2001
Montag, 1. Januar 2001
1:30 Uhr
Ich habe das neue Jahr allein begrüßt. Glenn ist
auf einem Kostümfest im Haus seiner Mutter, beunruhigenderweise als
Hannibal Lecter verkleidet. William verbringt das Wochenende mit
seiner Mutter und ihrem neuen Ehemann, die ihre Flitterwochen in
London verbringen.
Ich hoffe, meine Exfrau und ihr neuer Gatte können
ihre sexuelle Leidenschaft lange genug im Zaum halten, um sich
vernünftig um William zu kümmern. Der Junge hatte in letzter Zeit
zwei schwere Enttäuschungen zu verkraften:
1. das gebrochene Versprechen des
Weihnachtsmanns, ihm eine Sony PlayStation 2 zu schenken;
2. das gebrochene Versprechen des
Weihnachtsmanns, ihm ein Barbie-Flugzeug zu schenken.
Um Mitternacht holte ich die Flasche
Chardonnay-Sekt wieder aus dem Kühlschrank, die ich am ersten
Weihnachtsfeiertag nicht geschafft hatte, aber er sprudelte nicht
mehr. Also goss ich ihn ins Spülbecken.
Als ich die Zahlen 2001 schrieb, fühlte ich mich in
ein Klassenzimmer der Neil-Armstrong-Gesamtschule zurückversetzt,
genau gesagt in eine Stunde über »die Zukunft«, die unsere
Erdkundelehrerin Miss Elf hielt. Im Jahre 2001 – so Miss Elf – wäre
die Welt eine einzige große, glückliche, cappuccinofarbene Familie.
Ich weiß noch genau, wie sie
diese von Grenzen befreite Welt zeichnete. Der Kreidestaub flog
nur so durch die Luft!
Miss Elf war eine engagierte und leidenschaftliche
Lehrerin. Kurz nachdem ich die Schule verlassen hatte, wurde sie
sogar im Anschluss an eine unglückliche Affäre mit einem Kollegen,
dem Sportlehrer Podgy Perkins, in die High-Towers-Nervenklinik
eingeliefert. Das Verhältnis stand von Anfang an unter keinem guten
Stern; er war verheiratet und hatte sieben Kinder, alles Jungen.
(Interessanterweise fingen ihre Namen sämtlich mit G an.) Seltsam,
was das Gedächtnis so alles wieder ausspuckt.
Jedenfalls stellte Miss Elf sich das Jahr 2001 so
vor, dass es keinen Hunger mehr auf der Welt gäbe und dass jeder
Mensch Zugang zu sauberem Wasser und einem Klo mit Spülung hätte.
Mit einer frischen Schachtel bunter Kreiden zeichnete sie eine
typische Weltfamilie aus dem Jahr 2001 an die Tafel. Alle hatten
braune Haut und trugen weiße, glänzende Ganzkörperanzüge mit
spitzen Schultern. An ihren Knöcheln waren winzige Triebwerke
befestigt. Damit konnte die 2001er-Familie fliegen wie die Vögel.
Wobei, wie sie betonte, Interkontinentalreisen mehrere Tankstopps
erfordern würden.
Vielleicht ist es ganz gut, dass Miss Elf hinter
den hohen Mauern einer Einrichtung vor sich hin brabbelt. Es würde
ihr das Herz brechen, zu erfahren, dass ihre utopische Vision in so
weiter Ferne liegt wie eh und je und dass Israelis und
Palästinenser sich immer noch in den Haaren liegen.
Meine Vorsätze fürs neue Jahr:
1. Ich werde versuchen, die
Menschenrechtsanwältin Dame Helena Kennedy zu engagieren, um meine
Mutter aus dem Gefängnis zu holen.
2. Ich werde nicht lockerlassen und weiter
versuchen, meine Serienmörderkomödie Der weiße Lieferwagen
bei der BBC unterzubringen.
3. Ich werde versuchen, mich weniger von
Vorurteilen leiten zu lassen. Vielleicht ist Jeffrey Archer
unschuldig. Vielleicht war der Millenium Dome eine Milliarde Pfund
wert.
4. Ich werde die buddhistische Religion im
Hinblick auf eine mögliche Anhängerschaft meinerseits genauer unter
die Lupe nehmen. Ich hatte schon immer einen Horror davor, auf
Insekten zu treten. Besonders auf Ameisen.
5. Ich werde versuchen, mich dieses Jahr in eine
geeignete Frau zu verlieben. Eine, die nicht viel weint und nicht
zu viel blauen Lidschatten verwendet.
6. Ich werde meinen Söhnen die korrekte
Verwendung des Apostroph’s beibringen.
Dienstag, 2. Januar
Pandora ist aus Israel zurück, wo sie angeblich zu
Recherchezwecken über Jerusalem war. Ich sprach sie auf ihre
Sonnenbräune an. »Ja«, sagte sie, »ich konnte mich in Eilat ein
paar Tage freimachen und mit den Delfinen schwimmen.« Wie ich
Pandora um ihre körperliche Leistungsfähigkeit beneide! Für mich
wäre es schon schwierig, mit Goldfischen zu schwimmen.
Ich fragte sie, ob sie ihrem mittelfristigen Ziel,
Außenministerin zu werden, schon nähergekommen sei. Sie warf ihr
melassefarbenes Haar zurück und erwiderte: »Unter denen, die zählen
– Ian Hislop, Auberon Waugh und Andrew Rawnsley -, ist man sich
einig, dass Cook gehen muss. Der
Mann ist inzwischen vollkommen unverständlich. Wie die armen
Ausländer sein wahnsinniges Geplapper verstehen, weiß Gott
allein.«
Montag, 8. Januar
Arthur Askey Way
Ich wachte um 7:32 Uhr mit Kopfweh auf. Gott sei
Dank schliefen die Jungs noch, so dass ich mich wenigstens einmal
in Ruhe anziehen und meiner Toilette widmen konnte. Unter der
Dusche wusch ich mir nicht die Haare, denn die durch das
Einmassieren des Shampoos in die Kopfhaut verursachte Reibung
strapaziert meine Follikel und führt zu Haarausfall. Ich war froh,
eine der Duschhauben benutzen zu können, die ich über die Jahre in
Hotelbadezimmern eingesammelt habe.
Mein Spannungskopfschmerz muss damit
zusammenhängen, dass Pamela Pigg letzte Nacht hier war. Zumindest
den Großteil der Nacht – sie verließ mein Bett um 4:30 Uhr, nachdem
sie eineinhalb Stunden geschluchzt und dabei einen meiner schönsten
Kissenbezüge mit blauem Lidschatten verschmiert hatte.
Die Verabredung lief an sich ganz gut, wenn man
davon absieht, dass Pamela eine schwere Erkältung hatte und ständig
den Kellner um weitere Papierservietten bat, um sich damit zu
schnäuzen. Wir sprachen über unsere immer mal wieder unterbrochene
Beziehung, und Pamela schob es auf unsere sexuelle Unvereinbarkeit,
dass sie meistens unterbrochen ist. Sie sagte, sie sei bereit, es
noch einmal zu probieren, und erzählte mir, sie habe sich dazu
gezwungen,
Freude am Sex zu lesen, und sei erstaunt über die Vielfalt
der Angebote gewesen. Bei ihr klang es wie der Ikea-Katalog.
Nach einer längeren Auseinandersetzung mit dem
Kellner über die Rechnung (ich weigerte mich, 3,50 £ für den extra
Service zu zahlen), verließen wir das Restaurant Arm in Arm. Auf
dem Heimweg im Auto legte sie ihre rechte Hand auf meine linke. Das
machte zwar das Schalten schwierig, aber ich beklagte mich
nicht.
Als wir nach Hause kamen, war Glenn noch auf und
machte seine Sozialkundehausaufgaben. Er hing an einer Frage fest:
»Nenne drei Mitglieder des Schattenkabinetts neben William
Hague.«
Leider konnten ihm weder Pamela noch ich behilflich
sein. Als Pamela auf die Toilette ging, sah Glenn ihr nach und
flüsterte: »Du musst echt verzweifelt sein, Dad.« Während ich auf
sie wartete, fiel mir zu Glenns Frage wenigstens Ann Widdecombe
ein, die Innenministerin von Hagues Schattenkabinett. Dann kam
Pamela wieder – nach Poison riechend und mit nachgezogenem
pinkfarbenem Lippenstift -, woraufhin Glenn sich taktvoll zurückzog
und ins Bett ging.
Ich legte eine Beethoven-CD auf und versuchte, das
Licht zu dimmen, aber der Schalter wollte nicht funktionieren, so
dass wir unter dem grellen Schein etlicher 500-Watt-Strahler sitzen
mussten. Nach einem kurzen Gespräch über meine inhaftierte Mutter
gingen wir nach oben. Pamela entschuldigte sich für ihren Sport-BH
und die eher praktische Unterhose, ihre besten Sachen seien gerade
in der Wäsche. Ich sagte, das sei egal, aber in Wahrheit war ich
sehr verletzt. Sie hatte seit über einer Woche von der Verabredung
gewusst. Das muss doch wohl ausreichend Zeit sein, um ein paar
zarte Fetzen Seide und Spitze von Hand zu waschen und auf der
Heizung zu trocknen?
Sie stellte fest, dass die Pickel auf meinem Rücken
fast abgeheilt seien, dann schaltete sie die Nachttischlampe aus,
und der Liebesakt begann. Die ersten Probleme tauchten auf, als sie
mich darum bat – zur Sicherheit -, zwei Kondome übereinander
anzuziehen. Gott weiß, dass ich es probiert habe, liebes Tagebuch,
aber als ich das erste übergestreift hatte, war das andere im Bett
verloren gegangen.
Das zweite Problem war, dass Glenn durch die Wand
rief: »Du liebe Güte, Dad, jetzt mach voran und bring’s hinter
dich!« Woraufhin Pamela sich auf ihre Seite des Bettes rollte und
dort stocksteif und mit zusammengebissenen Zähnen liegen blieb. Ich
versuchte, sie wieder zu lockern, indem ich über die Behandlung
meines Vaters wegen seiner Krankenhausinfektion sprach, doch sie
begann zu weinen. Und nichts, was ich sagte, konnte sie
beruhigen.
Eine Stunde später
Glenn kam gerade in die Küche, wütend mit meiner
gebrauchten Duschhaube wedelnd, und rief: »Sag dieser Pamela Pigg,
dass sie ihr Frauenkondom das nächste Mal mitnehmen soll.« Der
Junge hat offensichtlich keine Ahnung von weiblicher
Anatomie.
Samstag, 13. Januar
Meine Exfrau Jo-Jo hat mich per Fax gefragt, ob
sie William mitnehmen darf, wenn sie zurück nach Nigeria fährt. Für
einen – wie sie es nannte – »ausgedehnten Besuch«.
Ich faxte sofort zurück, c/o The Hempel Hotel in
Craven Hill Gardens, London. (Sie schwimmt im Geld – ihr neuer Mann
importiert elektrische »Viehtreiber« aus der Türkei. Man traut sich
gar nicht, darüber nachzudenken, zu welchen Zwecken die Geräte
wirklich eingesetzt werden. Ich habe den Verdacht, dass das Ganze
nichts mit Vieh zu tun hat.)
Liebe Jo-Jo,
ich komme gleich zur Sache. Nein, du darfst
William nicht mit zurück nach Nigeria nehmen. Er ist extrem
glücklich hier im kleinen Städtchen Ashby-de-la-Zouch. Der
Kulturschock könnte ihn umbringen. Sollte er, wenn er alt und
verständig genug ist, seine »Wurzeln entdecken« wollen, dann werde
ich ihn dabei unterstützen. Aber er hat mir gesagt, dass er
weiterhin bei Mrs Claricoates in die Klasse gehen will, wo er sich
vor allem im Ausmalen und in Informatik hervortut. Außerdem ist für
Februar ein Schulausflug zum Fylingdales-Moor in Yorkshire geplant.
Übrigens bin ich überrascht, was die Wahl deines neuen Gatten
betrifft. William erzählte mir, dass der Mann noch nie von Pokémon
gehört hat und nicht in der Lage war, die einzelnen Mitglieder der
Spice Girls aufzuzählen. Klingt mir nach einem weltfremden
Menschen.
Wie konnte eine kultivierte Frau wie du sich
einen solchen Tölpel an den Hals laden? Ich kann nicht
umhin, mir Sorgen um die Dauerhaftigkeit eurer Ehe zu machen. Wie
du noch in Erinnerung haben wirst (vielleicht sogar in guter): Als
wir verheiratet waren, pflegten wir uns stundenlang im Bett über
die Welt und das Zeitgeschehen zu unterhalten. Wie dem auch sei,
Jo-Jo, ich fürchte, du musst ohne William zurück nach Nigeria
fahren. Wie immer dein
Adrian
Samstag, 14. Januar
Heute Morgen erhielt ich folgendes Fax:
The Hempel, Craven Hill Gardens, London
An Adrian Mole, von Mrs Jo-Jo Mapfumo
Danke für dein Fax. Ich bin natürlich enttäuscht,
dass du William nicht erlaubst, mit mir und meinem neuen Mann
Colonel Ephat Mapfumo nach Nigeria zu fahren. Meine Familie in
Lagos brennt darauf, ihn kennenzulernen. Er ist immerhin mein
erster Sohn und wird demnach von ihnen allen hochgeschätzt.
Ich fand deine Bemerkungen über meinen Mann
außerordentlich kränkend. Er ist alles andere als ein Tölpel. Er
hat an der Sorbonne und an der Militärakademie in Sandhurst
studiert. Er spielt Klavier, Geige und Oboe, sammelt
zeitgenössische afrikanische Kunst und hat ein hochgelobtes Buch
geschrieben: Der Putsch – Eine postkoloniale Alternative zur
Demokratie. Was unsere eigene Ehe betrifft, habe ich unsere
Gespräche in oder außerhalb unseres Bettes nicht in »guter«
Erinnerung. Soweit ich mich entsinne, hast du dich lang und breit
über drei Themen ausgelassen: 1. deine unveröffentlichten
Romane; 2. Dostojewski; 3. die norwegische Lederindustrie. Mir
wurde bereits fünf Minuten nach der Trauung klar, dass unsere Ehe
ein Fehler war, als du mir Exhibitionismus vorwarfst, weil ich
meine traditionelle Stammestracht trug.
Mit freundlichen Grüßen,
Mrs Jo-Jo Mapfumo
Mrs Jo-Jo Mapfumo
PS: Wenn du William nicht erlaubst, nach Nigeria
zu fahren, dann muss meine Familie ihn in Ashby-de-la-Zouch
besuchen. Sobald ich wieder in Lagos bin, werde ich die nötigen
Vorkehrungen treffen.
Ich gestehe, dass ich am Tag unserer Hochzeit
befremdet war, als ich Jo-Jo auf dem Standesamt erblickte. Sie
hatte mir gesagt, sie werde »traditionelle Kleidung« tragen,
weshalb ich mit weißer Spitze und Schleier gerechnet hatte – nicht
mit einer Orgie aus Mustern und Grundfarben. Einschließlich ihres
typisch afrikanischen Turbans kam sie auf eins neunzig. Sie
überragte mich deutlich. Wir sahen geradezu lächerlich aus, als wir
uns vor der Standesbeamtin aufstellten.
Ganz deutlich hörte ich Pandora (die Trauzeugin)
flüstern: »Klarer Fall von gemeinsamer psychotischer
Störung.«
Montag, 15. Januar
Bei der letzten Zählung belief sich Jo-Jos engster
Familienkreis auf 213 Personen. 213 Menschen kann ich unmöglich
auch nur minimale Gastfreundschaft erweisen, wie es der
nigerianische Brauch fordert. Vielleicht wäre es einfacher, wenn
William zu ihnen führe. Während der Sommerferien zum
Beispiel.
Dienstag, 16. Januar
Arthur Askey Way
Clive Box, unser Postbote, hämmerte heute Morgen
um 6:15 Uhr an die Tür und schreckte mich dadurch aus dem Schlaf.
Aus irgendeinem Grund rechne ich ständig damit, im Morgengrauen von
der Polizei abgeholt zu werden, obwohl ich absolut überhaupt nichts
getan habe. Clive hatte keinen richtigen Brief für mich, nur einen
bunten Umschlag, der mich mit zahlreichen fetten Ausrufezeichen
darüber informierte, dass ich 1.000.000 £ gewonnen habe.
Etwas gereizt sagte ich: »Hätten Sie mir das nicht
einfach durch den Briefschlitz stecken können?«
»Entschuldigung«, murmelte Box, »aber ich wollte
Sie was Wichtiges fragen.«
Hinter Box’ uniformiertem Rücken konnte ich sehen,
dass die Siedlung von Reif überzogen war. Box schielte sehnsüchtig
nach dem Heizkörper im Flur. Ich bat ihn herein und schloss die
Haustür, und er stellte seinen Postsack auf den Fußboden und blies
sich in die Hände. Dann betrachtete er das Selbstbildnis Van Goghs
an der Wand.
»Wer ist das denn? Ihr Opa?«, wollte er
wissen.
»Nein!«, sagte ich. »Das ist Van Gogh, dessen Genie
zu Lebzeiten unerkannt blieb. Er verkaufte nur ein einziges seiner
Gemälde, bevor er starb.«
»Das überrascht mich nicht«, meinte Clive Box,
nachdem er Van Goghs gequälte Miene näher studiert hatte. »Ein
hässlicher Sack.«
Der Flur ist winzig, und wir standen zu dicht
beieinander. Also ging ich voran in die Küche und steckte den
Wasserkocher ein. Box setzte sich an den Tisch und sagte: »Sie sind
doch ein gebildeter Mann, Mr Mole, oder?«
Ich entgegnete, ja, ich sei Autodidakt.
»Ihr Sexleben interessiert mich nicht«, gab er
zurück, »aber mir sind die Briefe von den Buchklubs aufgefallen,
deshalb hab ich mich entschieden, Sie um Hilfe zu bitten. Sprechen
Sie Französisch?«
»Mais oui«, antwortete ich.
Er zog ein Blatt Papier aus seiner Uniformtasche
und schob es über die Tischplatte. »Wie spricht man das aus?«,
fragte er und klopfte mit einem Wurstfinger auf ein Wort in
Großbuchstaben mitten in einem Absatz. Ich betrachtete es. Es war
mir fremd.
»CONSIGNIA.« Ich sprach es laut und langsam aus.
»Consig-nia.«
Daraufhin wiederholte er es viele Male, wie ein
Kleinkind, das das Wort Rhinozeros lernt. »Und was heißt das?«,
fragte er schließlich.
Ich teilte ihm mit, dass ich keine Ahnung hätte,
und las den Zettel vor mir durch. Darin stand, dass die Postbehörde
sich selbst einen »modernen und aussagekräftigen Namen« gegeben
habe. Und dass die Begriffe »Post« und »Behörde« die Arbeit nicht
mehr zutreffend beschrieben, die von dieser Organisation ausgeführt
werde.
Zutiefst verwirrt sah Box mich an. »Dann bin ich
jetzt also kein Postbote mehr?«, fragte er.
»Offenbar nicht«, entgegnete ich. »Sie sind jetzt
ein consignée.«
Mittwoch, 17. Januar
Im Zug nach London, um meine Mutter im Gefängnis
Holloway zu besuchen, fiel mir auf, dass der Schaffner ein Schild
mit der Aufschrift »Roger Morris, Einnahmenschutzbeamter«
trug.
Meine Mutter war bester Laune. Sie hat sich mit
ihrer Zellengenossin angefreundet, einer Frau namens Yvonne, die in
Haft ist, weil sie keine Fernsehgebühren bezahlt hat. Ihre
Verteidigung – dass sie nie BBC1 oder BBC2 einschaltete – ließ das
Gericht nicht gelten. Meine Mutter zeigte mir Yvonne am anderen
Ende des Besuchsraums.
Yvonne merkte, dass wir sie ansahen, und warf
meiner Mutter eine Kusshand zu.
Meine Mutter erwiderte die Geste!
»Du und Yvonne, ihr scheint euch sehr gern zu
haben«, sagte ich zu meiner Mutter.
Sie sah mir direkt in die Augen und erwiderte: »Ja,
wir haben uns sehr, sehr, sehr gern.«
Daraufhin musterte ich Yvonne eingehender. Sie
sieht aus wie Diana Dors, der Schwarz-Weiß-Filmstar.
