich unfreiwillig ein Gespräch zweier Agenten am Nebentisch mit an. Sie unterhielten sich über Ihr noch unvollendetes Manuskript Krog von Gork. Ich war sofort fasziniert von der Idee, dass Krog die erste menschliche Sprache erfindet, wodurch er seiner Frau mitteilen kann, dass er sie liebt. Penguin möchte Ihnen gern eine Million Pfund für einen Zweibuchvertrag anbieten. Bitte rufen Sie mich am Montagmorgen um 9:30 Uhr an. Mit besten Grüßen,
Louise Moore

Montag, 2. April

Meine Geburtstagskarten zierten die üblichen Symbole der Männlichkeit: Oldtimer, schäumende Bierkrüge und Angelruten.
Um exakt 9:30 Uhr rief ich Ms Moores Nummer an. Pandora hob ab. »April, April, du Ekelpaket von einem Geburtstagskind!«, rief sie, bevor sie den Hörer aufknallte.

Freitag, 6. April

Arthur Askey Way
 
Eine verspätete Geburtstagskarte von Pamela Pigg. Vorne drauf ein ältlicher Quadratschädel, der an einem rustikalen Tisch vor einem strohgedeckten Pub sitzt. Zu seinen Füßen liegt ein schwarzer Labrador neben einem Korb, aus dem mehrere Angelruten, Netze etc. ragen. Der Quadratschädel trägt eine grüne Wachsjacke und eine Sherlock-Holmes-Mütze und hebt einen schäumenden Bierkrug an die selbstgefälligen Lippen. Im Hintergrund steht ein Oldtimer, der vermutlich dem alten Quadratschädel gehört.
Wie lange hat Pamela wohl nach dieser Karte gesucht? Und als sie sie gefunden hatte – rief sie da: »Endlich! Das ist die perfekte Karte für Adrian Mole«? Sie muss doch inzwischen wissen, dass ich Strohdächer, Hunde, Bierkrüge, Angeln, Tweed – kurz gesagt, dass ich so ziemlich alles hasse, was mit dem Landleben zu tun hat. Ich bin bis in die Haarspitzen ein Stadtmensch. In die Karte hatte Pamela geschrieben: »Adrian, mon amour, lass es uns noch mal probieren. Sex ist nicht alles. In Liebe, Piglet.«
 
Preisfrage: Will ich es noch einmal mit Pamela probieren? Die meisten unserer Rendezvous enden in Tränen, durchweichten Taschentüchern und gegenseitigen Vorwürfen. Sie ist haarsträubend überempfindlich: Im vergangenen Herbst weinte sie bei einem Waldspaziergang, weil die Blätter »ihre Mütter« (die Bäume) verlassen mussten.

Samstag, 7. April

Wider besseres Wissen rief ich Pamela an und bat sie, mich zu Nigels offizieller Coming-out-Party zu begleiten. Sonst riskiere ich, für einen alleinstehenden schwulen Mann gehalten zu werden. Ich bereute meine Einladung sofort, als ich ihr Outfit sah. Meiner Meinung nach sollte keine Frau über 17 ein paillettenbesetztes Schlauchtop tragen. Und ihre geschmacklosen Ohrringe waren auch nicht der Hit. Nigels Eltern waren wie vom Donner gerührt – seine Mutter glaubt immer noch, seine Homosexualität sei eine »dumme Phrase [sic], die er gerade durchmacht«.
 
In der Nacht, nach einem weiteren gescheiterten Versuch im Geschlechtsverkehr (ihre Schuld, nicht meine), drehte mir Pamela den Rücken zu und begann, jämmerlich zu weinen. Ich sehnte mich nach Schlaf, fühlte mich aber genötigt, ihr Trost zu spenden. Leider war sie am Morgen immer noch da, nackt, abgesehen von den Ohrringen. Als William in mein Schlafzimmer gestürmt kam, stellte er missbilligend fest: »Jetzt musst du heiraten, Dad.« Er hat mich noch nie mit einer Frau im Bett gesehen, nicht einmal mit seiner Mutter.

Sonntag, 8. April

Pamela schlug vor, en famille zum Mittagessen in ein Lokal zu gehen. Sie empfahl das Ye Olde Carvery in Frisby-On-The-Wreake. Glenn und William waren ganz aufgeregt – sie essen selten auswärts. Unterwegs im Auto erzählte ich, dass Frisby-On-The-Wreake ein berüchtigtes Zentrum für heidnische Bräuche sei. Pamela widersprach mir heftig mit dem Argument, Frisby habe drei Jahre in Folge den Preis für die schönste Blumenampel gewonnen. Auf meinen Einwand, dass sich beides keineswegs ausschlösse, sagte Glenn diplomatisch: »Stimmt, eine Hexe kann ja auch eine Blumenampel haben.«
Das Ye Olde Carvery war voller alter Quadratschädel in Wachsjacken, die lautstark über die arme Kuh sprachen, die ziemlich ins Fettnäpfchen getreten sei. Ich ging davon aus, dass sie von der Maul- und Klauenseuche schwafelten, doch Pamela hatte eine Ausgabe der Mail on Sunday gefunden und berichtete mir, dass Sophie, die Frau von Prince Edward, in die Falle eines Journalisten getappt war, der sich als arabischer Scheich verkleidet hatte. Die Countess of Wessex hatte John Major als »hölzern«, William Hague als »Marionette« und Füchse als »Ungeziefer« bezeichnet.
Das Lokal bot keine Gerichte für Vegetarier an. Ja, ein Blick auf die hinter der Theke vertrocknenden Speisen verriet mir, dass Ye Olde Carvery für keinen Menschen mit normalem Appetit, Geschmacksknospen etc. etwas anzubieten hat. Als wir wieder gingen, lachte einer der alten Quadratschädel über Pamelas grässliche Ohrringe. Ich konnte schlecht Einspruch erheben.

Mittwoch, 11. April

Lag die ganze Nacht mit einem lästigen trockenen Husten wach. Habe heftig geschwitzt.

Donnerstag, 12. April

Nur zwei Kilometer von meiner Haustür entfernt ist TB ausgebrochen! Und ich zeige alle Symptome. Dr. Ng wurde gerufen. Er entfernte mir wütend eine rote Paillette hinten aus der Kehle.

Freitag, 13. April

Karfreitag
 
Warum schließen Banken an gesetzlichen Feiertagen? Sie sollten geöffnet haben, wenn so viele Leute Zeit haben, sie aufzusuchen. Ich wollte mich nach einem Kontoauszug erkundigen, demzufolge ich in einem Geschäft in Lewes 104,49 £ für belgische Pralinen ausgegeben haben soll. Also rief ich ein Callcenter in Southend an und erklärte einem Halbwüchsigen namens Gary, dass ich nie Schokolade kaufen würde, weil das meiner Haut nicht zuträglich sei, und dass ich noch niemals in Lewes gewesen sei.
Er sagte: »Vielleicht war es eine Internettransaktion.«
Etwas unwirsch wiederholte ich, dass ich Schokolade nicht vertrüge.
Er meinte: »Vielleicht war es ein Geschenk für jemanden – schließlich haben wir Ostern.«
Mittlerweile wütend entgegnete ich: »Ich bin ein armer Mann! 104,49 £ übersteigen mein wöchentliches Einkommen.«
»Mit Ihrem Dauerauftrag bei Ihrem Zeitungsladen könnte man ein afrikanisches Dorf einen Monat lang ernähren«, blaffte er.
Genau in dem Moment rief Glenn aus der Toilette, dass kein Papier da sei. Ich bat Gary, kurz zu warten. Als ich zurückkam, lief »Greensleeves« vom Band, also ging ich zu meiner Bank, deren Türen jedoch verschlossen waren.
 
Glenn war den ganzen Tag trübsinnig. Er fragte, ob er sein Zimmer schwarz streichen dürfe. Als ich fragte, was denn los sei, antwortete er: »Warum ist Karfreitag ein Feiertag? Für den armen Jesus war es doch bestimmt keiner, oder?« Daraufhin erzählte er, am Morgen in eine Reißzwecke getreten zu sein: »Da hab ich irgendwie kapiert, wie das da an dem Kreuz gewesen sein muss, Dad.« Dann fragte er noch, ob ich ihm ein Osterei der Marke Cadbury Heroes schenken würde. William hingegen wünscht sich eines von Barbie. Besorgniserregend.

Samstag, 4. April

Bekam eine E-Mail von Hamish Mancini: »Yo, Adi, ich schick dir per FedEx einen Fünfzigkilosack von unseren guten Idaho-Kartoffeln, weil ihr da drüben in England doch wegen Überschwemmung und Seuchen nix mehr zu beißen habt. Wir beten für dich und deine Familie.«

Sonntag, 15. April

Ostersonntag
 
Pamela kam mit einem Ostereier-Deko-Set vorbei.
Williams Eier wurden knallbunt, das von Glenn zeigte Jesus am Kreuz. Aus dem Mund kam eine Sprechblase: »Vater, warum hast du mich verlassen?«, was Pamela etwas verstörte. »Um Himmels willen, Glenn, mach dich mal locker, es ist Ostern!« Später, als William mit der Verpackung seines Barbie-Ostereis spielte und Glenn sich Die größte Geschichte aller Zeiten im Fernsehen ansah, zog Pamela mich in mein Schlafzimmer und überreichte mir ein erotisches Osterei, in dessen Mitte sich ein essbares Spitzenhöschen befand. Ungeduldig drängte sie mich, es aufzubrechen und den Inhalt zu entnehmen. Ich hatte es weniger eilig: Ein Blick auf die Inhaltsstoffe zeigte mir, dass die Unterhose vollgestopft mit dubiosen Chemikalien und vielsilbigen Aromastoffen war.

Sonntag, 22. April

Arthur Askey Way
 
Letzten Sonntag zwang ich die Jungs, sich hinzusetzen und Go4it, die neue Kindersendung auf Radio 4, anzuhören. Ich war etwas verstimmt, als Glenn sich bereits nach fünf Minuten beschwerte: »Das ist doch nur für reiche Snobkinder, oder?« William schlief während des Interviews mit dem Ruderer Sir Steve Redgrave ein. Ich weckte ihn auf und sagte: »Sir Steve hat fünf Goldmedaillen für sein Land gewonnen. Du könntest wenigstens wach bleiben, solange er spricht.«
Heute Abend setzten wir uns wieder vors Radio. Besonders gefesselt war ich von dem Interview mit dem Schöpfer der alten TV-Serie Thunderbirds, Gerry Anderson. Als Kind war ich völlig vernarrt in die Lady-Penelope-Marionette. Sie stand im Mittelpunkt meiner ersten sexuellen Fantasien. Ich mag heute noch Frauen, die etwas Hölzernes an sich haben. Pandora Braithwaite zum Beispiel, die Liebe meines Lebens, sieht aus wie geschnitzt. Wobei es in dem Fall die Labour-Partei ist, die jetzt die Fäden in der Hand hält. Ha, ha!
Sie war heute in den Nachrichten, in Prada-Gummistiefeln und einem Tweedkostüm bemühte sie sich, der wütenden Landbevölkerung zu versichern, ein gigantisches Loch mit Hunderttausenden widerlicher verwesender Kühe und Schafe stelle kein Gesundheitsrisiko dar. Ein Journalist rief: »Haben Sie das Antirassismusabkommmen unterzeichnet, Pandora?«, woraufhin sie fauchte: »Das einzige Anti, das mich interessiert, ist meine Anti-Aging-Creme von Chanel.«

Montag, 23. April

Pandoras Bemerkung hat die Antidiskriminierungskommission auf den Plan gerufen. Sie hat die Anweisung erhalten, sich mit einem schwarzen oder braunen Menschen fotografieren zu lassen, und rief an, um zu fragen, ob William verfügbar sei. Ich gab zurück: »Die Hautfarbe des Kindes ist nicht zu vermieten.« Daraufhin bat sie mich um Mohammeds Telefonnummer und legte auf.

Dienstag, 24. April

Als ich an der Tankstelle eine Packung Choco Krispies kaufen wollte, platzte Mohammed sofort mit der Neuigkeit heraus, dass Pandora ihn angerufen und sich zusammen mit einem Team von Newsnight gestern Abend zum Essen bei ihm eingeladen habe. Sie hatte Tikka Masala mit Hühnchen bestellt. Mohammed sagte: »Meine bessere Hälfte war leicht genervt, weil sie sonst dienstags immer Fish & Chips im Imbiss um die Ecke holt, aber man kann Pandora einfach nichts abschlagen, wenn sie einen mit dieser vornehmen Stimme rumkommandiert, stimmt’s?« Er fragte mich, auf welcher politischen Seite Newsnight stehe.
 
