2000

Montag, 3. Januar 2000

Wisteria Walk, Ashby-de-la-Zouch, Leicestershire
 
Wie begrüße ich nun also das neue Jahrtausend? Verzweifelt. Ich bin alleinerziehender Vater, ich wohne bei meiner Mutter, meine Romane bleiben unveröffentlicht. Mein Kochbuch Alle schreien nach Innereien liegt in jedem schlechten Buchladen für 59 Pence herum. Auf meinem Hinterkopf prangt eine kahle Stelle in der Größe eines Jaffa-Kekses. Niemandes Miene erhellt sich, wenn ich einen Raum betrete. Meine Söhne würden mich vermutlich vermissen, wenn ich durchbrennen würde, aber es könnte ein oder zwei Wochen dauern, bis sie merken, dass ich weg bin. Wie konnte es so weit kommen? Als junger Mensch war ich solch ein Hoffnungsträger. Warum ist es mir verwehrt geblieben, meinen Anteil an den glitzernden Preisen abzuräumen? Meine Fernsehprominenz im Jahre 1997 war von kurzer Dauer. Außerdem – wer will schon dafür berühmt sein, im Kabelfernsehen Innereien zu kochen? Es wird Zeit für ein radikales Umdenken; ich muss mich selbst neu erfinden. So kann ich nicht weitermachen, ich darf mich nicht widerstandslos vorzeitig vergreisen lassen. Ich brauche einen Lebensplan, und zwar einen, der meine beiden Söhne mit einschließt.

Dienstag, 4. Januar

Heute Morgen entschloss ich mich, meine Söhne in die Formulierung meines neuen Lebensplans einzubinden. Ich ging in ihr Zimmer, schaltete den Fernseher aus und nahm die Videokassette heraus, über die sie gerade herzhaft lachten (Aufnahmen von Sky News, die zeigten, wie Pandora Braithwaite mit ihren VIP-Genossen in einer steifen Brise fröstelnd am Bahnhof Stratford Schlange steht). Sie protestierten, doch ich erklärte: »Wir Moles müssen das neue Jahrtausend am Kragen packen, es schütteln und zwingen, für uns zu Werke zu gehen.« Dann gab ich jedem einen Zettel und einen Stift und forderte sie auf, ihre Ziele im Leben aufzuschreiben. William schrieb: »Mehr Süßigkeiten, eigener Fernseher, ein Labradorwelpe wie aus der Klopapierwerbung.« Glenn notierte: »Ich würde gern mit achtzehn heiraten, weil ich glaube das wär eine gute Möglichkeit Sex zu kriegen, ohne dass man ständig in die Disco muss. Vizeweltmeister im Rollerbladen wäre auch gans [sic] nett.« Darauf sprach ich ihn sofort an. »Warum nur Vize? Warum nicht den Meistertitel anstreben?«, wollte ich wissen. »Weil ich nicht zu berühmt werden will, Dad«, antwortete er. »Stell dir vor, der arme kleine Brooklyn muss doch jetzt von der Polizei beschützt werden.« Mein armer Sohn ist besessen von den dämlichen Beckhams und ihrem Sprössling.
Meine eigenen Lebensziele lauten folgendermaßen: 1. Großes frei stehendes Haus in einem anständigen Vorort kaufen. 2. Seelenverwandte mit gewaltigem Intellekt, hoher Ertragskraft und beträchtlicher Oberweite finden. 3. Ein Treffen mit dem Ressortchef von BBC Drama erzwingen und sein Büro erst wieder verlassen, wenn er Der weiße Lieferwagen, meine Komödie über einen Serienmörder, gekauft hat. 4. Unauffällige Haarverdichtung machen lassen.

Mittwoch, 5. Januar

Meine Mutter und Iwan lagen den ganzen Tag mit der australischen Grippe im Bett. Heute Abend habe ich nach ihnen gesehen. Meine Mutter krächzte: »Das wird aber auch mal Zeit. Wir sterben hier an Vernachlässigung.« Ich meinte: »Ich wollte eure Privatsphäre nicht verletzen.« Sie flehte mich an, den Notarzt zu rufen, da sie sich »todkrank« fühle, doch ich weigerte mich mit den Worten: »Wir dürfen den staatlichen Gesundheitsdienst nicht noch weiter belasten.« Dann rührte ich beiden jeweils einen Erkältungstrunk aus der Tüte an und ließ sie allein, damit sie es ausschwitzen konnten. Als ich die Schlafzimmertür hinter mir schloss, hörte ich Iwan keuchen: »Da hatte ja das Finanzamt noch mehr Mitgefühl mit mir.« Mehrmals wurde ich nachts von ihrem lästigen Gehuste und den kläglichen Hilferufen geweckt. Schließlich krabbelte Iwan nach unten und rief den Arzt an, der den Krankenwagen kommen ließ.

Donnerstag, 6. Januar

Meine Mutter liegt jetzt knapp hundert Kilometer entfernt im Krankenhaus, wo ihre Lungenentzündung behandelt wird. Ich weigere mich, Schuldgefühle zu haben. Schuldgefühle sind eine destruktive Empfindung und passen nicht in meinen neuen Lebensplan. In dem Bemühen, eine vernünftige Sozialwohnung zu bekommen, habe ich erneut ein Bewerbungsformular ausgefüllt. Um ein paar Pluspunkte zu kriegen, habe ich »schwul« angekreuzt. Die Formulare werden absolut vertraulich behandelt, so dass niemand außerhalb des Wohnungsamtes jemals erfahren wird, dass ich in Wahrheit …

Freitag, 7. Januar

Habe die Grippe, bin zu krank, um viel zu schreiben. Ich bete darum, sterben zu dürfen. Iwan fand das Bewerbungsformular für die Wohnung und sagte mir: »Ich hab’s schon immer gewusst.«

Freitag, 28. Januar

Wisteria Walk, Ashby-de-la-Zouch, Leicestershire
 
Die Sydney-Grippe ist über die Familie Mole hinweggefegt wie ein Virushurrikan und hat uns traumatisiert und geschwächt zurückgelassen. Im Badezimmerschränkchen war nicht annähernd genug Platz für die ganzen Medikamente, weshalb ein eigentlich für Badeöle vorgesehenes Kiefernregalbrett freigeräumt und zweckentfremdet wurde. Bei jedem von uns Moles traten Komplikationen auf. Angesichts Dr. Ngs ständiger Hausbesuche überrascht es mich, dass er nicht Zahnbürste und Pantoffeln bei uns deponiert hat. Eines Tages, als er dringend an mein Krankenlager gerufen wurde, rief er von seinem Handy aus bei der medizinischen Fachzeitschrift Lancet an und fragte, ob man dort an einem zehnseitigen Artikel über »ärztliche Wutanfälle« interessiert sei.

Samstag, 29. Januar

Heute Morgen erhielt ich folgenden Brief:
Lieber Adrian,
weißt du noch, wer ich bin? Ich bin deine Mutter, Pauline Mole. Derzeit wohnhaft in Bett 5, Station 20, Glengorse District Hospital. Ich erhole mich von einer Lungenentzündung und einer Rippenfellentzündung und bin seit drei langen Wochen hier (auf Sauerstoff). Es kränkt mich sehr, dass du mich weder besucht noch mir Blumen oder eine Karte geschickt hast. Derart von dir vernachlässigt zu werden, verzögert meine Genesung. Ich kann nicht schlafen, weil ich dauernd darüber nachgrübeln muss, was ich falsch gemacht habe.
Alles Liebe von deiner Mutter.
 
 
PS: Ich habe aufgehört zu rauchen. Es ist einfach zu umständlich mit der Sauerstoffmaske.
 
 
Liebe Mum,
sind es wirklich schon drei Wochen? Die Zeit ist wie im Fluge vergangen. Freut mich zu hören, dass du das Rauchen aufgegeben hast. Ich habe die Aschenbecher (alle 31) im Haus zusammengesucht und in den Müll geworfen, damit die Versuchung bei deiner Rückkehr nicht so groß ist. Der Grund, warum ich dich nicht besucht habe, ist, dass ich immer noch von der Sydney-Grippe geschwächt bin. Dr. Ng wurde viermal an mein Bett gerufen, zweimal mitten in der Nacht.
Du solltest dich glücklich schätzen, ein Krankenhausbett ergattert zu haben, wenn auch knapp hundert Kilometer von zu Hause entfernt. Ich hatte vor, dir einen Blumenstrauß zu schicken, aber offen gestanden war ich entsetzt über die Preise, die heutzutage verlangt werden. Der billigste Strauß kostet 15 £! Dazu kommen noch 2,50 £ Zustellungskosten. Die reinste Ausbeutung. Ich gebe zu, dass ich dir eine Genesungskarte hätte schicken können, aber der Besuch eines Geschäfts kommt erst wieder in Betracht, wenn ich die Kraft in meinen Beinen zurückerlangt habe. Dein Gatte Iwan hat mich über deine Fortschritte auf dem Laufenden gehalten. Ich habe durchaus an dich gedacht und bin gekränkt und verärgert über den Vorwurf, dich vernachlässigt zu haben.
 
Dein Sohn, Adrian
Diese Nachricht gab ich Iwan für meine Mutter mit. Er ist völlig willenlos vor Liebe und fährt tatsächlich täglich einhundert Kilometer hin und wieder zurück, nur um sie zu besuchen. Um zehn Uhr abends kam er aus dem Krankenhaus zurück, völlig verzückt. »Heute Morgen ist deine Mutter aufgewacht und hat sich ihr Schminktäschchen erbeten«, berichtete er. Dann erzählte er mir im Vertrauen, dass er ganz zu Anfang nach ihrer Einweisung in die Klinik zweimal an ihrem Bett vorbeigelaufen war, ohne sie zu erkennen. Er hatte sie noch nie ohne Lippenstift oder Wimperntusche gesehen. Meine Mutter hatte ihm ihre Antwort auf meinen Brief mitgegeben.
Lieber Adrian,
dann bin ich dir also keine 17,50 £ wert? Wenn ich mir überlege, mit wie viel Geld und Aufmerksamkeit ich dich in den vergangenen 32 Jahren überschüttet habe, wird mir ganz übel. Wahrscheinlich werde ich in einigen Tagen entlassen. Bis dahin möchte ich, dass du den Wisteria Walk verlassen hast. Du musst mit deinen Jungs zu deinem Vater und Tania ziehen. Sie haben noch vier freie Zimmer im Haus.
 
Deine ehemalige Mutter

Sonntag, 30. Januar

Komme gerade aus The Lawns zurück, wo ich meinem Vater und seiner Frau Tania mein Wohnungsdilemma erklärt habe. Sie waren nicht gerade begeistert davon, meine Jungs und mich aufzunehmen. »Wir brauchen diese Zimmer«, sagte mein Vater. »In einem davon bewahre ich meine Golfschläger auf, und in dem anderen überwintert Tania die Geranien.«
»Dann wären immer noch zwei frei«, gab ich zu bedenken.
»Leider nicht«, sagte Tania. »Eines möchte ich zu einem Meditationsraum umgestalten.«
»Und das letzte Zimmer?«, fragte ich mit zynischem Hohnlächeln. Mein Vater wandte sich ab, aber Tania hielt meinem Blick stand.
»Im vierten Zimmer bewahre ich meine Sammlung von Millenium-Dome-Andenken auf«, erklärte sie. Als ich taumelnd das Haus verließ, wischte ich mir Tränen aus den Augenwinkeln. Alle Hoffnung ist dahin. Der soziale Wohnungsbau winkt.

Montag, 31. Januar

The Lawns, Ashby-de-la-Zouch, Leicestershire
 
Nach einem dramatischen Anruf meines Vaters am späten Abend wurde mir und meiner Familie vorübergehend (nur für eine Woche) Asyl unter oben genannter Adresse gewährt. Meine Söhne und ich teilen uns ein Zimmer mit 16 überwinternden Geranien. Ich selbst schlafe auf einer Luftmatratze – extra bestellt aus dem Innovations-Katalog -, die Jungen auf einem Doppelfuton. Ich habe mich schon immer gefragt, wer eigentlich Futons kauft, jetzt weiß ich es: Es ist Tania Braithwaite, meine neue Stiefmutter, die alles liebt, was aus Japan kommt. Erst kürzlich hat sie Henry, ihren Labrador, umbenannt. Er soll ab jetzt Yoko gerufen werden. Kein Wunder, dass das arme Geschöpf einen verwirrten Eindruck macht.
Es wird nicht lange dauern, bis auch das Haus umgetauft werden muss. Die bisher namengebenden Rasenflächen von The Lawns sind praktisch alle verschwunden und wurden durch Kiesflächen, bedeutungsvolle Steine und Teiche voller Koikarpfen ersetzt. »Brauchen die Karpfen denn dann auch ein japanisches Spezial-Schuppenshampoo, Dad?«, fragte Glenn mich heute Morgen, als wir auf dem Weg zum Auto an einem Teich vorbeikamen.
Wir waren schon beinahe an seiner Schule, als mir auffiel, dass Glenn einen Scherz gemacht hatte. Sein hintergründiger Witz muss doch wohl ein Zeichen für die Intelligenz meines älteren Sohns sein, oder? Seine Lehrer täuschen sich ganz eindeutig in ihrer Einschätzung seiner Fähigkeiten. Er könnte die Kathy Lette des neuen Jahrtausends werden.
Wie üblich parkte ich auf den Zickzacklinien vor dem Eingang der Grundschule und wurde zu meinem Erstaunen von der Schulleiterin Mrs Parvez heftig zurechtgewiesen. »Mr Mole«, sagte sie, »ich habe sowohl mündlich als auch schriftlich die Eltern wiederholt gebeten, nicht auf den Zickzacklinien zu parken. Warum können Sie William nicht zu Fuß zur Schule bringen?« Ich küsste William und schubste ihn auf den Spielplatz, bevor ich mich mit Mrs Parvez’ Beschwerde befasste.

Mittwoch, 2. Februar

Bin ich der Einzige, der bemerkt hat, dass heute der 2. 2. 2000 ist? Niemand sonst hat ein Wort darüber verloren. Ich rief beim Wohnungsamt an und wurde, nachdem ich mein Dilemma geschildert hatte, in die Abteilung für Obdachlose durchgestellt. Alles, was sich Abteilung nennt, macht mich misstrauisch; es hat einen Beigeschmack von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und von Abweichung von der Normalität. Ich vereinbarte einen Termin mit meiner zuständigen Sachbearbeiterin Ms Pigg. Warum, o warum nur machen Leute mit grotesken Namen keinen Gebrauch von unseren bürgerfreundlichen Gesetzen zur Namensänderung?