Verstört taumelte ich durch das Gefängnistor – hat
meine Mutter sich auf lesbische Liebe verlegt? So wie sie sich
früher mal auf Badminton und Feminismus verlegt hat? Und wenn ja,
wird sie bald wieder die Lust daran verlieren, so wie an den
genannten Hobbys?
Samstag, 27. Januar
Arthur Askey Way
Glenn wird dieses Jahr 14. Zwar eigentlich erst in
ein paar Monaten, aber sein Geschenk bekommt er gezwungenermaßen
schon etwas früher. Mohammed, dessen Bruder bei der Eisenbahn
arbeitet, schenkte mir letzte Woche zwei Gutscheine für den
Eurostar nach Paris mit den Worten: »Nimm du die, Aidy. Ich trau
mich nicht, das Land zu verlassen. Ich hab Schiss, dass mich die
Einwanderungsbehörde hinterher nicht wieder reinlässt.«
»Mohammed«, sagte ich, »du bist in der
Entbindungsstation der Uniklinik Leicester geboren, du sprichst mit
starkem Leicester-Akzent, du hast geweint, als Martin O’Neill den
Leicester City Football Club verlassen hat. Niemand könnte jemals
deine englische Staatsangehörigkeit anzweifeln.«
»Ach ja?«, versetzte Mohammed zynisch. »Und wer war
das einzige Kind, das auf der Rückfahrt nach dem Schulausflug nach
Frankreich in Dover festgehalten wurde?«
Ich dachte zurück an jenen berauschenden Tag, an
dem ich ein Europäer wurde. Niemals werde ich den ersten Anblick
von La belle France vergessen. Als die Fähre anlegte,
versammelte Miss Elf ihre 30 Schüler auf dem von Erbrochenem
verschmutzten Deck um sich und sagte: »Mes petits enfants,
regardez vous la belle France, la crème de la créme, de la
Continent.« (Oder etwas in dem Sinne, liebes Tagebuch. Mein
Französisch ist etwas eingerostet, da ich so selten Gelegenheit
habe, es anzuwenden.)
In Frankreich verloren wir kostbare Zeit, weil
Barry Kent versuchte, von der Fähre auf die Hafenmauer zu springen,
bevor der Anlegevorgang ganz beendet war. Er war nicht
lange im Wasser, aber als die Gendarmen endlich ihren Papierkram
erledigt hatten, waren bereits ein paar Stunden verloren.
Im Bus verkündete Miss Elf, dass wir wegen Barry
Kents tollkühnem Sprung keine Zeit mehr für den geplanten Besuch
des Soldatenfriedhofs hätten (wir hatten damals ein Klassenprojekt
über Lyrik im Ersten Weltkrieg). Einige der empfindsameren Mädchen
weinten; allerdings kann ich mich erinnern, dass Pandora nicht
dazugehörte. »Stattdessen«, fuhr Miss Elf fort, »werden wir
französisches Brot und französischen Kaffee ausprobieren, und wir
werden auf einen Markt gehen und die Sorgfalt beobachten, mit der
die Franzosen ihr Obst und Gemüse auswählen.«
Als ich an diesem Abend spät nach Hause
zurückkehrte, wartete meine Mutter auf dem Parkplatz der
Neil-Armstrong-Gesamtschule auf mich. Ich stieg aus dem Bus aus und
sagte zu ihr: »Maman, ich habe das Paradies gesehen und
geschmeckt. Du musst deinen Instantkaffee und dein Toastbrot
wegwerfen und baguette und café au lait in dein Leben
lassen.« An den genauen Wortlaut ihrer Antwort kann ich mich nicht
mehr erinnern, aber das Ganze wurde von einem Knurren
begleitet.
Um auf Mohammed zurückzukommen, liebes Tagebuch, so
entgegnete ich ihm: »Du warst selbst schuld, dass dich die Grenzer
in Dover festgehalten haben – du hast offen eine Gauloises Disque
Bleu geraucht und warst immerhin erst zwölf.«
Sonntag, 28. Januar
Ich plane, mit Glenn zu seinem Geburtstag nach
Paris zu fahren. Es soll eine Überraschung werden, deshalb muss ich
meine Vorbereitungen hinter seinem Rücken treffen. Heute Abend
wusch und bügelte ich seine gangsterartig aussehenden Kleider und
versteckte sie im Schrank. An seiner Frisur und dem neuen Buffy
– Im Bann der Dämonen -Tattoo auf seinem Handgelenk kann ich
nichts ändern, aber mit ein bisschen Glück wird es so kalt sein,
dass er die Ärmel herunterkrempelt. Ich freue mich schon darauf,
ihm den Louvre zu zeigen – der Junge hat’s gut; ich habe erst mit
26 herausgefunden, dass die Mona Lisa das Schlangestehen nicht wert
ist.
Dienstag, 30. Januar
Heute Abend habe ich meine Reisecheckliste erneut
geprüft und gegengeprüft. Zwei Tickets für den Eurostar,
Travellerschecks, Nurofen-Tabletten, Stadtplan von Paris,
französisch-englisches Wörterbuch, Pässe, Schirm. Etwas fehlte. Und
dann traf mich die Erkenntnis wie eine Orange, die einem ein
Kleinkind im Supermarkt aus dem Einkaufswagen an die Stirn wirft:
GLENN HAT KEINEN REISE-PASS!
Mittwoch, 31. Januar
Pandora hat ihre Hilfe bei der Beschaffung eines
Passes für Glenn im Schnellverfahren verweigert. Ich habe unseren
Abgeordneten für Leicester, Keith Vaz, angerufen, aber es war
gerade niemand verfügbar, um meine Anfrage entgegenzunehmen.
Freitag, 2. Februar
Arthur Askey Way
Heute Abend saß ich mit einer Tasse
Instant-Hühnersuppe am Küchentisch und wartete auf den Beginn der
Archers, als ich zu meinem Erstaunen meinen Namen im Radio
erwähnt hörte. Ich stellte lauter und lauschte mit wachsendem
Entsetzen einem »Trailer« für eine Fernsehserie über einen Mann
namens Adrian Mole, einen ehemaligen Innereienkoch, dessen
Elternhaus sich in Ashby-de-la-Zouch befindet.
Dieser Fernseh-Mole hat eine Mutter mit Namen
Pauline und einen Vater, der George heißt. Das kann doch kein
reiner Zufall sein – jemand hat mein Leben veröffentlicht und
schlachtet es zu kommerziellen Zwecken aus. Sofort rief ich Peter
Elf, den Anwalt meines Agenten, an und hinterließ ihm eine
Nachricht. Die BBC muss daran gehindert werden, diese Serie
auszustrahlen. Ich muss doch wohl das Urheberrecht an meinem
eigenen Leben besitzen?
Ich konnte mich gar nicht richtig auf die
Archers konzentrieren und verpasste dadurch einen wichtigen
Handlungsstrang: Wird Kate mit ihrem schwarzen Liebhaber zurück
nach Südafrika ziehen und ihr erstgeborenes Kind mitnehmen?
Samstag, 3. Februar
Mehrere Leute, einschließlich Pandora, haben
angerufen, um sich nach der Mole-Fernsehserie zu erkundigen.
Pandora gab sich empört, obwohl ich ihr anmerkte, dass sie sich
geschmeichelt fühlt, weil sie von Helen Baxendale gespielt
wird.
Montag, 5. Februar
Heute Morgen um 7:00 Uhr rief ich im Büro von Greg
Dyke an, dem Oberboss der BBC, aber die alte Schlafmütze war noch
nicht am Platz. Finanzieren wir Gebührenzahler einem Mann ein
Vollzeitgehalt, der ganz offensichtlich nur in Teilzeit arbeitet?
Es kommt mir ganz so vor.
Mr Elf warnte mich davor, eine gerichtliche
Verfügung gegen die BBC zu erwirken. Er sagte: »Das wäre eine
David-gegen-Goliath-Situation.« Ich wies ihn darauf hin, dass der
kleine David immerhin den Riesen Goliath besiegt habe, worauf Elf
erwiderte: »In meinen Augen hatte David mit dem Stein einfach
Glück. Goliaths Schädeldecke muss sehr dünn gewesen sein.«
Heute Vormittag kam Tania Braithwaite vorbei und
brachte mir die BBC-Programmzeitschrift Radio Times von
letzter Woche. Darin abgedruckt war ein »Filmset-Tagebuch«, das
angeblich von einem Kerl verfasst worden war, der sich Adrian Mole
nannte. Dieser Mole war ebenfalls verärgert, dass aus seinem Leben
Kapital geschlagen wurde.
Eine Freundin von Tania, die in der Verlagsbranche
arbeitet, hatte ihr erzählt, dass eine verkrachte Schriftstellerin
namens Sue Townsend bereits seit Jahren versuche, die geheimen
Tagebücher des Adrian Mole zu verkaufen, unter der Behauptung, es
handele sich um reine Fiktion. Tania zeigte mir einen Ausschnitt
aus dem Manuskript, und ich las mit wachsender Verwunderung die
Enthüllung von Einzelheiten aus meinem Privatleben. Woher weiß
diese Frau so viel über mich? Zapft sie mein Telefon an? Hat sie
mein Haus verwanzt? Tania sagte, diese Townsend sei seit einem von
Adrian Henri und Roger McGough geleiteten Lyrik-Kurs der Arvon
Foundation sehr verbittert. Henri hatte ihr damals bescheinigt, sie
sei keine Dichterin und werde nie eine werden, nachdem sie ein
Gedicht mit dem Titel »Betrachtungen über den Stuhlgang von
Ohrwürmern« eingereicht hatte:
Wie nur wiegt man Ohrwurm-Mist?
Woher weiß man, wie viel es ist?
Man braucht extra Waagen, ganz gewiss
für so kleine Häufchen Ohrwurmschiss.
Woher weiß man, wie viel es ist?
Man braucht extra Waagen, ganz gewiss
für so kleine Häufchen Ohrwurmschiss.
Townsend brach daraufhin in eine hysterische
Hasstirade gegen moderne Lyrik aus und rannte aus dem Kurs hinunter
zum Fluss. Sie drohte damit, sich hineinzustürzen, falls Adrian
Henri ihr Ohrwurmgedicht nicht mit der Empfehlung, einen dicken
Gedichtband mit ihren Werken in Auftrag zu geben, an Bloodaxe Books
schicken würde. Adrian Henri stellte sich ans gegenüberliegende
Ufer und brüllte über den Fluss: »Spring schon rein, dann ist
endlich Ruhe.«
Seit jenem Tag hasst Townsend alle Männer, die
Adrian heißen. Der Schriftsteller A. A. Gill ist ebenfalls so eine
manische Besessenheit von ihr. Ist sie etwa der Grund dafür,
dass meine eigenen literarischen Bemühungen immer wieder
gescheitert sind?
Dienstag, 6. Februar
Der aus Leicester stammende Maler Adrian Hemming
ist ins Ausland geflohen, als er hörte, dass Townsend ein
Bewunderer seiner Arbeit ist. »Ich hörte, dass sie eines meiner
›Wellen‹-Bilder kaufen und sich ins Badezimmer hängen wollte«,
berichtete er aus seinem Versteck. »Ich muss meinen guten Namen
schützen.«
Sonntag, 11. Februar
Arthur Askey Way
Ist in Psychologenkreisen die Ikea-Wut ein
offiziell anerkanntes Krankheitsbild? Ich glaube, ich erlitt heute
drei separate Schübe. Der erste davon ereilte mich auf dem
Parkplatz, als ein kleines Kind, das augenscheinlich für die
Einweisung der Fahrzeuge zuständig war, mich von einem
Behindertenparkplatz abwies. Ich zeigte dem Jungen die Fotokopie
eines Briefs meines Arztes, der klar zum Ausdruck bringt, dass ich
eine Krankheit habe, doch er winkte mich trotzdem aus der Lücke und
ließ dort eine alte Schnepfe mit Halskrause parken. Hier ist Dr.
Ngs Brief:
Lieber Mr Mole,
bezugnehmend auf Ihre zahlreichen Besuche in
meiner Praxis diese Woche: Ihre Blutuntersuchung kam aus dem Labor
zurück und beweist zweifelsfrei, dass Sie
weder an HIV noch einem Gehirntumor oder einem multiresistenten
Erreger leiden. Ihr Herz wie auch Nieren, Leber, Lunge und Gehirn
funktionieren völlig normal für einen Mann Ihres Alters. Woran Sie
allerdings leiden, ist schwere Hypochondrie. Ich habe Ihren Fall
mit meinen Kollegen Dr. Singh und Dr. O’Neil diskutiert, und sie
bestätigten mir meine Diagnose. Meine Empfehlung an Sie lautet,
sich den übrigen Bereichen Ihres Lebens zuzuwenden, um die Ursache
für Ihre persönliche Unzufriedenheit zu ermitteln.
Dr. Ng
PS: In Zukunft kommen Sie bitte nur in die
Praxis oder bitten um einen Hausbesuch, wenn Sie absolut sicher
sind, an einer lebensbedrohlichen Krankheit zu leiden.
Die zweite Attacke von Ikea-Wut ereignete sich in
der Abteilung mit den Aufbewahrungssystemen, als Glenn meine
Abmessungen für die Billy-Regalwand, die ich im Wohnzimmer
aufstellen will, in Zweifel zog. »Glaub mir, Dad, du kriegst
niemals drei von den Dingern an die hintere Wand«, sagte er. Wir
standen einander Nase an Nase gegenüber, während müde Einkäufer an
uns vorbeischlurften, und ich konnte geradezu spüren, wie das
Testosteron durch Glenns pubertierenden Körper pulsierte. »Du hast
meinen Berechnungen gefälligst nicht zu widersprechen«, donnerte
ich, und Glenn stürmte mit eingezogenem Schwanz davon. Schließlich
holte ich ihn bei den Badezimmern wieder ein, wo er in einer
Duschkabine stand und missmutig die Armaturen untersuchte. In der
SB-Halle half er mir schweigend, drei Billy-Kartons auf einen Wagen
zu wuchten. Wäre
er in der Armee gewesen, hätte ich ihn wegen nonverbaler
Unverschämtheit zur Rechenschaft ziehen können.
Mein dritter Anfall kam dann in der Schlange vor
der Kasse, als ungefähr zehn Kunden vor mir eine Frau darauf
bestand, ihre fünf Kartons, die einen Einbauschrank enthielten, zu
öffnen und sämtliche Schrauben durchzuzählen. Meine Schläfen
pochten vor Zorn so heftig, dass ich Angst hatte, ein Aneurysma zu
erleiden und in einem Ikea-Sarg zur Selbstmontage hinausgetragen zu
werden.
Montag, 12. Februar
Ich rief Pandora im Unterhaus an und bat sie, die
schwedische Anleitung für den Zusammenbau der Billy-Regale für mich
zu übersetzen. Während ich auf ihr Fax wartete, wunderte ich mich
über ihren höflichen, hilfsbereiten Tonfall am Telefon. Dann fiel
es mir wieder ein: Sie wird im Mai in einem besonders hart
umkämpften Wahlkreis antreten, in dem jede Stimme zählt,
einschließlich meiner.
Dienstag, 13. Februar
Ich habe bei dem Versuch, die Billy-Regale
zusammenzubauen, versagt. Etwas in meinen Erbanlagen macht es mir
unmöglich, in der einen Hand einen Schraubenzieher zu halten,
während ich mit der anderen eine Schraube in ein Loch in einem
Holzbrett stecke. Ich teile die Welt jetzt ein in Menschen, die
Ikea-Möbel zusammenbauen können, und solche, die das nicht
vermögen. Wer es kann: Paul Daniels, Frank Bruno, William Hague,
Madonna, Princess Anne,
Glenn Bott. Wer es nicht kann: Peter Mandelson, Caroline Aherne,
Prince Charles, Sir Edward Heath.
Mittwoch, 14. Februar
Valentinstag
Keine einzige Karte. Nicht eine. Nichts. Glenn hat
elf bekommen. Sie stehen stolz auf den beiden Billy-Regalen, die er
gestern Abend aufgebaut hat. Das dritte passte nicht mehr an die
Wand.
Donnerstag, 15. Februar
Heute Morgen traf eine Valentinskarte von Pamela
Pigg ein. Knickerig, wie sie ist, hatte sie nur eine Briefmarke
zweiter Klasse aufgeklebt, weswegen der Brief erst heute ankam. Auf
die Innenseite hatte sie geschrieben: »Lass es uns nochmal
versuchen.«
Sonntag, 18. Februar
Heute Abend habe ich meine Bibliothek sortiert,
unter Verwendung meines ganz eigenen alphabetischen Systems. Das
erste Buch in meinem Billy-Regal waren also die Gesammelten
Werke von A. A. Gill, das letzte das Handbuch der
Schlaflosigkeit von zzz.
Dazwischen kamen selbstredend die Werke aus der
Feder der Meister und Meisterinnen der Literatur. Wie ich mich
danach sehne, ihnen anzugehören!
Nachdem ich noch eine Ladung Buntwäsche in die
Maschine gesteckt hatte, ging ich ins Bett, wachte aber schon eine
Stunde später wieder auf, weil ich mir Sorgen um die Eskalation der
Lage im Irak machte. Glenn stellt mir ständig unbeholfene Fragen
über Englands Rolle beim Schutz der Flugverbotszone. So wie: »Wieso
heißt es denn Schutz, Dad, wenn doch alte Leute und Kinder getötet
werden?« Er hat ein schlichtes Gemüt und begreift die Feinheiten
der Situation nicht so ganz.
Ich warf mich auf meinem Kissen herum, gequält von
vergangenen Demütigungen: dem Elternabend der
Neil-Armstrong-Gesamtschule, zu dem meine Mutter in einer gelben
Strumpfhose erschien; dem Tag, als mein Vater und ich zusammen im
Bus saßen und er plötzlich anfing, »If I Ruled The World« zu
singen; meiner Hochzeitsnacht, in der ich die Kordel meiner
Pyjamahose nicht aufbekam und meine Braut Jo-Jo sie mit der Schere
an ihrem Schweizer Armeemesser aufschneiden musste; meine Schreie
damals riefen den Nachtportier auf den Plan, der von einem leicht
reizbaren Manager im Nachbarzimmer alarmiert worden war.
Um 4:10 Uhr gab ich es auf und ging nach unten. Ich
setzte mich an meinen Schreibtisch in der Wohnzimmernische und
schrieb unwillkürlich den Anfangssatz eines neuen Romans nieder.
Einen Titel habe ich noch nicht, aber mit der ersten Seite bin ich
recht zufrieden.
KAPITEL 1
Larry Topper blinzelte durch seine eulenartige
Brille, als die Privatschule The Academy in Sicht kam. Er wandte
sich zu seinem Vormund Onkel Edward um (seine Eltern waren beide
während einer Urlaubsreise im Irak bei einem Bombenanschlag
ums Leben gekommen). »Denk dir nur, Onkel Ted«, piepste Larry,
»ich glaube, ich werde hier sehr vergnügt und fidel sein.« Larry
betrachtete die Formschnitte der Bäume und Sträucher, die den
weitläufigen, leuchtend grünen, ordentlich gemähten, unter den
Füßen weichen Rasen übersäten. Onkel Teds gütige Augen blitzten wie
eine Lichterkette, kurz bevor die Sicherung durchbrennt.
»Das will ich doch hoffen, junger Mann«, brummte
Ted mit seiner Stimme, die klang wie das ferne Grollen eines
startenden Jagdbombers.
Onkel Edward knirschte mit seinem Oldtimer über die
Kiesauffahrt, bis er vor dem Haupteingang zum Stehen kam, wo ein
gelangweilt wirkender Junge stand und eine
St.-Moritz-Menthol-Zigarette rauchte. Das war Brett Longshank,
Schulsprecher und Aristokrat, Star des Rugbyfelds und ein Genie in
der Schule.
Larry bestaunte ehrfürchtig Bretts vornehme
Nonchalance. »Denk dir nur, Onkel«, sagte er, »was für ein famoses
Vorbild dieser Bursche abgibt.«
Onkel Ted legte die Stirn in Falten, so dass sie
aussah wie ein Acker, nachdem mehrere Pferde einen Pflug darüber
gezogen haben.
»Das ist Lady Nancy Longshanks Sohn«, sagte er
missbilligend. »Und ich weiß zufällig, dass er cracksüchtig ist.