Naturellement sah ich mir die Sendung mit großem Interesse im Fernsehen an. Pandora trug ihr Pandschabi-Kostüm von Alexander McQueen, das sie sich anlässlich des Gründungstreffens des Angloindischen Frauenrugbyteams von Ashby gekauft hatte.
Danach ging ich ins Bett und hörte mir noch eine Anrufsendung im Radio an. Die meisten Leute wollten über das Kälbchen Phoenix sprechen, das zwar gesund ist, aber trotzdem zum Tode verurteilt wurde. Es soll morgen von einem Amtstierarzt exekutiert werden.

Donnerstag, 26. April

Arthur Askey Way, 22:30 Uhr
 
Gottlob wurde Phoenix verschont. William weinte sich letzte Nacht in den Schlaf, und Glenn schmiedete düstere Pläne, nach Membury in Devon zu fahren und sich dort dem Jugendflügel einer militanten vegetarischen Splittergruppe namens »Sprossen« anzuschließen, der vorhatte, sich dem bösen Landwirtschaftsministerium – den Kälbermördern – zu widersetzen. Seine Motive waren nicht gänzlich selbstlos. Er ist hin und weg von Joanna Lumley, seit sie sich im Fernsehen so eloquent für das Leben des Kälbchens eingesetzt hat. Ich finde das etwas bedenklich: Ms Lumley ist zwar bezaubernd, aber sie ist alt genug, um seine Großmutter zu sein.

Samstag, 28. April

Als ich heute Morgen Milch an der Tankstelle holen wollte, waren zu meiner Bestürzung zwei Sanitäter gerade dabei, Mohammed mit Sauerstoff zu versorgen. Er war von den Dämpfen ohnmächtig geworden, die ein Stapel des neu gestalteten Guardian-Wochenendmagazins verströmte. Ich blieb, bis er sich weit genug erholt hatte, um zu keuchen: »Diese Allergie könnte das Ende meiner Laufbahn als Tankstellen-Zeitungshändler sein, Moley.«
 
Heute Nachmittag kam William in Tränen aufgelöst aus dem kleinen, verwahrlosten Park der Siedlung nach Hause gerannt. Ein großer weißer Junge hatte ihn »Promenadenmischung« genannt. Ich erinnerte ihn daran, dass in seinen Adern das Blut eines nigerianischen Aristokraten, eines Kartoffelbauern aus Norfolk, eines schottischen Lokomotivführers und einer walisischen Hexe floss und dass er qua Geburt in diesem Land – und laut der Definition im Oxford English Dictionary – genauso englisch war wie Prince Philip. Doch der Junge ließ sich einfach nicht trösten, bis Glenn ihn aufforderte, mit ihm zusammen ein altes Video von Joanna Lumley in ihrer Rolle als Purdey in Mit Schirm, Charme und Melone anzuschauen.

Sonntag, 29. April

Den Fragebogen für die Volkszählung auszufüllen dauerte länger als erwartet. Ich zermarterte mir den Kopf über die Fragen zur Berufstätigkeit. Am Ende kreuzte ich »ja« an und gestand, dass ich drei Stunden an meinem Roman Krog von Gork gearbeitet hatte.
William gehörte irgendwie zu keiner ethnischen Gruppe. Ich rief die Hilfs-Hotline an und sprach mit einem Burschen namens Len Cook. Meine Aufzählung von Williams diversen Abstammungslinien schien ihm auf die Nerven zu gehen. Im Endeffekt entschied ich mich für Kästchen B – gemischt, weitere – und schrieb britisch/schwarzafrikanisch.
Glenn machte sich lange Gedanken über die Religionsfrage, erklärte sich aber schließlich zum Buddhisten, nachdem ich ihm einen kurzen Abriss über die anderen großen Weltreligionen gegeben hatte. Ihm gefiel, dass Buddhisten sich die Köpfe scheren und aufpassen, dass sie nicht auf Ameisen treten.

Samstag, 5. Mai

Sehr geehrter Premierminister,
ich habe gerade Ihren Außenminister Robin Cook in den Nachrichten gesehen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wovon der Mann sprach, da ich kein Wort verstehen konnte. Es wird höchste Zeit, dass man ihm einen offiziellen Dolmetscher an die Seite stellt. Alternativ könnten notfalls auch Untertitel eingeblendet werden. Ich bin ein eifriger Beobachter der Außenpolitik und lehne es ab, durch Mr Cooks unverständliches Gebrabbel ausgegrenzt zu werden. Übrigens gefällt mir Ihre neue Brille – Sie wirken damit gesetzter, woran es Ihnen in letzter Zeit aufgrund Ihrer eigenen nachlässigen Sprechweise gemangelt hatte. Mit freundlichen Grüßen,
A. A. Mole
Ein Zollbeamter namens Colin Dodge rief mich heute Nachmittag vom Flughafen Heathrow an. Er teilte mir (ziemlich barsch, wie ich fand) mit, dass die von Hamish Mancini als Lebensmittelhilfe geschickten Kartoffeln aus Idaho gemäß den Einfuhrbeschränkungen zur Bekämpfung des Kartoffelkäfers konfisziert wurden. Ich schrieb Hamish eine E-Mail und bat ihn, mir keine weiteren Carepakete zu schicken, da die Maul- und Klauenseuche inzwischen unter Kontrolle und wieder Nahrung in den Geschäften erhältlich sei.
Hamish mailte zurück: »Ich hab den Wochenrückblick im Fernsehen gesehen, Mannomann! Da waren Massen von verrückten Roten und Anarchisten, die in London randaliert haben. Wann wird es für Mom und mich sicher genug sein, rüberzukommen? Ich will Urlaub in dem niedlichen strohgedeckten Cottage machen, in dem du wohnst.«

Montag, 7. Mai

Gesetzlicher Feiertag
 
Mein Nachbar Vince Ludlow schmiss heute eine Willkommensparty für Ronnie Biggs. Er hat den berühmten Zugräuber zwar nie persönlich getroffen, empfindet aber offensichtlich eine Seelenverwandtschaft mit ihm. Den ganzen Tag und bis weit in die Nacht hinein wimmelte es in unserer Straße von Kriminellen. Das Gerücht, der alte Gangster Mad Frankie Fraser sitze auf der Ludlow’schen Couch und verspeise Krabbenpastensandwiches, machte die Runde. Der Lärm war unerträglich. Trotzdem entschied ich mich dazu, mich nicht zu beschweren, da ich kein Bedürfnis danach verspürte, mir die Füße an den Knöcheln absägen zu lassen. Stattdessen machte ich mit Glenn und William einen Ausflug aufs Land.
Am Rande von Little Snickerton hielt ich in einer Parkbucht und versuchte, die Jungs zum Aussteigen zu bewegen, doch keiner von beiden rührte sich vom Fleck. Sie bilden sich ein, dass das Land von despotischen Bauern beherrscht wird, die alle Stadtbewohner hassen. Schließlich wendete ich den Wagen und fuhr zurück.

Freitag, 25. Mai

Ich besuchte heute meinen Vater in seinem Quarantänezimmer. Da ich keine Lust auf den ganzen Zirkus mit Duschen, sterilem Kittel, Atemmaske und Schuhüberzügen hatte, machte ich nur Handzeichen durch die Beobachtungsglasscheibe in der Tür. Ich wollte mich gerade mit erhobenen Daumen von ihm verabschieden, als sein Arzt Mr R. T. Train anrückte, einen Trupp Medizinstudenten im Schlepptau. Ich rückte zur Seite und hörte mir Trains gesamte Lehrstunde in Diagnosetechniken an. Er deutete durch die Scheibe auf meinen Vater, der aufrecht im Bett sitzend eine laminierte, keimfreie Ausgabe des Daily Express las.
»Sehen Sie sich diesen Patienten gut an«, leierte Train. »Er erholt sich von mehreren Krankenhausinfektionen, leidet aber zusätzlich an einer interessanten psychischen Krankheit. Weiß jemand, worum es sich handelt?« Ein kleiner Chinese sagte: »Glaubt er vielleicht, der Daily Express sei eine Zeitung?«
Als das Gelächter verebbt war, sagte Train nachsichtig: »Gute Antwort, Wang. Sonst noch jemand?« Die Studenten musterten einer nach dem anderen meinen Vater.
Schließlich meinte eine schwarze Frau, die mich ein wenig an meine Exfrau Jo-Jo erinnerte: »In diesem Raum gibt es drei Fotos von William Hague. Hat er eine Zwangsneurose?« Train sagte: »Gut beobachtet.« Dann wandte er sich an den dicken Engländer in der Gruppe. »Lesen Sie die Akte des Patienten und stellen Sie Ihre Diagnose, Dr. Worthington.« Worthington zerknautschte das feiste Gesicht vor Konzentration und las die Krankenakte meines Vaters.
Endlich blickte er auf und erklärte: »Der arme Teufel hat Wahnvorstellungen. Er glaubt, Hague wird der nächste Premierminister.«
Eine abgearbeitet aussehende Putzfrau näherte sich mit einem Eimer Schmutzwasser und einem gammeligen Mopp. Sie trug einen billigen Nylonoverall, der mit dem Logo PrivaClean geschmückt war. Eilig versuchte sie, das Zimmer meines Vaters zu betreten, wurde aber von Train davon abgehalten, der sie anwies, zuerst das Wischwasser zu wechseln und sich sterile Kleider anzuziehen. Sie jammerte: »Ich hab keine Zeit, ich muss noch drei Stationen und einen OP putzen, bevor ich Feierabend mache.«

Samstag, 26. Mai

Pandora hat ihren Wahlkreis Ashby-de-la-Zouch verlassen und ist für eine Privataudienz mit Expräsident Clinton nach Hayon-Wye gefahren. Sie hat laut eigener Aussage ein Lewinsky-Kleid eingepackt. Ihr fehlt ganz eindeutig jegliche Moral.

Samstag, 2. Juni

Arthur Askey Way
 
Glenn weckte mich früh am Morgen mit der bestürzenden Nachricht, dass Prince Charles mit einer Kalaschnikow Amok gelaufen sei und seine gesamte Familie »wegen Camilla« umgebracht habe. Ich schaltete Five Live an und erfuhr zu meiner Beruhigung, dass sich das Massaker in Kathmandu ereignet hatte und unsere eigenen Royals (vermutlich) in Sicherheit und einigermaßen wohlauf waren.

Sonntag, 3. Juni

Pandora klopfte heute Morgen an meine Tür, als ich gerade den Abwasch machte. Sie legte mir eine Hand auf die Wange und schnurrte: »Kann ich wie üblich auf deine Stimme zählen, Süßer?« Kühl teilte ich ihr mit, dass ich von ihren gewohnheitsmäßig gebrochenen Versprechen desillusioniert sei und daher die Absicht habe, für den Kandidaten der Socialist Alliance, Abbo Palmer, zu stimmen. Sie ließ ihre Wahlhelfer auf der regengepeitschten Straße zurück und drängte sich in meine Küche. »Was für gebrochene Versprechen?«, knurrte sie.
Ich zählte die Enttäuschungen an meinen Fingern ab, wobei ich allerdings noch meine gelben Spülhandschuhe trug, was den dramatischen Effekt möglicherweise etwas minderte. Als ich beim letzten Gummmifinger angelangt war, sagte ich: »Und schließlich, Pandora, hast du versprochen, mich zu heiraten, sobald wir 16 sind und uns die Zugfahrt nach Gretna Green leisten können.« Ich zog meine Brieftasche hervor und entnahm ihr den schriftlichen Beweis: ein Briefchen, das sie während einer Doppelstunde Erdkunde vor mehr als 20 Jahren gekritzelt hatte. Der Anblick ihrer kindlichen, verschnörkelten Handschrift trieb mir beinahe die Tränen in die Augen.
Pandora überflog den Zettel und drehte ihn dann um. Auf der Rückseite befand sich ein Diagramm, das den Niedergang des Produktionsstandorts Großbritannien unter Thatcher zeigte. »Interessant«, murmelte sie und fragte, ob sie die Notiz behalten dürfe, da sie ihr so viel bedeute. Ich erwiderte: »Ganz sicher nicht, ich trage diesen Liebesbrief seit zwei Jahrzehnten in meiner Brieftasche, nah an meinem Herzen. Er erinnert mich an die Zeit, als wir 15 und wahnsinnig verliebt waren.«
Wir wurden von einer Frau aus Pandoras Wahlhelferteam unterbrochen, die dringend einer Haarentfernung an Oberlippe und Kinn bedurft hätte. Sie klopfte an die Tür und sagte: »Der Übertragungswagen von Newsnight hat gerade dein Auto gerammt, Pandora. Jeremy Vine möchte die Anschrift deiner Versicherung.«

Mitternacht

Pandora wurde soeben von einem ungewöhnlich ehrerbietigen Jeremy Vine für Newsnight interviewt. Als Bildhintergrund diente der vergrößerte Brief. (Mit der Diagrammseite.)