Donnerstag, 3. Februar

Ms Pigg ist eine ansprechende junge Frau (Brüste wie große Bramley-Kochäpfel, Beine unter langem schwarzem Rock versteckt, Vorname Pamela). Sie las gerade mein Antragsformular, als ich ihr Büro betrat. »Also gut«, sagte sie nach einem kurzen, aber langweiligen Gespräch über das Wetter, »Sie sind ein schwuler, alleinerziehender Vater von zwei Jungen.« Ich bückte mich und zog meine Socken hoch. Ich brauchte Bedenkzeit. Sollte ich mich zu meiner Heterosexualität bekennen oder mein Täuschungsmanöver durchziehen – um dadurch mehr Wohnungspunkte zu sammeln? Ms Pigg sah mich verständnisvoll an. Ich strich mir über den Schnurrbart. Dann sagte Ms Pigg: »Ganz offensichtlich sind Sie mit Ihrer Sexualität nicht im Reinen, Mr Mole.«
Ich überlegte, welche Strafe wohl auf die Angabe falscher Informationen in einem städtischen Formular steht. »Nein«, murmelte ich. »Niemand darf das je erfahren.« Ms Pigg berührte meine Hand. »Vertrauen Sie mir«, sagte sie. Der Moment, in dem ich die Wahrheit hätte gestehen können, verstrich. »Ich hätte da ein Vier-Zimmer-Häuschen mit Garten in der Gaitskell-Siedlung …«
»Nein«, fiel ich ihr ins Wort, »nicht nach Gaitskell – da wohnen lauter Homophobe. Gibt es denn keine schwulenfreundliche Enklave, wo die Leute ihre Häuser und Gärten anständig pflegen und wohlerzogene Haustiere halten?«
Ms Pigg runzelte die Stirn. »Sie haben offenbar sehr stereotype Ansichten über homosexuelle Menschen«, stellte sie fest. »Ich musste gerade erst zwei schwule Männer zwangsräumen lassen. Die Wohnung war völlig verdreckt, und der Hund der beiden hat die ganze Nachbarschaft terrorisiert.«

Freitag, 4. Februar

The Lawns
 
Glenn wurde vom Unterricht ausgeschlossen, weil er das Gerücht verbreitete, die Schulkrankenschwester, Mrs McKye, sei eine Massenmörderin. »Es war nur ein Witz, Dad«, protestierte er. »Sie bringt seit dreißig Jahren fünf Tage die Woche Kopfläuse um.«
Ich erklärte ihm die Sache mit dem Serienmörder Dr. Harold Shipman und gab ihm den guten Rat, sich fürs Erste jeglichen Kommentar über Ärzteschaft und Pflegeberufe zu sparen. Am Samstag ziehen wir in den Arthur Askey Way 13 in der Gaitskell-Siedlung.

Samstag, 5. Februar

Arthur Askey Way 13, Gaitskell-Siedlung
 
Ich kann gar nicht verstehen, warum niemand dieses Haus mieten wollte.
Es ist trocken, verfügt über Zentralheizung, hat drei separate Schlafzimmer, ein neues Badezimmer, eine gut ausgestattete Küche und einen großen Wohn-Ess-Bereich. Die Fenster sind doppelverglast und es gibt sowohl einen Vorgarten mit einem gepflasterten Autostellplatz als auch hinter dem Haus noch einen Garten mit einem mittelgroßen Baum darin. Außerdem wurde es auf Kosten des Sozialamts komplett renoviert.
Als ich Pamela Pigg von der Obdachlosenabteilung des Wohnungsamtes fragte, warum das Haus seit über einem Jahr leer stehe, antwortete sie: »Ich muss Ihnen sagen, Mr Mole, dass dieses Haus berüchtigt ist.«
Weiter wollte sie sich dazu nicht äußern. Vielleicht hat hier einst ein berühmter Sohn Leicesters gelebt. Der Stürmer Gary Lineker oder gar Willie Thorne, das Snooker-As? Beide stammten aus bescheidenen Verhältnissen, bevor sie ihre jeweilige Leiter ins Land des Ruhmes erklommen.
Glenn und William haben gemischte Gefühle, was unseren Umzug betrifft. Natürlich freuen sie sich über ihr eigenes Zimmer, aber Glenn meinte: »Ich bin nicht hart genug für Gaitskell, Dad, und du auch nicht.« William wollte wissen: »Warum haben alle Geschäfte Stacheldraht vor den Fenstern?«
Ich tischte ihm eine absurde Lüge auf, dass die englische Territorialarmee die Einkaufsstraße am Wochenende für militärische Übungen nutzt, doch ihm war deutlich anzusehen, dass selbst er – der leichtgläubigste Junge der Welt – mir das nicht abnahm. Man muss den Dingen ins Auge sehen: Wir wohnen ab jetzt unter Angehörigen der Klasse, die Soziologen als »Unterschicht« bezeichnen und die mein Vater, der widerstrebend den Lieferwagen mit meinen spärlichen Möbelstücken steuerte, »Teufelsbrut« nannte.
Unsere unmittelbaren Nachbarn allerdings, die Ludlows, deren Haus durch eine gemeinsame Mauer unmittelbar an unseres anschließt, scheinen eher von der stillen Sorte zu sein. Bisher habe ich keinen Pieps von ihnen gehört. Ich kenne ihren Namen nur, weil jemand mit schwarzer Lackfarbe »Hier wohnen die Ludlows« auf die Fassade geschrieben hat.

Sonntag, 6. Februar

Ich ließ die Jungs vor dem Fernseher sitzen und ging zu Fuß zum Zeitungsladen. An der vergitterten Tür hing ein Zettel: »Keine Abgabe von Klebstoff und Zigaretten an Minnejährige, Sturmhauben müssen abgenommen werden.« Ich nahm meine Sturmhaube ab und ging hinein.
Hinter der Theke stand ein südasiatisch aussehender Mann. Eine Frau – vermutlich seine Gattin – füllte die Regale mit Zeitschriften auf, die ich als pornografisch zu erkennen glaubte.
»Guten Morgen«, grüßte ich fröhlich. »Den Observer, bitte.«
»Da kommen Sie zu spät, mein Freund, der Pfarrer war schon da und hat ihn gekauft«, sagte der Mann mit breitestem Leicester-Akzent.
»Sie haben nur ein Exemplar einer hervorragenden überregionalen Zeitung vorrätig?«, vergewisserte ich mich.
»Nee, wir haben haufenweise.« Er deutete auf die News of the World, die People und die Sunday Sport.
Ich bat ihn darum, künftig zwei Exemplare des Observer zu bestellen. Bereits im Gehen fragte ich so liebenswürdig wie nur irgend möglich: »Verstößt es nicht gegen Ihre Religion, Pornografie anzubieten?«
Er war entrüstet. »Nein, ich bin Katholik, wir kommen aus Goa, und überhaupt ist ein nackter weiblicher Körper doch was ganz Natürliches. Was haben Sie denn dagegen?«
Ich fürchte, mit den Goanern hatte ich nicht den besten Start. Am Eingang zu dem kleinen Supermarkt Food Is U ließ ich mich von einem dicken Kerl in Wachmannuniform durchsuchen und ging dann hinein, um ein paar Croissants und eine Tüte direkt gepressten Orangensaft zu kaufen. Nach Hause kam ich mit einem dick geschnittenen Toastbrot und einem Pack Capri-Sonne. Es gab zwei komplette Regale mit Keksen und Kuchen sowie eins, das ausschließlich Chips und Limo gewidmet war.
Wenn wir uns eingelebt haben, schreibe ich vielleicht an den Geschäftsführer und schlage ihm vor, sein Warenangebot auszuweiten.

Freitag, 11. Februar

Meine Mutter hat uns heute im neuen Heim besucht. Der Weg durch die Siedlung hatte sie ganz offensichtlich den letzten Nerv gekostet. »Das überlebst du niemals, Adrian«, sagte sie. Sie hatte extra den neuen Hund mitgebracht, aber er weigerte sich, aus dem Auto auszusteigen. Ich habe eine Valentinskarte an Pandora geschickt, mit dem Text: »O Pandora, du Süße, ich lieg dir immer noch zu Füße-n.«

Sonntag, 13. Februar

Die Ludlows sind zurück. Sie hatten in Chapel-Saint-Leonards »die Wohnwagensaison eröffnet«. Es handelt sich um zwei Erwachsene, sechs Kinder und drei große Hunde. Der Lärm ist unbeschreiblich.

Montag, 14. Februar

Valentinstag
 
Keine einzige Karte, nicht eine.

Montag, 28. Februar

Arthur Askey Way
 
Glenn kam heute mit einem Brief von seinem Turnlehrer Mr Lunt nach Hause. Darin stand:
Sehr geehrter Mr Mole,
Glenn gab mir heute vor dem Sportunterricht folgendes Schreiben. Obwohl es nicht seine Handschrift ist, bin ich überzeugt davon, dass es auch nicht Ihre sein kann.
Ich las die beigefügte, unbeholfen geschriebene Nachricht:
Sehr geehrter Mr Lunt,
es ist was Tragisches passiert mit mein Sohn Glenn er hat eine tötliche Krankheit und wird nicht lange leben das ist nur eine Frage der Zeit er weiß nix davon also sagen sie es ihm bitte nicht aber es wäre besser wenn er nicht den Dauerlauf mitmachen täte weil das könnte ihn aufregen mit froindlichen Grüsen Mr Mole
Glenn brach zusammen und gestand, dass er seine Mutter Sharon Bott überredet hatte, den Brief zu schreiben. Er sagte: »Ich hasse Dauerlauf, Dad. Wir müssen kurze Hosen anziehen und durch die Dörfer laufen und die Leute da lachen und nennen mich Hühnerbein.«
 
Ich stellte Sharon in ihrer schmutzigen Küche zur Rede, wo sie gerade indisches Hähnchenkorma für das Abendessen der Kinder auftaute. Nicht zum ersten Mal war ich erschüttert, dass ich einmal eine sexuelle Beziehung zu dieser Frau unterhalten habe. Inzwischen sähe Moby Dick neben ihr zierlich aus.
Während sie die Folien von den Plastikbehältern entfernte, jammerte sie: »Ich hab ein weiches Herz, Aidy, ich kann es nicht leiden, wenn jemand Glenn verarschen tut.«
Ich bat sie, sich in Zukunft nicht mehr in Glenns Erziehung einzumischen, worauf sie einwandte: »Ich bin seine Mutter. Die Hälfte von seinen Genen hat er von mir.«
»Ja, leider, das Grammatik-, Satzzeichen- und Rechtschreibungsgen«, versetzte ich. Als ich ging, sagte sie noch: »Ich liebe dich immer noch wie verrückt, Aidy.« Ich tat, als hätte ich sie nicht gehört.
 
Mr Lunt schrieb ich folgende Antwort:
Sehr geehrter Mr Lunt,
meine eigene Jugend wurde mir durch Spötteleien über meine von Akne gezeichnete Haut zur Qual gemacht. Glenn leidet unter einem ähnlichen Komplex in Bezug auf seine abnorm dünnen Beine. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie Glenn gestatten würden, beim nächsten Dauerlauf eine Jogginghose zu tragen, oder die Route ändern und sich künftig auf unbevölkerten Feldern und Wegen halten würden, um den Spott der ignoranten, Füchse mordenden, Singvogel keulenden, Hecken rodenden, Flüsse verseuchenden Landbevölkerung zu meiden. Hochachtungsvoll,
A. A. Mole

Dienstag, 29. Februar

Schalttag. Ein Brief des sehr ehrenwerten Neil Kinnock! Dem ich einmal persönlich begegnet bin, als ich noch der Innereienkoch des Hoi Polloi war, jenem Restaurant in Soho, das später als Sauerstoffbar H2O wiedereröffnet wurde.
In dem Brief stand:
Verehrter Mr Mole,
mit großem Vergnügen lege ich Ihre Einladung zum Galadiner anlässlich der Einhundertjahrfeier der Labour Party am Montag, den 10. April 2000, bei. Ich werde an diesem Abend die Rolle des Gastgebers erfüllen und bin entzückt, dass erneut der Premierminister als Ehrengast teilnehmen wird.
Wie Sie sich wohl denken können, werden die Sicherheitsvorkehrungen äußerst streng sein. Bedauerlicherweise kann ich Ihnen daher zu diesem Zeitpunkt den genauen Veranstaltungsort noch nicht mitteilen. Nur so viel: Es wird sich um ein Hotel im Zentrum Londons handeln …
Offensichtlich habe ich einen bleibenden Eindruck bei Mr Kinnock hinterlassen. Ihm müssen die Schafhoden in Schwarzer-Johannisbeer-Coulis richtig geschmeckt haben.

20:30 Uhr

Sharon Bott hat soeben in Tränen aufgelöst das Haus verlassen. Um 19:30 Uhr traf sie unaufgefordert mit einem Taxi ein. Sie reckte eine Flasche spanischen Billigsekt in die Luft, dann ließ sie sich auf eines ihrer massigen Knie hinab und machte mir einen Heiratsantrag. Ich lehnte ab. Glenn war enttäuscht. Er meinte: »Ich wäre der Einzige in meiner Klasse gewesen, dem sein Vater mit seiner Mutter zusammenwohnt.«

Mittwoch, 1. März

Eine kurz angebundene Antwort von Lunt:
Sehr geehrter Mr Mole,
das Tragen von Jogginghosen ist bei Geländeläufen nicht zulässig. Mit freundlichen Grüßen,
Mr Lunt
 
 
PS: Als jemand, der selbst auf dem Land wohnt, empfinde ich Ihre Bemerkungen über die Landbevölkerung als extrem beleidigend.

Freitag, 3. März

Meine Mutter wies mich gerade auf das Kleingedruckte unter meiner Einladung zum Galadiner der Labour Party hin. Die Karten kosten 600 £. Ich habe mir einen Termin beim Optiker geben lassen.