Halt dich von ihm fern, Larry, hörst du mich? Halt dich bloß von
ihm fern.«
Montag, 19. Februar
Vielleicht verleihe ich Larry Zauberkräfte. Ich
könnte hier auf einem total originellen Bestseller sitzen!
Dienstag, 20. Februar
Pamela Pigg verfolgt mich mit romantischen, ja
sogar sexuell expliziten SMS. Ich schrieb zurück und bat sie, damit
aufzuhören, aber ihre Inbrunst schien dadurch noch angefacht zu
werden. Ihre letzte Nachricht kam um 2:15 Uhr. Sie lautete: »Du
g-hörst mir, i. weiß, du liebst mich auch.«
Ich habe mir überlegt, meinen neuen Roman Larry
Topper, der Zauberlehrling zu nennen, und habe meinem Agenten
Brick Eagleburger die erste Seite gemailt.
Mittwoch, 21. Februar
Habe geträumt, dass Gordon Brown Premierminister
ist. Erhielt eine SMS von Brick: »JK Rowling sind Sie nicht, aber
dafür dämlich.«
Sonntag, 11. März
Arthur Askey Way
Mein Nachbar Vince Ludlow hat einen neuen Job. Er
nennt sich jetzt Tiereinäscherungsangestellter. Für diese Arbeit
ist er außergewöhnlich gut qualifiziert, da er bereits mehrere
Haftstrafen im Jugendarrest wegen Brandstiftung verbüßt und
außerdem eine erklärte Abneigung gegen Tiere hat. Seiner Meinung
nach »verschandeln Tiere die Landschaft«. Er ist der einzige
Mensch, den ich kenne, der sich eine Verschlimmerung der Maul- und
Klauenseuche wünscht und ungeduldig darauf wartet, dass der
Notstand ausgerufen
wird. Von den Überstunden, die er macht, hat er vor, dem
Wohnungsamt das Haus abzukaufen, in dem er wohnt.
Zu meinem Schrecken erfuhr ich, dass er
Samstagabend auf dem Parkplatz des Lamb’s Head billiges Rindfleisch
aus seinem Lieferwagen heraus verkauft hat.
Montag, 12. März
Peter Mandelson klingt immer mehr wie die heilige
Johanna von Orleans. Man kann quasi die lodernden Reisigbündel
unter seinen Füßen sehen. Vor ein paar Tagen wurde in den
Nachrichten gezeigt, wie er Äpfel an Schulkinder in Hartlepool
austeilte. Er machte einen leicht unheimlichen Eindruck: Ich wurde
unwillkürlich an Schneewittchen erinnert, dessen schlichtes,
gutgläubiges Wesen sich die alte Hexe zunutze machte, als sie ihm
am Fenster einen Cox Orange anbot.
Pamela Piggs Nachname bereitet ihr beträchtlichen
Kummer. Die Frau in der Reinigung kicherte unverhohlen, als Pamela
ihren Namen nannte. Dann machte sie auch noch einen derben Scherz
über die Maul- und Klauenseuche und gespaltene Hufe. Weinend floh
Pamela aus dem Laden und fuhr zu mir. Ich war gerade dabei, den
ersten Absatz meines neuen Romans, Krog von Gork, zu
beenden, als sie mich unterbrach. Fürsorglich kochte ich Pamela
eine Tasse von dem Löwenzahntee, den sie so gern mag, und versuchte
teilnahmsvoll zuzuhören, als sie die zahllosen Demütigungen
aufzählte, die sie ihres unseligen Namens wegen schon erlitten hat.
Jedoch schweiften meine Gedanken immer wieder zu Krog von
Gork ab.
Während Pamela bei dem Gedanken an ihren ersten Tag
als Referendarin in der Schule schluchzte, verfasste ich im Geiste
den zweiten Absatz von Krog …
Krog erklomm die Kuppe des Hügels. Er blickte
hinab in die Öffnung der Höhle. Seine Frau stocherte mit einem
Zweig im Feuer. Krog seufzte tief. Er wünschte, seine Frau wäre
schön, aber Schminke und Haarfärbemittel waren noch nicht erfunden.
Ebenso wenig wie Enthaarungscreme. Krog pflückte eine Handvoll
roter Beeren und lief beschwingt den Hügel hinab zum Feuer und der
Frau, die er liebte. Sprache gab es noch nicht, aber er grunzte
seiner Frau zur Begrüßung zu, und sie grunzte zurück. Krog bot ihr
die Beeren dar; sie riss sie ihm aus der Hand und stopfte sie sich
zwischen die schwarzen Zähne. »Es sollte etwas geben, was sich
Manieren nennt«, dachte Krog, als er den Saft der Beeren aus ihrem
Mund spritzen sah. Ein Dinosaurier brüllte in der Ferne; der Klang
hallte über die Neandertal-Landschaft. Krog hob seinen Speer auf
und legte den Arm schützend um seine Frau. Sie wandte ihm ihr
Gesicht zu, die Lippen waren rot verschmiert. »Mein Gott, bist du
schön«, grunzte Krog. Seine Lenden regten sich. Er führte seine
Frau in seine Höhle.
Pamela Pigg blieb über Nacht, aber es kam zu
keinerlei Intimitäten. Um 23:00 Uhr machte ich ihr den Vorschlag,
eine offizielle Namensänderung zu beantragen. Sie sagte, das würde
ihren Vater umbringen. Die Piggs reichten zurück bis ins 12.
Jahrhundert zu den Plantagenets. Ihre einzige Rettung, sagte sie,
wäre, ihren Namen durch Heirat zu ändern. Sie sah mich eindringlich
an. Ich drehte den Kopf weg und stellte mich schlafend.
Dienstag, 13. März
Heute Abend behauptete ein Bauer namens Bailey im
Fernsehen auf Midlands Today, dass er gezwungen sei, seinem
Vieh Antibiotika und Essenreste von British Airways zu verfüttern
und es in dunklen Käfigen zu halten, weil die Öffentlichkeit
billige Nahrungsmittel verlange. Seltsam, ich kann mich gar nicht
an die Krawalle vor dem Parlament erinnern, mit denen die
Bürgerschaft die Senkung des Rindfleischpreises um fünf Pence pro
Pfund erzwingen wollte. Allerdings prophezeie ich, dass es nicht
lange dauern wird, bis Hoteliers, Rugbyspieler, Jockeys,
Kanufahrer, Anorakhersteller, Bergstiefelverkäufer und
Abenteuerreisen-Busfahrer mobilmachen und in die Downing Street
marschieren, um Kompensation zu fordern.
Freitag, 16. März
Heute habe ich meinen Vater auf der
Quarantänestation besucht. Eigentlich hätte er gestern entlassen
werden sollen, aber er hat sich mit einem weiteren
Krankenhaus-Superbazillus angesteckt. Ein bisschen Blut sowie
mehrere seiner Schleimhäute werden gerade im Labor getestet. Tracy,
seine Quarantäneschwester, las ihm laut einen Artikel über die
Maul- und Klauenseuche aus dem Daily Telegraph vor. Als sie
zitierte: »Die Bauern sind die Hüter der ländlichen Regionen«,
donnerte mein Vater: »Diese Dreckskerle haben die verfluchten
ländlichen Regionen ruiniert. Sie haben die Hecken hochgezogen, die
Flüsse vergiftet, ihre Tiere mit Scheiße gefüttert und den
Steuerzahler ausgeblutet.« Mein Vater hat die schlimmsten
Vorurteile gegen Bauern. In den
Anfangstagen ihrer Ehe verdächtigte er meine Mutter, eine Affäre
mit einem Maschinenbauer zu haben. Merkwürdig, wie eine solch vage
Verbindung unsere Sichtweise beeinflussen kann. Ich selbst habe
keinen Fuß mehr in die Grafschaft Kent gesetzt, seit mein Feind
Barry Kent für den Booker Prize nominiert wurde.
Ich blieb nicht lange am Krankenbett meines Vaters,
da ich darauf brannte, zu meinem prähistorischen Roman Krog von
Gork zurückzukehren. Mich reizt die Herausforderung, ein Buch
zu schreiben, das in einer Zeit vor der Erfindung der Sprache
spielt. Ich versuchte auch, meinen Vater für diese Herausforderung
zu begeistern, aber sein Gähnen und die geschlossenen Augen
verrieten mir, dass er nur wenig Interesse an meiner jüngsten
literarischen Unternehmung hat. Nach einem halbherzigen Gespräch
über die Vermittlungsversuche in Sri Lanka verließ ich die
drückende Atmosphäre des Quarantänezimmers.
Tracy las weiter die Zeitung vor. Als ich das Ende
des Stationsflurs erreichte, hörte ich meinen Vater rufen: »Niemand
hat mich entschädigt, als die Nachtspeicherofenbranche
zusammengebrochen ist! Niemand hat die rostenden Haufen
ausrangierter Geräte auf den Feldern gefilmt!«
Samstag, 17. März
Meine Mutter wurde aus dem Gefängnis entlassen.
Die Staatsanwaltschaft hat die Unterlagen zu ihrem Fall verloren.
Sie war bestürzt, als sie erfuhr, dass ihr einigermaßen neuer
Ehemann Iwan Braithwaite wieder in The Lawns bei seiner Exfrau
Tania wohnte. Sie behaupten, wie Bruder und Schwester
zusammenzuleben.
Sonntag, 18. März
Mittagszeit
In den Mittagsnachrichten wurde eine Bauersfrau
gezeigt, die schluchzte, weil ihre gesunden neugeborenen Lämmer
geschlachtet werden sollen. William, Glenn und ich hatten Tränen in
den Augen. Dann sagte Glenn, nachdem er sich die Nase geputzt
hatte: »Dad, was wäre denn mit den Lämmern passiert, wenn die Maul-
und Klauenseuche nicht ausgebrochen wäre?«
Ich versuche, meine Söhne nie anzulügen, deshalb
antwortete ich: »Die kleinen Schäfchen wären in einen Lastwagen
getrieben, in ein weit entferntes Schlachthaus gekarrt, getötet und
an einem Haken aufgehängt worden, bevor man sie in Stücke zerteilt
hätte.« Vielleicht hätte ich nicht ganz so anschaulich sein sollen,
denn beide Jungs haben mich inzwischen darüber informiert, dass sie
sich ab sofort nur noch vegetarisch ernähren wollen. Das ist extrem
ärgerlich. Während ich diese Zeilen verfasse, schmort eine
Lammkeule im Ofen.
Montag, 19. März
Ich rief Pandora auf dem Handy an; sie war gerade
in Wells-next-the-Sea, wo sie versuchte, eine misstrauische Menge
von Wellhornschneckenfischern für sich zu gewinnen. Wie es
aussieht, mutieren weibliche Wellhornschnecken und entwickeln
Penisse. »Und der blöde Kabeljau ist praktisch verschwunden«,
klagte sie. Um sie zu trösten, sagte ich: »Wenigstens wurdest du
nicht vorgeladen, um vor Elizabeth Filkin und ihrer Kommission in
der Keith-Vaz-Sache
auszusagen.« Unvermittelt brach die Verbindung von ihrer Seite ab.
Der Empfang an der Küste von Norfolk muss wohl schlecht sein.
Dienstag, 20. März
Fortschritte am Roman:
Krog hockte hinter seiner Frau und zupfte ihr
Läuse aus dem verfilzten Haar. Ihr schwangerer Bauch wölbte sich
dick. Krog wusste nicht, warum. Krog wollte seiner Frau sagen, wie
sehr er sie liebte. Er wünschte, dass jemand sich beeilen und
endlich die Sprache und Kleider und Shampoo erfände. Dann sprach
Krog zu seiner Gattin: »Du Frau, ich Mann.«
Freitag, 23. März
Heute kam per FedEx ein Brief von Hamish Mancini
aus den Vereinigten Staaten an. Ich habe ihn seit mehr als fünfzehn
Jahren nicht gesehen, obwohl wir einander immer noch
Weihnachtskarten schicken. Er lebt jetzt mit seiner alkoholkranken
Mutter in Idaho.
Idaho, 22. März, 2001
Hi, Aidy!
Du, hör mal, ich hab ein echtes Problem und
brauche dringend deinen Rat. Ich wollte ab Sonntag, dem 1. April,
in England Urlaub machen. Jetzt hat Moms spiritueller Berater, der
Reverend Moses Hick, mir
und Mom erzählt, dass er im Fernsehen verrückte Kühe auf der
Landepiste von Heathrow hat brennen sehen. Er sagt auch, dass die
Themse Schloss Windsor überflutet hat und dass der Verzehr
jeglichen englischen Viehs einen in ungefähr fünfzehn Jahren
wahnsinnig macht. Ist die Lage wirklich so schlimm? Ich hatte
gehofft, dich besuchen und ein paar Tage bleiben zu können; mit Mom
zu verreisen ist immer total mühsam. Sie braucht inzwischen zwei
Flaschen Jack Daniel’s pro Tag. Bitte schreib schnellstens
zurück.
Hamish Mancini, dein ehemaliger
Brieffreund
Ich antwortete umgehend.
Lieber Hamish,
komm auf gar keinen Fall nach England. Heathrow
ist von Armeepanzern umstellt. Die Felder sind von toten Tieren
übersät. Die Nahrungsmittel in den Geschäften sind ungenießbar. Wir
leben von Nüssen und Beeren, die wir von den wenigen verbliebenen
Sträuchern und Hecken pflücken. Entgleiste Züge haben unseren
Eisenbahnverkehr zum Erliegen gebracht. Benzin kostet inzwischen 20
$ pro Gallone, und es wird immer schwieriger, auf unseren
Schnellstraßen zu fahren. Man kommt praktisch nicht vom Fleck wegen
der häufigen Leibesvisitationen durch die Polizei, die ständig auf
der Suche nach dem Maulund-Klauenseuchen-Virus ist.
Nichts hätte mir mehr Freude bereitet, als dir
und deiner reizenden Mutter Kost und Logis anzubieten.
Dennoch rate ich dir DRINGEND davon ab, dieses mein von Gott
verlassenes Heimatland zu besuchen. Wie immer dein
Adrian
PS: Wenn ich du wäre, würde ich mindestens die
nächsten fünf Jahre nicht einmal daran denken, England zu besuchen.
NICHT, wenn dir dein Leben lieb ist.
Ich besitze nicht genug Decken und Kissenbezüge
für Besuch, und zudem sprechen Hamish und seine Mutter mit
Ausrufezeichen. Außerdem habe ich in meiner vorletzten
Weihnachtskarte behauptet, ich würde in einem strohgedeckten
Cottage auf dem Land wohnen. Wohingegen ich in Wirklichkeit leider
in einer sozial ausgegrenzten Zone lebe, in der ein Baum auf
eintausend Menschen kommt.
Samstag, 24. März
William und Glenn haben ihrer Mutter (nicht ein
und dieselbe Frau) eine Muttertagskarte gebastelt. Glenns Karte
zeigte Sharon auf einem Sofa sitzend und eine Kippe rauchend. Auf
die Innenseite hatte er in pseudoaltertümlicher Schrift notiert:
»Alles Gute zu deinem Ehrentag, ich lieb dich mehr, als ich zu
sagen vermag, deine schlechte Laune kennt keine Pause, deshalb wohn
ich viel lieber bei Dad zu Hause.«
Auf Williams Karte sieht man eine schwarze
Strichmännchen-Frau mit zehn Fingern an jeder Hand. Mit meiner
Hilfe hat er geschrieben: »Kann ich bei Dir in Afrika wohnen? Hier
werden alle Tiere erschossen. Liebe Grüße von Deinem Sohn
William.«
Ich selbst kaufte an der Tankstelle eine fertige
Glückwunschkarte mit einer Giraffe, aus deren Maul eine Sprechblase
kommt: »Du stehst bei mir hoch im Kurs, Mum.« Es war die Einzige,
die noch da war. Der innen abgedruckte Vers lautete: »Liebevoll,
treu, ein Goldstück! Dir verdanke ich all mein Glück.« Das war
krasse Heuchelei von meiner Seite. Meine Mutter ist mehr oder
minder eine Soziopathin und praktisch allein für meine generelle
Unzufriedenheit verantwortlich.
Sonntag, 25. März
Muttertag
Rosie und ich führten unsere Mutter heute zum
Mittagessen ins Holiday Palace Hotel aus. Das Menü kostete 16,99 £
pro Nase. Nur die Toiletten waren noch ekliger als das Essen.
Wachte nachts auf und machte mir Gedanken über das Schweinehirn,
das ich einmal für John Prescott gekocht habe, als ich noch ein
Innereienkoch in London war. Habe ich das Todesurteil des armen
Mannes unterzeichnet?
Ein weiterer Absatz für Krog von Gork:
Krog strich mit den Fingern über das Gesicht
seiner Frau. Er liebte ihre vorspringende, niedrige Stirn. Er
hasste es, wenn Frauen zu intellektuell waren.
Samstag, 31. März
Ich bin froh, dass dieser verwünschte Monat
endlich zu Ende ist. William ging in den Garten, um seine neuen
roten Gummistiefel auszuprobieren. Minuten später musste er von mir
und Glenn gerettet werden, weil er bis zur Hüfte in dem morastigen
Sumpf versunken war, der früher einmal unser Rasen gewesen
ist.
Michael Fish erzählte mir und meinen englischen
Fernsehzuschauerbrüdern und -schwestern heute um die Mittagszeit,
dass die vergangenen zwölf Monate die nassesten seit Beginn der
Wetteraufzeichnung gewesen seien. »Das überrascht mich nicht,
Mike«, sagte ich zu Michael.
Ich wollte ihm gerade von Williams Gartenunfall
erzählen, als mir zu meinem Entsetzen einfiel, dass Michael Fish
mich ja gar nicht hören konnte. Ich muss unbedingt mehr unter
Leute.
Während ich den Jungs heute Abend Tofuburger
zubereitete, hatte ich plötzlich eine tolle Idee. Ich wählte
Pandoras Durchwahl im Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und
Fischereiwesen. Sie war sofort am Apparat. Aus Spaß verstellte ich
meine Stimme und gab mich als Amtstierarzt von Norfolk aus. Ich
sagte: »Moin liebes Mädel, ich bin der Amtstierarzt von Norfolk. Es
tut mir sehr loid, aber ich habe schlechte Neuigkeiten. Hier unten
gab es oinen schlimmen Ausbruch der Schnabel- und Krallenseuche.
Mehr als elf Millionen Hühner und Truthähne sind befallen.«
Sie schnappte hörbar nach Luft. Dann fragte sie:
»Großer Gott, was denn noch alles? Kann man die Eier noch
unbedenklich essen?«
Mit meinem neu erworbenen Norfolk-Akzent antwortete
ich: »Noin, moine Gute, die müssen alle aus den Ställen
aufgesammelt und oinen Stempel kriegen: ›NICHT ZUM VERZEHR
GEEIGNET. DIESES EI IST ÜBERTRÄGER DES
SCHNABEL-UND-KRALLEN-SEUCHEN-VIRUS! ‹«
Es folgte Stille, ein unterdrücktes Schluchzen.
Dann brüllte sie quer durch ihr Büro: »Hol Tony, aber dalli!« Sie
redete eindringlich auf jemanden in ihrer Nähe ein, woraufhin ich
eine männliche Stimme rufen hörte: »Verfluchte Scheiße, in Norfolk
ist die Schnabel- und Krallenseuche ausgebrochen!« Der Mann klang
hysterisch.
Allmählich bereute ich meinen Streich, doch als
Pandora mich fragte, ob sie Vorkehrungen treffen sollte, das
Geflügel zu schlachten und die Eier zu entsorgen, antwortete ich
aus irgendeinem Grund: »Die Vögel müssen aus ihrem Elend erlöst
werden, aber die Eier könnte man vielleicht noch gut gebrauchen –
um in der heißen Phase vor der nächsten Wahl Politiker damit zu
bewerfen.«
Nachdem ich den Hörer aufgeknallt hatte, bekam ich
ein schlechtes Gewissen. Pandora war so stolz auf ihre jüngste
Beförderung zur Staatsministerin für Geflügel. Ich versuchte,
nochmal anzurufen, aber sämtliche Leitungen in ihrem Büro waren
ununterbrochen besetzt. Ursprünglich hatte ich den Vorschlag machen
wollen, dass – anstatt die infizierten Schafe zu vernichten – doch
besser jeder Haushalt in England ein gehäutetes, ausgenommenes
Schaf zum Einfrieren bekommen sollte. Immerhin stellt die Maulund
Klauenseuche keine Gefahr für den Homo sapiens dar. (Der
Gerechtigkeit halber könnten Vegetarier ja einen Gutschein für
einen Sack Steckrüben oder so was bekommen.) Das würde New Labour
sicherlich Stimmen einbringen.