Freitag, 8. Juni

Arthur Askey Way
 
Ich wachte um 9:30 Uhr auf dem Sofa auf. Im Fernsehen war Ffion Hagues trauriges, aber tapferes Gesicht zu sehen. Glenn saß auf dem Fußboden und verschüttete Cornflakes auf den neuen Ikea-Teppich. Mit vollem Mund sagte er: »Der Tory hat sich aus dem Staub gemacht, Dad.« Der Geruch von verbranntem Toast kam aus der Küche geweht, und William trat mit einem Teller voller gebutterter Briketts herein, von denen die Hälfte auf dem Teppich landete. Ich war zu erschöpft zum Schimpfen und sank zurück in die neuen Ikea-Gobelinkissen. Ich funktioniere nicht gut nach nur zwei Stunden Schlaf.
 
Als ich das nächste Mal erwachte, saßen Tony und Cherie in einem kleinen englischen Auto, das sie in den Palast fuhr. Glenn und William hatten immer noch ihre Schlafanzüge an und aßen Obstsalat mit dem Häagen-Dasz-Eis, das ausschließlich für Sonntagnachmittag reserviert ist. Ich krächzte Glenn an: »Ist Pandora drin?« Ein winziger Ananaswürfel und ein Tropfen Saft fielen von seinem Teelöffel, den er wie einen Spaten schwang.
Der Teppich glich inzwischen einer kleineren städtischen Müllhalde, das Ethnomuster war kaum noch zu erkennen. Glenn schluckte und rasselte – beunruhigend wie Channel- 4-Moderator Peter Snow klingend – herunter: »Ja, Dad, sie hat’s mit 23.431 Stimmen geschafft, mit einer Mehrheit von 8157 Stimmen, das macht 52,06 %, aber sie hat ein bisschen verloren, weil es einen Umschwung von 3.64 % zugunsten der Torys gab. Und die Wahlbeteiligung lag bei 65,79 %, das ist deutlich höher als der Landesdurchschnitt.«
Ich war beeindruckt, wie gut der Junge mit Statistiken umgehen konnte. Vielleicht lenke ich ihn in Richtung Mathematikstudium. William brachte mir eine Tasse lauwarmen Tee und stellte ihn auf den Teppich. Dreißig Sekunden später war die Tasse umgekippt, nachdem Glenn einen Kickbox-Tritt demonstrierte hatte.

Mittag

Ich wies die Jungs an, sich für die Schule anzuziehen. Als ich das nächste Mal aufwachte, war es vier Uhr und der Schultag beendet. Glenn sagte: »Mein Klassenlehrer hat angerufen, Dad, und wollte wissen, warum ich nicht in der Schule bin. Ich hab ihm gesagt, ich musste zu Hause bleiben und mich um dich kümmern, weil du nicht von der Couch aufstehen wolltest.«
»Hättest du dir nicht eine Magenverstimmung oder so was ausdenken können?«, entgegnete ich unwirsch.
»Ich hab doch nur die Wahrheit gesagt, Dad. War das falsch?«
Da ich während des Wahlkampfs über die Unehrlichkeit von Politikern gepoltert hatte, wusste ich nicht, was ich dem Jungen antworten sollte, also täuschte ich Schlaf vor.

Donnerstag, 14. Juni

Glenn fragte mich heute, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Ich sagte ihm, ich sei Schriftsteller. »Aber ich seh dich nie was schreiben«, erwiderte er anklagend. Ich erklärte ihm, ich sei ein unveröffentlichter Schriftsteller und dass mir aufgrund einer Verschwörung im Verlagswesen keine Aufmerksamkeit geschenkt werde. Er nahm das Manuskript meines neuesten Romans Krog von Gork mit ins Bett, um es zu lesen. Ich freue mich ungemein, dass er ein so reges Interesse an meinem literarischen Leben zeigt.
 
Pamela Pigg hat meinen Ratschlag angenommen und trifft sich jetzt mit Alan Clarke, dem Freizeit-Folksänger. Sie rief mich an, um mir mitzuteilen, dass ihre erste Verabredung »großartig« verlaufen sei. Er lud sie ins Tandoori-Restaurant The Friends ein. Am Nachbartisch saß Pandora mit einigen mondänen Großstädtern, die die Auffassung vertraten, Ann Widdecombe sei das Ergebnis eines Experiments im Chemiewaffenlabor von Porton Down. Angeblich sei sie entkommen, bevor die Testreihe abgeschlossen werden konnte. Das erklärt einiges.

Freitag, 15. Juni

Ich fragte Glenn, wie ihm Krog von Gork gefiele. Er wich meinem Blick aus und murmelte: »Ich bin erst auf der dritten Seite.« Auf die Frage, was er denn von diesen drei Seiten halte, strich sich Glenn über seinen neuen Irokesenschnitt und sagte: »Es passiert nichts, Dad.«
»Natürlich passiert nichts«, blaffte ich. »Ich schreibe über einen prähistorischen Mann, der an Ennui leidet. Was erwartest du von ihm – soll er zum Zeitvertreib seinen Mitprimitiven SMS schicken?«
Um 11:30 Uhr kehrte Glenn mit einem Brief aus der Schule zurück:
Sehr geehrtes/r Elternteil/Vormund/Sorgeberechtigter,
Glenn kam heute mit einem höchst bedenklichen Haarschnitt in die Schule. Innerhalb von Minuten war er auf dem Pausenhof von einem großen Kreis »Bewunderer« umringt. Mehreren Erstklässlern wurde buchstäblich schlecht vor Aufregung. Die Schulordnung sieht unmissverständlich vor, dass »Schülerfrisuren nicht den Launen der Mode unterworfen sein dürfen«. Glenn wird hiermit vom Unterricht ausgeschlossen, bis seine Haare dieser Beschreibung wieder entsprechen.
Von jetzt ab werde ich den Jungen zu Hause unterrichten.

Samstag, 16. Juni

Sah mir mit den Jungs die traditionelle Militärparade vor der Königin an. Ich war von Stolz erfüllt. Gibt es noch ein weiteres Land auf der Erde, dessen Soldaten klaglos durch wahre Sturzbäche marschieren würden?
Zu meinem Ärger hörte ich Glenn zu William sagen: »Die Monarchie ist am Ende, Willy. Die sind noch nicht mal schlau genug, nach drinnen zu gehen, wenn es regnet.«

Sonntag, 24. Juni

Heute Morgen hatte ich einen kleinen Nervenzusammenbruch vor dem Essigregal im Supermarkt. Ich war absolut außerstande, mich zwischen den 64 Sorten Essig im Angebot zu entscheiden. Von Unentschlossenheit gemartert lief ich vor dem Regal auf und ab, bis Glenn sagte: »Dad, wir sind jetzt seit zwanzig Minuten hier. Was ist denn los?« Ich traute mich nicht zu antworten, aus Furcht, die in meinen Augen schwimmenden Tränen könnten dann ihren freien Lauf nehmen. Schließlich griff Glenn aufs Geratewohl nach irgendeiner Flasche und warf sie in den Wagen. Ich bemerkte, dass es sich um Zitronengrasaroma handelte und versuchte, den Essig zurückzustellen, doch Glenn hinderte mich daran, und so gingen wir weiter zum Ölregal, wo ich mich erneut mit einer entsetzlichen Auswahl konfrontiert sah. Die Flaschen erstreckten sich bis weit in die Ferne: Traubenkernöl, Natives Olivenöl extra, Sesamöl, Sonnenblumenöl, Frittieröl, Basilikumöl, Bratöl … Während ich noch zwischen den verschiedenen Sorten schwankte, ertönte eine Ansage über den Lautsprecher – eine Frau, die klang, als steckte ihr eine kleine Grapefruit im Mund, säuselte: »Mr Mole, bitte kommen Sie umgehend zurück zum Kinderparadies, Mr Mole, bitte.«
Ich ließ Glenn beim Einkaufswagen stehen und rannte los, Horrorfantasien von Kinderkrippenunfällen schwirrten mir durch den Kopf: War William an einem der Myriaden von bunten Bällen erstickt, mit denen die Hüpfkiste gefüllt ist? Steckte ihm ein Pinsel im Auge? Lag er bewusstlos am Fuße des Spielturms? Wenn ja, dann würde ich durch alle Instanzen gehen und den Supermarkt zwingen, Rekordentschädigungssummen zu bezahlen. Nichts unter 30 Millionen Pfund könnte mich für eine Verletzung entschädigen, die meinem innig geliebten Kind zugefügt wurde.
Die Kinderbetreuerin, deren Namensschild sie als Mary-Lou Hattersley auswies, wartete mit einem tränenüberströmten William auf mich. Ms Hattersley (6 von 10 Punkten: große Brüste, reine Haut, blonde Haare, die allerdings einen guten Schnitt gebrauchen könnten, Beine aufgrund der Hose versteckt) sagte: »Er will zu seiner Mami.« Das erstaunte mich. William erwähnt seine Mutter sonst nie. Ich erklärte, dass meine Exfrau in Nigeria lebe. Sie warf ihr Haar zurück und murmelte: »Sind Sie wieder verheiratet, Mr Mole?«
Ich versicherte ihr, alleinstehend zu sein, und fragte sie dann beiläufig, ob sie mit Lord Hattersley, dem hitzköpfigen Labour-Revolutionär, verwandt sei. »Ganz unbestreitbar«, gab sie zurück.
Ich bin verliebt. Glenns Einkauf belief sich auf 185,99 £.

Samstag, 30. Juni

Ich bin immer noch in die Betreuerin des Kinderparadieses im Safeway-Supermarkt, Mary-Lou Hattersley, verliebt. Sie verfügt über den umfassendsten Wortschatz, den ich je bei einer Frau erlebt habe – und das schließt Pandora mit ein, die eine Zeit lang in Oxford Semantik gelehrt hat.
Mary-Lou – oder auch ML, wie sie gern genannt wird – behauptet, dass sie und ihr sehr entfernter Verwandter Roy Hattersley dieselben Gene von Isaiah Hattersley geerbt hätten, einem »Abtrittreinigungs-Autodidakten«. Er sei ein Verfechter des »Laizitätsprinzips« gewesen, erzählte sie mir, während sie Williams Namensschild an seinem neuen Shrek-T-Shirt befestigte.
 
Statt eines wöchentlichen Großeinkaufs zieht es mich nun täglich in den Supermarkt. William beklagt sich, dass ihm das Kinderparadies zum Hals heraushängt, aber ich habe ihn mit dem Versprechen auf einen Ausflug zu McDonald’s bestochen. Ja, so tief bin ich gesunken! Aber ich bin ein Gefangener der Liebe. Ich muss ihr schmutzigblondes Haar sehen. Diese feurigen, intelligenten Augen. Gestern trug sie einen Rock, so dass ich ihre Beine begutachten konnte. Sie sind nicht übel, wenn ich ihr auch, sobald wir unsere Bekanntschaft vertieft haben, raten werde, kurze Hosen und Miniröcke zu meiden.

Montag, 2. Juli

Glenn fragte, ob er heute Schule schwänzen könne, um sich Tim Henmans Niederlage in Wimbledon anzusehen. Aus irgendeinem Grund hasst er ihn; er kann nicht erklären, warum.
 
Unter gar keinen Umständen darf ich ML sagen, was ich für sie empfinde. Diesen Fehler habe ich schon mal gemacht. Meiner Erfahrung nach mögen Frauen keine Liebesbeteuerungen von Fremden. Dann rufen sie nicht zurück, ignorieren Nachrichten auf dem AB und veranlassen manchmal ihre Brüder dazu, einen von den Stufen vor der Haustür zu werfen.
 