Sonntag, 5. März

Ich habe den ganzen Tag gegrübelt – soll ich in Glenns Interesse weiterhin gegen das Jogginghosen-Verbot angehen, oder sollte ich nachgeben und den Jungen damit seelischer Folter während der Dauerläufe und einem möglichen Trauma in seinem späteren Leben aussetzen? Ich telefonierte herum und holte mir mehrere Meinungen ein. Mein Vater erinnerte mich daran, dass er sich damals »ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt« habe, als er mich darin unterstützte, mich gegen den tyrannischen Schulleiter Froschauge Scruton aufzulehnen, indem ich rote Socken zur Schule trug und dadurch dem Gebot schwarzer Fußbekleidung trotzte. Meine Mutter sagte: »Gib nach, Aidy – gegen Jack Straws autoritäres Regime kommst du nicht an.«
Ich rief meine Abgeordnete Pandora Braithwaite an, die sich vor zwanzig Jahren meinem Rote-Socken-Aufstand angeschlossen hatte. Sie sagte: »Ich hab jetzt keine Zeit, Schätzchen, Ken und Frank sind zum Essen da, und ich wollte gerade das Schweinehirn in Ziegenkäse auftragen.« Ich hatte also doch Recht! Ken Livingstone und Frank Dobson stecken unter einer Decke. Ihr wahrer Feind ist Tony Blair. Sie haben sich miteinander verschworen, um Mr Blair aussehen zu lassen, als habe er seine Partei nicht im Griff.
 
Als Glenn im Bett war, schrieb ich an seinen Schulleiter Roger Patience:
Sehr geehrter Herr Rektor,
mein Sohn Glenn Bott hat abnorm dünne Beine, was ihn stark belastet. Könnten Sie unter diesen Umständen bitte eine Ausnahme machen und ihm gestatten, die Dauerläufe in einer langen Jogginghose zu absolvieren? Mit freundlichen Grüßen,
A. A. Mole

Dienstag, 7. März

Faschingsdienstag
 
Peggy Ludlow kam am frühen Abend vorbei, um sich Mehl, Zitrone, Eier, Milch, eine Bratpfanne und Öl auszuleihen. Ich fragte sarkastisch: »Wäre es nicht einfacher, wenn ich Ihre Pfannkuchen in meiner Küche machen würde?« Sie stimmte mir zu, und die gesamte Ludlow-Sippe strömte herbei und hockte in meinem Wohnzimmer vor dem Fernseher, während ich in der Küche Pfannkuchen wendete, bis mir das Handgelenk schmerzte.
 
Vince Ludlow scheint überhaupt nicht zu arbeiten, obwohl seine Familie immer tipptopp in Designerkleidung herumläuft. Peggy geht mir nicht aus dem Sinn. Heute trug sie ein ärmelloses Etuikleid in Schlangenlederoptik. Es war das erste Mal, dass ich ihre Oberarme sah. Sie hat mehrere Tätowierungen, deren jüngste den Kopf von Jeremy Paxman darstellt. Als ich sagte, ich sei ebenfalls ein Fan von Newsnight, erwiderte sie, sie habe eigentlich nach Jeremy Clarkson verlangt und werde den Tätowierer verklagen.

Mittwoch, 8. März

Aschermittwoch
 
Meine Mutter hat mich und die Jungs zu einer Party anlässlich des Nichtrauchertags eingeladen, um ihren angestrebten neuen Status als Nichtraucherin zu feiern. Wir trafen etwas verspätet gegen 19:30 Uhr ein, und sie kam leicht gereizt zur Tür: »Ihr habt die Aschenbecherzertrümmerungszeremonie verpasst.« Um 19:45 Uhr rauchte sie im Garten, umringt von Familie und Freunden, ihre letzte Zigarette. Tränen rannen ihr über das vom Tabak verwüstete Gesicht. Dann klebte Iwan ihr feierlich ein Nikotinpflaster auf den Oberarm.
Als ich zurück ins Haus schlenderte, schien es mir einfach nicht mehr dasselbe ohne die immerwährende Rauchwolke. Noch keine Antwort von Patience hinsichtlich der Jogginghose.

Donnerstag, 9. März

Ein Anruf der Schulsekretärin, dass Roger Patience ab sofort nur noch unter folgender E-Mail-Adresse erreicht werden kann: patience@neilarmstrong-gesamtschule.com.

Freitag, 10. März

Heute Nachmittag habe ich meiner Mutter unangekündigt einen Besuch abgestattet: Sie rauchte eine Silk Cut, kaute Nicorette-Kaugummi und hatte zwei Nikotinpflaster aufgeklebt, an jedem Oberschenkel eins. Sie flehte mich an, Iwan nichts zu verraten.

Samstag, 11. März

Pandora wohnte heute der Feierstunde anlässlich der Schließung des Gemeindezentrums hier in der Gaitskell-Siedlung bei. Sie erzählte mir, dass ihre Gäste beim Abendessen zwei Sportler seien, Tim Henman und Geoffrey Boycott – demnach ein trostloser Abend.

Sonntag, 12. März

Der Jogginghosenstreit zieht sich weiter hin. Der Schulleiter bleibt stur. Ich trug Glenn auf, seinen Jogginganzug vor dem Dauerlauf anzuziehen und nach Hause zu kommen, falls sein Sportlehrer ihm befähle, ihn wieder auszuziehen. Um 11:15 Uhr war Glenn mit folgender Nachricht zurück:
Sehr geehrter Mr Mole,
wie ich bereits bis zum Überdruss erklärt habe, darf Glenn bei Geländeläufen keinen Trainingsanzug tragen. Es war das Tragen von kurzen Hosen und Rippunterhemden bei Minustemperaturen, was unsere jungen Männer stählte und unser großartiges Land dazu befähigte, zwei Weltkriege und eine Handvoll Rudermedaillen bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta zu gewinnen. Mit freundlichen Grüßen,
 
R. Patience (Geschäftsführender Leiter)
Neil-Armstrong-Gesamtschule
Ich rief Pandora im Unterhaus an und wurde in ein Callcenter weiterverbunden, wo eine Stimme vom Band mich aufforderte, die Sterntaste zu drücken, falls ich ein Bewohner des Wahlkreises sei, oder die Rautentaste, falls ich eine Beschwerde über den staatlichen Gesundheitsdienst, die Straßenbeleuchtung oder die Zuteilung einer Sozialwohnung vorzubringen habe.
Wutentbrannt lauschte ich der Stimme, die mir die Zahlen eins bis acht vorbetete, bis sie mir schließlich mitteilte, die Neun zu drücken, »falls Sie mit jemandem persönlich zu sprechen wünschen«. »Endlich«, atmete ich auf, »kann ich mit Pandora sprechen.« Aber sie kam nicht an den Apparat. Es war nur Lorraine vom Callcenter, die mich nach einem bissigen Schlagabtausch darüber informierte, dass »Ihr Anruf aufgezeichnet wird«.
Daraufhin rief ich meine neue Stiefmutter (ist gleich Pandoras Mutter) Tania an und bat sie um Pandoras E-Mail-Adresse. »Ich reinige gerade den Koiteich, Adrian«, sagte sie. »Könntest du zu einem günstigeren Zeitpunkt nochmal anrufen?«
»Deine Kois sind dir also wichtiger als die Probleme deines Stiefenkels, ja?«, fragte ich ärgerlich.
»Genau so ist es«, blaffte sie. »Ich gebe Patience Recht. Kurze Hosen und Unterhemden haben dieses Land in der Tat groß gemacht.« Es stimmt also: Fortschreitendes Alter macht Menschen rechtslastiger. Tania war früher eine führende Radikale in den politischen Kreisen von Ashby-de-la-Zouch.

Dienstag, 14. März

Jetzt hat William Ärger in der Schule, weil er die Auffassung vertreten hat, dass Posh Spice die nächste Königin von England werden soll. Seinem Bericht zufolge musste er auf Anweisung seiner Lehrerin Mrs Claricoates während der Märchenstunde allein im Wendy-und-Kevin-Haus sitzen. Mir ist bewusst, dass das als Strafe nicht unbedingt in die Bambus-unter-die-Fingernägel-Liga fällt, aber als er nach Hause kam, war er immer noch niedergeschmettert und zudem vollkommen verwirrt über das Prinzip der Erbmonarchie.
Glenn ließ ich heute zu Hause bleiben, während ich über meinen nächsten Zug im Jogginghosenstreit nachdachte: ein Brief an einen aus der alten linken Garde, den Unterhausabgeordneten Jeremy Corbyn zum Beispiel? Den Leicester Mercury alarmieren? Oder vielleicht eine Petition?

Mittwoch, 15. März

Vince Ludlow wurde wegen eines Zahlungsrückstands von 140 £ verhaftet! Vier Polizisten kamen ihn um 7:30 Uhr mit Haftbefehl abholen. Im Oktober 1997 wurde er anscheinend mit einer Geldbuße von 280 £ belegt, weil er im Anschluss an seine Geburtstagsfeier im Snobs den Messingtürknauf des Amtsgerichts gestohlen hatte. Peggy war ganz aufgelöst, als wir beide von unseren jeweiligen Haustüren aus dem Mannschaftswagen der Polizei nachblickten, wie er um die Ecke bog. »Jetzt ist Vince weg«, schluchzte sie, »und keine einzige Kippe im Haus.«

Donnerstag, 16. März

Mein Vater macht sich Sorgen wegen des kränkelnden Rover Werks in Longbridge. »Das ist eine verdammte Tragödie. Wo soll ich denn in Zukunft Ersatzteile herkriegen?«
Habe heute meine alte Schulfreundin Lizzie Broadway im Zeitungsladen getroffen. Sie hat Katzenfutter gekauft. Ich fragte sie, ob sie auch in der Siedlung wohne. »Gott bewahre, nein«, sagte sie. »Sehe ich sozial ausgegrenzt aus?« Damit eilte sie zu ihrem am Bordstein geparkten BMW, dessen Radkappen gerade von einer Bande Halbwüchsiger mit dem Zollstock ausgemessen wurden.

Freitag, 17. März

St. Patrick’s Day
 
Pandora rief an und befahl mir, sie nicht weiter zu belästigen. In nur drei Minuten verwendete sie 19-mal das Wort »unmissverständlich«. Ist die Verwendung dieses Wortes heutzutage obligatorisch für Politiker?

Montag, 20. März

Glenns Foto prangte heute Abend auf der Titelseite des Ashby Bugle. Die Überschrift lautete »GLENS DAUERKAMPF GEGEN DEN LAUF«. Es war kein schmeichelhaftes Bild: Sein neuer Beckham-Haarschnitt zusammen mit der Art, wie er mürrisch in die Sonne blinzelte, gab ihm das brutale Aussehen eines Mitglieds einer rechten Wehrsportgruppe. Als ich meine Zeitung bezahlte, musterte eine Rentnerin hinter mir das Foto und sagte: »Dem möcht ich aber auch nicht am Rentenzahltag über den Weg laufen.«
Wie gern hätte ich der schnurrbärtigen Seekuh gesagt, dass Glenn ein guter Junge ist, aber sie fing übergangslos einen Streit mit dem Kioskinhaber wegen ihrer nicht gelieferten People’s Friend an. Also verließ ich das Geschäft, ohne meinen Sohn zu verteidigen. Zu Hause angekommen, las ich voller Abscheu den Artikel; er strotzte vor Ungenauigkeiten.
 
An den Chefredakteur des Ashby Bugle
Sehr geehrter Herr,
normalerweise schreibe ich keine Leserbriefe, aber in diesem Fall muss ich es tun, da Sie einen wenig sachkundigen und fehlerhaften Artikel über meinen Sohn Glenn und seine Weigerung, beim Schuldauerlauf der Neil-Armstrong-Gesamtschule eine kurze Hose zu tragen, verfasst haben.
1. Glen heißt Glenn. Sie haben seinen Namen durchgängig falsch buchstabiert.
2. Ich heiße Adrian Mole, nicht A. Drän-Mole.
3. Ich bin 33 Jahre alt, nicht 73.
4. Ich bin nicht »arbeitslos«; ich schreibe derzeit eine Serienmörder-Komödie für die BBC mit dem Titel Der weiße Lieferwagen.
5. Glenn trägt keinen Ohrring im rechten Ohr. Er trägt ihn im linken.
6. Glenn wird nicht von der Abgeordneten Dr. Pandora Braithwaite unterstützt. Im Gegenteil, sie lehnt es ab, sich für unsere Kampagne einzusetzen. Ich zitiere aus ihrer jüngsten E-Mail: »Ich hab den besch. Zwiebelausschuss am Hals, ich hab keine Zeit, mich um solchen besch. Schuluniformsquatsch zu kümmern.«
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen,
A. Mole, Glenns Vater

Dienstag, 21. März

Glenn kam heute zu mir, als ich mir beim Bügeln die Archers im Radio anhörte. Er flehte mich an, ihn wieder zur Schule gehen zu lassen und sagte, er würde mit Freuden eine kurze weiße Hose zum Dauerlauf anziehen. Ich erinnerte ihn daran, dass BBC Midlands Today Interesse angemeldet hat, in ihren Regionalnachrichten über seine Kampagne zu berichten.
Er sagte: »Es ist nicht mehr meine Kampagne, Dad. Es ist deine.« Beim Bügeln seiner kurzen weißen Sporthose sinnierte ich über die Opfer, die Eltern für ihre Kinder bringen. Ich werde das Gespött des nächsten Elternabends sein.

Donnerstag, 23. März

Der folgende Brief wurde heute im Bugle abgedruckt:
Sehr geehrter Chefredakteur,
die BBC möchte klarstellen, dass Adrian Mole nicht von uns beauftragt wurde, eine Serienmörder-Komödie namens Der weiße Lieferwagen zu verfassen. Hochachtungsvoll,
Geoffrey Perkins (Ressortchef Unterhaltung)

Freitag, 24. März

Pamela Pigg von der Obdachlosenabteilung kam auf ihrem Heimweg vorbei, um mir mitzuteilen, dass eine Maisonettewohnung in der Prescott-Siedlung frei sei. »Das ist eine neue Wohnanlage speziell für Mieter, die zur neuen Mittelschicht aufstreben möchten.«
Sie berichtete, man sei an Alan Titchmarsh herangetreten, er solle den Innenhof mit dem Mülltonnenbereich entwerfen. Er habe zwar abgelehnt, doch, wie Pamela sagte: »Immerhin hat man ihn gefragt.«
Ich kochte ihr eine Tasse Instantkaffee und schnitt das heikle Thema einer Namensänderung an. Sie ging sofort in die Defensive und erklärte, schon im Domesday Book werde ein Pigg erwähnt, einer habe in Ypern gekämpft und erst kürzlich habe ein Pigg den Orden des British Empire für seine Verdienste um das Postamt verliehen bekommen. Als ich zaghaft meinte: »Ja, aber wie kann ein Mole eine Beziehung mit einer Pigg haben?«, gab sie schüchtern zurück: »Na ja, wir wären doch Pamela und Adrian, oder?« Ihr scheint klar zu sein, dass ich doch nicht so richtig schwul bin.