Sonntag, 1. April
Eine Kurierfirma aus Leicester namens 24-7 weckte
mich heute Morgen sehr früh mit dem wunderbarsten Brief meines
Lebens:
Sehr geehrter Adrian Mole,
mein Name ist Louise Moore. Ich bin Lektorin
bei Penguin Books Ltd. Ich will gleich zur Sache kommen. Als ich
gestern mit Will Self und Martin Amis im Ivy zu Mittag aß, hörte
ich unfreiwillig ein Gespräch zweier Agenten am Nebentisch mit an.
Sie unterhielten sich über Ihr noch unvollendetes Manuskript
Krog von Gork. Ich war sofort fasziniert von der Idee, dass Krog
die erste menschliche Sprache erfindet, wodurch er seiner Frau
mitteilen kann, dass er sie liebt. Penguin möchte Ihnen gern eine
Million Pfund für einen Zweibuchvertrag anbieten. Bitte rufen Sie
mich am Montagmorgen um 9:30 Uhr an. Mit besten Grüßen,
Louise Moore
Montag, 2. April
Meine Geburtstagskarten zierten die üblichen
Symbole der Männlichkeit: Oldtimer, schäumende Bierkrüge und
Angelruten.
Um exakt 9:30 Uhr rief ich Ms Moores Nummer an.
Pandora hob ab. »April, April, du Ekelpaket von einem
Geburtstagskind!«, rief sie, bevor sie den Hörer aufknallte.
Freitag, 6. April
Arthur Askey Way
Eine verspätete Geburtstagskarte von Pamela Pigg.
Vorne drauf ein ältlicher Quadratschädel, der an einem rustikalen
Tisch vor einem strohgedeckten Pub sitzt. Zu seinen Füßen liegt ein
schwarzer Labrador neben einem Korb, aus dem mehrere Angelruten,
Netze etc. ragen. Der Quadratschädel trägt eine grüne Wachsjacke
und eine Sherlock-Holmes-Mütze und hebt einen schäumenden Bierkrug
an die selbstgefälligen Lippen. Im Hintergrund steht ein Oldtimer,
der vermutlich dem alten Quadratschädel gehört.
Wie lange hat Pamela wohl nach dieser Karte
gesucht? Und als sie sie gefunden hatte – rief sie da: »Endlich!
Das ist die perfekte Karte für Adrian Mole«? Sie muss doch
inzwischen wissen, dass ich Strohdächer, Hunde, Bierkrüge, Angeln,
Tweed – kurz gesagt, dass ich so ziemlich alles hasse, was mit dem
Landleben zu tun hat. Ich bin bis in die Haarspitzen ein
Stadtmensch. In die Karte hatte Pamela geschrieben: »Adrian, mon
amour, lass es uns noch mal probieren. Sex ist nicht alles. In
Liebe, Piglet.«
Preisfrage: Will ich es noch einmal mit Pamela
probieren? Die meisten unserer Rendezvous enden in Tränen,
durchweichten Taschentüchern und gegenseitigen Vorwürfen. Sie ist
haarsträubend überempfindlich: Im vergangenen Herbst weinte sie bei
einem Waldspaziergang, weil die Blätter »ihre Mütter« (die Bäume)
verlassen mussten.
Samstag, 7. April
Wider besseres Wissen rief ich Pamela an und bat
sie, mich zu Nigels offizieller Coming-out-Party zu begleiten.
Sonst riskiere ich, für einen alleinstehenden schwulen Mann
gehalten zu werden. Ich bereute meine Einladung sofort, als ich ihr
Outfit sah. Meiner Meinung nach sollte keine Frau über 17 ein
paillettenbesetztes Schlauchtop tragen. Und ihre geschmacklosen
Ohrringe waren auch nicht der Hit. Nigels Eltern waren wie vom
Donner gerührt – seine Mutter glaubt immer noch, seine
Homosexualität sei eine »dumme Phrase [sic], die er gerade
durchmacht«.
In der Nacht, nach einem weiteren gescheiterten
Versuch im Geschlechtsverkehr (ihre Schuld, nicht meine), drehte
mir Pamela den Rücken zu und begann, jämmerlich zu weinen. Ich
sehnte mich nach Schlaf, fühlte mich aber genötigt, ihr Trost zu
spenden. Leider war sie am Morgen immer noch da, nackt, abgesehen
von den Ohrringen. Als William in mein Schlafzimmer gestürmt kam,
stellte er missbilligend fest: »Jetzt musst du heiraten, Dad.« Er
hat mich noch nie mit einer Frau im Bett gesehen, nicht einmal mit
seiner Mutter.
Sonntag, 8. April
Pamela schlug vor, en famille zum
Mittagessen in ein Lokal zu gehen. Sie empfahl das Ye Olde Carvery
in Frisby-On-The-Wreake. Glenn und William waren ganz aufgeregt –
sie essen selten auswärts. Unterwegs im Auto erzählte ich, dass
Frisby-On-The-Wreake ein berüchtigtes Zentrum für
heidnische Bräuche sei. Pamela widersprach mir heftig mit dem
Argument, Frisby habe drei Jahre in Folge den Preis für die
schönste Blumenampel gewonnen. Auf meinen Einwand, dass sich beides
keineswegs ausschlösse, sagte Glenn diplomatisch: »Stimmt, eine
Hexe kann ja auch eine Blumenampel haben.«
Das Ye Olde Carvery war voller alter Quadratschädel
in Wachsjacken, die lautstark über die arme Kuh sprachen, die
ziemlich ins Fettnäpfchen getreten sei. Ich ging davon aus, dass
sie von der Maul- und Klauenseuche schwafelten, doch Pamela hatte
eine Ausgabe der Mail on Sunday gefunden und berichtete mir,
dass Sophie, die Frau von Prince Edward, in die Falle eines
Journalisten getappt war, der sich als arabischer Scheich
verkleidet hatte. Die Countess of Wessex hatte John Major als
»hölzern«, William Hague als »Marionette« und Füchse als
»Ungeziefer« bezeichnet.
Das Lokal bot keine Gerichte für Vegetarier an. Ja,
ein Blick auf die hinter der Theke vertrocknenden Speisen verriet
mir, dass Ye Olde Carvery für keinen Menschen mit normalem Appetit,
Geschmacksknospen etc. etwas anzubieten hat. Als wir wieder gingen,
lachte einer der alten Quadratschädel über Pamelas grässliche
Ohrringe. Ich konnte schlecht Einspruch erheben.
Mittwoch, 11. April
Lag die ganze Nacht mit einem lästigen trockenen
Husten wach. Habe heftig geschwitzt.
Donnerstag, 12. April
Nur zwei Kilometer von meiner Haustür entfernt ist
TB ausgebrochen! Und ich zeige alle Symptome. Dr. Ng wurde gerufen.
Er entfernte mir wütend eine rote Paillette hinten aus der
Kehle.
Freitag, 13. April
Karfreitag
Warum schließen Banken an gesetzlichen Feiertagen?
Sie sollten geöffnet haben, wenn so viele Leute Zeit haben, sie
aufzusuchen. Ich wollte mich nach einem Kontoauszug erkundigen,
demzufolge ich in einem Geschäft in Lewes 104,49 £ für belgische
Pralinen ausgegeben haben soll. Also rief ich ein Callcenter in
Southend an und erklärte einem Halbwüchsigen namens Gary, dass ich
nie Schokolade kaufen würde, weil das meiner Haut nicht zuträglich
sei, und dass ich noch niemals in Lewes gewesen sei.
Er sagte: »Vielleicht war es eine
Internettransaktion.«
Etwas unwirsch wiederholte ich, dass ich Schokolade
nicht vertrüge.
Er meinte: »Vielleicht war es ein Geschenk für
jemanden – schließlich haben wir Ostern.«
Mittlerweile wütend entgegnete ich: »Ich bin ein
armer Mann! 104,49 £ übersteigen mein wöchentliches
Einkommen.«
»Mit Ihrem Dauerauftrag bei Ihrem Zeitungsladen
könnte man ein afrikanisches Dorf einen Monat lang ernähren«,
blaffte er.
Genau in dem Moment rief Glenn aus der Toilette,
dass kein Papier da sei. Ich bat Gary, kurz zu warten. Als ich
zurückkam, lief »Greensleeves« vom Band, also ging ich zu meiner
Bank, deren Türen jedoch verschlossen waren.
Glenn war den ganzen Tag trübsinnig. Er fragte, ob
er sein Zimmer schwarz streichen dürfe. Als ich fragte, was denn
los sei, antwortete er: »Warum ist Karfreitag ein Feiertag? Für den
armen Jesus war es doch bestimmt keiner, oder?« Daraufhin erzählte
er, am Morgen in eine Reißzwecke getreten zu sein: »Da hab ich
irgendwie kapiert, wie das da an dem Kreuz gewesen sein muss, Dad.«
Dann fragte er noch, ob ich ihm ein Osterei der Marke Cadbury
Heroes schenken würde. William hingegen wünscht sich eines von
Barbie. Besorgniserregend.
Samstag, 4. April
Bekam eine E-Mail von Hamish Mancini: »Yo, Adi,
ich schick dir per FedEx einen Fünfzigkilosack von unseren guten
Idaho-Kartoffeln, weil ihr da drüben in England doch wegen
Überschwemmung und Seuchen nix mehr zu beißen habt. Wir beten für
dich und deine Familie.«
Sonntag, 15. April
Ostersonntag
Pamela kam mit einem Ostereier-Deko-Set
vorbei.
Williams Eier wurden knallbunt, das von Glenn
zeigte Jesus am Kreuz. Aus dem Mund kam eine Sprechblase: »Vater,
warum hast du mich verlassen?«, was Pamela etwas verstörte. »Um
Himmels willen, Glenn, mach dich mal locker, es ist Ostern!«
Später, als William mit der Verpackung seines Barbie-Ostereis
spielte und Glenn sich Die größte Geschichte aller Zeiten im
Fernsehen ansah, zog Pamela mich in mein Schlafzimmer und
überreichte mir ein erotisches Osterei, in dessen Mitte sich ein
essbares Spitzenhöschen befand. Ungeduldig drängte sie mich, es
aufzubrechen und den Inhalt zu entnehmen. Ich hatte es weniger
eilig: Ein Blick auf die Inhaltsstoffe zeigte mir, dass die
Unterhose vollgestopft mit dubiosen Chemikalien und vielsilbigen
Aromastoffen war.
Sonntag, 22. April
Arthur Askey Way
Letzten Sonntag zwang ich die Jungs, sich
hinzusetzen und Go4it, die neue Kindersendung auf Radio 4,
anzuhören. Ich war etwas verstimmt, als Glenn sich bereits nach
fünf Minuten beschwerte: »Das ist doch nur für reiche Snobkinder,
oder?« William schlief während des Interviews mit dem Ruderer Sir
Steve Redgrave ein. Ich weckte ihn auf und sagte: »Sir Steve hat
fünf Goldmedaillen für sein Land gewonnen. Du könntest wenigstens
wach bleiben, solange er spricht.«
Heute Abend setzten wir uns wieder vors Radio.
Besonders gefesselt war ich von dem Interview mit dem Schöpfer der
alten TV-Serie Thunderbirds, Gerry Anderson. Als Kind war
ich völlig vernarrt in die Lady-Penelope-Marionette. Sie stand im
Mittelpunkt meiner ersten sexuellen Fantasien. Ich mag heute noch
Frauen, die etwas Hölzernes an sich haben. Pandora Braithwaite zum
Beispiel, die Liebe meines Lebens, sieht aus wie geschnitzt. Wobei
es in dem Fall die Labour-Partei ist, die jetzt die Fäden in der
Hand hält. Ha, ha!
Sie war heute in den Nachrichten, in
Prada-Gummistiefeln und einem Tweedkostüm bemühte sie sich, der
wütenden Landbevölkerung zu versichern, ein gigantisches Loch mit
Hunderttausenden widerlicher verwesender Kühe und Schafe stelle
kein Gesundheitsrisiko dar. Ein Journalist rief: »Haben Sie das
Antirassismusabkommmen unterzeichnet, Pandora?«, woraufhin sie
fauchte: »Das einzige Anti, das mich interessiert, ist meine
Anti-Aging-Creme von Chanel.«
Montag, 23. April
Pandoras Bemerkung hat die
Antidiskriminierungskommission auf den Plan gerufen. Sie hat die
Anweisung erhalten, sich mit einem schwarzen oder braunen Menschen
fotografieren zu lassen, und rief an, um zu fragen, ob William
verfügbar sei. Ich gab zurück: »Die Hautfarbe des Kindes ist nicht
zu vermieten.« Daraufhin bat sie mich um Mohammeds Telefonnummer
und legte auf.
Dienstag, 24. April
Als ich an der Tankstelle eine Packung Choco
Krispies kaufen wollte, platzte Mohammed sofort mit der Neuigkeit
heraus, dass Pandora ihn angerufen und sich zusammen mit einem Team
von Newsnight gestern Abend zum Essen bei ihm eingeladen
habe. Sie hatte Tikka Masala mit Hühnchen bestellt. Mohammed sagte:
»Meine bessere Hälfte war leicht genervt, weil sie sonst dienstags
immer Fish & Chips im Imbiss um die Ecke holt, aber man kann
Pandora einfach nichts abschlagen, wenn sie einen mit dieser
vornehmen Stimme rumkommandiert, stimmt’s?« Er fragte mich, auf
welcher politischen Seite Newsnight stehe.
Naturellement sah ich mir die Sendung mit
großem Interesse im Fernsehen an. Pandora trug ihr
Pandschabi-Kostüm von Alexander McQueen, das sie sich anlässlich
des Gründungstreffens des Angloindischen Frauenrugbyteams von Ashby
gekauft hatte.
Danach ging ich ins Bett und hörte mir noch eine
Anrufsendung im Radio an. Die meisten Leute wollten über das
Kälbchen Phoenix sprechen, das zwar gesund ist, aber trotzdem zum
Tode verurteilt wurde. Es soll morgen von einem Amtstierarzt
exekutiert werden.
Donnerstag, 26. April
Arthur Askey Way, 22:30 Uhr
Gottlob wurde Phoenix verschont. William weinte
sich letzte Nacht in den Schlaf, und Glenn schmiedete düstere
Pläne, nach Membury in Devon zu fahren und sich dort dem
Jugendflügel einer militanten vegetarischen Splittergruppe namens
»Sprossen« anzuschließen, der vorhatte, sich dem bösen
Landwirtschaftsministerium – den Kälbermördern – zu widersetzen.
Seine Motive waren nicht gänzlich selbstlos. Er ist hin und weg von
Joanna Lumley, seit sie sich im Fernsehen so eloquent für das Leben
des Kälbchens eingesetzt hat. Ich finde das etwas bedenklich: Ms
Lumley ist zwar bezaubernd, aber sie ist alt genug, um seine
Großmutter zu sein.
Samstag, 28. April
Als ich heute Morgen Milch an der Tankstelle holen
wollte, waren zu meiner Bestürzung zwei Sanitäter gerade dabei,
Mohammed mit Sauerstoff zu versorgen. Er war von den Dämpfen
ohnmächtig geworden, die ein Stapel des neu gestalteten
Guardian-Wochenendmagazins verströmte. Ich blieb, bis er
sich weit genug erholt hatte, um zu keuchen: »Diese Allergie könnte
das Ende meiner Laufbahn als Tankstellen-Zeitungshändler sein,
Moley.«
Heute Nachmittag kam William in Tränen aufgelöst
aus dem kleinen, verwahrlosten Park der Siedlung nach Hause
gerannt. Ein großer weißer Junge hatte ihn »Promenadenmischung«
genannt. Ich erinnerte ihn daran, dass in seinen
Adern das Blut eines nigerianischen Aristokraten, eines
Kartoffelbauern aus Norfolk, eines schottischen Lokomotivführers
und einer walisischen Hexe floss und dass er qua Geburt in diesem
Land – und laut der Definition im Oxford English Dictionary
– genauso englisch war wie Prince Philip. Doch der Junge ließ sich
einfach nicht trösten, bis Glenn ihn aufforderte, mit ihm zusammen
ein altes Video von Joanna Lumley in ihrer Rolle als Purdey in
Mit Schirm, Charme und Melone anzuschauen.
Sonntag, 29. April
Den Fragebogen für die Volkszählung auszufüllen
dauerte länger als erwartet. Ich zermarterte mir den Kopf über die
Fragen zur Berufstätigkeit. Am Ende kreuzte ich »ja« an und
gestand, dass ich drei Stunden an meinem Roman Krog von Gork
gearbeitet hatte.
William gehörte irgendwie zu keiner ethnischen
Gruppe. Ich rief die Hilfs-Hotline an und sprach mit einem Burschen
namens Len Cook. Meine Aufzählung von Williams diversen
Abstammungslinien schien ihm auf die Nerven zu gehen. Im Endeffekt
entschied ich mich für Kästchen B – gemischt, weitere – und schrieb
britisch/schwarzafrikanisch.
Glenn machte sich lange Gedanken über die
Religionsfrage, erklärte sich aber schließlich zum Buddhisten,
nachdem ich ihm einen kurzen Abriss über die anderen großen
Weltreligionen gegeben hatte. Ihm gefiel, dass Buddhisten sich die
Köpfe scheren und aufpassen, dass sie nicht auf Ameisen
treten.
Samstag, 5. Mai
Sehr geehrter Premierminister,
ich habe gerade Ihren Außenminister Robin Cook
in den Nachrichten gesehen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wovon
der Mann sprach, da ich kein Wort verstehen konnte. Es wird höchste
Zeit, dass man ihm einen offiziellen Dolmetscher an die Seite
stellt. Alternativ könnten notfalls auch Untertitel eingeblendet
werden. Ich bin ein eifriger Beobachter der Außenpolitik und lehne
es ab, durch Mr Cooks unverständliches Gebrabbel ausgegrenzt zu
werden. Übrigens gefällt mir Ihre neue Brille – Sie wirken damit
gesetzter, woran es Ihnen in letzter Zeit aufgrund Ihrer eigenen
nachlässigen Sprechweise gemangelt hatte. Mit freundlichen
Grüßen,
A. A. Mole
Ein Zollbeamter namens Colin Dodge rief mich heute
Nachmittag vom Flughafen Heathrow an. Er teilte mir (ziemlich
barsch, wie ich fand) mit, dass die von Hamish Mancini als
Lebensmittelhilfe geschickten Kartoffeln aus Idaho gemäß den
Einfuhrbeschränkungen zur Bekämpfung des Kartoffelkäfers
konfisziert wurden. Ich schrieb Hamish eine E-Mail und bat ihn, mir
keine weiteren Carepakete zu schicken, da die Maul- und
Klauenseuche inzwischen unter Kontrolle und wieder Nahrung in den
Geschäften erhältlich sei.
Hamish mailte zurück: »Ich hab den Wochenrückblick
im Fernsehen gesehen, Mannomann! Da waren Massen von verrückten
Roten und Anarchisten, die in London randaliert haben. Wann wird es
für Mom und mich sicher genug
sein, rüberzukommen? Ich will Urlaub in dem niedlichen
strohgedeckten Cottage machen, in dem du wohnst.«
Montag, 7. Mai
Gesetzlicher Feiertag
Mein Nachbar Vince Ludlow schmiss heute eine
Willkommensparty für Ronnie Biggs. Er hat den berühmten Zugräuber
zwar nie persönlich getroffen, empfindet aber offensichtlich eine
Seelenverwandtschaft mit ihm. Den ganzen Tag und bis weit in die
Nacht hinein wimmelte es in unserer Straße von Kriminellen. Das
Gerücht, der alte Gangster Mad Frankie Fraser sitze auf der
Ludlow’schen Couch und verspeise Krabbenpastensandwiches, machte
die Runde. Der Lärm war unerträglich. Trotzdem entschied ich mich
dazu, mich nicht zu beschweren, da ich kein Bedürfnis danach
verspürte, mir die Füße an den Knöcheln absägen zu lassen.
Stattdessen machte ich mit Glenn und William einen Ausflug aufs
Land.