Mein Vater wurde mit einem einwandfreien Quarantäneattest aus dem Krankenhaus entlassen. Allerdings wurde ihm von seinen Ärzten eingeschärft, dass er sich zu Hause ausruhen und es ein paar Monate lang ruhig angehen lassen muss.
Um Mitternacht rief mich meine Mutter aus Mallorca an, um mir mitzuteilen, dass mein Vater die Nacht auf der Polizeiwache von Palma verbringe. Er hatte in der Taxischlange am Flughafen einen Streit gehabt. Ihrem Bericht zufolge war er vor Durst und Hitze beinahe wahnsinnig gewesen, und als eine französische Familie sich vordrängeln wollte, brüllte er: »Hey, Froschfresser! Verzieh dich!« Der Franzose sagte etwas von Maul- und Klauenseuche, woraufhin mein Vater völlig durchdrehte und das Gepäck des Mannes in den Rinnstein trat.
Für mich war es ein totaler Schock, dass meine Mutter und mein Vater zusammen in Urlaub gefahren sind. Haben ihre jeweiligen Ehegatten ihre Erlaubnis erteilt?

Dienstag, 3. Juli

Glenn wirkt in letzter Zeit sehr bedrückt, er spricht nicht mehr und verweigert seine übliche Nahrung. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber er scheuchte mich weg wie ein lästiges Insekt.
Ich zog das Handbuch Eltern sind anders, Teenager auch zu Rate. Auf Seite 31 heißt es da: »Halten Sie die Kommunikationskanäle geöffnet, aber lassen Sie Ihren Halbwüchsigen nicht die häusliche Tagesordnung bestimmen. Wenn Ihre Fragen ignoriert werden, so sagen Sie lächelnd: ›Ich höre dein Schweigen. Solltest du den Wunsch verspüren, mich an deinen Gedanken teilhaben zu lassen, dann bin ich immer für dich da, rund um die Uhr.‹«
 
William hat mit seiner kleinen Faust auf den Tisch gehauen und sich geweigert, zweimal täglich, um 8 und um 16 Uhr, im Kinderparadies von Safeways abgegeben zu werden. Das bedeutet, dass ich keine vernünftige Ausrede mehr habe, Mary-Lou Hattersley zu sehen, die göttliche Betreuerin dieser Einrichtung. Ich werde mir ein Kleinkind ausleihen müssen. Ich muss sie unbedingt sehen.
 
Prince Philip und Prince Charles waren in den Nachrichten. Sie stapften in kniehohen Stiefeln und mit Zweispitz, Orden und Epauletten durch die Gegend; sie sahen aus wie Komparsen aus dem Film Zulu. Wissen sie denn nicht, dass das Spiel vorbei ist? Das ist doch lächerlich im Zeitalter interaktiven Fernsehens. Vielleicht sollte ich mal an den Kronrat schreiben und vorschlagen, dass die königliche Familie sich künftig aus dem öffentlichen Leben zurückzieht und die Begehrlichkeiten ihrer monarchistischen Anhänger durch ein Auftreten in einer Art Big Brother-Fernsehsendung befriedigt. Dann könnten sie sich verkleiden und nach Lust und Laune in Kostümen herumstolzieren. In jedem Fall würde das ihre Transportkosten reduzieren, die angeblich beträchtlich sind, wie man hört.

Mittwoch, 4. Juli

Amerikanischer Unabhängigkeitstag
 
Glenn wird in der Schule gemobbt. Er ist der einzige Junge in seiner Klasse, der kein eigenes Handy besitzt. Er ist ein Paria.
 
Lief im Supermarkt Pamela Pigg über den Weg. Sie ist immer noch mit Alan Clarke zusammen. Er trug einen handgestrickten Zopfpullover. Es ist wirklich frisch neben den Tiefkühltruhen, aber ich fühlte mich in meinen Hemdsärmeln ganz wohl, also hatte er vielleicht nach dem Einkauf einen »Gig«. Vermutlich muss es irgendwo in diesem Land noch ein paar Folkkneipen geben.
 
Mr Blair soll angeblich von seinen eigenen Hinterbänklern während der Fragestunde an den Premier »zerfleischt« worden sein. Das ist eine grobe Verzerrung der Tatsachen. Ihm wurden lediglich von drei zahnlosen alten Kanaillen einige mokante Fragen gestellt.

Montag, 16. Juli

Arthur Askey Way
 
Heute Morgen lieh ich mir bei den Ludlows nebenan ein Kleinkind und brachte es in das Kinderparadies von Safeways, wo es von der erotischsten, intelligentesten Frau des gesamten Planeten Erde, Mary-Lou Hattersley, betreut wurde. Das ist meine einzige Möglichkeit, sie zu sehen, da William, die undankbare kleine Ratte, die Kooperation verweigert.
Das geliehene Kleinkind war sehr still auf dem Autorücksitz. Was mich nicht überraschte – die Ludlows halten nichts davon, mit ihren Kindern zu sprechen. Wie Mrs Ludlow einmal zu mir sagte: »Das ermuntert die kleinen Racker nur, draufloszuplappern und blöde Fragen zu stellen.« Insgeheim habe ich Verständnis für diese Erziehungsmethode. Ich fühlte mich oft gepeinigt von Williams ständiger Forderung, das »Wie«, »Wann« und »Warum« zu erfahren. Erst gestern, als wir die Krawalle auf Sky News verfolgten, fragte er mich, warum es »immer Männer und Jungen sind, die kämpfen, und nie die Frauen und Mädchen«. Ich erklärte ihm, dass Frauen subtilere Methoden der Kriegsführung hätten, aber das löste nur eine weitere Fragenlawine aus, der ich nur Einhalt gebieten konnte, indem ich so tat, als wäre ich auf der Waschmaschine eingeschlafen.
Auf der Fahrt zu Safeway fiel mir ein, dass ich keine Ahnung hatte, wie das Ludlow-Kleinkind hieß oder welches Geschlecht es hatte. Es trug Ohrringe und hatte einen unschönen, missmutigen Gesichtsausdruck, also meldete ich es auf gut Glück als Emily Ludlow, zweieinhalb Jahre an. Nachdem »Emily« ihrer/seiner Schuhe entledigt worden und von einer Kollegin in den Spielbereich gebracht wurde, verwickelte ich Mary-Lou in ein Gespräch. Eingedenk ihres Interesses an Politik fragte ich sie nach ihrer Meinung zum Kampf um die Parteiführung der Torys. »Da fühle ich mich intellektuell von der Frage, wer als Nächster bei Big Brother das Haus verlassen muss, mehr gefordert«, spottete sie. Wir waren uns einig, dass wir Pauls und Helens knospende Liebe schrecklich finden, aber sie geradezu zwanghaft weiterverfolgen müssen. Es ist, als beobachtete man zwei sehr dumme weiße Rhinozerosse bei ihrem Paarungsversuch – man ist von dem Anblick abgestoßen, gleichzeitig aber gerührt, dass zwei so seltene Geschöpfe einander gefunden haben.
Ich riss mich von Mary-Lou los, um eine Dose Heinz-Bio-Bohnen mit Würstchen zu erwerben. Als ich zurückkam, erwartete mich Mary-Lou mit strenger Miene, und »Emily« trug eine der winzigen Jungenunterhosen mit Eingriff, die für Notfälle von den Betreuerinnen bereitgehalten werden. Ich habe Hausverbot auf Lebenszeit im Kinderparadies.

Donnerstag, 19. Juli

Arthur Askey Way
 
Heute war ich auf dem Sportfest in Williams Schule. Die Schulwiese war im Februar an Nolite Warehouse Ltd. verkauft worden, deshalb fanden die Wettkämpfe auf einem extra abgetrennten Teil des neuen Parkplatzes statt. Ich wollte gerade in meine Mülltüte für das Sackhüpfen der Alleinerziehenden steigen, als der Rektor über Lautsprecher verkündete, dass die Jury zu einem Urteil gekommen sei und Jeffrey Archer für vier Jahre ins Gefängnis müsse. Spontaner Jubel brach in der versammelten Menge aus, die Bauarbeiter auf dem Gerüst des fensterlosen Lagerhauses von Nolite Warehouse Ltd. stimmten »You’ll Never Walk Alone« an, vorbeifahrende Autos hupten und ein Leichtflugzeug über unseren Köpfen flog einen Achter in den Sommerhimmel. Der Rektor verkündete eine fünfminütige Pause für die Teilnehmer der Wettbewerbe, damit sie sich wieder fassen konnten.
Es ist Archer gelungen, das Land in Freude zu vereinen. Nach Henmans Versagen, der Niederlage der Lions im Rugby und Englands katastrophalen Kricketleistungen brauchen wir einen glorreichen Sieg.
Ich kam als Letzter ins Ziel. William wollte mir nicht in die Augen sehen, als ich endlich die Linie überhüpfte. Gewonnen hat Trixie Woodhead, die eine Invaliditätsrente bezieht, wie ich aus sicherer Quelle weiß.

Samstag, 21. Juli

Meine Eltern waren zu Besuch, um mir ein »Update« hinsichtlich des – wie meine Mutter es nannte – »Stands der Dinge, was unsere Ehe betrifft« zu geben. Die beiden hielten sich quer über den Küchentisch an den Händen, und mein Vater sagte verlegen: »Wir können nicht miteinander leben, aber ohne einander auch nicht, Sohn.«
Mit der brutalen Freimütigkeit eines Kindes erklärte William, der zugehört hatte: »Dann müsst ihr wohl beide sterben.«
Ich riet ihnen, es mal mit Selbstdisziplin zu versuchen. (Sie sind immerhin beide noch mit anderen Leuten verheiratet, nämlich Pandoras Eltern.) Mein Vater jammerte: »Wir waren beide in den Sechzigern jung, wir haben keine Selbstdisziplin.« Als sie gingen, sagte ich meiner Mutter, dass man Jeans nie mit Falte tragen sollte, und auch nicht mit Runzeln.

Montag, 23. Juli

13:00 Uhr

Pandora hat mich zu einer »Shepherd’s-Pie-und-Champagner-Party« heute Abend eingeladen. Was gefeiert wird, wurde noch nicht verraten.

Mitternacht

Niemand hatte mir gesagt, dass Pandoras Gäste sich als Mary und Jeffrey Archer verkleiden sollten. Ich persönlich fand den Anblick so vieler Mary-Archer-Doppelgängerinnen leicht verstörend. Ich mag es, wenn Frauen etwas lebhaft sind.

Freitag, 27. Juli

Ich habe William erlaubt, länger aufzubleiben, um sich den Höhepunkt von Big Brother anzusehen. Ich finde es wichtig, dass kleine Kinder an Ereignissen von nationaler Bedeutung teilnehmen dürfen. Meine Eltern kamen ebenfalls vorbei und brachten zwei große Tüten Chips mit Currygeschmack und eine Flasche Himbeer-Stolichnaya mit. Nachdem Dean das Haus verlassen musste und Helen und Brian allein zurückblieben, wurde meine Mutter zunehmend hysterisch. Sie wollte unbedingt, dass Helen gewinnt, und meinte: »Warum sollen die intelligenten Leute immer die ganzen tollen Preise kriegen? Es wird Zeit, dass zur Abwechslung mal ein dummer Mensch was gewinnt.«
Worauf mein Vater entgegnete: »Ich hab ja nichts dagegen, dass sie blöd ist, mich stört nur ihre große Klappe.« Ich täuschte Gleichgültigkeit vor, drückte aber heimlich Brian die Daumen. Als ich mich in die Küche stahl und per Handy meine Stimme für Brian abgab, erwischte Glenn mich dabei. Ich musste so tun, als riefe ich den Pizzaflitzer an, weswegen es mich 32,59 £ gekostet hat, Brian zu wählen.
Helen quiekte wie ein gefoltertes Ferkel, als sie von Paul Clarke die Gucci-Handtasche und die Schuhe geschenkt bekam, was William zu der Frage veranlasste: »Werden Helen und Paul Clarke heute Nacht Geschlechtsverkehr haben, Dad?«
Mein Vater rief: »Geh und wasch dir den Mund mit Seife aus, du Bengel, mit deiner schmutzigen Fantasie.«
Aber, wie Glenn sagte: »Er spricht doch nur aus, was alle denken, Opa.«
 
Ich lag lange wach und grübelte wieder einmal über das wahre Wesen meiner Sexualität nach. Habe ich aus schwuler Solidarität für Brian gestimmt, oder weil er ein halbgebildeter irischer Exzentriker ist? Ich trug die Beweise zusammen: a) ich mag Kylie Minogue; b) ich schlafe mit einem Lavendelkissen; c) ich bin miserabel beim Sex mit Frauen; d) ich bin sehr pingelig, was meine Bettwäsche und Handtücher betrifft.