Samstag, 25. März

Pamela und ich hatten unser erstes Rendezvous und haben uns das Bootsrennen angesehen. Ich wettete mit ihr um 500 £, dass Cambridge gewinnen würde, aber das ist mir egal. Ich glaube, ich könnte in eine Frau namens Pigg verliebt sein.

Dienstag, 28. März

O Pamela! Pamela! Pamela! Ununterbrochen flüstere ich ihren Namen vor mich hin. Ihren Nachnamen – Pigg – flüstere ich allerdings nicht, wenn ich auch weiterhin optimistisch bin, dass sie letzten Endes ein Einsehen haben und eine Namensänderung beantragen wird.
Aber, ach, diese drei erhabenen Silben: Pam-e-la. Das ist wie Musik von Abba! Wie ein Gebirgsbach. Wie der Garten des Rathauses von Leicester zur Kirschblüte. Wie das Lachen von Edward Heath. Wie ein Crunchie-Toffeeriegel aus dem Kühlschrank.
Aber Pigg. Pigg ist roh und knapp. Es ist wie Schlick. Wie das Gebiss der Queen Mum. Wie diese komischen Dornensträucher, die von der Stadtverwaltung am Straßenrand gepflanzt werden. Wie die vorhersehbare Wendung in einem Roman von Jeffrey Archer. Wie der Topfschnitt von Ann Widdecombe.

Mittwoch, 29. März

Bin ich verliebt? Ich habe meinen besten Freund Nigel in der Arbeit angerufen, und er hat mir einen Fragebogen zugefaxt. Manche der Punkte waren relevant, andere nicht. Er erklärte mir, wenn ich mindestens vier davon mit Ja beantworte, sei ich definitiv verliebt. Ganz unten an den Rand hatte er noch gekritzelt, dass der Fragebogen natürlich für schwule Männer entworfen wurde, aber wahrscheinlich auch bei Heteros funktioniere.
a. Denkst du ständig an ihn?
b. Hast du dir die Brust entwachsen lassen?
c. Rufst du ihn öfter als viermal pro Tag an?
d. Hast du aufgehört, in die Sauna zu gehen?
e. Hast du Angst, zum Friseur zu gehen, weil ihm der neue Schnitt vielleicht nicht gefällt?
f. Schreibst du verkünstelte Naturlyrik?
 
Ich saß mit einer Tasse Kaffee und einem Kuli am Küchentisch und ermittelte schnell, dass ich in Pamela Pigg verliebt bin. Daraufhin rief ich sie im Wohnungsamt an, um es ihr mitzuteilen (mein fünfter Anruf an diesem Tag), doch ihr Vorgesetzter, Terry Nutting, sagte, er habe ihr »Sonderurlaub wegen eines Trauerfalls« gegeben, damit sie zum Friseur gehen und etwas gegen ihren jammervollen Haarschnitt unternehmen könne.
Nutting hält sich ja für so geistreich. Dem wird sein bärtiges Lachen schon noch vergehen, wenn Pamela sich freinimmt, um meine Frau zu werden. Laut Pammy ist Nutting ein inkompetenter Faulpelz, der den ganzen Tag in seinem Büro sitzt und auf die Kontaktanzeigen in der Satirezeitschrift Private Eye antwortet.
Sie sagte in ihrer süßen Stimme (wie ein Zephyr, der über ein Hänflingsei bläst): »Terry Nutting würde einen Obdachlosen nicht mal erkennen, wenn er in einem Hauseingang über ihn stolpert.«

Freitag, 31. März

Pamelas neue Frisur wächst mir langsam ans Herz. Leider wächst sie nicht buchstäblich. Ich meine damit, dass ich sie inzwischen schon mehrere Sekunden lang ansehen kann, ohne zusammenzuzucken. Allerdings bin ich nach wie vor der Meinung, dass weniger kurz besser gewesen wäre: Ihr Schädel hat eine etwas eigenartige Form, und die Kopfhaut ist übersät von Narben und den Folgen von Unfällen in der Kindheit.

Samstag, 1. April

Um 11:30 Uhr rief meine Schwester Rosie an, um mir mitzuteilen, dass ein Brief von Greg Dyke, dem Chef der BBC, für mich gekommen sei, in dem er schreibt, er habe mein episches Gedicht Die rastlose Kaulquappe gelesen und wolle sie von Andrew Davies für BBC 2 adaptieren lassen. Als ich sie bat, mir den Brief zu faxen, lachte sie ihr grauenhaftes Lachen und legte auf.

Sonntag, 2. April

Nun habe ich also das Alter von 33 Jahren erreicht – genau so alt war Jesus, als man ihn umbrachte. Glenn schenkte mir eine Karte, auf der in altertümlicher Frakturschrift stand »Herzlichen Glückwunsch dem alleinerziehenden Vater«. Darunter befand sich das Bild eines Mannes mit Schnurrbart, der auf einer alten Steinbrücke steht und in den Fluss hinabstarrt – als wollte er sich hinunterstürzen. Vielleicht, um seiner Verantwortung zu entfliehen. William hatte in der Vorschule eine Karte aus Eierschalen, Linsen und zerkrümelten Cornflakes gebastelt. Ich bedankte mich bei ihm, fand sie aber insgeheim ekelhaft, besonders da doch die halbe Welt Hunger leidet.

Montag, 3. April

Meine Liebschaft mit Pamela hat heute Abend das sexuelle Stadium erreicht, obwohl die »vollständige Vereinigung«, wie sie es nennt, noch aussteht. Pamela ist eine Anhängerin des Frauenkondoms, doch nach eingehender Prüfung eines Exemplars, das sie aus ihrer Aktentasche zog, entdeckten wir, dass es 1998 hergestellt worden war. Wir entschieden uns, es nicht zu riskieren. Pam allerdings drängte darauf, den Akt zu vollziehen, mit den Worten: »Ich will es einfach hinter mich bringen, Adrian.«
Ich erklärte ihr, dass ich keine Kondome mehr im Haus aufbewahrte, seit William eins davon als seinen Beitrag zum Heißluftballon-Wandkunstwerk mit in die Vorschule genommen hat. Ausgerechnet ein adleräugiger Kinder- und Jugendbeauftragter hatte den »Langen Lümmel« zwischen den Wattewolken aufsteigen sehen.
Pamela hat mich gefragt, ob ich am nächsten Wochenende mit ihr nach Stockport fahren und ihre Eltern kennenlernen möchte. Ich log und sagte: »Aber ja, Wiggly.« Sie hat mich gebeten, sie Wiggly zu nennen. Sie nennt mich Snuffly. Seit wir uns kennen, habe ich nämlich einen leichten Schnupfen.

Dienstag, 4. April

Die Ludlows haben heute Abend eine Willkommensparty für Vince anlässlich seiner Entlassung aus dem Gefängnis gegeben. Ich ging erst um 22:00 Uhr nach nebenan, als William und Glenn schon im Bett lagen. Ich möchte nicht, dass meine Söhne das Wort »Gefängnis« mit dem Wort »Party« in Zusammenhang bringen. Vince sagte, er habe den wegen Meineids inhaftierten konservativen Politiker Jonathan Aitken in der Gefängniskapelle gesehen und sei Zeuge von Mr Aitkens religiöser Inbrunst geworden. »Der hat sein Tamburin so fest geschüttelt, dass ihm die Rolex abgefallen ist.« Vince gab mir den Tipp, beim Grand-National-Pferderennen auf Papillon zu setzen. Ich erwiderte, es sei doch höchst unwahrscheinlich, dass zum zweiten Mal in Folge eine Sohn/Jockey-Vater/Trainer-Kombination gewänne.
 
Sobald ich wieder zu Hause war, rief ich Pamela an. Sie sagte, sie liege mit einem kleinen Don Juan im Bett. »Ich finde Hardcover im Bett auch immer unpraktisch«, pflichtete ich ihr bei. Pamela lachte, als hätte ich einen Witz gemacht.

Donnerstag, 6. April

Die Piggs mögen keine Kinder, deshalb nimmt meine Mutter William übers Wochenende zu sich, und Glenn geht zu seiner Mutter.
Pamela warnte mich heute Abend, ihrem Vater nicht zu erzählen, dass ich ein unveröffentlichter Dichter und Romanautor sei. Ich wies darauf hin, dass von mir zwei Kochbücher auf dem Markt sind: Alle schreien nach Innereien – das Buch! und Alle schreien nach Innereien – noch ein Buch! Daraufhin sagte sie, ihr Vater sei ein militanter Vegetarier und ehemaliger Kajak-Lehrer der Royal Air Force. Mir graut davor, Mr Pigg kennenzulernen.

Freitag, 7. April

Die Alte Schmiede, Stockport
 
Er ist schlimmer, als ich befürchtet hatte. »Nenn mich Porky!«, dröhnte er. Er trug eine Art flauschigen Strampelanzug und Gummisocken und war gerade von einer Trainingsfahrt durch einen künstlichen Slalomkurs auf dem Tees zurückgekehrt. Er hat angeboten, mit mir am Sonntag in seinem Doppelkajak die Stromschnellen hinunterzufahren. Mrs Pigg belud unterdessen ihren Lieferwagen für einen Jahrmarkt auf dem Land, wo sie die igelförmigen Schuhbürsten verkauft, die sie aus Kiefernzapfen und Plastikborsten fertigt.
Als Mrs Pigg mir mein schmales Gästebett zeigte, forderte sie mich auf, sie Snouty zu nennen. Auf meine Frage, auf welchen Namen sie denn getauft sei, funkelte sie mich böse an und sagte: »Warum unterstellst du, dass meine Eltern Christen gewesen sind?« Ich erklärte ihr, ich habe das Hochzeitsfoto ihrer Eltern auf dem Kamin stehen sehen, das vor einer Kirche aufgenommen und auf dem ein Pfarrer zu sehen war, der ein Exemplar des Alten Testaments in Händen hielt. Sie sagte, ich solle Pamela in der Nacht nicht »behelligen«, da Mr Pigg Sex außerhalb einer langfristigen Beziehung nicht gutheiße.

Samstag, 8. April

Die Piggs luden mich heute Abend in ein Beefeater-Restaurant zum Essen ein. Eine Pappfigur des Fernsehkochs Brian Turner hieß uns willkommen. Als Porky herausfand, dass ich ein alleinerziehender Vater bin, der in einer Sozialwohnung lebt, geriet das Gespräch plötzlich ins Stocken. Die Spannung war geradezu greifbar, und Pamelas linkes Auge begann ganz unvorteilhaft zu zucken.
Doch noch war nicht alles verloren, denn Porky und ich entschieden uns beide für die frittierten Champignons in leichter Panade für 2,95 £ (mit zwei Dips). Porky und ich haben nun etwas gemeinsam: Noch viele Jahre werden wir uns über unsere Beefeater-Erfahrung austauschen.
Danke, Mr Turner.

Montag, 10. April

William wachte schreiend mitten in der Nacht auf. Er hatte einen Alptraum über seine bevorstehende Schulzwischenprüfung gehabt. Er brabbelte überwiegend unzusammenhängendes Zeug, aber immerhin bekam ich heraus, dass in seinem Traum David Blunketts Blindenhund sowie der schwule Teletubby Tinky Winky vorkamen. Ich bohrte nicht weiter nach.
Pamela hat mich seit unserem Wochenende bei ihren Eltern nicht angerufen. Ich befürchte, dass ich neben der haarigen Männlichkeit ihres Vaters wie ein eher dürftiges Exemplar unseres Geschlechts wirkte. Meine profunde Kenntnis des Frühwerks von Philip Larkin kann sich mit Porky Piggs Eskimorolle auf Wildwasser im Doppelkajak nicht messen. Ich sah Pamela sofort an, dass meine Weigerung, mich zu Porky in das wackelige Plastikboot zu setzen, Zweifel in ihr säte.
Hat ein Urinstinkt sie gewarnt, dass meine Spermatozoen und ihre Eizellen inkompatibel sind und die Qualität des Genpools nicht erhöhen würden? Bin ich zu einer weiteren gescheiterten Beziehung verdammt? Wie dem auch sei, sie war sehr still, als wir gen Süden fuhren, und behielt ihre Zunge für sich, als ich sie zum Abschied küsste.

Dienstag, 11. April

Heute Morgen reichte ich William seine übliche Einkaufstüte voller Toilettenpapierrollen und zerdrückter Müslipackungen und war verblüfft, als er sie mir umgehend mit den Worten zurückgab: »Wie dürfen in der Schule nicht mehr spielen, Dad, du brauchst das also nicht mehr zu sammeln.«
Nach der Schule brach ich die Regeln und wartete vor Williams Klassenzimmer auf ihn. Durch die Glasscheibe in der Tür konnte ich beobachten, dass die Kinder brav in Reihen saßen und von einem »Prüfungstrainer« in Prüfungstechniken unterwiesen wurden. (Früher nannte man so was Hilfslehrer.) Die Wetterkarte und der Heimat- und Sachkundetisch waren nirgends zu entdecken, der Hamsterkäfig leer. Im Raum verteilt hingen Ermahnungen. Gerade schrieb der Prüfungstrainer »Prüfungen sind gut, Spielen ist schlecht« an die Tafel. Die Kinder tauchten ihre Federn ins Tintenfass und schrieben den Slogan ab. Seit wann ist es vorgeschrieben, mit Tinte zu schreiben? Ich fürchte, dass Mrs Parvez, die Schulleiterin, einmal mehr die Richtlinien des Bildungsministeriums fehlgedeutet hat. Sie wird erst zufrieden sein, wenn die Kinder Holzschuhe tragen.

Mittwoch, 12. April

Heute habe ich einen neuen Roman in Angriff genommen, kam aber nur zäh voran. Ich schrieb lediglich eine halbe Seite, einschließlich Buchtitel und meines Namens.
DER SCHWEINESTALL
von Adrian Mole
 
 
Das Schwein grunzte in seinem Stall. Es war sehr traurig. Irgendwie fühlte es sich anders als die anderen Schweine, mit denen es zusammen hauste. »Sieh sie dir an«, dachte das Schwein. »Sie ahnen nicht einmal, dass sie nur ein Teil der Nahrungskette sind.« Das Schwein war unzufrieden, seit es einen Blick auf Alain de Bottons Fernsehserie Philosophie: Eine Anleitung zum Leben durch einen Spalt in der Gardine des Bauern erhascht hatte. Die Weisheit von Sokrates, Epikur und Montaigne hatte ihm vor Augen geführt, dass es vollkommen ungebildet war und nichts von der Welt jenseits seines Stalls wusste.
Es spähte hinüber in den Koben, in dem Pamela Pigg lustvoll grunzend ihre haarige, feuchte Schnauze in den Trog steckte. Seit Jahren schon war er in Pamela verliebt, doch nun fragte er sich, ob sie ihm intellektuell ebenbürtig war. Da war etwas in ihren Schweinsäuglein, das ihn abstieß …
NOTIZEN ZUM NEUEN ROMAN:
1. Sollte das Schwein einen Namen haben? 2. Sollten die Gedanken des Schweins in Anführungszeichen gesetzt werden? 3. Funktioniert die Geschichte? Oder ist der Protagonist (das Schwein) als Figur zu eingeschränkt, da es (a) nicht mit den anderen Schweinen kommunizieren kann und (b) niemals den Stall verlässt?