Am Rande von Little Snickerton hielt ich in einer
Parkbucht und versuchte, die Jungs zum Aussteigen zu bewegen, doch
keiner von beiden rührte sich vom Fleck. Sie bilden sich ein, dass
das Land von despotischen Bauern beherrscht wird, die alle
Stadtbewohner hassen. Schließlich wendete ich den Wagen und fuhr
zurück.
Freitag, 25. Mai
Ich besuchte heute meinen Vater in seinem
Quarantänezimmer. Da ich keine Lust auf den ganzen Zirkus mit
Duschen, sterilem Kittel, Atemmaske und Schuhüberzügen hatte,
machte ich nur Handzeichen durch die Beobachtungsglasscheibe in der
Tür. Ich wollte mich gerade mit erhobenen Daumen von ihm
verabschieden, als sein Arzt Mr R. T. Train anrückte, einen Trupp
Medizinstudenten im Schlepptau. Ich rückte zur Seite und hörte mir
Trains gesamte Lehrstunde in Diagnosetechniken an. Er deutete durch
die Scheibe auf meinen Vater, der aufrecht im Bett sitzend eine
laminierte, keimfreie Ausgabe des Daily Express las.
»Sehen Sie sich diesen Patienten gut an«, leierte
Train. »Er erholt sich von mehreren Krankenhausinfektionen, leidet
aber zusätzlich an einer interessanten psychischen Krankheit. Weiß
jemand, worum es sich handelt?« Ein kleiner Chinese sagte: »Glaubt
er vielleicht, der Daily Express sei eine Zeitung?«
Als das Gelächter verebbt war, sagte Train
nachsichtig: »Gute Antwort, Wang. Sonst noch jemand?« Die Studenten
musterten einer nach dem anderen meinen Vater.
Schließlich meinte eine schwarze Frau, die mich ein
wenig an meine Exfrau Jo-Jo erinnerte: »In diesem Raum gibt es drei
Fotos von William Hague. Hat er eine Zwangsneurose?« Train sagte:
»Gut beobachtet.« Dann wandte er sich an den dicken Engländer in
der Gruppe. »Lesen Sie die Akte des Patienten und stellen Sie Ihre
Diagnose, Dr. Worthington.« Worthington zerknautschte das feiste
Gesicht vor Konzentration und las die Krankenakte meines
Vaters.
Endlich blickte er auf und erklärte: »Der arme
Teufel hat Wahnvorstellungen. Er glaubt, Hague wird der nächste
Premierminister.«
Eine abgearbeitet aussehende Putzfrau näherte sich
mit einem Eimer Schmutzwasser und einem gammeligen Mopp. Sie trug
einen billigen Nylonoverall, der mit dem Logo PrivaClean geschmückt
war. Eilig versuchte sie, das Zimmer meines Vaters zu betreten,
wurde aber von Train davon abgehalten, der sie anwies, zuerst das
Wischwasser zu wechseln und sich sterile Kleider anzuziehen. Sie
jammerte: »Ich hab keine Zeit, ich muss noch drei Stationen und
einen OP putzen, bevor ich Feierabend mache.«
Samstag, 26. Mai
Pandora hat ihren Wahlkreis Ashby-de-la-Zouch
verlassen und ist für eine Privataudienz mit Expräsident Clinton
nach Hayon-Wye gefahren. Sie hat laut eigener Aussage ein
Lewinsky-Kleid eingepackt. Ihr fehlt ganz eindeutig jegliche
Moral.
Samstag, 2. Juni
Arthur Askey Way
Glenn weckte mich früh am Morgen mit der
bestürzenden Nachricht, dass Prince Charles mit einer Kalaschnikow
Amok gelaufen sei und seine gesamte Familie »wegen Camilla«
umgebracht habe. Ich schaltete Five Live an und erfuhr zu meiner
Beruhigung, dass sich das Massaker in Kathmandu ereignet hatte und
unsere eigenen Royals (vermutlich) in Sicherheit und einigermaßen
wohlauf waren.
Sonntag, 3. Juni
Pandora klopfte heute Morgen an meine Tür, als ich
gerade den Abwasch machte. Sie legte mir eine Hand auf die Wange
und schnurrte: »Kann ich wie üblich auf deine Stimme zählen,
Süßer?« Kühl teilte ich ihr mit, dass ich von ihren
gewohnheitsmäßig gebrochenen Versprechen desillusioniert sei und
daher die Absicht habe, für den Kandidaten der Socialist Alliance,
Abbo Palmer, zu stimmen. Sie ließ ihre Wahlhelfer auf der
regengepeitschten Straße zurück und drängte sich in meine Küche.
»Was für gebrochene Versprechen?«, knurrte sie.
Ich zählte die Enttäuschungen an meinen Fingern ab,
wobei ich allerdings noch meine gelben Spülhandschuhe trug, was den
dramatischen Effekt möglicherweise etwas minderte. Als ich beim
letzten Gummmifinger angelangt war, sagte ich: »Und schließlich,
Pandora, hast du versprochen, mich zu heiraten, sobald wir 16 sind
und uns die Zugfahrt nach Gretna Green leisten können.« Ich zog
meine Brieftasche hervor und entnahm ihr den schriftlichen Beweis:
ein Briefchen, das sie während einer Doppelstunde Erdkunde vor mehr
als 20 Jahren gekritzelt hatte. Der Anblick ihrer kindlichen,
verschnörkelten Handschrift trieb mir beinahe die Tränen in die
Augen.
Pandora überflog den Zettel und drehte ihn dann um.
Auf der Rückseite befand sich ein Diagramm, das den Niedergang des
Produktionsstandorts Großbritannien unter Thatcher zeigte.
»Interessant«, murmelte sie und fragte, ob sie die Notiz behalten
dürfe, da sie ihr so viel bedeute. Ich erwiderte: »Ganz sicher
nicht, ich trage diesen Liebesbrief seit zwei Jahrzehnten in meiner
Brieftasche, nah an meinem Herzen. Er erinnert mich an die Zeit,
als wir 15 und wahnsinnig verliebt waren.«
Wir wurden von einer Frau aus Pandoras
Wahlhelferteam unterbrochen, die dringend einer Haarentfernung an
Oberlippe und Kinn bedurft hätte. Sie klopfte an die Tür und sagte:
»Der Übertragungswagen von Newsnight hat gerade dein Auto
gerammt, Pandora. Jeremy Vine möchte die Anschrift deiner
Versicherung.«
Mitternacht
Pandora wurde soeben von einem ungewöhnlich
ehrerbietigen Jeremy Vine für Newsnight interviewt. Als
Bildhintergrund diente der vergrößerte Brief. (Mit der
Diagrammseite.)
Freitag, 8. Juni
Arthur Askey Way
Ich wachte um 9:30 Uhr auf dem Sofa auf. Im
Fernsehen war Ffion Hagues trauriges, aber tapferes Gesicht zu
sehen. Glenn saß auf dem Fußboden und verschüttete Cornflakes auf
den neuen Ikea-Teppich. Mit vollem Mund sagte er: »Der Tory hat
sich aus dem Staub gemacht, Dad.« Der Geruch von verbranntem Toast
kam aus der Küche geweht, und William trat mit einem Teller voller
gebutterter Briketts herein, von denen die Hälfte auf dem Teppich
landete. Ich war zu erschöpft zum Schimpfen und sank zurück in die
neuen Ikea-Gobelinkissen. Ich funktioniere nicht gut nach nur zwei
Stunden Schlaf.
Als ich das nächste Mal erwachte, saßen Tony und
Cherie in einem kleinen englischen Auto, das sie in den Palast
fuhr. Glenn und William hatten immer noch ihre Schlafanzüge
an und aßen Obstsalat mit dem Häagen-Dasz-Eis, das ausschließlich
für Sonntagnachmittag reserviert ist. Ich krächzte Glenn an: »Ist
Pandora drin?« Ein winziger Ananaswürfel und ein Tropfen Saft
fielen von seinem Teelöffel, den er wie einen Spaten schwang.
Der Teppich glich inzwischen einer kleineren
städtischen Müllhalde, das Ethnomuster war kaum noch zu erkennen.
Glenn schluckte und rasselte – beunruhigend wie Channel-
4-Moderator Peter Snow klingend – herunter: »Ja, Dad, sie hat’s mit
23.431 Stimmen geschafft, mit einer Mehrheit von 8157 Stimmen, das
macht 52,06 %, aber sie hat ein bisschen verloren, weil es einen
Umschwung von 3.64 % zugunsten der Torys gab. Und die
Wahlbeteiligung lag bei 65,79 %, das ist deutlich höher als der
Landesdurchschnitt.«
Ich war beeindruckt, wie gut der Junge mit
Statistiken umgehen konnte. Vielleicht lenke ich ihn in Richtung
Mathematikstudium. William brachte mir eine Tasse lauwarmen Tee und
stellte ihn auf den Teppich. Dreißig Sekunden später war die Tasse
umgekippt, nachdem Glenn einen Kickbox-Tritt demonstrierte
hatte.
Mittag
Ich wies die Jungs an, sich für die Schule
anzuziehen. Als ich das nächste Mal aufwachte, war es vier Uhr und
der Schultag beendet. Glenn sagte: »Mein Klassenlehrer hat
angerufen, Dad, und wollte wissen, warum ich nicht in der Schule
bin. Ich hab ihm gesagt, ich musste zu Hause bleiben und mich um
dich kümmern, weil du nicht von der Couch aufstehen
wolltest.«
»Hättest du dir nicht eine Magenverstimmung oder so
was ausdenken können?«, entgegnete ich unwirsch.
»Ich hab doch nur die Wahrheit gesagt, Dad. War das
falsch?«
Da ich während des Wahlkampfs über die
Unehrlichkeit von Politikern gepoltert hatte, wusste ich nicht, was
ich dem Jungen antworten sollte, also täuschte ich Schlaf
vor.
Donnerstag, 14. Juni
Glenn fragte mich heute, wie ich meinen
Lebensunterhalt verdiene. Ich sagte ihm, ich sei Schriftsteller.
»Aber ich seh dich nie was schreiben«, erwiderte er anklagend. Ich
erklärte ihm, ich sei ein unveröffentlichter Schriftsteller und
dass mir aufgrund einer Verschwörung im Verlagswesen keine
Aufmerksamkeit geschenkt werde. Er nahm das Manuskript meines
neuesten Romans Krog von Gork mit ins Bett, um es zu lesen.
Ich freue mich ungemein, dass er ein so reges Interesse an meinem
literarischen Leben zeigt.
Pamela Pigg hat meinen Ratschlag angenommen und
trifft sich jetzt mit Alan Clarke, dem Freizeit-Folksänger. Sie
rief mich an, um mir mitzuteilen, dass ihre erste Verabredung
»großartig« verlaufen sei. Er lud sie ins Tandoori-Restaurant The
Friends ein. Am Nachbartisch saß Pandora mit einigen mondänen
Großstädtern, die die Auffassung vertraten, Ann Widdecombe sei das
Ergebnis eines Experiments im Chemiewaffenlabor von Porton Down.
Angeblich sei sie entkommen, bevor die Testreihe abgeschlossen
werden konnte. Das erklärt einiges.
Freitag, 15. Juni
Ich fragte Glenn, wie ihm Krog von Gork
gefiele. Er wich meinem Blick aus und murmelte: »Ich bin erst auf
der dritten Seite.« Auf die Frage, was er denn von diesen drei
Seiten halte, strich sich Glenn über seinen neuen Irokesenschnitt
und sagte: »Es passiert nichts, Dad.«
»Natürlich passiert nichts«, blaffte ich. »Ich
schreibe über einen prähistorischen Mann, der an Ennui leidet. Was
erwartest du von ihm – soll er zum Zeitvertreib seinen
Mitprimitiven SMS schicken?«
Um 11:30 Uhr kehrte Glenn mit einem Brief aus der
Schule zurück:
Sehr geehrtes/r
Elternteil/Vormund/Sorgeberechtigter,
Glenn kam heute mit einem höchst bedenklichen
Haarschnitt in die Schule. Innerhalb von Minuten war er auf dem
Pausenhof von einem großen Kreis »Bewunderer« umringt. Mehreren
Erstklässlern wurde buchstäblich schlecht vor Aufregung. Die
Schulordnung sieht unmissverständlich vor, dass »Schülerfrisuren
nicht den Launen der Mode unterworfen sein dürfen«. Glenn wird
hiermit vom Unterricht ausgeschlossen, bis seine Haare dieser
Beschreibung wieder entsprechen.
Von jetzt ab werde ich den Jungen zu Hause
unterrichten.
Samstag, 16. Juni
Sah mir mit den Jungs die traditionelle
Militärparade vor der Königin an. Ich war von Stolz erfüllt. Gibt
es noch ein weiteres Land auf der Erde, dessen Soldaten klaglos
durch wahre Sturzbäche marschieren würden?
Zu meinem Ärger hörte ich Glenn zu William sagen:
»Die Monarchie ist am Ende, Willy. Die sind noch nicht mal schlau
genug, nach drinnen zu gehen, wenn es regnet.«
Sonntag, 24. Juni
Heute Morgen hatte ich einen kleinen
Nervenzusammenbruch vor dem Essigregal im Supermarkt. Ich war
absolut außerstande, mich zwischen den 64 Sorten Essig im Angebot
zu entscheiden. Von Unentschlossenheit gemartert lief ich vor dem
Regal auf und ab, bis Glenn sagte: »Dad, wir sind jetzt seit
zwanzig Minuten hier. Was ist denn los?« Ich traute mich nicht zu
antworten, aus Furcht, die in meinen Augen schwimmenden Tränen
könnten dann ihren freien Lauf nehmen. Schließlich griff Glenn aufs
Geratewohl nach irgendeiner Flasche und warf sie in den Wagen. Ich
bemerkte, dass es sich um Zitronengrasaroma handelte und versuchte,
den Essig zurückzustellen, doch Glenn hinderte mich daran, und so
gingen wir weiter zum Ölregal, wo ich mich erneut mit einer
entsetzlichen Auswahl konfrontiert sah. Die Flaschen erstreckten
sich bis weit in die Ferne: Traubenkernöl, Natives Olivenöl extra,
Sesamöl, Sonnenblumenöl, Frittieröl, Basilikumöl, Bratöl … Während
ich noch zwischen den verschiedenen Sorten schwankte, ertönte eine
Ansage über den Lautsprecher – eine Frau, die
klang, als steckte ihr eine kleine Grapefruit im Mund, säuselte:
»Mr Mole, bitte kommen Sie umgehend zurück zum Kinderparadies, Mr
Mole, bitte.«
Ich ließ Glenn beim Einkaufswagen stehen und rannte
los, Horrorfantasien von Kinderkrippenunfällen schwirrten mir durch
den Kopf: War William an einem der Myriaden von bunten Bällen
erstickt, mit denen die Hüpfkiste gefüllt ist? Steckte ihm ein
Pinsel im Auge? Lag er bewusstlos am Fuße des Spielturms? Wenn ja,
dann würde ich durch alle Instanzen gehen und den Supermarkt
zwingen, Rekordentschädigungssummen zu bezahlen. Nichts unter 30
Millionen Pfund könnte mich für eine Verletzung entschädigen, die
meinem innig geliebten Kind zugefügt wurde.
Die Kinderbetreuerin, deren Namensschild sie als
Mary-Lou Hattersley auswies, wartete mit einem tränenüberströmten
William auf mich. Ms Hattersley (6 von 10 Punkten: große Brüste,
reine Haut, blonde Haare, die allerdings einen guten Schnitt
gebrauchen könnten, Beine aufgrund der Hose versteckt) sagte: »Er
will zu seiner Mami.« Das erstaunte mich. William erwähnt seine
Mutter sonst nie. Ich erklärte, dass meine Exfrau in Nigeria lebe.
Sie warf ihr Haar zurück und murmelte: »Sind Sie wieder
verheiratet, Mr Mole?«
Ich versicherte ihr, alleinstehend zu sein, und
fragte sie dann beiläufig, ob sie mit Lord Hattersley, dem
hitzköpfigen Labour-Revolutionär, verwandt sei. »Ganz
unbestreitbar«, gab sie zurück.
Ich bin verliebt. Glenns Einkauf belief sich auf
185,99 £.
Samstag, 30. Juni
Ich bin immer noch in die Betreuerin des
Kinderparadieses im Safeway-Supermarkt, Mary-Lou Hattersley,
verliebt. Sie verfügt über den umfassendsten Wortschatz, den ich je
bei einer Frau erlebt habe – und das schließt Pandora mit ein, die
eine Zeit lang in Oxford Semantik gelehrt hat.
Mary-Lou – oder auch ML, wie sie gern genannt wird
– behauptet, dass sie und ihr sehr entfernter Verwandter Roy
Hattersley dieselben Gene von Isaiah Hattersley geerbt hätten,
einem »Abtrittreinigungs-Autodidakten«. Er sei ein Verfechter des
»Laizitätsprinzips« gewesen, erzählte sie mir, während sie Williams
Namensschild an seinem neuen Shrek-T-Shirt befestigte.
Statt eines wöchentlichen Großeinkaufs zieht es
mich nun täglich in den Supermarkt. William beklagt sich, dass ihm
das Kinderparadies zum Hals heraushängt, aber ich habe ihn mit dem
Versprechen auf einen Ausflug zu McDonald’s bestochen. Ja, so tief
bin ich gesunken! Aber ich bin ein Gefangener der Liebe. Ich muss
ihr schmutzigblondes Haar sehen. Diese feurigen, intelligenten
Augen. Gestern trug sie einen Rock, so dass ich ihre Beine
begutachten konnte. Sie sind nicht übel, wenn ich ihr auch, sobald
wir unsere Bekanntschaft vertieft haben, raten werde, kurze Hosen
und Miniröcke zu meiden.
Montag, 2. Juli
Glenn fragte, ob er heute Schule schwänzen könne,
um sich Tim Henmans Niederlage in Wimbledon anzusehen. Aus
irgendeinem Grund hasst er ihn; er kann nicht erklären,
warum.
Unter gar keinen Umständen darf ich ML sagen, was
ich für sie empfinde. Diesen Fehler habe ich schon mal gemacht.
Meiner Erfahrung nach mögen Frauen keine Liebesbeteuerungen von
Fremden. Dann rufen sie nicht zurück, ignorieren Nachrichten auf
dem AB und veranlassen manchmal ihre Brüder dazu, einen von den
Stufen vor der Haustür zu werfen.
Mein Vater wurde mit einem einwandfreien
Quarantäneattest aus dem Krankenhaus entlassen. Allerdings wurde
ihm von seinen Ärzten eingeschärft, dass er sich zu Hause ausruhen
und es ein paar Monate lang ruhig angehen lassen muss.
Um Mitternacht rief mich meine Mutter aus Mallorca
an, um mir mitzuteilen, dass mein Vater die Nacht auf der
Polizeiwache von Palma verbringe. Er hatte in der Taxischlange am
Flughafen einen Streit gehabt. Ihrem Bericht zufolge war er vor
Durst und Hitze beinahe wahnsinnig gewesen, und als eine
französische Familie sich vordrängeln wollte, brüllte er: »Hey,
Froschfresser! Verzieh dich!« Der Franzose sagte etwas von Maul-
und Klauenseuche, woraufhin mein Vater völlig durchdrehte und das
Gepäck des Mannes in den Rinnstein trat.
Für mich war es ein totaler Schock, dass meine
Mutter und mein Vater zusammen in Urlaub gefahren sind. Haben ihre
jeweiligen Ehegatten ihre Erlaubnis erteilt?
Dienstag, 3. Juli
Glenn wirkt in letzter Zeit sehr bedrückt, er
spricht nicht mehr und verweigert seine übliche Nahrung. Ich habe
versucht, mit ihm zu reden, aber er scheuchte mich weg wie ein
lästiges Insekt.
Ich zog das Handbuch Eltern sind anders,
Teenager auch zu Rate. Auf Seite 31 heißt es da: »Halten Sie
die Kommunikationskanäle geöffnet, aber lassen Sie Ihren
Halbwüchsigen nicht die häusliche Tagesordnung bestimmen. Wenn Ihre
Fragen ignoriert werden, so sagen Sie lächelnd: ›Ich höre dein
Schweigen. Solltest du den Wunsch verspüren, mich an deinen
Gedanken teilhaben zu lassen, dann bin ich immer für dich da, rund
um die Uhr.‹«
William hat mit seiner kleinen Faust auf den Tisch
gehauen und sich geweigert, zweimal täglich, um 8 und um 16 Uhr, im
Kinderparadies von Safeways abgegeben zu werden. Das bedeutet, dass
ich keine vernünftige Ausrede mehr habe, Mary-Lou Hattersley zu
sehen, die göttliche Betreuerin dieser Einrichtung. Ich werde mir
ein Kleinkind ausleihen müssen. Ich muss sie unbedingt sehen.