Samstag, 28. Juli

Hitzewelle. Ich ging heute Morgen in Pandoras Sprechstunde. Es war die einzige Möglichkeit, sie zu sehen, da sie weder meine E-Mails beantwortet noch auf meine häufigen Anrufe oder SMS reagiert. Für ein Mitglied des Parlaments war sie höchst unpassend gekleidet. Ich weiß ja, dass es heiß ist, aber in ihrem bauchfreien Oberteil und den Mikroshorts mangelte es ihr an Seriosität. Ich hatte sie zum Euro befragen wollen, konnte mich aber überhaupt nicht konzentrieren, weil zwischen ihren gebräunten, spitzen Brüsten Schweißperlen herabrannen. Also unterhielten wir uns letztendlich über Big Brother. Sie ist eng mit Michael Jackson von Channel 4 befreundet und schlug mir vor, mich als BB-Kandidat für 2002 zu bewerben.

Samstag, 4. August

Arthur Askey Way
 
William, der glühende Monarchist, bastelte heute Morgen eine Geburtstagskarte für die Queen Mum aus Papierschnipseln und Pappkartonfetzen aus dem Altpapier. Ihren Hut gestaltete er aus Milchflaschenverschlüssen – sie sah aus, als trüge sie einen Darth-Vader-Helm.
Ich für meinen Teil glaube nicht, dass die alte Frau am Donnerstag eine Bluttransfusion bekommen hat. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass ein geheimes Serum sie auf den Beinen hält, das uns gewöhnlichen Menschen (wie auch Princess Margaret) noch nicht zur Verfügung steht. Irgendwo habe ich gelesen, dass der Axolotl seine Organe und Körperteile immer wieder regenerieren kann, wodurch er ewig lebt. Bilde ich mir das nur ein oder sieht die Königinmutter in letzter Zeit ein klitzekleines bisschen echsenartig aus? Wird sie die erste zweihundertjährige Frau werden?

Sonntag, 5. August

Ich bin ja kein Finanzexperte, aber ich fühle in den Knochen, dass wir noch vor Weihnachten unter der Knute der Rezession stehen werden. Daher beschloss ich, auf die Zinsen meines monatlich kündbaren Sparkontos bei der Alliance & Leicester zu verzichten, und hob die gesamte Summe auf einmal ab, 619,07 £. Ich fuhr mit Glenn und William in den Supermarkt und kaufte einen tiefgefrorenen Truthahn, einen Christmas Pudding, drei Päckchen Mr Kipling’s Mince Pies, eine Tüte Tiefkühl-Rosenkohl und eine Packung Salbei-Zwiebel-Füllung für den Truthahn. Außerdem nutzte ich noch die diversen 2-für-1-Sonderangebote im Laden, musste aber zu meiner Empörung feststellen, dass noch keine Weihnachts-Knallbonbons angeboten wurden.
Als der Weihnachtseinkauf erledigt war, spendierte ich den Jungs ein Mittagessen in der Supermarkt-Cafeteria. Pamela Pigg und Alan Clarke waren auch dort und knutschten über ihrem Brunch. Pamela erzählte mir, dass sie gestern Abend Nigel mit seinem neuen Partner Peter Painter im Sea Shanty Folk Club getroffen habe.
Alan strich sich über den Bart und schnarrte: »Ja, wir liegen total auf einer Wellenlänge, sie kommen morgen zu unserem Fondue. Warum kommst du nicht auch?«
»Alan wird nach dem Essen für uns singen«, schwärmte Pamela. »Er hat neulich ein paar alte Heuerntelieder von Isaiah Blackhead aus Stowmarket ausgegraben.«
»Ich hab beim Fernstudium einen Kurs über ›Musik zwischen Genie und Wahnsinn‹ belegt«, berichtete er und fing dann zu meinem Entsetzen an zu singen: »Leg dich ins Heu, mein anmutig Mägdelein, und nimm meine Sichel in dein Händchen klein.« Glenn wurde dunkelrot und floh. Ich folgte mit William.

Dienstag, 7. August

Arthur Askey Way
 
Das Fondue fand in Alan Clarkes strohgedecktem Cottage in Mangold Parva statt. Einheimischen Gerüchten zufolge ist Mangold Parva eine Brutstätte für öffentlichen Sex mit Zuschauern auf dem Parkplatz hinter dem kleinen Supermarkt. Außerdem tuschelt man, dass es das regionale Hauptquartier schwarzmagischer Kreise ist. 1974 verschwanden mehrere Esel auf mysteriöse Weise über Nacht, man glaubt, sie wurden rituell geopfert. Alan Clarke bildet sich ein, er wäre ein Lokalhistoriker; während wir unsere Fonduegabeln über dem blubbernden Käsetopf drehten, ergötzte er seine Gäste mit Anekdoten über sein Leben im Dorf. Anwesend waren Pamela Pigg, ich, Glenn, Nigel und Peter Painter.
Ich hatte Glenn mitgenommen, weil es Zeit wird, dass der Junge lernt, wie man sich in kultivierter Gesellschaft benimmt. Bevor wir aus dem Auto ausstiegen, schärfte ich ihm ein, beim Trinken nicht den kleinen Finger abzuspreizen und den anderen Gästen nicht zu erzählen, dass er es sich zum Ziel gesetzt hat, heterosexuell zu sein, wenn er groß ist.
Zu Bob Dylans Mundharmonika im Hintergrund kauten wir uns durch mehrere flüssige Käsesorten. Unvorsichtigerweise erwähnte ich, wie traurig ich über den Tod von Larry Adler gewesen sei, und fügte hinzu, dass Adler meiner Ansicht nach der großartigste Mundharmonikaspieler aller Zeiten gewesen sei. Peter Painter bemerkte affektiert: »Ich würde mir nicht die Pulsadern aufschlitzen, wenn ich dieses Instrument nie wieder hören würde.« Wütend rammte Alan seine Fonduegabel in den unbehandelten Holztisch, stürmte zur Stereoanlage und entfernte die LP vom Plattenteller.
Es entstand eine peinliche Stille, die Glenn schließlich durchbrach, indem er sagte: »Wenn ich groß bin, will ich heterosexuell sein.«
Ich war froh, aus dem Cottage zu entkommen und wieder ins 2. Jahrhundert einzutauchen – ich persönlich glaube, dass Alan Clarke ganz genau weiß, was mit diesen Eseln passiert ist.

Freitag, 10. August

Eine Bombe ist geplatzt! Ich blätterte heute Abend versonnen durch den Ashby Bugle, als mir die Schlagzeile »Aller guten Dinge sind drei?« ins Auge fiel. Rechts davon war ein Foto von der Hochzeit meiner Eltern Ende der Sechziger abgedruckt. Darunter eines von ihrer Trauung Ende der Achtziger. Zu meiner Bestürzung las ich, dass sie vorhatten, erneut zu heiraten, zum dritten Mal. Ich rief sofort meine Mutter an. Sie sagte: »Wir wollten es dir ja erzählen. Irgendein Arsch vom Ashby Bugle hat was durchsickern lassen.«

Samstag, 18. August

Heute war ich Gast bei der dritten Hochzeit meiner Eltern. Als meine Mutter meinen Vater zum ersten Mal heiratete, war ich ein vier Monate alter Fötus. Ich selbst weiß natürlich nichts mehr von dem Ereignis – obwohl meine liebe, tote Großmutter May Mole mir erzählte, dass meine Mutter sich auf dem Empfang blamierte, indem sie aus Versehen ihren Hochzeitsschleier in Brand steckte, als sie versuchte, sich eine filterlose Zigarette mit einem kaputten Überall-Zündholz anzuzünden.
Mein Vater löschte die Flammen mit einer Schüssel Pfirsiche in Saft, die er vom Buffet riss. In dem anschließenden Chaos wurden die 75 handgefüllten Fleischpastetchen meiner Großmutter (eins pro Gast) geplündert. Obwohl ich damals noch im Bauch meiner Mutter schwamm, bin ich überzeugt, dass dieser unerfreuliche Vorfall mich zum Nichtraucher mit einer Abneigung gegen Dosenpfirsiche machte.
Die heutige Zeremonie wurde im Rathaus, der administrativen Schaltzentrale von Leicestershire, abgehalten. Es war etwas verunsichernd, von den altersschlaffen Gesichtern meiner liebestollen Eltern aufzublicken, die gerade ihr Ehegelübde ablegten, und einen Verwaltungsapparatschik zu sehen, der im Büro nebenan offenbar gerade Strafmandate kopierte. Sollte ich jemals wieder heiraten, werde ich dafür sorgen, dass der Rahmen angemessen romantisch ist. Der Stausee Rutland Water soll bei Sonnenuntergang einen atemberaubenden Anblick bieten, wobei die Mücken im Sommer ein Problem darstellen könnten.
Der Empfang fand im Mehrzweckraum des Bürgerzentrums einer angrenzenden Sozialsiedlung statt. Als wir Gäste eine Schlange bildeten, um Braut und Bräutigam zu beglückwünschen, mussten wir uns neben Sozialhilfeempfängern, jugendlichen Straftätern und einer Senioren-Tischtennisgruppe durchdrängeln. Ich bin der liberalste und demokratischste Mensch der Welt, aber ein Hotel wäre doch sicherlich passender gewesen.
Für die musikalische Untermalung sorgte Alan Clarke mit seiner Folkband The Shanty Men, die aufeinander abgestimmte Strickpullover trugen und von Heringen sangen. Ich war froh, als einer von ihnen, Abbo Palmer, mitten im Lied abbrach und verkündete, dass Clarke an diesem Tag fünfzig werde. Clarke blieb vor Schreck der Mund offen stehen, und Pamela Pigg – seine derzeitige Liebschaft – raunte mir zu: »Dieser miese Lügner, mir hat er gesagt, er wäre siebenunddreißigeinhalb.«
Mein Vater stand auf und hielt eine Rede über den »glücklichsten Tag seines Lebens« – seine Stimme war belegt vor sentimentalen Tränen. Leider sprach er von irgendeiner Meisterleistung, die Ian Botham vor zwanzig Jahren in einem Kricketspiel in Headingley vollbracht hatte.

Samstag, 25. August

Ich fürchte, ich verliere den Kampf, Williams Charakter zu meiner eigenen Zufriedenheit zu modellieren. Er scheint nicht viel für höhere Kultur übrigzuhaben, und sein Musikund Literaturgeschmack ist entsetzlich. Er ist zwar noch ein Kind, aber in seinem Alter gab Mozart schon ausverkaufte Konzerte in ganz Europa. Diese Woche spielte ich ihm den gesamten Ring-Zyklus von Wagner auf meiner Stereoanlage vor, in der Hoffnung, dass die stetige Beschallung mit dem Gekreische und Geheul seinen Widerstand brechen würde. Vergeblich. Sobald der letzte Ton verklungen war, rannte William zum CD-Spieler und legte »Mambo Number 5« ein, gesungen [sic] von Bob dem Baumeister.
Seit er im Haus meiner Mutter erstmals mit der WWF (World Wrestling Federation) Bekanntschaft machte, ist er süchtig – und das Wort benutze ich nicht leichtfertig. Er lebt nur noch für Freitag, wenn Sky Sports One zwei Stunden lang diese sogenannte »Sportunterhaltung« ausstrahlt. Seine Helden sind The Rock und The Undertaker, und seine Antihelden sind Stone Cold Steve Austin sowie DDP (Diamond Dallas Page). Alle vorgenannten Männer sind abstoßend hässliche, viehische Muskelpakete, die nicht den Eindruck machen, jemals Weltliteratur gelesen zu haben, und wahrscheinlich glauben, Nabokov wäre ein illegales Steroid.
Gestern Abend fand ich William fünfzehn Zentimeter vor dem Fernseher sitzend und die Wiederholung eines Abschlussmanövers von The Rock verfolgend. Dessen Opfer war Booker T. The Rock rammte Booker Ts Kopf durch einen Tisch. Als ich einen Einwand vorbrachte, sagte William: »Pst, Dad. The Rock macht gerade den Pinfall. Wenn das klappt, spaziert er mit dem Meisterschaftsgürtel der WWF aus dem Astrodome.«
Ich wies William darauf hin, dass Wrestling nichts anderes als eine Sublimierung suberotischer Aktivitäten sei. Diese Kolosse weigern sich, die Wahrheit zu akzeptierendass sie nämlich mehr mit Oscar Wilde gemeinsam haben, als sie jemals wissen werden. William brüllte: »Mann, Dad, jetzt sei schon still!« Ich nahm ihm die Fernbedienung weg und zappte durch die Kanäle, um einen Film mit David Jason zu finden. William schrie, dann hielt er den Atem an, bis seine Lippen blau wurden. Er holte erst wieder Luft, als ich zurück auf Sky Sports One schaltete.