Sonntag, 16. April

Pamela Pigg hat soeben wutentbrannt dieses Haus verlassen, nachdem sie mir vorgeworfen hatte, ihr Leben zu stehlen und es in »fünftklassige Kunst« zu verwandeln. Sie hat das Manuskript von Der Schweinestall gelesen, das ich blöderweise unter einem Exemplar der Men’s Health auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Als sie zu ihrem Auto stürmte, rief ich ihr nach: »Ich bin Künstler. Wir müssen unser Material auftreiben, wo wir können.«
Pamela schrie zurück: »Und ich bin Mitarbeiterin des Wohnungsamts. Wir müssen den Umzug des Künstlers in die versprochene Maisonettenwohnung abblasen.« Ich ging wieder ins Haus und las den Artikel auf Seite 124 der Men’s Health – zügelloser Sex – für meine Kunst, selbstverständlich.

Montag, 17. April

Arthur Askey Way
 
William bat mich heute um 2,49 £. Er möchte sich eine Großpackung Pokémon-Karten kaufen. Als ich Nein sagte, brach er in Tränen aus und warf sich auf den Küchenboden. Glenn kam herein und meinte: »Du musst ihm das Geld geben, Dad, weil er wird auf dem Spielplatz nicht mehr respektiert.«
Wie man mir erklärte, hat ein Set insgesamt 151 Figuren, William allerdings hat nur 37 der gängigsten davon gesammelt. Glenn sagte: »Das ist wie, also, wie Turnschuhe von Marks & Spencer anhaben, verstehst du?« Glenn hat mir nie verziehen, dass ich ihn einmal mit meinen alten Marks-&-Spencer-Turnschuhen in die Schule geschickt habe, als seine Nikes verschwunden waren. Nachts wacht er immer noch manchmal schweißgebadet auf und ruft nach dem Childline-Sorgentelefon.

Dienstag, 18. April

Tania rief heute Morgen um 10:30 Uhr an, um mir mitzuteilen, dass mein Vater bei dem Versuch, eine Pagode im Garten zu bauen, von der Leiter gefallen sei und sich am Rücken verletzt habe. Er warte auf den Krankenwagen, sagte sie. Im Hintergrund konnte ich das Stöhnen meines Vaters sowie Plätschern und Vogelgezwitscher hören.
Ich ließ William und Glenn in der Obhut der Ludlows und eilte nach The Lawns. Mein Vater lag halb im, halb neben dem Koikarpfenteich und schien schlimme Schmerzen zu haben. Tania kauerte neben ihm und instruierte ihn, »den Schmerz wegzuatmen, George«. Der Krankenwagen brauchte eine geschlagene Stunde, nachdem ihn der Computer in die psychiatrische Klinik in Rutland fehlgeleitet hatte. Trotzdem waren die beiden Sanitäter, Derek und Craig, ungetrübt fröhlich und bar jedes schlechten Gewissens. Es war bereits ihr fünfter Gartenunfall innerhalb von fünf Tagen. Sie gaben Alan Titchmarsh und seiner Gartensendung die Schuld an dem derzeitigen alarmierenden Ansturm auf die Notaufnahme. Tania blieb zu Hause, um die Karpfen zu beruhigen und eine Tasche zu packen, und ich fuhr mit meinem Vater im Krankenwagen mit. Um ihn von seinen Schmerzen abzulenken, versuchte ich, ihn in ein Gespräch über Titchmarshs Gärtnerkonkurrentin Charlie Dimmock zu verwickeln, aber er hatte keine Lust.
Um zwei Uhr nachmittags erhielt er die Diagnose: zwei angeknackste Rückenwirbel, eine gebrochene Schulter und eine tiefe Schnittwunde im linken Oberschenkel, die von der Homebase-Kundenkarte in seiner Hosentasche stammte. Um 20:30 Uhr wurde er endlich auf die Bevan-Station gebracht und in ein Bett gelegt. Ohne seine Zähne und mit den wild abstehenden grauen Haaren sah man ihm seine 56 Jahre deutlich an. Er liegt flach auf dem Rücken und ist nicht in der Lage, auch nur das Geringste selbst zu machen. »Also alles wie gehabt«, seufzte meine Mutter, seine Exfrau, als ich ihr am Telefon einen Lagebericht gab.
Preisfrage: Wo kann ich zwei Pokémon-Ostereier kaufen?

Mittwoch, 19. April

Als ich meinen Vater heute besuchte, fand ich ihn völlig aufgelöst vor. Das Krankenhaus hat sein Gebiss verloren. »Nicht, dass es groß was ausmachen würde«, nuschelte er zahnlos, »ich komm ja sowieso nicht an mein blödes Essen ran.« Sein Frühstückstablett hat man 15 cm außerhalb der Reichweite seines gesunden Arms abgestellt, immerhin 5 cm näher als die Notklingel. Er macht sich Gedanken über Tanias Reaktion, wenn sie ihn erstmals ohne seine Zähne sieht. Offenbar glaubt sie, er hätte noch seine eigenen.
 
Pamela Pigg rief an, um mir zu sagen, dass sie unsere Beziehung wieder aufleben lassen will. Sie hat den Jungs zwei Pokémon-Ostereier gekauft. Ich sagte Ja.

Sonntag, 23. April

Ostersonntag, Sankt-Georgs-Tag, Shakespeares Geburtstag

Ich wusste heute nicht, welche Hose ich anziehen oder was ich zum Frühstück essen sollte. Leide ich etwa am Angebotsübersättigungssyndrom, dieser modernen Krankheit? Ich kann mich einfach nicht entscheiden.
Jemand hat mit rotem Stift K R L N M auf die Unterlagen meines Vaters geschrieben. Ich fragte eine Assistenzärztin, was das bedeutet. »Keine Reanimation, lohnt nicht mehr«, sagte sie und eilte weiter. Ich hoffe, das war ein Witz. Als ich Pamela heute Morgen alles Gute zum Sankt-Georgs-Tag wünschen wollte, beschuldigte sie mich, »den Faschismus zu feiern«. Wir sind dem Untergang geweiht. Dem Untergang.

Dienstag, 25. April

Mein Vater hat mich angefleht, ihm heute Nachmittag bei der Flucht aus dem Krankenhaus zu helfen. Er sagte, der Schlafmangel und die wundgelegenen Stellen raubten ihm langsam den Lebenswillen. Seine falschen Zähne sind noch nicht wieder aufgetaucht, trotz einer internen Ermittlung auf höchster Ebene. Er lebt von Suppe und Haferbrei – falls jemand daran denkt, ihn zu füttern. Er selbst ist praktisch hilflos.
Ich persönlich gebe Tania, seiner neuen Frau, die Schuld an seinem Unfall. Mein Vater ist zu alt, um auf einer Leiter herumzuturnen und unter ihrer peinlich genauen Anleitung eine Pagode im japanischen Stil zu errichten. Ich habe angeregt, einen Dienstplan aufzustellen, damit zu den Mahlzeiten immer jemand aus der Familie vor Ort ist.
 
Außerdem rief ich Pandora in ihrem Büro in Westminster an und bat sie, inkognito ins Krankenhaus zu kommen. Dann könne sie die Dritte-Welt-Bedingungen mit eigenen Augen sehen. Sie sagte, sie würde ja »vorbeischauen«, wenn sie könnte, aber sie sei »schwerst beschäftigt« mit Frank Dobsons Bürgermeisterkandidatur. Ich stieß ein hohles Lachen aus und fragte, ob ihr bewusst sei, dass heute in Australien und Neuseeland Anzac Day sei, der Jahrestag eines ähnlich zum Scheitern verurteilten Feldzugs.

Donnerstag, 27. April

Bevan-Station
 
Ein Brief aus Nigeria von meiner Exfrau Jo-Jo, Williams Mutter und Erbin eines LKW-Reifenhersteller-Vermögens. Ich lebe in der ständigen Angst, Jo-Jo könnte William zu sich holen, wenn der Bürgerkrieg in Nigeria vorbei ist.
Lieber Adrian,
deine Mutter hat mir geschrieben, dass William in »moralisch bedenklichen Verhältnissen« lebt. Sie schreibt, er verkehre »tagtäglich« mit Kriminellen. Kann das wahr sein? Ich habe mir im Internet die Satellitenaufnahme des Arthur Askey Way angesehen und zu meiner großen Beunruhigung entdeckt, dass vor deinem Haus ein ausgebranntes Auto steht. Außerdem konnte ich erkennen, dass dein Vorgarten extrem verwahrlost ist. Ist das etwa die Matratze, auf der wir früher geschlafen haben?
Bitte vergiss nicht, Adrian, dass William halb Nigerianer und der Enkel eines Stammesführers ist. Daher ist es von größter Wichtigkeit, dass er sehr sorgfältig erzogen wird. Meine Lebensumstände erlauben mir momentan nicht, ihn zu mir zu holen, daher bitte ich dich inständig, William aus der Gaitskell-Siedlung zu entfernen, bevor sein Charakter und seine Persönlichkeit unwiderruflich beschädigt sind.
Ich habe versucht, dich telefonisch zu erreichen, aber eine Stimme vom Band teilte mir mit, es sei »nicht möglich, Ihre Verbindung herzustellen«. Daraufhin habe ich dich im Internet recherchiert und zu meiner Bestürzung entdeckt, dass du als hohes Kreditrisiko giltst und bei deinem Zeitungsladen 75,31 £, beim Milchmann 43,89 £ und bei der British Telecom 254,08 £ Schulden hast. Eine eingehendere Suche förderte zutage, dass dein Konto um 947,16 £ überzogen ist. Des Weiteren fand ich die Information, dass du dir am 19. Dezember 1999 dein gesamtes Guthaben bei der Bausparkasse hast auszahlen lassen. Dieses Geld war für Williams Klavierstunden beiseitegelegt. Hat er Unterricht?
Ich mache mir große Sorgen um deine geistige Gesundheit. Durch eine Recherche in deinen Krankenakten fand ich heraus, dass du im vergangenen Monat dreimal beim Arzt warst und dich darüber beklagtest, du würdest ausgespäht. Dein Arzt machte sich die Notiz: »Möglicherweise leichte Paranoia.« Bitte schreib mir unter jojomole@aol.com.
1984 ist also gekommen, im Jahr 2000. Das ist das Ende der Privatsphäre. Ich könnte ebenso gut nackt durch die Straßen laufen und die unbedeutenden Einzelheiten meines Lebens laut herausbrüllen.
 
Ich stellte meine Mutter zur Rede und warf ihr schwere Treulosigkeit vor. Sie zeigte keine Reue. »William verbringt zu viel Zeit bei den Ludlows«, sagte sie. »Vince Ludlow ist ein Berufsverbrecher, du meine Güte!« Ich muss gestehen, liebes Tagebuch, dass Williams Bezugssystem sich in letzter Zeit erweitert hat. Gestern Abend hörte ich ihn zu Glenn sagen: »Mad Frankie Fraser war um einiges härter drauf als Charlie Kray.«

Samstag, 29. April

Ich fragte Pamela Pigg nach der Maisonettenwohnung, die sie mir versprochen hatte. Sie antwortete (genüsslich, wie ich fand): »Die habe ich einer Asylbewerberfamilie gegeben.« Ich schlug einen Wohnungstausch vor, worauf sie entgegnete: »So verzweifelt sind die auch wieder nicht.«

Montag, 1. Mai

Arthur Askey Way
 
Heute fuhr ich meine Mutter ins Krankenhaus, um ihren Exmann und meinen Vater (ein und dieselbe Person) zu besuchen. Wir teilten uns gerade brüderlich ein Mars – immer abwechselnd einen Bissen -, als ich von einem Streifenwagen herausgewinkt wurde.
Ich hatte weder Alkohol noch Drogen konsumiert und mich auch an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten. Zur Sicherheit fragte ich meine Mutter, ob sie im Rückspiegel eine anstößige Geste gemacht habe, was sie verneinte. Daher war ich verdutzt, warum man mich angehalten hatte. Zwei Polizisten stiegen aus dem Wagen. Polizist Eins sagte: »Würden Sie bitte aus dem Fahrzeug steigen, Sir.« Ich tat, wie mir geheißen. Polizist Zwei fragte mit höhnischem Unterton: »Sie essen gern mal ein Stück Schokolade, stimmt das, Sir?«
»Offen gestanden bin ich wohl ein leichter Schokoholiker«, scherzte ich.
»Knabbern wohl gern mal in Ihrem Fahrzeug auf Kakaoprodukten herum, Sir?«, meinte Polizist Eins.
Ich war etwas perplex, antwortete aber: »Ja, meistens kaufe ich mir beim Tanken Schokolade.«
Meine Mutter hatte dem Gespräch mit kaum verhohlener Verärgerung gelauscht. »Es verstößt ja wohl nicht gegen das Gesetz, in seinem eigenen Auto zu essen, oder?«
Polizist Eins ging langsam um den Wagen herum zur Beifahrerseite. Meine Mutter kurbelte das Fenster herunter. »Es verstößt aber gegen das Gesetz, ohne die gebotene Vorsicht und Aufmerksamkeit zu fahren, Madam«, erwiderte er. »Und dieser Marsriegel wurden zwischen Ihnen und dem Fahrer des Wagens hin- und hergereicht wie der Stab beim Staffellauf.«
»Die Polizisten im Fernsehen stopfen sich auch immer am Steuer voll«, sagte ich.
Ich bemerkte ein Nervenzucken unmittelbar über seiner Schläfe, und er befahl meiner Mutter, auszusteigen, während er und sein Kollege das Wageninnere untersuchten. (Auf der Suche nach was: Twix, Smarties, Luftschokolade?) Wir kamen zu spät ins Krankenhaus. Der Katheter meines Vaters hatte sich gelöst. Während wir darauf warteten, dass jemand für uns zwei saubere Bettlaken irgendwo in der Klinik auftrieb, beobachtete ich Beryl, die outgesourcte Reinigungsfrau, dabei, wie sie einen schmutzigen, zerlumpten Mopp über den Fußboden der Station schob. Mir schauderte bei dem Gedanken an die Viren, von denen dieser Mopp wimmeln musste. Ich hoffte nur, dass sie sich nicht in den wundgelegenen Stellen meines Vaters häuslich niedergelassen hatten.