Prince Philip und Prince Charles waren in den
Nachrichten. Sie stapften in kniehohen Stiefeln und mit Zweispitz,
Orden und Epauletten durch die Gegend; sie sahen aus wie Komparsen
aus dem Film Zulu. Wissen sie denn nicht, dass das Spiel
vorbei ist? Das ist doch lächerlich im Zeitalter interaktiven
Fernsehens. Vielleicht sollte ich mal an den Kronrat schreiben und
vorschlagen, dass die königliche Familie sich künftig aus dem
öffentlichen Leben zurückzieht und die Begehrlichkeiten ihrer
monarchistischen Anhänger
durch ein Auftreten in einer Art Big Brother-Fernsehsendung
befriedigt. Dann könnten sie sich verkleiden und nach Lust und
Laune in Kostümen herumstolzieren. In jedem Fall würde das ihre
Transportkosten reduzieren, die angeblich beträchtlich sind, wie
man hört.
Mittwoch, 4. Juli
Amerikanischer Unabhängigkeitstag
Glenn wird in der Schule gemobbt. Er ist der
einzige Junge in seiner Klasse, der kein eigenes Handy besitzt. Er
ist ein Paria.
Lief im Supermarkt Pamela Pigg über den Weg. Sie
ist immer noch mit Alan Clarke zusammen. Er trug einen
handgestrickten Zopfpullover. Es ist wirklich frisch neben den
Tiefkühltruhen, aber ich fühlte mich in meinen Hemdsärmeln ganz
wohl, also hatte er vielleicht nach dem Einkauf einen »Gig«.
Vermutlich muss es irgendwo in diesem Land noch ein paar
Folkkneipen geben.
Mr Blair soll angeblich von seinen eigenen
Hinterbänklern während der Fragestunde an den Premier »zerfleischt«
worden sein. Das ist eine grobe Verzerrung der Tatsachen. Ihm
wurden lediglich von drei zahnlosen alten Kanaillen einige mokante
Fragen gestellt.
Montag, 16. Juli
Arthur Askey Way
Heute Morgen lieh ich mir bei den Ludlows nebenan
ein Kleinkind und brachte es in das Kinderparadies von Safeways, wo
es von der erotischsten, intelligentesten Frau des gesamten
Planeten Erde, Mary-Lou Hattersley, betreut wurde. Das ist meine
einzige Möglichkeit, sie zu sehen, da William, die undankbare
kleine Ratte, die Kooperation verweigert.
Das geliehene Kleinkind war sehr still auf dem
Autorücksitz. Was mich nicht überraschte – die Ludlows halten
nichts davon, mit ihren Kindern zu sprechen. Wie Mrs Ludlow einmal
zu mir sagte: »Das ermuntert die kleinen Racker nur,
draufloszuplappern und blöde Fragen zu stellen.« Insgeheim habe ich
Verständnis für diese Erziehungsmethode. Ich fühlte mich oft
gepeinigt von Williams ständiger Forderung, das »Wie«, »Wann« und
»Warum« zu erfahren. Erst gestern, als wir die Krawalle auf Sky
News verfolgten, fragte er mich, warum es »immer Männer und
Jungen sind, die kämpfen, und nie die Frauen und Mädchen«. Ich
erklärte ihm, dass Frauen subtilere Methoden der Kriegsführung
hätten, aber das löste nur eine weitere Fragenlawine aus, der ich
nur Einhalt gebieten konnte, indem ich so tat, als wäre ich auf der
Waschmaschine eingeschlafen.
Auf der Fahrt zu Safeway fiel mir ein, dass ich
keine Ahnung hatte, wie das Ludlow-Kleinkind hieß oder welches
Geschlecht es hatte. Es trug Ohrringe und hatte einen unschönen,
missmutigen Gesichtsausdruck, also meldete ich es auf gut Glück als
Emily Ludlow, zweieinhalb Jahre an. Nachdem »Emily« ihrer/seiner
Schuhe entledigt worden
und von einer Kollegin in den Spielbereich gebracht wurde,
verwickelte ich Mary-Lou in ein Gespräch. Eingedenk ihres
Interesses an Politik fragte ich sie nach ihrer Meinung zum Kampf
um die Parteiführung der Torys. »Da fühle ich mich intellektuell
von der Frage, wer als Nächster bei Big Brother das Haus
verlassen muss, mehr gefordert«, spottete sie. Wir waren uns einig,
dass wir Pauls und Helens knospende Liebe schrecklich finden, aber
sie geradezu zwanghaft weiterverfolgen müssen. Es ist, als
beobachtete man zwei sehr dumme weiße Rhinozerosse bei ihrem
Paarungsversuch – man ist von dem Anblick abgestoßen, gleichzeitig
aber gerührt, dass zwei so seltene Geschöpfe einander gefunden
haben.
Ich riss mich von Mary-Lou los, um eine Dose
Heinz-Bio-Bohnen mit Würstchen zu erwerben. Als ich zurückkam,
erwartete mich Mary-Lou mit strenger Miene, und »Emily« trug eine
der winzigen Jungenunterhosen mit Eingriff, die für Notfälle von
den Betreuerinnen bereitgehalten werden. Ich habe Hausverbot auf
Lebenszeit im Kinderparadies.
Donnerstag, 19. Juli
Arthur Askey Way
Heute war ich auf dem Sportfest in Williams
Schule. Die Schulwiese war im Februar an Nolite Warehouse Ltd.
verkauft worden, deshalb fanden die Wettkämpfe auf einem extra
abgetrennten Teil des neuen Parkplatzes statt. Ich wollte gerade in
meine Mülltüte für das Sackhüpfen der Alleinerziehenden steigen,
als der Rektor über Lautsprecher verkündete, dass die Jury zu einem
Urteil gekommen sei
und Jeffrey Archer für vier Jahre ins Gefängnis müsse. Spontaner
Jubel brach in der versammelten Menge aus, die Bauarbeiter auf dem
Gerüst des fensterlosen Lagerhauses von Nolite Warehouse Ltd.
stimmten »You’ll Never Walk Alone« an, vorbeifahrende Autos hupten
und ein Leichtflugzeug über unseren Köpfen flog einen Achter in den
Sommerhimmel. Der Rektor verkündete eine fünfminütige Pause für die
Teilnehmer der Wettbewerbe, damit sie sich wieder fassen
konnten.
Es ist Archer gelungen, das Land in Freude zu
vereinen. Nach Henmans Versagen, der Niederlage der Lions im Rugby
und Englands katastrophalen Kricketleistungen brauchen wir einen
glorreichen Sieg.
Ich kam als Letzter ins Ziel. William wollte mir
nicht in die Augen sehen, als ich endlich die Linie überhüpfte.
Gewonnen hat Trixie Woodhead, die eine Invaliditätsrente bezieht,
wie ich aus sicherer Quelle weiß.
Samstag, 21. Juli
Meine Eltern waren zu Besuch, um mir ein »Update«
hinsichtlich des – wie meine Mutter es nannte – »Stands der Dinge,
was unsere Ehe betrifft« zu geben. Die beiden hielten sich quer
über den Küchentisch an den Händen, und mein Vater sagte verlegen:
»Wir können nicht miteinander leben, aber ohne einander auch nicht,
Sohn.«
Mit der brutalen Freimütigkeit eines Kindes
erklärte William, der zugehört hatte: »Dann müsst ihr wohl beide
sterben.«
Ich riet ihnen, es mal mit Selbstdisziplin zu
versuchen. (Sie sind immerhin beide noch mit anderen Leuten
verheiratet,
nämlich Pandoras Eltern.) Mein Vater jammerte: »Wir waren beide in
den Sechzigern jung, wir haben keine Selbstdisziplin.« Als
sie gingen, sagte ich meiner Mutter, dass man Jeans nie mit Falte
tragen sollte, und auch nicht mit Runzeln.
Montag, 23. Juli
13:00 Uhr
Pandora hat mich zu einer
»Shepherd’s-Pie-und-Champagner-Party« heute Abend eingeladen. Was
gefeiert wird, wurde noch nicht verraten.
Mitternacht
Niemand hatte mir gesagt, dass Pandoras Gäste sich
als Mary und Jeffrey Archer verkleiden sollten. Ich persönlich fand
den Anblick so vieler Mary-Archer-Doppelgängerinnen leicht
verstörend. Ich mag es, wenn Frauen etwas lebhaft sind.
Freitag, 27. Juli
Ich habe William erlaubt, länger aufzubleiben, um
sich den Höhepunkt von Big Brother anzusehen. Ich finde es
wichtig, dass kleine Kinder an Ereignissen von nationaler Bedeutung
teilnehmen dürfen. Meine Eltern kamen ebenfalls vorbei und brachten
zwei große Tüten Chips mit Currygeschmack und eine Flasche
Himbeer-Stolichnaya mit. Nachdem Dean das Haus verlassen musste und
Helen und Brian allein zurückblieben, wurde meine Mutter zunehmend
hysterisch. Sie wollte unbedingt, dass Helen gewinnt, und meinte:
»Warum sollen die intelligenten Leute immer die ganzen tollen
Preise kriegen? Es wird Zeit, dass zur Abwechslung mal ein dummer
Mensch was gewinnt.«
Worauf mein Vater entgegnete: »Ich hab ja nichts
dagegen, dass sie blöd ist, mich stört nur ihre große Klappe.« Ich
täuschte Gleichgültigkeit vor, drückte aber heimlich Brian die
Daumen. Als ich mich in die Küche stahl und per Handy meine Stimme
für Brian abgab, erwischte Glenn mich dabei. Ich musste so tun, als
riefe ich den Pizzaflitzer an, weswegen es mich 32,59 £ gekostet
hat, Brian zu wählen.
Helen quiekte wie ein gefoltertes Ferkel, als sie
von Paul Clarke die Gucci-Handtasche und die Schuhe geschenkt
bekam, was William zu der Frage veranlasste: »Werden Helen und Paul
Clarke heute Nacht Geschlechtsverkehr haben, Dad?«
Mein Vater rief: »Geh und wasch dir den Mund mit
Seife aus, du Bengel, mit deiner schmutzigen Fantasie.«
Aber, wie Glenn sagte: »Er spricht doch nur aus,
was alle denken, Opa.«
Ich lag lange wach und grübelte wieder einmal über
das wahre Wesen meiner Sexualität nach. Habe ich aus schwuler
Solidarität für Brian gestimmt, oder weil er ein halbgebildeter
irischer Exzentriker ist? Ich trug die Beweise zusammen: a) ich mag
Kylie Minogue; b) ich schlafe mit einem Lavendelkissen; c) ich bin
miserabel beim Sex mit Frauen; d) ich bin sehr pingelig, was meine
Bettwäsche und Handtücher betrifft.
Samstag, 28. Juli
Hitzewelle. Ich ging heute Morgen in Pandoras
Sprechstunde. Es war die einzige Möglichkeit, sie zu sehen, da sie
weder meine E-Mails beantwortet noch auf meine häufigen Anrufe oder
SMS reagiert. Für ein Mitglied des Parlaments war sie höchst
unpassend gekleidet. Ich weiß ja, dass es heiß ist, aber in ihrem
bauchfreien Oberteil und den Mikroshorts mangelte es ihr an
Seriosität. Ich hatte sie zum Euro befragen wollen, konnte mich
aber überhaupt nicht konzentrieren, weil zwischen ihren gebräunten,
spitzen Brüsten Schweißperlen herabrannen. Also unterhielten wir
uns letztendlich über Big Brother. Sie ist eng mit Michael
Jackson von Channel 4 befreundet und schlug mir vor, mich als
BB-Kandidat für 2002 zu bewerben.
Samstag, 4. August
Arthur Askey Way
William, der glühende Monarchist, bastelte heute
Morgen eine Geburtstagskarte für die Queen Mum aus Papierschnipseln
und Pappkartonfetzen aus dem Altpapier. Ihren Hut gestaltete er aus
Milchflaschenverschlüssen – sie sah aus, als trüge sie einen
Darth-Vader-Helm.
Ich für meinen Teil glaube nicht, dass die alte
Frau am Donnerstag eine Bluttransfusion bekommen hat. Ich bin
vielmehr davon überzeugt, dass ein geheimes Serum sie auf den
Beinen hält, das uns gewöhnlichen Menschen (wie auch Princess
Margaret) noch nicht zur Verfügung steht. Irgendwo habe ich
gelesen, dass der Axolotl seine Organe und Körperteile immer wieder
regenerieren kann, wodurch er ewig
lebt. Bilde ich mir das nur ein oder sieht die Königinmutter in
letzter Zeit ein klitzekleines bisschen echsenartig aus? Wird sie
die erste zweihundertjährige Frau werden?
Sonntag, 5. August
Ich bin ja kein Finanzexperte, aber ich fühle in
den Knochen, dass wir noch vor Weihnachten unter der Knute der
Rezession stehen werden. Daher beschloss ich, auf die Zinsen meines
monatlich kündbaren Sparkontos bei der Alliance & Leicester zu
verzichten, und hob die gesamte Summe auf einmal ab, 619,07 £. Ich
fuhr mit Glenn und William in den Supermarkt und kaufte einen
tiefgefrorenen Truthahn, einen Christmas Pudding, drei Päckchen Mr
Kipling’s Mince Pies, eine Tüte Tiefkühl-Rosenkohl und eine Packung
Salbei-Zwiebel-Füllung für den Truthahn. Außerdem nutzte ich noch
die diversen 2-für-1-Sonderangebote im Laden, musste aber zu meiner
Empörung feststellen, dass noch keine Weihnachts-Knallbonbons
angeboten wurden.
Als der Weihnachtseinkauf erledigt war, spendierte
ich den Jungs ein Mittagessen in der Supermarkt-Cafeteria. Pamela
Pigg und Alan Clarke waren auch dort und knutschten über ihrem
Brunch. Pamela erzählte mir, dass sie gestern Abend Nigel mit
seinem neuen Partner Peter Painter im Sea Shanty Folk Club
getroffen habe.
Alan strich sich über den Bart und schnarrte: »Ja,
wir liegen total auf einer Wellenlänge, sie kommen morgen zu
unserem Fondue. Warum kommst du nicht auch?«
»Alan wird nach dem Essen für uns singen«,
schwärmte Pamela. »Er hat neulich ein paar alte Heuerntelieder von
Isaiah Blackhead aus Stowmarket ausgegraben.«
»Ich hab beim Fernstudium einen Kurs über ›Musik
zwischen Genie und Wahnsinn‹ belegt«, berichtete er und fing dann
zu meinem Entsetzen an zu singen: »Leg dich ins Heu, mein anmutig
Mägdelein, und nimm meine Sichel in dein Händchen klein.« Glenn
wurde dunkelrot und floh. Ich folgte mit William.
Dienstag, 7. August
Arthur Askey Way
Das Fondue fand in Alan Clarkes strohgedecktem
Cottage in Mangold Parva statt. Einheimischen Gerüchten zufolge ist
Mangold Parva eine Brutstätte für öffentlichen Sex mit Zuschauern
auf dem Parkplatz hinter dem kleinen Supermarkt. Außerdem tuschelt
man, dass es das regionale Hauptquartier schwarzmagischer Kreise
ist. 1974 verschwanden mehrere Esel auf mysteriöse Weise über
Nacht, man glaubt, sie wurden rituell geopfert. Alan Clarke bildet
sich ein, er wäre ein Lokalhistoriker; während wir unsere
Fonduegabeln über dem blubbernden Käsetopf drehten, ergötzte er
seine Gäste mit Anekdoten über sein Leben im Dorf. Anwesend waren
Pamela Pigg, ich, Glenn, Nigel und Peter Painter.
Ich hatte Glenn mitgenommen, weil es Zeit wird,
dass der Junge lernt, wie man sich in kultivierter Gesellschaft
benimmt. Bevor wir aus dem Auto ausstiegen, schärfte ich ihm ein,
beim Trinken nicht den kleinen Finger abzuspreizen und den anderen
Gästen nicht zu erzählen, dass er es sich zum Ziel gesetzt hat,
heterosexuell zu sein, wenn er groß ist.
Zu Bob Dylans Mundharmonika im Hintergrund kauten
wir uns durch mehrere flüssige Käsesorten. Unvorsichtigerweise
erwähnte ich, wie traurig ich über den Tod von Larry Adler gewesen
sei, und fügte hinzu, dass Adler meiner Ansicht nach der
großartigste Mundharmonikaspieler aller Zeiten gewesen sei. Peter
Painter bemerkte affektiert: »Ich würde mir nicht die Pulsadern
aufschlitzen, wenn ich dieses Instrument nie wieder hören würde.«
Wütend rammte Alan seine Fonduegabel in den unbehandelten
Holztisch, stürmte zur Stereoanlage und entfernte die LP vom
Plattenteller.
Es entstand eine peinliche Stille, die Glenn
schließlich durchbrach, indem er sagte: »Wenn ich groß bin, will
ich heterosexuell sein.«
Ich war froh, aus dem Cottage zu entkommen und
wieder ins 2. Jahrhundert einzutauchen – ich persönlich glaube,
dass Alan Clarke ganz genau weiß, was mit diesen Eseln passiert
ist.
Freitag, 10. August
Eine Bombe ist geplatzt! Ich blätterte heute Abend
versonnen durch den Ashby Bugle, als mir die Schlagzeile
»Aller guten Dinge sind drei?« ins Auge fiel. Rechts davon war ein
Foto von der Hochzeit meiner Eltern Ende der Sechziger abgedruckt.
Darunter eines von ihrer Trauung Ende der Achtziger. Zu meiner
Bestürzung las ich, dass sie vorhatten, erneut zu heiraten, zum
dritten Mal. Ich rief sofort meine Mutter an. Sie sagte: »Wir
wollten es dir ja erzählen. Irgendein Arsch vom Ashby Bugle
hat was durchsickern lassen.«
Samstag, 18. August
Heute war ich Gast bei der dritten Hochzeit meiner
Eltern. Als meine Mutter meinen Vater zum ersten Mal heiratete, war
ich ein vier Monate alter Fötus. Ich selbst weiß natürlich nichts
mehr von dem Ereignis – obwohl meine liebe, tote Großmutter May
Mole mir erzählte, dass meine Mutter sich auf dem Empfang
blamierte, indem sie aus Versehen ihren Hochzeitsschleier in Brand
steckte, als sie versuchte, sich eine filterlose Zigarette mit
einem kaputten Überall-Zündholz anzuzünden.
Mein Vater löschte die Flammen mit einer Schüssel
Pfirsiche in Saft, die er vom Buffet riss. In dem anschließenden
Chaos wurden die 75 handgefüllten Fleischpastetchen meiner
Großmutter (eins pro Gast) geplündert. Obwohl ich damals noch im
Bauch meiner Mutter schwamm, bin ich überzeugt, dass dieser
unerfreuliche Vorfall mich zum Nichtraucher mit einer Abneigung
gegen Dosenpfirsiche machte.
Die heutige Zeremonie wurde im Rathaus, der
administrativen Schaltzentrale von Leicestershire, abgehalten. Es
war etwas verunsichernd, von den altersschlaffen Gesichtern meiner
liebestollen Eltern aufzublicken, die gerade ihr Ehegelübde
ablegten, und einen Verwaltungsapparatschik zu sehen, der im Büro
nebenan offenbar gerade Strafmandate kopierte. Sollte ich jemals
wieder heiraten, werde ich dafür sorgen, dass der Rahmen angemessen
romantisch ist. Der Stausee Rutland Water soll bei Sonnenuntergang
einen atemberaubenden Anblick bieten, wobei die Mücken im Sommer
ein Problem darstellen könnten.
Der Empfang fand im Mehrzweckraum des
Bürgerzentrums einer angrenzenden Sozialsiedlung statt. Als wir
Gäste eine Schlange bildeten, um Braut und Bräutigam zu
beglückwünschen,
mussten wir uns neben Sozialhilfeempfängern, jugendlichen
Straftätern und einer Senioren-Tischtennisgruppe durchdrängeln. Ich
bin der liberalste und demokratischste Mensch der Welt, aber ein
Hotel wäre doch sicherlich passender gewesen.