Sonntag, 26. August

Pandora behauptet, News of The World sei an sie herangetreten mit dem Auftrag, Jeffrey Archer im Gefängnis zu besuchen und sich – gleich mit welchen Mitteln – seine DNS anzueignen. 10.000 £ wurden erwähnt. Nach reiflicher Überlegung lehnte sie ab.

Samstag, 1. September

Es steht nicht in meiner Macht, meine Söhne glücklich oder unglücklich zu machen. Ihre Stimmung unterliegt äußeren Kräften. Nämlich dem Sport. Als Glenn sich mit einer Tüte Nachochips und Käsedip vor dem Fernseher niederließ, um sich das Finale Leicestershire gegen Somerset im Kricketpokal Cheltenham and Gloucester Trophy anzusehen, sagte er: »Jetzt fang bloß nicht an hier staubzusaugen, Dad, ich muss mich auf das Spiel konzentrieren.«
Ich bat ihn, den Ton am Fernseher leiser zu stellen und sich dafür den Kommentar auf Radio 4 anzuhören. »Wenigstens würdest du auf dem Weg ein bisschen gebildete Konversation zu hören bekommen«, meinte ich. Dann holte ich den tragbaren Apparat herüber. Die berühmten Kricketspezialisten Henry Blofeld und Jonathan Agnew unterhielten sich gerade über einen Schokoladenkuchen, den eine Hörerin eingesandt hatte. Dann meinte Blofeld: »Aggers, mein Gutester, du siehst heute unheimlich smart aus.«
Glenn sah William an und verdrehte die Augen, woraufhin William sich die Fernbedienung schnappte und den Fernseher lauter stellte. Ich nahm das Radio mit in die Küche und fummelte am Regler, bis ich Classic FM gefunden hatte. Zum Klang von Gershwins Rhapsody in Blue machte ich den Abwasch. Das Stück erinnert mich immer an den Ort Skegness. Es lief, als mein Vater meiner Mutter gestand, dass er mit einer anderen Frau ein Kind gezeugt hatte.
Beim Abtrocknen überlegte ich, wo mein Halbbruder Brett wohl war und was er machte. Er musste inzwischen etwa neunzehn sein. Während der Werbepause kam William aus dem Wohnzimmer, um sich etwas zu essen zu holen und aufs Klo zu gehen. Aber Glenn blieb vor dem Fernseher kleben, stöhnend und gelegentlich grimmig auf den Bildschirm einbrüllend. Ich hörte seinen Verzweiflungsschrei, als Leicestershire verlor. Als ich nach ihm und William sehen ging, weinten beide.
Später kamen meine Eltern vorbei, um sich das Spiel England gegen Deutschland anzusehen. Als Deutschland nach sechs Minuten ein Tor schoss, rief mein Vater: »Daran ist nur Posh Spice schuld. Ihretwegen überstrapaziert David seine Leistengegend. Man sollte sie vor einem großen Match von ihm fernhalten!«
Zur Halbzeit fragte ich meinen Vater in der Küche nach meinem Halbbruder Brett Mole. Er antwortete: »Nicht jetzt, Adrian, England führt zwei zu eins.« Nach dem Spiel machte ich noch einen Versuch, aber mein Vater stand völlig neben sich vor lauter fremdenfeindlicher Freude.

Mittwoch, 5. September

Arthur Askey Way
 
Es überrascht mich nicht im Geringsten, von Iain Duncan Smiths japanischen Ahnen zu erfahren. Ihm haftet etwas Orientalisches an. Und als er von John Humphrys fürs Radio befragt wurde, waren einige seiner Antworten etwas unergründlich. Vielleicht sollte er sich auf sein Schwert stürzen und dem alten Clarkie als Tory-Chef eine Chance geben. Metaphorisch gesprochen natürlich.
 
In letzter Zeit lässt mich der Gedanke an meinen Halbbruder Brett nicht mehr los. Wo ist er? Wohnt er noch bei seiner Mutter Doreen Slater, alias Bohnenstange? Wie groß ist er? Ich wünschte, man hätte mich Brett genannt statt Adrian. Bretts erklimmen Berge, spielen Leadgitarre im Wembley Stadion, schleppen schöne Frauen ab etc.
 
Meine frisch verheirateten Eltern machen einen weniger verliebten Eindruck als letzte Woche. Meine Mutter hat gestern eine neue Brille bekommen und konnte meinen Vater zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder scharf sehen. Sie gestand mir, dass sie »geplättet« sei, »wie alt dein Vater aussieht. Was ist mit seinem Gesicht passiert?« Sie meinte, er sehe aus wie eine »Art Reptil«. Ich erklärte ihr, dass Tania Braithwaite während ihrer Ehe mit ihm darauf bestanden habe, dass er einmal die Woche ins Sonnenstudio gehe. Meine Mutter schnaubte verächtlich und sagte: »Das ist nicht das Einzige, worauf sie bestanden hat. Er hat auch ein paar Tricks im Bett gelernt, die mich nicht so begeistern.«

Donnerstag, 6. September

Ich habe beschlossen, mich mit Brett in Verbindung zu setzen. Also lud ich meinen Vater nachmittags zum Tee ein. Bei Gurkensandwiches und einer Kanne Earl Grey fragte ich ihn geradeheraus, ob er irgendwelchen Kontakt zu seinem anderen Sohn habe. Zunächst wich er der Frage aus, indem er über die »tuntigen« Sandwiches und den Tee meckerte, der angeblich so »schlaff wie ein Matrosenarschloch« war. Schließlich vertraute er mir an, dass er Doreen Slater seit Bretts Geburt jede Woche 20 £ schicke. Bretts Stipendium für ein Anglistikstudium am Balliol College in Oxford habe ihn gefreut, weil er dadurch wöchentlich 20 Mäuse mehr zur Verfügung habe.
Balliol College, Oxford! Wie hat er das gemacht? Seine Mutter war so blöde, dass sie glaubte, ein Semikolon wäre ein künstlicher Darmausgang. Ich habe an Brett geschrieben, c/o Balliol College. Unter diesen Umständen ist die Formalität eines Briefes erforderlich.

Montag, 10. September

Arthur Askey Way
 
Ein Brief aus Oxford! Ein Pergamentumschlag, adressiert an mich in erlesener, gestochen scharfer Schreibschrift. Darin ein dazu passender Briefbogen mit aufgedrucktem Kopf: Brett Mole, Balliol College, Oxford. Website: www.brettmole.com.
Lieber Adrian,
was für ein Spaß! Wir müssen uns unbedingt treffen und Klatschgeschichten über unseren gemeinsamen Vater austauschen. Wann bist du mal wieder in Oxford? Brüderliche Grüße,
Brett
Ich loggte mich unverzüglich auf www.brettmole ein und erfuhr mehr über meinen Halbbruder, als ich wissen wollte. Da waren Fotos von Brett beim Bergsteigen, Kajakfahren, Tennisspielen, Limbotanzen an einem Karibikstrand, als Model auf einem Laufsteg und beim Händeschütteln mit Prince Charles. Seine Website informierte mich darüber, dass Brett einsachtundachtzig groß ist, Kragengröße 41 und Schuhgröße 45 trägt.
Auf einer weiteren Seite entdeckte ich, dass Brett seinen Schulabschluss mit einer Eins mit Stern absolviert hatte. In sämtlichen Fächern. Er hat einen Gedichtband mit dem Titel Blas die Kerze aus veröffentlicht. Die Rezensionen waren überschwänglich. Ich hasse ihn jetzt schon.
Folgende Nachricht mailte ich ihm: »Lieber Brett, danke für Deinen Brief vom 10. dieses Monats. Leider bin ich nie in Oxford. Mit freundlichen Grüßen, Adrian (Mole).«
Beunruhigenderweise schrieb Brett beinahe sofort zurück. »Hi, Brüderchen, mach mich baldmöglichst auf die Socken zum Zug nach Leicester. Komme gegen 16:00 Uhr bei dir vorbei.« Ich mailte zurück, ich hätte die Handwerker im Haus und Wasser, Strom und Sanitäranlagen seien abgestellt. Daher schlüge ich ihm vor, seinen Besuch um mindestens sechs Monate zu verschieben. Ich endete mit: »Bitte um Bestätigung, dass du nicht kommst.«
Ich wartete über eine halbe Stunde neben dem Rechner, aber es kam keine Antwort. Es ist ja nicht so, dass ich mich dafür schäme, in einer Sozialwohnung in einer Proletensiedlung zu wohnen. Was die Graffiti und Autowracks betrifft, die bemerke ich kaum. Aber Brett wird das mit Sicherheit tun. Ich räumte auf, so gut es ging, und sortierte das Bücherregal um, damit Brett meine Vertrautheit mit Dostojewski, Tolstoi und Tschechow nicht entgehen konnte. Um 16:05 Uhr hörte ich das Taxi vorfahren, dann dröhnte eine selbstbewusste Stimme: »Wo ist mein Bruder?«

Sonntag, 23. September

Arthur Askey Way
 
Brett ist immer noch hier. Er behauptet, die Ereignisse vom 11. September hätten ihn traumatisiert und es ihm unmöglich gemacht, Transportmittel jeglicher Art zu benutzen. Beim Frühstück heute Morgen sagte er zu mir: »Ich könnte für immer hierbleiben, Adrian.« Er ist wahnsinnig klug und hat offenbar jedes Buch gelesen, das seit Erfindung des Buchdrucks je auf Englisch, Deutsch oder Französisch erschienen ist. Ärgerlicherweise zitiert er auch bis zum Erbrechen daraus und korrigiert meine eigenen Zuordnungen.
Er hat Glenn bei den Hausaufgaben geholfen; mit dem Ergebnis, dass die Lehrer der Neil-Armstrong-Gesamtschule jetzt schon aufgeregt darüber spekulieren, ob der Junge es als bisher erst zweiter Schüler nach Oxford oder Cambridge schaffen könnte (die erste Schülerin war Pandora). William liebt »Onkel Brett« und folgt ihm durchs Haus wie der Hund Old Shep, von dem Elvis singt. Origami ist nur eine von Bretts vielen Fertigkeiten. Heute Morgen hat er die Kulturbeilage des Guardian in das Gebäude des Balliol College verwandelt, komplett mit Dozenten und Studenten.
Ununterbrochen hängt er mit seinen vielen Freunden in aller Welt am Telefon. Er beteuert, dass er für seinen Teil der Telefonrechnung aufkommen wird. Dann im nächsten Moment lacht er wieder über seine knappe finanzielle Lage.
Er und mein Vater verstehen sich blendend und reden unablässig über Fußballer, Kricketspieler und Rugby-Tölpel – Menschen, von denen ich noch niemals gehört habe.

Montag, 24. September

Zu meiner Beunruhigung hörte ich heute, dass Innenminister Blunkett wegen des kommenden »Kreuzzugs« oder der »Operation Infinite Justice« oder des »Konflikts« oder »Dritten Weltkriegs« die Warnung ausgesprochen hat, die Bürgerrechte könnten künftig eingeschränkt werden, und ich müsste möglicherweise jederzeit einen Ausweis bei mir tragen. Da ich schon ständig meine Kundenkarte von Sainsbury’s verliere, sieht es für mich nicht gut aus.