Mittwoch, 3. Mai

Was ist nur aus den Archers geworden? Früher einmal konnte man sich die Folgen im Beisein junger und leicht beeinflussbarer Menschen anhören. Jetzt muss ich das Radio ausschalten, wenn Glenn oder William in der Küche sind.
Die Liebesszenen zwischen Sid Perks und Jolene sind akustische Pornografie. Es ist, wie zwei Warzenschweinen beim Paarungsakt zu lauschen. Würde jemand bitte mal Kathy Perks über Sids Untreue ins Bild setzen? Und könnte derjenige, der bei der BBC für die Akzente zuständig ist, diesem sexuellen Belästiger Simon mal beibringen, wie man kanadisch klingt?
Dem derzeitigen Handlungsverlauf nach zu urteilen, prophezeie ich, dass bald ein sozial engagierter Dorfbewohner die Meinung äußern wird, dass Ambridge einen Jugendklub braucht. Drehbuchvorschlag:
 
JILL ARCHER (mit warmer Anteilnahme in der Stimme): Hast du das Graffiti auf Onkel Toms Grabstein gesehen: »Sid Perks nagelt Jolene«?
SOZIAL ENGAGIERTER DORFBEWOHNER (mit reichlich Anteilnahme in der Stimme): Ja, und ich bin untröstlich über den Schaden an der Statue von Walter Gabriel auf dem Dorfanger.
JILL ARCHER: Ja, es war grausam, ihm eine Biosteckrübe in den …
SOZIAL ENGAGIERTER DORFBEWOHNER (unterbricht sie): Das ist die Null-Bock-Generation, Jill. Sie wissen nicht, wohin, und haben nichts zu tun. Was sie brauchen, ist ein Jugendklub.
JILL ARCHER: Glaubst du? Glaubst du wirklich?
 
Dam-di-dam-di-dam-di-dam-dam-di-dam-di-dam-dam usw.

Freitag, 5. Mai

Pandora ist emsig damit beschäftigt, sich von jeder Schuld an Mr Dobsons unterirdischem Abschneiden in der Bürgermeisterwahl reinzuwaschen. Sie sagte: »Ich habe ihn angefleht, sich diesen bescheuerten Bart abzurasieren, ein paar Kilo abzunehmen, sich einen neuen Anzug zu kaufen, sich die Haare zu färben und die Zähne begradigen und bleichen zu lassen. Die Sache hat er ganz allein sich selbst zuzuschreiben.«

Samstag, 6. Mai

Arthur Askey Way
 
Meine Mutter rief mich heute Morgen an und fragte, ob ich ihr Fahrstunden geben würde, weil sie mehr mit dem Wagen unterwegs sein will und ihre Fahrpraxis aufpolieren möchte. Ich lachte ziemlich lange. Schließlich sagte sie: »Ja oder nein?« Ich antwortete: »Das würde in einer Katastrophe enden, du kannst ja nicht mal links von rechts unterscheiden.« Ich erkundigte mich, ob sie schon ihren neuen Gatten gebeten hatte. Sie meinte: »Iwan ist der Meinung, der Straßenverkehr sei auch ohne mich schon gefährlich genug.« Ich riet ihr, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, worauf sie erwiderte, es gebe keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Crème de la Crème der Flohmärkte in Saddington, mitten auf dem platten Land in Leicestershire.
»Warum fährt Iwan dich nicht nach Saddington?«, fragte ich.
»Iwan ist gelernter Buchhalter – er wird nervös beim Anblick so vieler Bargeldtransaktionen zwischen unausgebildeten Laien«, sagte sie.
Iwan war früher Hauptbuchhalter bei der Co-op-Molkerei, bis der kalte Wind des Wandels die Milchflaschen von den Stufen der Zeit wehte und sie durch den Tetrapak im Kühlregal der Supermärkte ersetzte.
Meine Mutter plapperte immer noch weiter: »Das letzte Mal, als ich auf einem Flohmarkt war, hat mir Iwan den ganzen Spaß verdorben, weil er ständig über den Mangel an Vorschriften genörgelt hat. Er sagte, sowohl die Käufer als auch die Verkäufer seien Anarchisten und sollten gezwungen werden, Steuern und Mehrwertsteuer zu bezahlen. Er hat sogar Pandora aufgefordert, einen Gesetzesantrag einzubringen: Das Flohmarktregulierungsgesetz.«
Als sie erwähnte, dass dort auch Abba-Platten und -Memorabilien zum Verkauf stünden, erbot ich mich, sie eines Sonntags hinzufahren.

Montag, 8. Mai

Mit meinem Vater geht es im Krankenhaus weiter bergab. Nun hat er sich mit einem Virus infiziert (dem durch das outgesourcte Putzen verbreiteten) und liegt auf einer Isolierstation. Tania ist praktisch durchgehend bei ihm. Sie nutzt seinen geschwächten Zustand aus, um ihm große Werke der Weltliteratur vorzulesen. Mit Moby Dick ist sie schon zur Hälfte durch. Als sie einmal auf die Toilette ging, fragte ich meinen Vater, wie ihm Melvilles bemerkenswerte allegorische Seefahrergeschichte gefalle. »Überhaupt nicht«, jammerte er. »Ich kann das Fischen nicht ausstehen.«
Mir fiel auf, dass Tania eine Ausgabe von George Eliots Silas Marner: Der Weber von Raveloe auf dem Nachttischchen deponiert hat. Offensichtlich sollte das der nächste literarische Leckerbissen zum Vorlesen sein. Ich überlegte, ob ich Tania gegenüber erwähnen sollte, dass mein Vater eine heftige Abneigung gegen Bücher, Filme und Fernsehserien über Kinder hat. (Irgendwas ist ihm mal in einem Kino zugestoßen, während er sich einen Shirley-Temple-Film ansah – was genau, weiß ich nicht, aber es hatte etwas mit einem Gabardinemantel zu tun.)
Tania hätte festeren Boden unter den Füßen, wenn sie sich an Raymond Chandler oder den frühen Dick Francis hielte.

Freitag, 12. Mai

Pamela Pigg kam vorbei, um mir mitzuteilen, dass sie für mich ein kleines Reihenhäuschen mit Blick auf ein Kanalbecken in Leicester gefunden habe. Die derzeitige Bewohnerin, eine Mrs Wormington, ist Rentnerin. Sie liegt im Krankenhaus, wird aber derzeit nicht oral ernährt, weshalb Pamela davon ausgeht, dass ich wahrscheinlich in ein paar Wochen einziehen kann. Ich fragte: »Nicht oral ernährt im Sinne von: sie wird bald den Sozialwohnungsbestand entlasten?«
Pamela sagte: »Sie belegt ein Haus mit vier Schlafzimmern und ist 97 Jahre alt.«
Daraufhin meinte ich: »Pamela, ich möchte nicht, dass Mrs Wormington sterben muss, damit ich den Blick auf die Kanalboote durch mein Wohnzimmerfenster genießen kann.« Ich erkundigte mich, in welchem Krankenhaus Mrs Wormington liege. Es ist dasselbe, in dem auch mein Vater ist, auf der Pankhurst-Station – was irgendwie passend ist. Wobei Mrs Emmeline Pankhurst damals aus eigenem Willen auf die Nahrungsaufnahme verzichtete.

Sonntag, 14. Mai

Mrs Wormington wird deshalb nicht oral ernährt, weil sie einen Schlaganfall hatte und nicht vernünftig schlucken kann. Sie hat weder Angehörige noch Freunde: »Die sind mir alle weggestorben, Junge«, erzählte sie mir. Ich befeuchtete ihren Mund mit einem in Wasser getauchten Wattestäbchen. »Ich belästige die Schwestern nicht gern«, krächzte sie.
Sollen Rentner der sprichwörtliche Mühlstein um meinen Hals sein? Ich spüre schon Mrs Wormingtons altersfleckige Hand an meiner Gurgel.

Mittwoch, 17. Mai

Nach einem Besuch bei meinem Vater, der von Tania dazu gedrängt wird, das Krankenhaus wegen Vernachlässigung und dem Verlust seines Gebisses zu verklagen, ging ich auf die Pankhurst-Station, um nach Mrs Wormington zu sehen. Sie darf immer noch nichts zu sich nehmen, obwohl inzwischen Zweifel hinsichtlich ihrer Schluckfähigkeit bestehen.
Ich war im Zimmer, als eine junge Ärztin in Jeans und T-Shirt (Aufdruck: Vertrauen Sie mir, ich bin Journalistin) brüllte: »Wir haben Mrs Namole, die HNO-Ärztin, gebeten, Sie zu untersuchen, Mrs Wormington.« Ich fragte, ob das bedeute, Mrs Wormington dürfe eine Tasse Tee trinken. »Noch nicht. Wir wollen ja nicht, dass sie erstickt«, gab die Ärztin zurück. »Ich werde sterben, wenn ich nicht bald eine Tasse Tee kriege«, röchelte die Patientin. Hastig eilte die Ärztin von dannen. Ich lief ihr nach. »Wann kommt die HNO-Ärztin das nächste Mal auf die Station?«, wollte ich wissen. »Mrs Namoles nächste Visite hier ist am Freitagnachmittag«, sagte sie.
Als der Teewagen herumgeschoben wurde, baute ich mich als Sichtschutz vor Mrs Wormington auf, doch sie hörte die Räder quietschen. »Ich habe 90 Jahre lang jeden Tag acht Tassen Tee getrunken«, ächzte sie. Die arme Frau gehörte von Rechts wegen in eine Suchtklinik. Sie macht das Äquivalent eines Crack-Entzugs durch.
Als ich im Fäkalienraum nach einer Vase für die Nelken suchte, die ich mitgebracht hatte, hörte ich einen Arzt im Schwesternzimmer über die »Bett-Blockierer« lamentieren. Beim Abschied sagte Mrs Wormington zu mir: »Winkewinke, mein Junge! Gott segne dich, bis morgen.« Ich sitze in der Falle! In der Falle!
Erneut ist ein Rentner in mein Leben eingebrochen und hält mich als Geisel.

Freitag, 19. Mai

Glenn fragte mich, warum die Wäscheleine voller Flanellnachthemden und riesiger Schlüpfer hängt. Ich erzählte ihm von Mrs Wormington, und er sagte: »Da bin ich aber erleichtert, Dad, ich dachte schon, du bist jetzt andersrum.«

Samstag, 20. Mai

Ich wachte um 3:00 Uhr nachts mit einem Ruck auf, genau als Leo Blair geboren wurde (gibt es eine seelische Verbindung zwischen mir und Cherie?). Als ich nach unten ging, entdeckte ich einen Zettel, den Pamela Pigg irgendwann im Laufe der Nacht durch den Briefschlitz gesteckt haben musste. Auf ein herausgerissenes rosa Kalenderblatt hatte sie geschrieben:
Lieber Adrian,
ich war heute auf einem Junggesellinnenabend mit den Mädels aus der Obdachlosenabteilung. Phillipa, die mit den Zähnen, wird am Mittwochmorgen Mary »heiraten«, die mit der Nase. Wir waren im Humperdink’s, diesem neuen Nachtklub in Melton Mowbray. Ich fühlte mich schrecklich deplatziert, um mich herum waren lauter halbwüchsige, sehr knapp bekleidete Mädchen. In meinem gepunkteten Outfit von Principles kam ich mir so altbacken vor. Das ist das letzte Mal, dass ich eine Empfehlung der Moderedakteurin des Leicester Mercury befolge.
Worum es mir aber eigentlich geht, Adrian, ist, dass der DJ unser Lied gespielt hat, »My Heart Will Go On«. Ich musste sofort die Tanzfläche verlassen. Kannst du dich noch an deinen Gefühlszustand erinnern, als wir nach der vom Leonardo-di-Caprio-Fanklub veranstalteten Sondervorführung von Titanic aus dem Multiplex kamen? Damals habe ich zum ersten Mal einen erwachsenen Mann weinen sehen. Das war ein großes Privileg. Ich vermisse dich, Adrian. Können wir es nicht noch einmal versuchen? Es war dumm von mir, mich wegen deines albernen Schweinebuchs so aufzuregen. In ewiger Liebe,
Pammy
 
 
PS: Mary und Phillipa meinten, du kannst gern auch zur Hochzeit kommen. Ich soll ihre Trauzeugin sein. Statt Geschenken wird um Spenden an die Fawcett Society für die Gleichstellung von Frauen gebeten. PPS: Ich hatte aufwühlende Fantasien, mich dir hinzugeben.
Das ist doch Erpressung! Wenn ich mit ihr zu dieser Lesbenhochzeit gehe, dann wird sie sich mir »hingeben«, oder was? Als ob ich noch eine weitere Minute in der Gesellschaft einer Frau verbringen wollte, die einen feministischen Wutanfall bekam, weil sie in meinem Bücherregal Philip Larkins Tagebücher entdeckte.

Mittwoch, 24. Mai

Die Hochzeit lief ganz gut. Ich war der einzige Mann dort. Selbst die Standesbeamtin war eine Frau. Ist das der Anfang vom Ende für die Männer? Pamela kam hinterher mit zu mir, weigerte sich aber, sich mir »hinzugeben«, als sie eine Ausgabe der Briefe von Kingsley Amis auf meinem Nachttisch und Mrs Wormingtons Schlüpfer auf der Wäscheleine entdeckte.

Sonntag, 28. Mai

Arthur Askey Way
 
Die Ähnlichkeit zwischen Leo Blair und William Hague ist geradezu unheimlich. Sie könnten gegenseitig als Doppelgänger durchgehen. Steckt Mr Hague in Strampler, Babyschühchen und Wollmütze, und er ist die leibhaftige Verkörperung des kleinsten Blair. Haben Cherie und Hague wasserdichte Alibis für den Tag, an dem Leo gezeugt wurde? Es würde mich nicht überraschen, wenn Mr Blair in ebendiesem Augenblick eine tränenüberströmte Mrs Blair auf ihrem Landsitz Chequers zur Rede stellt. Und Ffion muss inzwischen ein Foto von Leo gesehen und die eheliche Treue ihres Gatten infrage gestellt haben.
Meine Mutter teilt meinen Verdacht – in unserer Familie gibt es diverse Kinder, bei denen die Vaterschaft nach wie vor im Dunkeln liegt. Ich an Mr Blairs Stelle würde auf der Stelle einen DNA-Test verlangen. Wie kann er sich auf die Staatsgeschäfte konzentrieren oder seinem konservativen Kontrahenten im Unterhaus über das Rednerpult hinweg in die Augen sehen, solange er die Wahrheit nicht kennt?
Übrigens – falls meine schon länger vertretene Theorie (nämlich dass William Hague das uneheliche Kind von Margaret Thatcher ist) stimmt, dann würde das bedeuten, dass der kleine Leo Blair Thatcher-Blut in sich trägt. Normalerweise halte ich ja nichts von Verschwörungstheorien, aber in diesem Fall fühle ich mich veranlasst, jemanden zu warnen – bloß wen?