Für die musikalische Untermalung sorgte Alan Clarke
mit seiner Folkband The Shanty Men, die aufeinander abgestimmte
Strickpullover trugen und von Heringen sangen. Ich war froh, als
einer von ihnen, Abbo Palmer, mitten im Lied abbrach und
verkündete, dass Clarke an diesem Tag fünfzig werde. Clarke blieb
vor Schreck der Mund offen stehen, und Pamela Pigg – seine
derzeitige Liebschaft – raunte mir zu: »Dieser miese Lügner, mir
hat er gesagt, er wäre siebenunddreißigeinhalb.«
Mein Vater stand auf und hielt eine Rede über den
»glücklichsten Tag seines Lebens« – seine Stimme war belegt vor
sentimentalen Tränen. Leider sprach er von irgendeiner
Meisterleistung, die Ian Botham vor zwanzig Jahren in einem
Kricketspiel in Headingley vollbracht hatte.
Samstag, 25. August
Ich fürchte, ich verliere den Kampf, Williams
Charakter zu meiner eigenen Zufriedenheit zu modellieren. Er
scheint nicht viel für höhere Kultur übrigzuhaben, und sein
Musikund Literaturgeschmack ist entsetzlich. Er ist zwar noch ein
Kind, aber in seinem Alter gab Mozart schon ausverkaufte Konzerte
in ganz Europa. Diese Woche spielte ich ihm den gesamten
Ring-Zyklus von Wagner auf meiner Stereoanlage vor, in der
Hoffnung, dass die stetige Beschallung mit dem Gekreische und
Geheul seinen Widerstand
brechen würde. Vergeblich. Sobald der letzte Ton verklungen war,
rannte William zum CD-Spieler und legte »Mambo Number 5« ein,
gesungen [sic] von Bob dem Baumeister.
Seit er im Haus meiner Mutter erstmals mit der WWF
(World Wrestling Federation) Bekanntschaft machte, ist er süchtig –
und das Wort benutze ich nicht leichtfertig. Er lebt nur noch für
Freitag, wenn Sky Sports One zwei Stunden lang diese sogenannte
»Sportunterhaltung« ausstrahlt. Seine Helden sind The Rock und The
Undertaker, und seine Antihelden sind Stone Cold Steve Austin sowie
DDP (Diamond Dallas Page). Alle vorgenannten Männer sind abstoßend
hässliche, viehische Muskelpakete, die nicht den Eindruck machen,
jemals Weltliteratur gelesen zu haben, und wahrscheinlich glauben,
Nabokov wäre ein illegales Steroid.
Gestern Abend fand ich William fünfzehn Zentimeter
vor dem Fernseher sitzend und die Wiederholung eines
Abschlussmanövers von The Rock verfolgend. Dessen Opfer war Booker
T. The Rock rammte Booker Ts Kopf durch einen Tisch. Als ich einen
Einwand vorbrachte, sagte William: »Pst, Dad. The Rock macht gerade
den Pinfall. Wenn das klappt, spaziert er mit dem
Meisterschaftsgürtel der WWF aus dem Astrodome.«
Ich wies William darauf hin, dass Wrestling nichts
anderes als eine Sublimierung suberotischer Aktivitäten sei. Diese
Kolosse weigern sich, die Wahrheit zu akzeptierendass sie nämlich
mehr mit Oscar Wilde gemeinsam haben, als sie jemals wissen werden.
William brüllte: »Mann, Dad, jetzt sei schon still!« Ich nahm ihm
die Fernbedienung weg und zappte durch die Kanäle, um einen Film
mit David Jason zu finden. William schrie, dann hielt er den Atem
an, bis seine Lippen blau wurden. Er holte erst wieder Luft, als
ich zurück auf Sky Sports One schaltete.
Sonntag, 26. August
Pandora behauptet, News of The World sei an
sie herangetreten mit dem Auftrag, Jeffrey Archer im Gefängnis zu
besuchen und sich – gleich mit welchen Mitteln – seine DNS
anzueignen. 10.000 £ wurden erwähnt. Nach reiflicher Überlegung
lehnte sie ab.
Samstag, 1. September
Es steht nicht in meiner Macht, meine Söhne
glücklich oder unglücklich zu machen. Ihre Stimmung unterliegt
äußeren Kräften. Nämlich dem Sport. Als Glenn sich mit einer Tüte
Nachochips und Käsedip vor dem Fernseher niederließ, um sich das
Finale Leicestershire gegen Somerset im Kricketpokal Cheltenham and
Gloucester Trophy anzusehen, sagte er: »Jetzt fang bloß nicht an
hier staubzusaugen, Dad, ich muss mich auf das Spiel
konzentrieren.«
Ich bat ihn, den Ton am Fernseher leiser zu stellen
und sich dafür den Kommentar auf Radio 4 anzuhören. »Wenigstens
würdest du auf dem Weg ein bisschen gebildete Konversation zu hören
bekommen«, meinte ich. Dann holte ich den tragbaren Apparat
herüber. Die berühmten Kricketspezialisten Henry Blofeld und
Jonathan Agnew unterhielten sich gerade über einen
Schokoladenkuchen, den eine Hörerin eingesandt hatte. Dann meinte
Blofeld: »Aggers, mein Gutester, du siehst heute unheimlich smart
aus.«
Glenn sah William an und verdrehte die Augen,
woraufhin William sich die Fernbedienung schnappte und den
Fernseher lauter stellte. Ich nahm das Radio mit in die Küche und
fummelte am Regler, bis ich Classic FM gefunden hatte. Zum Klang
von Gershwins Rhapsody in Blue machte ich den Abwasch. Das
Stück erinnert mich immer an den Ort Skegness. Es lief, als mein
Vater meiner Mutter gestand, dass er mit einer anderen Frau ein
Kind gezeugt hatte.
Beim Abtrocknen überlegte ich, wo mein Halbbruder
Brett wohl war und was er machte. Er musste inzwischen etwa
neunzehn sein. Während der Werbepause kam William aus dem
Wohnzimmer, um sich etwas zu essen zu holen und aufs Klo zu gehen.
Aber Glenn blieb vor dem Fernseher kleben, stöhnend und
gelegentlich grimmig auf den Bildschirm einbrüllend. Ich hörte
seinen Verzweiflungsschrei, als Leicestershire verlor. Als ich nach
ihm und William sehen ging, weinten beide.
Später kamen meine Eltern vorbei, um sich das Spiel
England gegen Deutschland anzusehen. Als Deutschland nach sechs
Minuten ein Tor schoss, rief mein Vater: »Daran ist nur Posh Spice
schuld. Ihretwegen überstrapaziert David seine Leistengegend. Man
sollte sie vor einem großen Match von ihm fernhalten!«
Zur Halbzeit fragte ich meinen Vater in der Küche
nach meinem Halbbruder Brett Mole. Er antwortete: »Nicht jetzt,
Adrian, England führt zwei zu eins.« Nach dem Spiel machte ich noch
einen Versuch, aber mein Vater stand völlig neben sich vor lauter
fremdenfeindlicher Freude.
Mittwoch, 5. September
Arthur Askey Way
Es überrascht mich nicht im Geringsten, von Iain
Duncan Smiths japanischen Ahnen zu erfahren. Ihm haftet etwas
Orientalisches an. Und als er von John Humphrys fürs Radio befragt
wurde, waren einige seiner Antworten etwas unergründlich.
Vielleicht sollte er sich auf sein Schwert stürzen und dem alten
Clarkie als Tory-Chef eine Chance geben. Metaphorisch gesprochen
natürlich.
In letzter Zeit lässt mich der Gedanke an meinen
Halbbruder Brett nicht mehr los. Wo ist er? Wohnt er noch bei
seiner Mutter Doreen Slater, alias Bohnenstange? Wie groß ist er?
Ich wünschte, man hätte mich Brett genannt statt Adrian. Bretts
erklimmen Berge, spielen Leadgitarre im Wembley Stadion, schleppen
schöne Frauen ab etc.
Meine frisch verheirateten Eltern machen einen
weniger verliebten Eindruck als letzte Woche. Meine Mutter hat
gestern eine neue Brille bekommen und konnte meinen Vater zum
ersten Mal seit vielen Jahren wieder scharf sehen. Sie gestand mir,
dass sie »geplättet« sei, »wie alt dein Vater aussieht. Was ist mit
seinem Gesicht passiert?« Sie meinte, er sehe aus wie eine »Art
Reptil«. Ich erklärte ihr, dass Tania Braithwaite während ihrer Ehe
mit ihm darauf bestanden habe, dass er einmal die Woche ins
Sonnenstudio gehe. Meine Mutter schnaubte verächtlich und sagte:
»Das ist nicht das Einzige, worauf sie bestanden hat. Er hat auch
ein paar Tricks im Bett gelernt, die mich nicht so
begeistern.«
Donnerstag, 6. September
Ich habe beschlossen, mich mit Brett in Verbindung
zu setzen. Also lud ich meinen Vater nachmittags zum Tee ein. Bei
Gurkensandwiches und einer Kanne Earl Grey fragte ich ihn
geradeheraus, ob er irgendwelchen Kontakt zu seinem anderen Sohn
habe. Zunächst wich er der Frage aus, indem er über die »tuntigen«
Sandwiches und den Tee meckerte, der angeblich so »schlaff wie ein
Matrosenarschloch« war. Schließlich vertraute er mir an, dass er
Doreen Slater seit Bretts Geburt jede Woche 20 £ schicke. Bretts
Stipendium für ein Anglistikstudium am Balliol College in Oxford
habe ihn gefreut, weil er dadurch wöchentlich 20 Mäuse mehr zur
Verfügung habe.
Balliol College, Oxford! Wie hat er das gemacht?
Seine Mutter war so blöde, dass sie glaubte, ein Semikolon wäre ein
künstlicher Darmausgang. Ich habe an Brett geschrieben, c/o Balliol
College. Unter diesen Umständen ist die Formalität eines Briefes
erforderlich.
Montag, 10. September
Arthur Askey Way
Ein Brief aus Oxford! Ein Pergamentumschlag,
adressiert an mich in erlesener, gestochen scharfer Schreibschrift.
Darin ein dazu passender Briefbogen mit aufgedrucktem Kopf: Brett
Mole, Balliol College, Oxford. Website: www.brettmole.com.
Lieber Adrian,
was für ein Spaß! Wir müssen uns unbedingt
treffen und Klatschgeschichten über unseren gemeinsamen Vater
austauschen. Wann bist du mal wieder in Oxford? Brüderliche
Grüße,
Brett
Ich loggte mich unverzüglich auf www.brettmole ein und erfuhr mehr über
meinen Halbbruder, als ich wissen wollte. Da waren Fotos von Brett
beim Bergsteigen, Kajakfahren, Tennisspielen, Limbotanzen an einem
Karibikstrand, als Model auf einem Laufsteg und beim Händeschütteln
mit Prince Charles. Seine Website informierte mich darüber, dass
Brett einsachtundachtzig groß ist, Kragengröße 41 und Schuhgröße 45
trägt.
Auf einer weiteren Seite entdeckte ich, dass Brett
seinen Schulabschluss mit einer Eins mit Stern absolviert hatte. In
sämtlichen Fächern. Er hat einen Gedichtband mit dem Titel Blas
die Kerze aus veröffentlicht. Die Rezensionen waren
überschwänglich. Ich hasse ihn jetzt schon.
Folgende Nachricht mailte ich ihm: »Lieber Brett,
danke für Deinen Brief vom 10. dieses Monats. Leider bin ich nie in
Oxford. Mit freundlichen Grüßen, Adrian (Mole).«
Beunruhigenderweise schrieb Brett beinahe sofort
zurück. »Hi, Brüderchen, mach mich baldmöglichst auf die Socken zum
Zug nach Leicester. Komme gegen 16:00 Uhr bei dir vorbei.« Ich
mailte zurück, ich hätte die Handwerker im Haus und Wasser, Strom
und Sanitäranlagen seien abgestellt. Daher schlüge ich ihm vor,
seinen Besuch um mindestens sechs Monate zu verschieben. Ich endete
mit: »Bitte um Bestätigung, dass du nicht kommst.«
Ich wartete über eine halbe Stunde neben dem
Rechner, aber es kam keine Antwort. Es ist ja nicht so, dass ich
mich dafür schäme, in einer Sozialwohnung in einer Proletensiedlung
zu wohnen. Was die Graffiti und Autowracks betrifft, die bemerke
ich kaum. Aber Brett wird das mit Sicherheit tun. Ich räumte auf,
so gut es ging, und sortierte das Bücherregal um, damit Brett meine
Vertrautheit mit Dostojewski, Tolstoi und Tschechow nicht entgehen
konnte. Um 16:05 Uhr hörte ich das Taxi vorfahren, dann dröhnte
eine selbstbewusste Stimme: »Wo ist mein Bruder?«
Sonntag, 23. September
Arthur Askey Way
Brett ist immer noch hier. Er behauptet, die
Ereignisse vom 11. September hätten ihn traumatisiert und es ihm
unmöglich gemacht, Transportmittel jeglicher Art zu benutzen. Beim
Frühstück heute Morgen sagte er zu mir: »Ich könnte für immer
hierbleiben, Adrian.« Er ist wahnsinnig klug und hat offenbar jedes
Buch gelesen, das seit Erfindung des Buchdrucks je auf Englisch,
Deutsch oder Französisch erschienen ist. Ärgerlicherweise zitiert
er auch bis zum Erbrechen daraus und korrigiert meine eigenen
Zuordnungen.
Er hat Glenn bei den Hausaufgaben geholfen; mit dem
Ergebnis, dass die Lehrer der Neil-Armstrong-Gesamtschule jetzt
schon aufgeregt darüber spekulieren, ob der Junge es als bisher
erst zweiter Schüler nach Oxford oder Cambridge schaffen könnte
(die erste Schülerin war Pandora). William liebt »Onkel Brett« und
folgt ihm durchs Haus wie der Hund Old Shep, von dem Elvis singt.
Origami ist nur eine von Bretts vielen Fertigkeiten. Heute Morgen
hat er die Kulturbeilage des Guardian in das Gebäude des
Balliol College verwandelt, komplett mit Dozenten und
Studenten.
Ununterbrochen hängt er mit seinen vielen Freunden
in aller Welt am Telefon. Er beteuert, dass er für seinen Teil der
Telefonrechnung aufkommen wird. Dann im nächsten Moment lacht er
wieder über seine knappe finanzielle Lage.
Er und mein Vater verstehen sich blendend und reden
unablässig über Fußballer, Kricketspieler und Rugby-Tölpel –
Menschen, von denen ich noch niemals gehört habe.
Montag, 24. September
Zu meiner Beunruhigung hörte ich heute, dass
Innenminister Blunkett wegen des kommenden »Kreuzzugs« oder der
»Operation Infinite Justice« oder des »Konflikts« oder »Dritten
Weltkriegs« die Warnung ausgesprochen hat, die Bürgerrechte könnten
künftig eingeschränkt werden, und ich müsste möglicherweise
jederzeit einen Ausweis bei mir tragen. Da ich schon ständig meine
Kundenkarte von Sainsbury’s verliere, sieht es für mich nicht gut
aus.
Dienstag, 25. September
Brett dreht einen Dokumentarfilm über Traumata,
die der Anschlag auf die Zwillingstürme ausgelöst hat. Er filmt aus
der Hand mit einer kleinen Panasonic Digitalkamera. Channel 4 und
BBC 2 bieten auf die Rechte. Mich hat er zu diesem Zweck
ausführlich in der Küche interviewt. Als er mir das Material noch
einmal vorspielte, bemerkte ich, dass an
der Küchentür ausgerechnet der Hundekalender mit dem Bild von dem
Afghanen hing. Ich bat Brett, die Szene neu zu drehen, aber er
weigerte sich, mit der Begründung, er lasse sich nicht
zensieren.
Sonntag, 30. September
Arthur Askey Way
Brett hat einen zehnseitigen Artikel für den
Independent geschrieben, mit dem Titel »Osama bin Laden, wie
ich ihn kannte«. Er behauptet darin, Bin Laden erstmalig im
Frühstücksraum einer Pension in Blackpool getroffen zu haben. »Er
war mir sofort verdächtig«, schrieb Brett. »Angeblich lebte er zu
dem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren in England, und doch wusste
er dem Anschein nach nicht, dass der Pfeffer aus dem Töpfchen mit
den vielen Löchern geschüttet wird. Abends in der Bar bestellte er
sich einen Snowball-Cocktail im Pintglas und eine Tüte Schweinefüße
[sic]. Als ich anmerkte, dass Snowball üblicherweise von Frauen und
aus viel zierlicheren Gläsern getrunken wird, zischte Bin Laden:
›Ich bin britischer Staatsbürger, ich hasse Schnecken und besuche
mehrmals im Jahr ein Gartencenter. Außerdem sehe ich mir die Huren
der westlichen Kultur in EastEnders im Fernsehen an.‹ Als
die Inhaberin der Pension ihm keine Schweinefüße brachte und ihm
erklärte: ›Was Sie meinen, sind Schweinekrüstchen, und die sind aus
wegen der Schweinepest‹, drehte er völlig durch und brüllte: ›Ich
bin ein rechtmäßiger Bürger dieses Landes – hier sind mein Pass und
mein LKW-Führerschein.‹«
Als ich den Artikel durchgelesen hatte, bat Brett
mich um meine Meinung. Ich sagte: »Das ist doch von vorne bis
hinten erstunken und erlogen. Es ist allgemein bekannt, dass Osama
bin Laden kein Englisch spricht.«
Blasiert entgegnete Brett: »Unser Gespräch wurde
durchgängig auf Arabisch geführt.«
»Willst du etwa behaupten«, spottete ich, »dass
eine Pensionsinhaberin in Blackpool fließend Arabisch kann?«
»Genau«, sagte Brett. »Sie heißt Fatima Hardcastle
– wir leben jetzt in einer multikulturellen Gesellschaft, wie du
wissen solltest.«
Ich weiß, dass Brett lügt, aber wie soll ich es
beweisen? Ich kann nur hoffen, dass der Independent ihm
dieses frei erfundene Machwerk um die Ohren haut, bevor er Schande
über die Mole-Dynastie bringen kann.
Montag, 1. Oktober
Ich habe ja schon lange den Verdacht, dass meine
Schwester Rosie nicht das Kind meines Vaters ist, sondern von
unserem ehemaligen Nachbarn Mr Lucas gezeugt wurde. Heute wurde
meine Theorie bestätigt, als meine kreidebleiche Mutter in meine
Küche gestürzt kam und schluchzte: »Wenn die jetzt Ausweise mit
DNA-Profil einführen, bin ich geliefert.«
Dienstag, 2. Oktober
Ich rief Pandora im Grand Hotel in Brighton an und
drängte sie, sich gegen die Einführung von Personalausweisen
auszusprechen. Sie bellte: »Mach gefälligst diese Leitung frei!
Weißt du nicht, dass wir im Krieg sind?« Damit legte sie auf.
Samstag, 6. Oktober
Arthur Askey Way
Liebes Tagebuch, mein Halbbruder ist immer noch
hier. Gott weiß, dass ich der netteste und toleranteste Mensch der
Welt bin, und ich halte es ganz mit den Muslimen, wenn es darum
geht, jenen, die Zuflucht suchen, die Hand der Gastfreundschaft
entgegenzustrecken. Aber ich muss gestehen, dass ich über jedes
erträgliche Maß hinaus genervt bin von der Anwesenheit Brett Moles
in meinem Haus. Ich hasse ihn. Mir graut vor dem Klang seiner
Schritte auf der Treppe. Ich kann nicht ertragen, wie er Rice
Krispies in seine Kehle saugt. Aber ich stehe allein auf weiter
Flur. Jeder, den ich kenne, liebt und bewundert ihn.
Er hat etwas Messianisches an sich. Zu meiner
Bestürzung vertraute er mir an, dass er vorhabe, eine neue
politische Partei zu gründen, finanziert vom Princess Diana Fund.
Ärgerlich erzählte ich ihm, dass ich am Tag nach der Tragödie in
Paris nach London gefahren war und in Kensington Gardens eine
Zehnpfundnote und ein Gedicht an einen Baum geheftet hatte:
OH DIANA!
Oh Diana! War ein Lied in meiner Mutter
Jugend.
Gesungen von Paul Anka,
der klein war und von großer Tugend.
Der Refrain, Oh Diana!
pocht in Mamas Kopf noch fort
Da-di, da-di, da-di-da,
dass ihre Diana ist hinfort.