Dienstag, 25. September

Brett dreht einen Dokumentarfilm über Traumata, die der Anschlag auf die Zwillingstürme ausgelöst hat. Er filmt aus der Hand mit einer kleinen Panasonic Digitalkamera. Channel 4 und BBC 2 bieten auf die Rechte. Mich hat er zu diesem Zweck ausführlich in der Küche interviewt. Als er mir das Material noch einmal vorspielte, bemerkte ich, dass an der Küchentür ausgerechnet der Hundekalender mit dem Bild von dem Afghanen hing. Ich bat Brett, die Szene neu zu drehen, aber er weigerte sich, mit der Begründung, er lasse sich nicht zensieren.

Sonntag, 30. September

Arthur Askey Way
 
Brett hat einen zehnseitigen Artikel für den Independent geschrieben, mit dem Titel »Osama bin Laden, wie ich ihn kannte«. Er behauptet darin, Bin Laden erstmalig im Frühstücksraum einer Pension in Blackpool getroffen zu haben. »Er war mir sofort verdächtig«, schrieb Brett. »Angeblich lebte er zu dem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren in England, und doch wusste er dem Anschein nach nicht, dass der Pfeffer aus dem Töpfchen mit den vielen Löchern geschüttet wird. Abends in der Bar bestellte er sich einen Snowball-Cocktail im Pintglas und eine Tüte Schweinefüße [sic]. Als ich anmerkte, dass Snowball üblicherweise von Frauen und aus viel zierlicheren Gläsern getrunken wird, zischte Bin Laden: ›Ich bin britischer Staatsbürger, ich hasse Schnecken und besuche mehrmals im Jahr ein Gartencenter. Außerdem sehe ich mir die Huren der westlichen Kultur in EastEnders im Fernsehen an.‹ Als die Inhaberin der Pension ihm keine Schweinefüße brachte und ihm erklärte: ›Was Sie meinen, sind Schweinekrüstchen, und die sind aus wegen der Schweinepest‹, drehte er völlig durch und brüllte: ›Ich bin ein rechtmäßiger Bürger dieses Landes – hier sind mein Pass und mein LKW-Führerschein.‹«
Als ich den Artikel durchgelesen hatte, bat Brett mich um meine Meinung. Ich sagte: »Das ist doch von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Es ist allgemein bekannt, dass Osama bin Laden kein Englisch spricht.«
Blasiert entgegnete Brett: »Unser Gespräch wurde durchgängig auf Arabisch geführt.«
»Willst du etwa behaupten«, spottete ich, »dass eine Pensionsinhaberin in Blackpool fließend Arabisch kann?«
»Genau«, sagte Brett. »Sie heißt Fatima Hardcastle – wir leben jetzt in einer multikulturellen Gesellschaft, wie du wissen solltest.«
Ich weiß, dass Brett lügt, aber wie soll ich es beweisen? Ich kann nur hoffen, dass der Independent ihm dieses frei erfundene Machwerk um die Ohren haut, bevor er Schande über die Mole-Dynastie bringen kann.

Montag, 1. Oktober

Ich habe ja schon lange den Verdacht, dass meine Schwester Rosie nicht das Kind meines Vaters ist, sondern von unserem ehemaligen Nachbarn Mr Lucas gezeugt wurde. Heute wurde meine Theorie bestätigt, als meine kreidebleiche Mutter in meine Küche gestürzt kam und schluchzte: »Wenn die jetzt Ausweise mit DNA-Profil einführen, bin ich geliefert.«

Dienstag, 2. Oktober

Ich rief Pandora im Grand Hotel in Brighton an und drängte sie, sich gegen die Einführung von Personalausweisen auszusprechen. Sie bellte: »Mach gefälligst diese Leitung frei! Weißt du nicht, dass wir im Krieg sind?« Damit legte sie auf.

Samstag, 6. Oktober

Arthur Askey Way
 
Liebes Tagebuch, mein Halbbruder ist immer noch hier. Gott weiß, dass ich der netteste und toleranteste Mensch der Welt bin, und ich halte es ganz mit den Muslimen, wenn es darum geht, jenen, die Zuflucht suchen, die Hand der Gastfreundschaft entgegenzustrecken. Aber ich muss gestehen, dass ich über jedes erträgliche Maß hinaus genervt bin von der Anwesenheit Brett Moles in meinem Haus. Ich hasse ihn. Mir graut vor dem Klang seiner Schritte auf der Treppe. Ich kann nicht ertragen, wie er Rice Krispies in seine Kehle saugt. Aber ich stehe allein auf weiter Flur. Jeder, den ich kenne, liebt und bewundert ihn.
Er hat etwas Messianisches an sich. Zu meiner Bestürzung vertraute er mir an, dass er vorhabe, eine neue politische Partei zu gründen, finanziert vom Princess Diana Fund. Ärgerlich erzählte ich ihm, dass ich am Tag nach der Tragödie in Paris nach London gefahren war und in Kensington Gardens eine Zehnpfundnote und ein Gedicht an einen Baum geheftet hatte:
OH DIANA!
Oh Diana! War ein Lied in meiner Mutter Jugend.
Gesungen von Paul Anka,
der klein war und von großer Tugend.
Der Refrain, Oh Diana!
pocht in Mamas Kopf noch fort
Da-di, da-di, da-di-da,
dass ihre Diana ist hinfort.
Wie dir vielleicht aufgefallen ist, liebes Tagebuch, konnte ich damals keine passenden Reime finden, um das Gedicht zufriedenstellend abzuschließen. Ich weiß immer noch keine. Ich überlege, Dianas Bruder Earl Spencer von Bretts politischen Ambitionen in Kenntnis zu setzen.

Mittwoch, 10. Oktober

Harrods hat heute Morgen Bretts neues Bett angeliefert. Zwei Männer waren den gesamten Tag damit beschäftigt, es im Gästezimmer aufzubauen. Es verfügt über einen eingebauten Teleskopfernseher, einen CD-Spieler und kann in 19 unterschiedliche Positionen verstellt werden. Als ich die Rechnung sah, blieb mir die Luft weg: 7.999,00 £. Brett meinte, er habe sich das gegönnt, da Channel 4 ihm den Auftrag zu einem Dokumentarfilm über Armut gegeben habe, den er in meiner Sozialsiedlung drehen möchte. Seine alte Matratze gesellt sich zu der anderen in meinem Vorgarten. Ich warte darauf, dass die Stadt diese Schandflecke entfernt.

Donnerstag, 11. Oktober

Brett hat den Inhalt meiner Mülltonne im Vorgarten verstreut und die Matratzen mit einem Teppichmesser aufgeschlitzt. Er sagte, das würde eine gute Eröffnungseinstellung für die Dokumentation abgeben, deren Titel jetzt lautet: Weine, England! Weine!

Sonntag, 14. Oktober

Dieses Ungeheuer Brett lebt immer noch in meinem Haus. Sein elektronisches Superbett teilt er jetzt mit einer Auswahl Flittchen aus der Siedlung. Ich habe für Glenn und William Ohrstöpsel besorgt, damit ihr Schlaf nicht gestört wird.
Die Dreharbeiten zu Bretts Dokumentation Weine, England! Weine! laufen auf vollen Touren. Viele der Interviews werden in diesem Haus geführt. Überall liegen Kabel, und die meisten Türen wurden entfernt, um der Kamera mehr Bewegungsspielraum zu gewähren. Das Haus gehört nicht länger mir. Warum fordere ich ihn nicht einfach auf zu gehen? Die traurige Wahrheit ist, dass ich Angst vor ihm habe. Er gibt mir das Gefühl, unattraktiv und provinziell zu sein und der Unterschicht anzugehören.

Montag, 15. Oktober

Heute Morgen fand ich Sandra Alcock in meiner Küche vor, halb bekleidet und auf einen Block Wimperntusche spuckend. Als ich sie bat, sich zu bedecken, schnappte sie sich ein Geschirrtuch und klemmte es unter ihre BH-Träger. Allerdings muss ich doch zugeben, dass der Anblick von Sandras langen Beinen in weißen Stilettos meinen Hormonhaushalt in Aufruhr brachte, und ich musste mich rasch zum Spülbecken umdrehen, um meine sexuelle Erregung zu verbergen. Ob wohl Pamela Pigg Interesse an einer Runde Geschlechtsverkehr hätte? Ich hörte, dass sie und Alan Clarke sich getrennt haben, wegen eines Streits über die Globalisierung. Ich rufe sie später mal an.

Dienstag, 16. Oktober

Heute Abend nach ihrem Hundetrainingskurs treffe ich mich mit Pamela. Sie klang erfreut, von mir zu hören, mit ein bisschen Glück sollte es also nicht allzu lange dauern, sie ins Bett zu kriegen. Und ich werde nicht gezwungen sein, viel Zeit mit Mahlzeiten und Tagesausflügen zu historischen Denkmälern etc. zu vergeuden.
 
Pamela sah heute Abend im Kerzenschein des Restaurants Costa Brava bezaubernd aus, und meine Tortilla mit Pommes war ausgezeichnet. Aber um 23:00 Uhr lag ich im Bett – allein. Am Freitag fahre ich mit ihr zum Schloss Belvoir.

Mittwoch, 17. Oktober

Um 3:15 Uhr wurde ich von Sandra Alcock geweckt. Sie stand in meinem Vorgarten und kreischte, dass Brett Mole ein Arschloch sei. Und dass Justine Turner eine miese Schlampe sei. Brett filmte die ganze Szene, bis die Polizei kam und Sandra und Justine mitnahm.

Freitag, 19. Oktober

Wir haben jeden einzelnen Korridor von Schloss Belvoir erkundet. Haben im Café Tee und Kuchen verzehrt. Ich habe Pamela sogar ein Geschirrtuch gekauft. Und doch musste ich allein schlafen. Warum?

Montag, 22. Oktober

Arthur Askey Way
 
Glenn wurde vom Unterricht ausgeschlossen, weil er Tony Blair einen Arsch genannt hat. Er brachte einen Brief von Rektor Roger Patience mit, in dem es heißt:
Sehr geehrter Mr Mole,
in dieser Zeit nationaler Krisen obliegt es uns, unsere Regierung zu unterstützen. Während einer Diskussion älterer Schüler, die von mir selbst geleitet wurde, gelang es Ihrem Sohn Glenn, die Moral unter Lehrern und Schülern gleichermaßen durch seine leidenschaftliche Verurteilung der Bombardierung Afghanistans zu untergraben. Außerdem bezeichnete er unseren großen Führer Mr Blair als »ein Arsch der britischen Truppen«. Daher habe ich ihn für die Dauer des Krieges des Schulgeländes verwiesen.
Ich hoffe bei Gott (oder Allah), dass der Krieg bis Weihnachten vorbei ist. Ich kann Glenn nicht den ganzen Tag hier im Haus gebrauchen. Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass ich meinen Roman über die Zwillingstürme schnell beende. Das Buch (bislang noch kein Verlag) muss im Frühling fertig zur Veröffentlichung sein.
 
Glenn beteuerte seine Unschuld: »Ich habe nicht gesagt, dass Tony Blair ein Arsch der britischen Truppen ist. Ich habe gesagt, dass er für den Einmarsch der britischen Truppen in Afghanistan ist.«

Dienstag, 23. Oktober

Heute Morgen wollte ich mir in der Drogerie eine Flasche Johnson’s Babypuder kaufen. Die Regale, in denen dieses unschuldige Produkt normalerweise angeboten wird, waren völlig leer. Die Verkäuferin an der Kasse sagte zu mir: »Das ist wegen Anthrax.« Sie teilte mir etwas wichtigtuerisch mit, dass, sollte ich Talkumpuder erwerben wollen, ich meinen Namen und meine Adresse angeben und durch das Vorlegen meiner letzten drei Gasrechnungen beglaubigen müsse. Empört und mit leeren Händen verließ ich das Geschäft.

Mittwoch, 24. Oktober

Bretts Dokumentarfilm Weine, England! Weine!, der doch das verschwendete Leben der Bewohner sozialer Brennpunkte enthüllen sollte, wurde vom Chefredakteur abgeblasen. In seiner E-Mail hieß es: »Ihre Doku ist dem nationalen Interesse zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht förderlich.« Überglücklich darf ich dir, liebes Tagebuch, verkünden, dass innerhalb von zwei Stunden Brett, die Filmcrew und die Ausrüstung verschwunden waren.