Dienstag, 30. Mai

Pandora ist morgen in ihrem Wahlkreis. Sie ist Ehrengast bei der Schließung der Bücherei St. Barnabas. Das Grillfest auf dem Parkplatz der Bücherei beginnt um 18:30. Ich werde meine Söhne mitnehmen. Außerdem werde ich Pandora gegenüber meinen Befürchtungen hinsichtlich der Blutsbande zwischen Blair, Hague und Thatcher Ausdruck verleihen.

Mittwoch, 31. Mai

Es war schmerzvoll, mit anzusehen, wie gebundene Bücher zur Zubereitung von Megaburgern und Extra-Riesen-Hotdogs verheizt wurden. Die frisch verrentete Bibliothekarin, Mrs Froggatt, warf ein paar Barbara Cartlands auf den Grill, als die Glut zu verlöschen drohte. Sie flackerten mit einem unheimlichen pinkfarbenen Leuchten auf. Es gelang mir gerade noch, ein paar Bände P. G. Wodehouse und William Brown zu retten, aber für die anderen konnte ich nichts tun. Glenn konnte gar nicht hinsehen. »Das ist nicht okay, Dad«, sagte er. Unter seinem rauen Äußeren verbirgt sich ein ziemlich sensibler Bursche.
Gegen 19:00 Uhr erschien Pandora und hielt eine Rede, in der sie erklärte, dass Büchereien durch den Siegeszug des Internets überflüssig geworden seien. Ein alter Mann schrie aus der Menge: »Von 75 Pence pro Woche Rentenerhöhung kann ich mir kein Internet leisten!«
Ich versuchte, mit Pandora über meinen Verdacht Leo Blair betreffend zu sprechen, aber sie hatte es plötzlich ziemlich eilig. Offensichtlich war ihr bewusst geworden, dass es eine potenzielle PR-Katastrophe wäre, vor brennenden Büchern fotografiert zu werden.

Donnerstag, 1. Juni

Mrs Wormington hat sich so weit erholt, dass sie das Krankenhaus verlassen kann. Als ich gerade mit Glenn und William bei ihr zu Besuch war, tauchte ihr Sohn Ted plötzlich auf und versuchte, sie dazu zu überreden, in ein Altenheim zu ziehen. Sie hatte Ted seit 21 Jahren nicht mehr gesehen, seit einem Streit über eine Standuhr. Doch Mrs Wormington blieb hartnäckig, sie wolle in ihr eigenes Haus zurückkehren. Ted sagte: »Du spinnst doch, Mama. Du kannst mit 97 nicht ganz allein leben. Wenn du nicht in ein Altenheim gehst, musst du zu mir und Eunice ziehen.« Ein Ausdruck des Entsetzens huschte über ihr verrunzeltes Gesicht. Während Ted kurz weg war, um Eunice anzurufen, umklammerte Mrs Wormington meinen Ärmel. »Du darfst nicht zulassen, dass er mich zu sich und Eunice holt. Sonst bin ich in einer Woche tot. Diese Eunice ist eine schlecht gelaunte alte Ziege – die hat noch nie in ihrem Leben gelacht.« Als Ted zurückkehrte, berichtete er, dass Eunice immer noch verstimmt wegen der Standuhr sei. Glenn verkündete: »Kein Problem, sie kommt mit zu uns.« Ich hätte ihn umbringen können.

Freitag, 2. Juni

Mrs Wormington hat über die Königinmutter gelästert. »Die hat doch noch nie im Leben einen Finger krumm gemacht«, schimpfte sie. »Kein Wunder, dass sie ständig lächelt.« Morgen zieht sie bei uns ein. Der Windelservice für Erwachsene ist schon bestellt.

Samstag, 3. Juni

Arthur Askey Way
 
Wegen Mrs Wormingtons fortgeschrittenem Alter ist es, als läge ein lebendiges Geschichtsbuch aufgeschlagen auf dem Küchentisch. Die Erwähnung von Dunkirk rief eine Anekdote über ihren jüngeren Bruder Cedric ab, der auf seinem kleinen Schiff, der Betty Grable, während der berühmten Evakuierung der alliierten Truppen über den Ärmelkanal segelte. »Bei seiner Rückkehr war er nicht mehr derselbe«, erzählte sie. »Er hat zu stricken angefangen und ist der Kommunistischen Partei beigetreten.« Offenbar reichten diese beiden Aktivitäten aus, um ihn aus dem Schoß der Familie Wormington zu verbannen. »Ich habe ihm immer heimlich geschrieben«, sagte sie. »Und zum Geburtstag hab ich ihm Strickmuster geschickt.« William und Glenn kleben anlässlich des Jahrestags der Evakuierung am Fernseher, in der Hoffnung, in einem der vielen Berichte Cedric auf seiner Betty Grable zu entdecken.

Sonntag, 4. Juni

Meine Mutter kam vorbei, um bei Mrs Wormington und den Jungs zu bleiben, während ich meinen Vater im Krankenhaus besuchte. Seine ursprünglichen Verletzungen heilen gut, aber er leidet immer noch unter der Infektion, die er sich im Krankenhaus geholt hat. Wie es aussieht, hat sein Körper auf den Großteil der starken Antibiotika nicht angesprochen, die man ihm verabreicht hat. Was mein Vater zum Anlass für Prahlereien nimmt – im Stil von »kein Antibiotikum der Welt kann es mit George Mole aufnehmen«.
Tania hat sich alle Mühe gegeben, ihn zu einem neuen Mann der Mittelschicht zu machen, aber ich fürchte, das ist vergebliche Liebesmüh. Seit dem Gartenpagodenunfall ist er in seine alten Angewohnheiten zurückverfallen: Jeden Morgen wird ihm die Sun von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Women’s Voluntary Service ans Bett gebracht, und aus dem computergenerierten Menüformular sucht er sich unfehlbar die schwer verdaulichen Nahrungsmittel aus. Auch das Vorlesen erbaulicher Literatur hat Tania aufgegeben, seit er am Ende von Die Möwe Jonathan laut lachen musste.
Als ich nach Hause kam, fand ich eine tröstliche Szene generationenübergreifender Harmonie vor: Mrs Wormington, meine Mutter, Glenn und William saßen im Kreis und reichten den Nissenkamm von einem zum anderen. William hat wieder einmal Kopfläuse in unser Heim gebracht.
 
Iwan Braithwaite kam meine Mutter abholen. Bei ihm wurde kürzlich das Angebotsübersättigungssyndrom diagnostiziert, nachdem er im Supermarkt vor dem Waschpulverregal zusammengebrochen war. Eine Überwachungskamera filmte sein absonderliches Verhalten – volle zwanzig Minuten lang lief er auf und ab und kritzelte Berechnungen auf einen Block. Dann kniete er sich neben die Persil Ökotabs und brach in Tränen aus. Als meine Mutter schließlich erschien, um ihn abzuholen, saß er hungrig und durstig im Büro des Marktleiters. Man hatte ihm zwar Tee und Kaffee sowie Ingwerplätzchen und Haferkekse angeboten, aber selbstredend war er nicht in der Lage gewesen, sich zu entscheiden.
Zwar mag ich den Mann nicht, aber sein Leiden kann ich nachempfinden. Ich bekomme selbst ein Pochen in den Schläfen, wenn ich mich zwischen Hunderten von Shampoosorten entscheiden soll.

Montag, 5. Juni

Habe an Der Schweinestall gearbeitet, meinem neuen Roman. Seit der Trennung von Pamela Pigg schreibe ich besser denn je. Hat P. Pig mich in irgendeiner Weise blockiert?

Dienstag, 6. Juni

Während die Jungs in der Schule waren und Mrs Wormington sich von einer hausierenden Fußpflegerin behandeln ließ, schrieb ich über eine Seite an Der Schweinestall. Sollte ich meinem Schweinehelden einen Namen geben oder sollte das Schwein symbolisch für die Menschheit in all ihrer Mühsal stehen? Ich brauche literarischen Rat von einem Lektor.
22:00 Uhr. Habe gerade im Internet nach Lektoren gesucht und stieß auf den Lektor des Jahres …
An: Penguin Books, Kensington
 
Sehr geehrte Louise Moore,
herzlichen Glückwunsch zu Ihrer renommierten Auszeichnung. Mein Name ist Adrian Mole, ich bin ein Vollzeitbetreuer und Teilzeitautor und -dramatiker (bislang unveröffentlicht und nicht aufgeführt). Derzeit arbeite ich an einem Bewusstseinsstrom-Roman aus der Sicht eines Schweins. Damit habe ich mir keine leichte Aufgabe gestellt – denn ich bin natürlich selbst kein Schwein und habe keine Ahnung, was diese Tiere so den lieben langen Tag denken. Darf ich Sie aufsuchen? Damit verbleibe ich, verehrte Dame, Ihr bescheidener und ergebener Diener,
Adrian Mole

Donnerstag, 8. Juni

Arthur Askey Way
 
Ich stecke in einem schweren Dilemma. Aus Mrs Wormingtons Daily Express fiel heute eine Beilage. Ein glänzendes buntes DIN-A6-Blatt mit der Überschrift »Prominenten-Puzzle!« lud mich ein, die Oberfläche eines Mercedes-Cabrios zu rubbeln, um darunter das Bild eines berühmten Stars freizulegen. Ich folgte der Anweisung. Während das kleine Häufchen metallisch grauen Staubs neben mir anwuchs, erkannte ich nach und nach die Züge von Cameron Diaz.
Mrs Wormington sah mir über die Schulter. »Wer soll das denn sein?«, fragte sie. (Als sie das letzte Mal im Kino war, lief ein Film mit Rock Hudson. Ich bete, sie möge niemals erfahren, dass Rock sich schwer zusammennehmen musste, um Doris Day zu küssen – die Wahrheit könnte sie umbringen.) Ich studierte weiter die Anleitung: »Nun rubbeln Sie, beginnend bei Nummer 1, die vier Felder an der Seite frei.« Glenn und William bettelten jetzt darum, je zwei Felder freikratzen zu dürfen. Glenn las laut die Instruktionen vor, während William rubbelte. »Wenn Sie ein dazu passendes Bild finden – hören Sie auf zu rubbeln – Sie haben gewonnen!« Leider enthüllte Williams eifriges Schaben mit dem Zweipencestück Tom Cruise und George Clooney. Mrs Wormington musterte diese beiden Mega-Herzensbrecher und bezeichnete sie als »warme Brüder«, die aussahen, als ob sie »kein Lavendelsäckchen stopfen« könnten.
William erklärte, er sei aufgrund seines Versagens »am Boden zerstört«. Ich darf ihn nicht mehr so viel fernsehen lassen; es hat eine verderbliche Wirkung auf sein Vokabular. Ihm fehlt der Sinn für das rechte Maß. Als er gestern vom Fahrrad fiel und ich ihn fragte, ob alles in Ordnung sei, antwortete er: »Alles okay, Dad, Höhen und Tiefen gehören zum Leben.«
Die Spannung wuchs, als Glenn die Münze zur Hand nahm. Schritt für Schritt kam das Gesicht Samuel L. Jacksons zum Vorschein. Mrs Wormington verwechselte ihn mit Michael Jackson und schien zu glauben, dass M. Jackson tatsächlich seinen Schimpansen Bubbles geheiratet habe. Ich versuchte ihr zu erklären, dass der Affe vielmehr Trauzeuge bei Elizabeth Taylors letzter Hochzeit gewesen sei, doch ich sah ihr an, dass der Lauf der modernen Welt ihr Begreifen überstieg.
Inzwischen war die Atmosphäre so dicht, dass das Wort »greifbar« in der Luft vibrierte. Glenn schloss die Augen in stillem Gebet, dann rubbelte er das vierte Feld frei. Unglaublicherweise, unfassbarerweise wurde das lächelnde Gesicht von Cameron Diaz unter den grauen Krümeln sichtbar. Unser kollektiver Freudenschrei lockte Vince und Peggy Ludlow an unsere Tür. »Ich hab einen Mercedes gewonnen, Dad!«, rief Glenn, und wir umarmten uns allesamt, wenn wir auch Mrs Wormington ausklammerten, da ihre Knochen brüchig sind. Fieberhaft las ich weiter.
»Glückliche Gewinner können umgehend herausfinden, was sie gewonnen haben. Wählen Sie einfach die 0906- 551-1020 und hören Sie gut zu. Halten Sie einen Stift bereit, um sich Ihre persönliche Gewinnzahl zu notieren, die Sie brauchen werden, um Anspruch auf Ihren Preis zu erheben.«
Ich drehte die Broschüre um. Glenn hatte nicht zwangsläufig ein Mercedes Cabrio gewonnen, wenn er auch für zehn überglückliche Sekunden glaubte, dass es so war. Er berichtete mir später, dass er sich in diesem kurzen Zeitraum ausgemalt hatte, in einem silbernen Wagen mit offenem Verdeck und aus den Boxen dröhnendem Gangstarap zur Schule zu fahren. In seiner Vision parkte er neben dem klapprigen VW des Schulleiters und spazierte über den Spielplatz, die Autoschlüssel am Zeigefinger baumelnd. Ich musste ihm schonend beibringen, dass er möglicherweise einen anderen, weniger wertvollen Preis gewonnen hatte, wie zum Beispiel: ein Wochenende in Cannes mit 500 £ Taschengeld, eine Gartenmöbelgarnitur aus Hartholz, eine Spülmaschine oder sogar noch kleinere Gewinne wie ein Schlüsselmäppchen, einen Rasierapparat, Küchenscheren oder ein Sortiment Pflanzensamen.
Peggy las das Kleingedruckte und wies darauf hin, dass es mich 1 £ pro Minute kosten würde, herauszufinden, was Glenn tatsächlich gewonnen hatte, und dass ein Anruf durchschnittlich mindestens 3,5 Minuten dauerte.
Begreifst du mein Dilemma, liebes Tagebuch? Soll ich über drei Pfund hinblättern, nur um zu erfahren, dass Glenn ein Sortiment Pflanzensamen gewonnen hat, oder beziehe ich klar Stellung gegen Ausbeutung und riskiere, dass ihm ein Mercedes Cabrio durch die Lappen geht?