Gesungen von Paul Anka,
der klein war und von großer Tugend.
Der Refrain, Oh Diana!
pocht in Mamas Kopf noch fort
Da-di, da-di, da-di-da,
dass ihre Diana ist hinfort.
Wie dir vielleicht aufgefallen ist, liebes
Tagebuch, konnte ich damals keine passenden Reime finden, um das
Gedicht zufriedenstellend abzuschließen. Ich weiß immer noch keine.
Ich überlege, Dianas Bruder Earl Spencer von Bretts politischen
Ambitionen in Kenntnis zu setzen.
Mittwoch, 10. Oktober
Harrods hat heute Morgen Bretts neues Bett
angeliefert. Zwei Männer waren den gesamten Tag damit beschäftigt,
es im Gästezimmer aufzubauen. Es verfügt über einen eingebauten
Teleskopfernseher, einen CD-Spieler und kann in 19 unterschiedliche
Positionen verstellt werden. Als ich die Rechnung sah, blieb mir
die Luft weg: 7.999,00 £. Brett meinte, er habe sich das gegönnt,
da Channel 4 ihm den Auftrag zu einem Dokumentarfilm über Armut
gegeben habe, den er in meiner Sozialsiedlung drehen möchte. Seine
alte Matratze gesellt sich zu der anderen in meinem Vorgarten. Ich
warte darauf, dass die Stadt diese Schandflecke entfernt.
Donnerstag, 11. Oktober
Brett hat den Inhalt meiner Mülltonne im Vorgarten
verstreut und die Matratzen mit einem Teppichmesser aufgeschlitzt.
Er sagte, das würde eine gute Eröffnungseinstellung für die
Dokumentation abgeben, deren Titel jetzt lautet: Weine, England!
Weine!
Sonntag, 14. Oktober
Dieses Ungeheuer Brett lebt immer noch in meinem
Haus. Sein elektronisches Superbett teilt er jetzt mit einer
Auswahl Flittchen aus der Siedlung. Ich habe für Glenn und William
Ohrstöpsel besorgt, damit ihr Schlaf nicht gestört wird.
Die Dreharbeiten zu Bretts Dokumentation Weine,
England! Weine! laufen auf vollen Touren. Viele der Interviews
werden in diesem Haus geführt. Überall liegen Kabel, und die
meisten Türen wurden entfernt, um der Kamera mehr
Bewegungsspielraum zu gewähren. Das Haus gehört nicht länger mir.
Warum fordere ich ihn nicht einfach auf zu gehen? Die traurige
Wahrheit ist, dass ich Angst vor ihm habe. Er gibt mir das Gefühl,
unattraktiv und provinziell zu sein und der Unterschicht
anzugehören.
Montag, 15. Oktober
Heute Morgen fand ich Sandra Alcock in meiner
Küche vor, halb bekleidet und auf einen Block Wimperntusche
spuckend. Als ich sie bat, sich zu bedecken, schnappte sie sich ein
Geschirrtuch und klemmte es unter ihre BH-Träger. Allerdings muss
ich doch zugeben, dass der Anblick von Sandras langen Beinen in
weißen Stilettos meinen Hormonhaushalt in Aufruhr brachte, und ich
musste mich rasch zum Spülbecken umdrehen, um meine sexuelle
Erregung zu verbergen. Ob wohl Pamela Pigg Interesse an einer Runde
Geschlechtsverkehr hätte? Ich hörte, dass sie und Alan Clarke sich
getrennt haben, wegen eines Streits über die Globalisierung. Ich
rufe sie später mal an.
Dienstag, 16. Oktober
Heute Abend nach ihrem Hundetrainingskurs treffe
ich mich mit Pamela. Sie klang erfreut, von mir zu hören, mit ein
bisschen Glück sollte es also nicht allzu lange dauern, sie ins
Bett zu kriegen. Und ich werde nicht gezwungen sein, viel Zeit mit
Mahlzeiten und Tagesausflügen zu historischen Denkmälern etc. zu
vergeuden.
Pamela sah heute Abend im Kerzenschein des
Restaurants Costa Brava bezaubernd aus, und meine Tortilla mit
Pommes war ausgezeichnet. Aber um 23:00 Uhr lag ich im Bett –
allein. Am Freitag fahre ich mit ihr zum Schloss Belvoir.
Mittwoch, 17. Oktober
Um 3:15 Uhr wurde ich von Sandra Alcock geweckt.
Sie stand in meinem Vorgarten und kreischte, dass Brett Mole ein
Arschloch sei. Und dass Justine Turner eine miese Schlampe sei.
Brett filmte die ganze Szene, bis die Polizei kam und Sandra und
Justine mitnahm.
Freitag, 19. Oktober
Wir haben jeden einzelnen Korridor von Schloss
Belvoir erkundet. Haben im Café Tee und Kuchen verzehrt. Ich habe
Pamela sogar ein Geschirrtuch gekauft. Und doch musste ich allein
schlafen. Warum?
Montag, 22. Oktober
Arthur Askey Way
Glenn wurde vom Unterricht ausgeschlossen, weil er
Tony Blair einen Arsch genannt hat. Er brachte einen Brief von
Rektor Roger Patience mit, in dem es heißt:
Sehr geehrter Mr Mole,
in dieser Zeit nationaler Krisen obliegt es
uns, unsere Regierung zu unterstützen. Während einer Diskussion
älterer Schüler, die von mir selbst geleitet wurde, gelang es Ihrem
Sohn Glenn, die Moral unter Lehrern und Schülern gleichermaßen
durch seine leidenschaftliche Verurteilung der Bombardierung
Afghanistans zu untergraben. Außerdem bezeichnete er unseren großen
Führer Mr Blair als »ein Arsch der britischen Truppen«. Daher habe
ich ihn für die Dauer des Krieges des Schulgeländes
verwiesen.
Ich hoffe bei Gott (oder Allah), dass der Krieg
bis Weihnachten vorbei ist. Ich kann Glenn nicht den ganzen Tag
hier im Haus gebrauchen. Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass
ich meinen Roman über die Zwillingstürme schnell beende. Das Buch
(bislang noch kein Verlag) muss im Frühling fertig zur
Veröffentlichung sein.
Glenn beteuerte seine Unschuld: »Ich habe nicht
gesagt, dass Tony Blair ein Arsch der britischen Truppen ist. Ich
habe gesagt, dass er für den Einmarsch der britischen
Truppen in Afghanistan ist.«
Dienstag, 23. Oktober
Heute Morgen wollte ich mir in der Drogerie eine
Flasche Johnson’s Babypuder kaufen. Die Regale, in denen dieses
unschuldige Produkt normalerweise angeboten wird, waren völlig
leer. Die Verkäuferin an der Kasse sagte zu mir: »Das ist wegen
Anthrax.« Sie teilte mir etwas wichtigtuerisch mit, dass, sollte
ich Talkumpuder erwerben wollen, ich meinen Namen und meine Adresse
angeben und durch das Vorlegen meiner letzten drei Gasrechnungen
beglaubigen müsse. Empört und mit leeren Händen verließ ich das
Geschäft.
Mittwoch, 24. Oktober
Bretts Dokumentarfilm Weine, England!
Weine!, der doch das verschwendete Leben der Bewohner sozialer
Brennpunkte enthüllen sollte, wurde vom Chefredakteur abgeblasen.
In seiner E-Mail hieß es: »Ihre Doku ist dem nationalen Interesse
zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht förderlich.« Überglücklich darf
ich dir, liebes Tagebuch, verkünden, dass innerhalb von zwei
Stunden Brett, die Filmcrew und die Ausrüstung verschwunden
waren.
Donnerstag, 25. Oktober
2:00 Uhr
Gerade erhielt ich einen verzweifelten Anruf von
Pamela Pigg. Sie berichtete mir, dass ihr gesamter Körper von roten
Flecken übersät sei: »Ich habe die Pocken!« Ich fuhr zu ihr nach
Hause und untersuchte ihren nackten Körper. Per
Ausschlussverfahren kam ich zu dem Ergebnis, dass sie allergisch
gegen die Hyazinthenzwiebeln sein muss, die sie tagsüber gepflanzt
hatte.
Freitag, 26. Oktober
Arthur Askey Way
Was ist hier los? Ich bin umgeben von Chaos. Hat
ein Schmetterling im Amazonasregenwald mit den Flügeln geschlagen
und dadurch den Lauf meines Lebens manipuliert? Alan Clarke tauchte
in den frühen Morgenstunden vor meiner Haustür auf und schluchzte,
ich hätte ihm Pamela Pigg, die »Liebe meines Lebens«,
gestohlen.
Ich führte ihn in die Küche und lauschte seinem
Redeschwall. Er habe durch Pamelas Ikea-Bambusjalousie beobachtet,
wie sie in meinem Beisein nackt in ihrem Schlafzimmer gestanden
habe. Ich versuchte zu erklären, dass ich ihre Haut, die von der
Hyazinthenallergie entzündet war, mit Kamillenlotion betupft hatte,
aber offenbar glaubte er mir nicht. Ikea sollte seine Kunden
warnen, dass die Bambusjalousien kein Garant für Privatsphäre sind.
Clarke drehte sich einen Joint und bot mir einen Zug an. Mit Mr
Blunketts Erlaubnis nahm ich an. In meinem Kopf begann sich alles
zu drehen und unwillkürlich plauderte ich die Handlung meines neuen
Romans aus. »Eine Allegorie über Zwillinge namens Jack und John
Turm, die von einer tödlichen Krankheit niedergestreckt werden.«
Der Morgen graute schon, als Clarke ging.
Samstag, 27. Oktober
Mohammed ist davon überzeugt, dass das Öl im
Mittelpunkt des Kriegs in Afghanistan steht. Er muss es wissen,
immerhin ist er der Geschäftsführer einer BP-Tankstelle und verfügt
als solcher über Insiderinformationen.
Sonntag, 28. Oktober
Der Tag begann gut. Meine Eltern nahmen die Jungs
mit auf die Golden Mile in Leicester, um sich die Feierlichkeiten
zum hinduistischen Lichterfest Diwali anzusehen. Da ich das Haus
endlich einmal für mich allein hatte, rief ich Pamela an und lud
sie zum Tee ein. Um 16:00 Uhr lagen wir im Bett. Von ihrer
Hyazinthenallergie war nichts mehr zu sehen, ihre Haut war blass
und weich. Geschlechtsverkehr fand gerade statt, als um 16:25 Uhr
das Bett bebte. Genauer gesagt bebte das gesamte Haus, und mehrere
Ziegel fielen vom Dach. Pamela murmelte an meinem Hals: »Mein Gott,
Adrian, das ist das erste Mal, dass die Erde sich für mich bewegt
hat.«
Montag, 29. Oktober
Die Schlagzeile des Leicester Mercury
brüllte: »ERDBEBEN! HABEN SIE DIE ERSCHÜTTERUNG GESPÜRT?« Offenbar
befanden Pamela und ich uns genau im Epizentrum des Bebens von 3,8
auf der Richterskala, das verängstigte Bewohner von Melton Mowbray
und Nord-Leicestershire in Panik aus ihren Häusern trieb. Ein
Kästchen auf der Titelseite des
Mercury fragte die Leser: »Was haben Sie gerade gemacht,
als die Erde bebte? Berichten Sie unserer Redaktion davon.« Ich
hoffe inständig, dass Pamela diesem Aufruf nicht nachkommt.
Montag, 5. November
Arthur Askey Way
Mein Independent wurde heute Morgen nicht
zugestellt. Ich ging zum Zeitungsladen, um mich zu beschweren und
mein Exemplar persönlich abzuholen. Ein Jugendlicher von ungefähr
vierzehn Jahren saß auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft, neben
sich einen in Stofffetzen gewickelten Luftballon. Der Ballon trug
einen unbeholfen mit Filzstift aufgemalten Bart und eine runde
Brille.
Als ich vorbeiging, murmelte der Junge: »’n Penny
übrig?« Ich wühlte im Kleingeldfach meiner Brieftasche und gab ihm
einen Penny. Wütend schleuderte der Halbwüchsige ihn auf den Boden
und schimpfte: »Alter Geizkragen.« Ich sagte ihm, dass ich selten
eine so armselige Darstellung von Guy Fawkes gesehen hätte. Er
zupfte an den Fetzen um den Kopf des Luftballons und entgegnete:
»Das liegt da dran, dass das gar nicht Guy Fawkes ist, das ist doch
Osama bin Laden. Wir verbrennen ihn heute Abend im Park.«
23:00 Uhr
Das war die letzte Party zum Guy-Fawkes-Tag, die
ich je in meinem Garten abhalten werde. Die Würstchen sind im Ofen
geplatzt, die Kartoffeln waren völlig verkohlt und mein
Feuerwerkssortiment war in weniger als zehn Minuten abgebrannt.
Keines der Feuerräder drehte sich. Meine
Gäste verrenkten sich ständig die Köpfe gen Osten, wo die Raketen
des öffentlichen Feuerwerks den Himmel mit spektakulären Mustern
und Farben erfüllten.
Im Park nebenan drängten sich meine lieben Nachbarn
mit ihren Sozialarbeitern und Bewährungshelfern. Die
Kommunalpolizei kümmerte sich um das Feuerwerk, und für das große
Freudenfeuer war – als gewagtes soziales Experiment – Wayne Drabble
verantwortlich, der Brandstifter, der letztes Jahr die
Pfadfinderhütte angezündet hat. Beim Halal-Grill lief ich zufällig
Mohammed über den Weg, und er erzählte mir, dass sein hitzköpfiger
jüngster Bruder Imran unentwegt davon spreche, nach Afghanistan zu
fliegen, um Seite an Seite mit seinen islamischen Brüdern zu
kämpfen.
Mohammed sagte, dass Imran versucht habe, seine
Freundin Kylie Dodge zu überreden, sich mit einer Burka zu
verhüllen und zehn Schritte hinter ihm zu gehen. Aber sie meinte,
sie hätte schöne Beine und würde sie auf gar keinen Fall bedecken.
Mohammed bezweifelte mir gegenüber, dass Imran überhaupt nach
Heathrow fände, ganz zu schweigen von Afghanistan. Er sagte: »Und
außerdem müsste er sich einen falschen Bart kaufen, weil er sich
noch nie rasieren musste, nicht ein einziges Mal in seinem ganzen
Leben.«
Sonntag, 11. November
Arthur Askey Way
Als ich heute Morgen mit William auf dem Weg zum
Baumarkt war, um Ersatzbirnen für die Weihnachtsbaum-Lichterkette
zu kaufen, kam ich an einer Gruppe uralter Männer und Frauen
vorbei, die auf das Kriegerdenkmal zumarschierten. Manche von ihnen
trugen Kränze aus
Mohnblumen, andere hatten sich Orden an die Anoraks
geheftet.
Ein alter Bursche, dem beide Beine amputiert worden
waren, wurde von seiner verrunzelten Frau im Rollstuhl geschoben.
William fragte viel zu laut: »Wo sind denn die Beine von dem Mann
hin, Dad?« Ich antwortete: »Er hat sie auf einem Acker in einem
fremden Land gelassen, damit wir Engländer als freie Menschen leben
können, mein Sohn.«
Eine aus pickeligen Halbwüchsigen bestehende
Kapelle der Boys Brigade stimmte »Pack Up Your Troubles in Your Old
Kitbag« an. Die alten Leute bemühten sich, im Takt der Musik zu
laufen, aber manche waren zu langsam und kamen nicht mit. Tränen
brannten mir in den Augen. Ich wischte sie verstohlen fort, als wir
den Baumarkt betraten. Auf dem Weg in die Weihnachtsabteilung
fragte William mich, ob ich in den Krieg ziehen müsse, um gegen
»Osmar« bin Laden zu kämpfen. Ich erklärte ihm, dass ich Pazifist
sei und nicht an Krieg glaube. William sagte: »Aber was, wenn Mr
bin Laden in mein Zimmer kommen und mich umbringen wollen würde.
Würdest du ihn lassen, Dad?«
Das war ein verzwicktes moralisches Dilemma, das
nicht dadurch erleichtert wurde, dass meine Mutter hinter einer
Plastikkonifere hervortrat und fragte: »Genau, was würdest du dann
tun, Mr Superpazifist?«
Stammelnd versicherte ich, in dem höchst
unwahrscheinlichen Fall, dass der meistgesuchte Terrorist der Welt
in Williams Kinderzimmer auftauchte, würde ich bin Laden mit dem
Arm zu Boden drücken und dort festhalten, bis Hilfe in Form eines
Streifenwagens der Polizei von Ashby-de-la-Zouch einträfe.
William schien beruhigt und stapfte davon, um eine
elektrische Weihnachtsmannpuppe mit einer bimmelnden Glocke
zu betrachten. Meine Mutter aber stieß ein höhnisches Lachen aus
und sagte: »Das letzte Mal, dass ich dich beim Armdrücken gesehen
habe, war 1982 im Jugendklub. Damals wurdest du zehn von zehn Malen
von Pandora Braithwaite geschlagen. Du trugst diesen braunen Pulli,
den Oma dir zum Geburtstag gestrickt hatte.«
Das Gedächtnis meiner Mutter ist phänomenal. Sie
könnte als Pauline Mole, die Gedächtniskünstlerin, auftreten.
Mittwoch, 21. November
Mohammed wurde verhaftet! Sein Bruder Imran hat
mir erzählt, dass Mohammed gerade Säcke mit Holzscheiten vor seiner
Tankstelle stapelte, als er von Scharfschützen der Polizei umstellt
wurde, die ihm befahlen, sich auszuziehen und mit erhobenen Händen
auf sie zuzulaufen. Bevor er in den Mannschaftswagen einstieg, rief
Mohammed (laut einem Zeugen, einem gewissen Wayne Worthington, der
sich im Tankstellenladen gerade die Wrestling-Zeitschrift
Raw kaufen wollte): »Ich hab doch nur zwei Minuten in dem
absoluten Halteverbot gestanden!« Ich finde es empörend, dass
kostbare Polizeimittel für geringfügige Parkverstöße verschwendet
werden.
Das Schreiben an meinem allegorischen Roman
Jack und John Turm erweist sich als schwierig.
Hauptsächlich, weil ich noch nie in New York war. Dennoch darf ich
nicht nachlassen. Jeder Autor, der etwas auf sich hält, muss ein
Buch über die Welt nach den Zwillingstürmen verfassen. Ich gehe
davon aus, dass Will Self an etwas Ähnlichem arbeitet.
Ich darf nicht vergessen, im Multiplexkino
anzurufen und Karten für Harry Potter zu reservieren.
William hat gesagt, er werde sich umbringen, wenn er den Film nicht
bald sehen darf.
Donnerstag, 22. November
Imran kam heute Vormittag vorbei. Ich bot ihm eine
Tasse Tee und eine Scheibe Toast an. Er schüttelte den Kopf und
sagte gereizt: »Es ist Ramadan, Moley. Ich faste, kapiert?« Er war
da, um mir zu berichten, dass sein Bruder unter
»Terrorismusverdacht« festgehalten wird. Ein anonymer Anrufer hat
offenbar die Sicherheitskräfte darüber informiert, dass Mohammed
Flugstunden am Flughafen Leicester genommen hat. Imran jammerte:
»Das ist alles meine Schuld: Ich hab ihm letztes Jahr zu
Weihnachten einen Gutschein für Flugunterricht geschenkt.« Ich
schickte Pandora eine SMS: »Unser gemeinsamer Schulfreund Mohammed
ist ein Opfer staatlicher Repression. Ruf schnellstmöglich
an.«
Freitag, 23. November
Habe den ganzen Tag am Telefon verbracht, um eine
»Free Mohammed«-Kundgebung auf dem Rathausplatz zu organisieren.
Ein Bündnis formt sich, bestehend aus Tankstellenkunden, Nigels
Gruppe »Schwule gegen Fliegerbomben« und Alan Clarke, der
versprochen hat, mit seiner Morris Men-Volkstanzgruppe zu
kommen. Kein Wort von Pandora.
Die folgende Notiz wurde auf einem Fetzen
Klopapier in Adrians Haus gefunden:
Samstag, 24. November
4:00 Uhr
Eine Razzia! Tagebücher, Computer, Handy
beschlagnahmt. Werde auf Grundlage von Blanketts
Antiterrorismusgesetzen verhaftet. Bitte Amnesty International
informieren. Wohin werden sie mich bringen? Und für wie lange? Ich
bin erledigt.