Donnerstag, 25. Oktober

2:00 Uhr

Gerade erhielt ich einen verzweifelten Anruf von Pamela Pigg. Sie berichtete mir, dass ihr gesamter Körper von roten Flecken übersät sei: »Ich habe die Pocken!« Ich fuhr zu ihr nach Hause und untersuchte ihren nackten Körper. Per Ausschlussverfahren kam ich zu dem Ergebnis, dass sie allergisch gegen die Hyazinthenzwiebeln sein muss, die sie tagsüber gepflanzt hatte.

Freitag, 26. Oktober

Arthur Askey Way
 
Was ist hier los? Ich bin umgeben von Chaos. Hat ein Schmetterling im Amazonasregenwald mit den Flügeln geschlagen und dadurch den Lauf meines Lebens manipuliert? Alan Clarke tauchte in den frühen Morgenstunden vor meiner Haustür auf und schluchzte, ich hätte ihm Pamela Pigg, die »Liebe meines Lebens«, gestohlen.
Ich führte ihn in die Küche und lauschte seinem Redeschwall. Er habe durch Pamelas Ikea-Bambusjalousie beobachtet, wie sie in meinem Beisein nackt in ihrem Schlafzimmer gestanden habe. Ich versuchte zu erklären, dass ich ihre Haut, die von der Hyazinthenallergie entzündet war, mit Kamillenlotion betupft hatte, aber offenbar glaubte er mir nicht. Ikea sollte seine Kunden warnen, dass die Bambusjalousien kein Garant für Privatsphäre sind. Clarke drehte sich einen Joint und bot mir einen Zug an. Mit Mr Blunketts Erlaubnis nahm ich an. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen und unwillkürlich plauderte ich die Handlung meines neuen Romans aus. »Eine Allegorie über Zwillinge namens Jack und John Turm, die von einer tödlichen Krankheit niedergestreckt werden.« Der Morgen graute schon, als Clarke ging.

Samstag, 27. Oktober

Mohammed ist davon überzeugt, dass das Öl im Mittelpunkt des Kriegs in Afghanistan steht. Er muss es wissen, immerhin ist er der Geschäftsführer einer BP-Tankstelle und verfügt als solcher über Insiderinformationen.

Sonntag, 28. Oktober

Der Tag begann gut. Meine Eltern nahmen die Jungs mit auf die Golden Mile in Leicester, um sich die Feierlichkeiten zum hinduistischen Lichterfest Diwali anzusehen. Da ich das Haus endlich einmal für mich allein hatte, rief ich Pamela an und lud sie zum Tee ein. Um 16:00 Uhr lagen wir im Bett. Von ihrer Hyazinthenallergie war nichts mehr zu sehen, ihre Haut war blass und weich. Geschlechtsverkehr fand gerade statt, als um 16:25 Uhr das Bett bebte. Genauer gesagt bebte das gesamte Haus, und mehrere Ziegel fielen vom Dach. Pamela murmelte an meinem Hals: »Mein Gott, Adrian, das ist das erste Mal, dass die Erde sich für mich bewegt hat.«

Montag, 29. Oktober

Die Schlagzeile des Leicester Mercury brüllte: »ERDBEBEN! HABEN SIE DIE ERSCHÜTTERUNG GESPÜRT?« Offenbar befanden Pamela und ich uns genau im Epizentrum des Bebens von 3,8 auf der Richterskala, das verängstigte Bewohner von Melton Mowbray und Nord-Leicestershire in Panik aus ihren Häusern trieb. Ein Kästchen auf der Titelseite des Mercury fragte die Leser: »Was haben Sie gerade gemacht, als die Erde bebte? Berichten Sie unserer Redaktion davon.« Ich hoffe inständig, dass Pamela diesem Aufruf nicht nachkommt.

Montag, 5. November

Arthur Askey Way
 
Mein Independent wurde heute Morgen nicht zugestellt. Ich ging zum Zeitungsladen, um mich zu beschweren und mein Exemplar persönlich abzuholen. Ein Jugendlicher von ungefähr vierzehn Jahren saß auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft, neben sich einen in Stofffetzen gewickelten Luftballon. Der Ballon trug einen unbeholfen mit Filzstift aufgemalten Bart und eine runde Brille.
Als ich vorbeiging, murmelte der Junge: »’n Penny übrig?« Ich wühlte im Kleingeldfach meiner Brieftasche und gab ihm einen Penny. Wütend schleuderte der Halbwüchsige ihn auf den Boden und schimpfte: »Alter Geizkragen.« Ich sagte ihm, dass ich selten eine so armselige Darstellung von Guy Fawkes gesehen hätte. Er zupfte an den Fetzen um den Kopf des Luftballons und entgegnete: »Das liegt da dran, dass das gar nicht Guy Fawkes ist, das ist doch Osama bin Laden. Wir verbrennen ihn heute Abend im Park.«

23:00 Uhr

Das war die letzte Party zum Guy-Fawkes-Tag, die ich je in meinem Garten abhalten werde. Die Würstchen sind im Ofen geplatzt, die Kartoffeln waren völlig verkohlt und mein Feuerwerkssortiment war in weniger als zehn Minuten abgebrannt. Keines der Feuerräder drehte sich. Meine Gäste verrenkten sich ständig die Köpfe gen Osten, wo die Raketen des öffentlichen Feuerwerks den Himmel mit spektakulären Mustern und Farben erfüllten.
Im Park nebenan drängten sich meine lieben Nachbarn mit ihren Sozialarbeitern und Bewährungshelfern. Die Kommunalpolizei kümmerte sich um das Feuerwerk, und für das große Freudenfeuer war – als gewagtes soziales Experiment – Wayne Drabble verantwortlich, der Brandstifter, der letztes Jahr die Pfadfinderhütte angezündet hat. Beim Halal-Grill lief ich zufällig Mohammed über den Weg, und er erzählte mir, dass sein hitzköpfiger jüngster Bruder Imran unentwegt davon spreche, nach Afghanistan zu fliegen, um Seite an Seite mit seinen islamischen Brüdern zu kämpfen.
Mohammed sagte, dass Imran versucht habe, seine Freundin Kylie Dodge zu überreden, sich mit einer Burka zu verhüllen und zehn Schritte hinter ihm zu gehen. Aber sie meinte, sie hätte schöne Beine und würde sie auf gar keinen Fall bedecken. Mohammed bezweifelte mir gegenüber, dass Imran überhaupt nach Heathrow fände, ganz zu schweigen von Afghanistan. Er sagte: »Und außerdem müsste er sich einen falschen Bart kaufen, weil er sich noch nie rasieren musste, nicht ein einziges Mal in seinem ganzen Leben.«

Sonntag, 11. November

Arthur Askey Way
 
Als ich heute Morgen mit William auf dem Weg zum Baumarkt war, um Ersatzbirnen für die Weihnachtsbaum-Lichterkette zu kaufen, kam ich an einer Gruppe uralter Männer und Frauen vorbei, die auf das Kriegerdenkmal zumarschierten. Manche von ihnen trugen Kränze aus Mohnblumen, andere hatten sich Orden an die Anoraks geheftet.
Ein alter Bursche, dem beide Beine amputiert worden waren, wurde von seiner verrunzelten Frau im Rollstuhl geschoben. William fragte viel zu laut: »Wo sind denn die Beine von dem Mann hin, Dad?« Ich antwortete: »Er hat sie auf einem Acker in einem fremden Land gelassen, damit wir Engländer als freie Menschen leben können, mein Sohn.«
Eine aus pickeligen Halbwüchsigen bestehende Kapelle der Boys Brigade stimmte »Pack Up Your Troubles in Your Old Kitbag« an. Die alten Leute bemühten sich, im Takt der Musik zu laufen, aber manche waren zu langsam und kamen nicht mit. Tränen brannten mir in den Augen. Ich wischte sie verstohlen fort, als wir den Baumarkt betraten. Auf dem Weg in die Weihnachtsabteilung fragte William mich, ob ich in den Krieg ziehen müsse, um gegen »Osmar« bin Laden zu kämpfen. Ich erklärte ihm, dass ich Pazifist sei und nicht an Krieg glaube. William sagte: »Aber was, wenn Mr bin Laden in mein Zimmer kommen und mich umbringen wollen würde. Würdest du ihn lassen, Dad?«
Das war ein verzwicktes moralisches Dilemma, das nicht dadurch erleichtert wurde, dass meine Mutter hinter einer Plastikkonifere hervortrat und fragte: »Genau, was würdest du dann tun, Mr Superpazifist?«
Stammelnd versicherte ich, in dem höchst unwahrscheinlichen Fall, dass der meistgesuchte Terrorist der Welt in Williams Kinderzimmer auftauchte, würde ich bin Laden mit dem Arm zu Boden drücken und dort festhalten, bis Hilfe in Form eines Streifenwagens der Polizei von Ashby-de-la-Zouch einträfe.
William schien beruhigt und stapfte davon, um eine elektrische Weihnachtsmannpuppe mit einer bimmelnden Glocke zu betrachten. Meine Mutter aber stieß ein höhnisches Lachen aus und sagte: »Das letzte Mal, dass ich dich beim Armdrücken gesehen habe, war 1982 im Jugendklub. Damals wurdest du zehn von zehn Malen von Pandora Braithwaite geschlagen. Du trugst diesen braunen Pulli, den Oma dir zum Geburtstag gestrickt hatte.«
Das Gedächtnis meiner Mutter ist phänomenal. Sie könnte als Pauline Mole, die Gedächtniskünstlerin, auftreten.

Mittwoch, 21. November

Mohammed wurde verhaftet! Sein Bruder Imran hat mir erzählt, dass Mohammed gerade Säcke mit Holzscheiten vor seiner Tankstelle stapelte, als er von Scharfschützen der Polizei umstellt wurde, die ihm befahlen, sich auszuziehen und mit erhobenen Händen auf sie zuzulaufen. Bevor er in den Mannschaftswagen einstieg, rief Mohammed (laut einem Zeugen, einem gewissen Wayne Worthington, der sich im Tankstellenladen gerade die Wrestling-Zeitschrift Raw kaufen wollte): »Ich hab doch nur zwei Minuten in dem absoluten Halteverbot gestanden!« Ich finde es empörend, dass kostbare Polizeimittel für geringfügige Parkverstöße verschwendet werden.
 
Das Schreiben an meinem allegorischen Roman Jack und John Turm erweist sich als schwierig. Hauptsächlich, weil ich noch nie in New York war. Dennoch darf ich nicht nachlassen. Jeder Autor, der etwas auf sich hält, muss ein Buch über die Welt nach den Zwillingstürmen verfassen. Ich gehe davon aus, dass Will Self an etwas Ähnlichem arbeitet.
Ich darf nicht vergessen, im Multiplexkino anzurufen und Karten für Harry Potter zu reservieren. William hat gesagt, er werde sich umbringen, wenn er den Film nicht bald sehen darf.

Donnerstag, 22. November

Imran kam heute Vormittag vorbei. Ich bot ihm eine Tasse Tee und eine Scheibe Toast an. Er schüttelte den Kopf und sagte gereizt: »Es ist Ramadan, Moley. Ich faste, kapiert?« Er war da, um mir zu berichten, dass sein Bruder unter »Terrorismusverdacht« festgehalten wird. Ein anonymer Anrufer hat offenbar die Sicherheitskräfte darüber informiert, dass Mohammed Flugstunden am Flughafen Leicester genommen hat. Imran jammerte: »Das ist alles meine Schuld: Ich hab ihm letztes Jahr zu Weihnachten einen Gutschein für Flugunterricht geschenkt.« Ich schickte Pandora eine SMS: »Unser gemeinsamer Schulfreund Mohammed ist ein Opfer staatlicher Repression. Ruf schnellstmöglich an.«

Freitag, 23. November

Habe den ganzen Tag am Telefon verbracht, um eine »Free Mohammed«-Kundgebung auf dem Rathausplatz zu organisieren. Ein Bündnis formt sich, bestehend aus Tankstellenkunden, Nigels Gruppe »Schwule gegen Fliegerbomben« und Alan Clarke, der versprochen hat, mit seiner Morris Men-Volkstanzgruppe zu kommen. Kein Wort von Pandora.
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Die folgende Notiz wurde auf einem Fetzen Klopapier in Adrians Haus gefunden:

Samstag, 24. November

4:00 Uhr

Eine Razzia! Tagebücher, Computer, Handy beschlagnahmt. Werde auf Grundlage von Blanketts Antiterrorismusgesetzen verhaftet. Bitte Amnesty International informieren. Wohin werden sie mich bringen? Und für wie lange? Ich bin erledigt.