Donnerstag, 22. Juni

Arthur Askey Way
 
Die ganze Straße befindet sich in heller Aufregung. Brandon Ludlow, 22-jähriger Fußballfan, soll heute Nachmittag aus Charleroi, Belgien, nach Hause zurückkehren. Vor dem Haus der Ludlows hängt ein Transparent: »Willkommen zu Hause, unser Held«.
Brandon wurde vor dem Spiel England-Rumänien verhaftet. Dem Vernehmen nach saß er friedlich in einem Straßencafé und unterhielt sich beim Essen mit seinem Freund »Mad Dog« Jackson über Tolstoi, als ein brutaler belgischer Polizist in Kampfmontur ihn unbarmherzig mit einem Schlagstock attackierte.
Mad Dog Jackson entkam, aber Brandon wurde mit einem Kabelbinder gefesselt und in den Laderaum eines Polizeitransporters geworfen, wo er mit dem Gesicht nach unten nur Zentimeter von einer Urinlache entfernt liegen blieb. Als der Transporter voll war, wurde er zur Wache gefahren. Brandon wurde in eine Arrestzelle geschubst, wo er mit 40 weiteren Festgenommenen bis Tagesanbruch stehen musste. Brandon durfte nicht bei seiner Familie, den Ludlows, anrufen (was im Übrigen auch zwecklos gewesen wäre, da das Telefon der Ludlows wegen nicht bezahlter Rechnungen abgestellt worden ist).
Peggy Ludlow droht, den belgischen Premierminister zu verklagen, sobald sie herausgefunden hat, wer das ist. Beim Zubereiten der Partyverpflegung sagte sie zu mir: »Adrian, unser Brandon ist das Einzigste von meinen Kindern, was kein Hooligan ist. Unser Brandon ist schon immer ein seltsames Kind gewesen, weißt du, der hat nur so zum Spaß Bücher gelesen und über Sachen gesprochen, wo sich keiner von uns anderen dafür interessiert hat.«
Sie erzählte weiter, dass Brandon nur zu Recherchezwecken zu diesem Spiel gefahren sei. Er schreibe an einem Essay über David Beckham mit dem Titel »Gott oder Inselbegabung?« und hoffe, ihn im London Review Of Books unterzubringen.

16:00 Uhr

Der Lärm draußen – plärrende Autohupen, schrilles Pfeifen, bellende Dobermänner – sagt mir, dass Brandon angekommen ist. Wir sind alle zu der Party eingeladen. Glenn und William sind sehr aufgeregt, da sie die Krawalle in Charleroi gespannt auf dem Fernsehbildschirm verfolgt haben.
Genau genommen haben sie sogar mehr Interesse an den Straßenschlachten als an dem Spiel auf dem Fußballfeld gezeigt. Mrs Wormington unterhielt sich mit mir, während ich eins ihrer gewaltigen, weit schwingenden Sommerkleider bügelte. Ihrer Ansicht nach haben sich gewisse Kreise junger Engländer schon immer wie Barbaren benommen, wenn sie gruppenweise ins Ausland reisten. »Was denkst du denn, wie wir’s geschafft haben, all diese fremden Länder zu erobern? Die Schlappschwanztruppe war das jedenfalls nicht, die die Landkarte rosa gefärbt hat.«
Sie bestand darauf, einen Hut zur Party der Ludlows zu tragen, offenbar in der irrigen Annahme, wir gingen ins mittelalterliche Ludlow Castle statt ins Wohnzimmer einer Sozialwohnung. Ich führte ein sehr interessantes Gespräch mit Brandon, der wirklich ein sehr sensibler, intelligenter junger Mann ist. Er erinnerte mich an mich selbst in jüngeren Jahren, bevor mich der Alltag als alleinerziehender Vater und die nie enden wollende Hausarbeit (die nun auch noch die Pflege einer über Neunzigjährigen beinhaltet) in den Würgegriff nahmen. Bei Toastbrot-und-Schmelzkäse-Sandwichs unterhielten wir uns über seinen Leidensweg. Brandon sagte, seine Nacht in der Zelle wurde einzig dadurch erträglich, dass auch ein Anwalt unter den Verhafteten war, der zufällig ein Exemplar des Spectator von letzter Woche bei sich hatte. Ebendieser Anwalt versuchte, seine Hooligan-Kollegen dazu zu bringen, den Namen Boris Johnsons zu skandieren, doch nur wenige fielen mit ein, und schließlich gab er auf und legte sich schlafen, allerdings erst, nachdem er Brandon eine ganz besonders schaurige sexuelle Fantasie gestanden hatte, in der es unter anderem um die Journalistin Petronella Wyatt und den konservativen Kolumnisten Bruce Anderson ging.
Nach einer hitzigen Debatte mit Vince Ludlow über Mrs Wormingtons Angewohnheit, jedes Mal, wenn die Ludlows den Geschlechtsakt vollziehen, mit einem orthopädischen Schuh an die Verbindungswand zu klopfen, brachte ich meine Familie nach Hause.

Sonntag, 25. Juni

Brandon kam wie versprochen vorbei, um mein Manuskript von Der Schweinestall zu lesen. Ich wage nicht, es aus den Händen zu geben. Viel Arbeit steckt in den ersten drei Kapiteln. Nach den ersten paar Seiten blickte Brandon auf und meinte, er halte es für einen Fehler, meinen Schweinehelden Luzifer zu nennen, da es im Leser falsche mephistophelische Erwartungen wecke. Auf eine solch beißende Kritik hätte ich gut verzichten können, aber ich muss zugeben, dass Brandon nicht ganz unrecht hat. Während die Waschmaschine noch schleuderte, taufte ich Luzifer in Peter um. Es ist verblüffend, wie sehr das den ganzen Tonfall verändert hat. Jetzt liest es sich wie ein Kinderbuch. Vielleicht gebe ich dem Buch den Untertitel Eine Bauernhof-Allegorie. Pass auf, Harry Potter. Jetzt kommt Peter Pig!

Samstag, 1. Juli

Arthur Askey Way
 
Um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, habe ich mir überlegt, William das umgeschriebene Manuskript von Der Schweinestall als Gutenachtgeschichte vorzulesen. Der politische und philosophische Subtext dürfte ihm zwar entgehen, aber ich hatte die Hoffnung, dass die Erzählung selbst ihn fesseln würde. Bereits nach ein paar Absätzen meckerte er, er wolle eine Geschichte von Noddy und Großohr hören, doch ich ließ nicht locker.
Peter Pig hob seinen Schweinskopf aus dem Trog und betrachtete den erbarmungslos grauen Himmel der East Midlands. Eine Wolke, die aussah wie ein handelsüblicher Wattebausch, eilte über den oben erwähnten Himmel wie ein Eurostar-Hochgeschwindigkeitszug bei der Ausfahrt aus Waterloo Station.
Peter seufzte und wanderte im Stall herum. Der Schmutz und der Schlamm quollen ihm zwischen die Hufe. Sie waren ekelerregend, die Bedingungen, unter denen er leben musste, dachte er. Warum sollten Bauer Hogg und seine Frau Pamela den Luxus von Teppichen und Plastikfliesen unter ihren Füßen genießen, während er und seine Mitschweine dazu verdammt waren, durch ihre eigenen Exkremente zu waten?
Peter wandte den Blick dem Innenhof zu, wo Bauer Hogg und Pamela ein Grillfest für ihre Freunde abhielten.
Der widerliche Gestank von Schweinefett, das auf »Eine für alles«-Grillkohle tropfte, wehte zu ihm herüber und ließ ihm die Augen tränen.
Er lauschte den Gesprächen der Menschen, die sich an dem Buffet gütlich taten, das Pamela nach dem Abspann der Archers im Radio zubereitet hatte.
Die Gäste schlürften Sekt mit Orangensaft, und Peter sehnte sich danach, die Flüssigkeit in seinem eigenen Maul zu spüren. Seine Mitschweine Antonia und Miles führten im Koben nebenan eine heftige Diskussion über das Wesen des Daseins. Peter seufzte, er hatte philosophische Debatten so satt. Typisch, dass ausgerechnet er mit zwei Intellektuellen in einem Schweinestall festsitzen musste. Wie er nach Smalltalk lechzte! Er drehte seine Ohren Richtung Innenhof und strengte sich an, etwas von der Unterhaltung mitzubekommen. »Jedenfalls hab ich es satt«, sagte ein grauhaariger Mann namens Ken, »nach allem, was Mo durchgemacht hat.«
Eine gepflegt aussehende Frau namens Barbara zischte: »Nicht hier, Ken, da hinten neben dem Gewürzgurkenglas steht ein Kerl namens Derek von der Ashby Gazette
»Ich lasse mir nicht den Mund verbieten«, donnerte Ken. »Es ist feige von Tony, ihr so in den Rücken zu fallen.«
Vom Schweinestall aus beobachtete Peter, wie Derek sich vom Gurkenglas abwandte, seinen Notizblock zückte und sich an Ken und Barbara heranpirschte.
An dieser Stelle begann William zu heulen, weil er eine Noddy-Geschichte wollte. Ich jedoch las noch einige Zeilen in Der Schweinestall weiter.
Ein anderes Grüppchen sorgte für den Smalltalk, nach dem Peter dürstete. Von einer Frau in einer weißen Jeans hörte er: »Wir unterstützen ja im Prinzip das System Gesamtschule, aber unsere Kinder sind wahnsinnig sensibel, deshalb.« Und ein Mann, der eine Ray-Ban mit Drahtgestell trug, verkündete: »Die Häuserpreise müssen einfach bald sinken. Wir haben für unseres …«
Peter war im siebten Himmel. Später am Abend – die Grillglut war längst verglommen – sah er hinauf in die Sterne und sann über das Wesen des Smalltalks nach. Um leichter einzuschlafen, übte er sich in dieser Kunst. Er wählte eines seiner Lieblingsthemen: »Das nennt sich nun Sommer? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann das letzte Mal die Sonne geschienen hat.«
Binnen weniger Minuten war William eingeschlafen.

Sonntag, 2. Juli

Ich kann Noddy nicht ausstehen, aber ich hatte es William versprochen, also dachte ich mir folgende Geschichte aus:
Großohr hatte Geburtstag, also fuhr Noddy zum Feiern mit seinem Taxi ins Spielzeugland. Die Kumpel gingen von Pub zu Pub und tranken ein Pint nach dem anderen. Großohrs Gesicht wurde sehr rot, und das Glöckchen an Noddys Mütze klingelte wie verrückt. Als sie aus dem letzten Pub kamen, beschimpfte ein Trupp Kegel Großohr als Perversen und fing eine Prügelei an. Mr Plod, der Polizist, wurde gerufen und sah, wie Noddy dem größten Kegel einen Kopfstoß versetzte.
»Hey, ich bring dich jetzt zum nächsten Geldautomaten«, sagte Mr Plod. »Sag mir deine PIN-Nummer, Noddy.« Aber leider war Noddy so betrunken, dass er sie vergessen hatte, also haute Mr Plod ihm feste mit seinem Gummiknüppel auf den Kopf.
Gute Nacht.

Mittwoch, 5. Juli

Arthur Askey Way
 
Ins Krankenhaus kam mein Vater ursprünglich wegen Knochenbrüchen und diverser anderer Verletzungen, die er sich zuzog, als er beim Bau einer japanischen Pagode für die von allem Orientalischen besessene Tania von der Leiter fiel.
Inzwischen wird er seit Monaten wegen einer Krankenhausinfektion stationär behandelt und hat sich vollständig an den Anstaltsalltag gewöhnt. Wenn er um 7:00, 12:00 und 17:00 Uhr den Essenswagen am Ende des Flurs anrollen hört, sammelt sich Speichel in seinem Mund. Er behauptet, dort glücklich zu sein, sagt, er habe keine Sorgen: Andere Leute bezahlten die Rechnungen, seien auf den gefährlichen Straßen unterwegs, steckten in Staus fest und müssten den Einkauf im Supermarkt erledigen.
Sharon Bott, die Mutter meines Sohnes Glenn, arbeitet als Putzfrau im Krankenhaus. Sie erzählte, dass ihr Mopp im Rahmen eines Infektionskontrollprogramms zu Tests ins Labor geschickt wurde. Als ihr der Mopp wieder ausgehändigt wurde, »sah er aus wie durch den Wolf gedreht«.

Donnerstag, 6. Juli

Ich habe gerade einen Stapel Gedichte unter dem Waschbecken versteckt gefunden. Sie sind in Glenns Handschrift verfasst. Warum er glaubt, den Beweis einer besonderen Empfindsamkeit vor mir verstecken zu müssen, ist mir ein absolutes Rätsel. Dieses Haus ist ganz dem kreativen Geist geweiht. William zum Beispiel bastelt mit Leidenschaft Miniaturgärten in alten Schuhkartons. Vielleicht wird er später mal ein Landschaftsgärtner wie der legendäre Capability Brown oder die unvergleichliche Charlie Dimmock.
Am besten gefällt mir das Gedicht »Warum?«.
WARUM?
Warum muss alles Schöne verrecken,
Bäume, Vögel und auch Schnecken?
Allerdings werde ich einen Fehler in Glenns Gedicht korrigieren müssen. Schnecken sind nicht schön. Sie haben ein abstoßendes Äußeres und zudem ausgesprochen unangenehme Angewohnheiten. Am zweitliebsten mag ich ein Gedicht mit dem Titel »Patsy«.
PATSY
Ich liebe wie dein Schlürfen klingt,
wenn du aus einem Becher trinkst.
Liam ist doch bindungsscheu,
komm zu mir, ich bleib dir treu.
Ich bin zwar noch ein junger Spund,
bin auch nicht reich, doch kerngesund.
Flieh aus deinem gold’nen Käfig,
doch wisse, ich bin minderjährig.
Auf Sex muss ich darum verzichten
und keusche Liebeslieder dichten.
Als Glenn von der Schule nach Hause kam, schnappte ich ihn mir sofort wegen der Gedichte. Er ließ den Kopf hängen und wurde knallrot. »Sag das bloß keinem, Dad«, bat er.

Samstag, 8. Juli

Meine Mutter hat eine Familienkonferenz einberufen. Ich bin das Thema. Mein Vater war per Telefon aus dem Krankenhaus zugeschaltet. Weitere Anwesende waren: Iwan Braithwaite, Tania, Mrs Wormington und meine Tante Susan, eine Gefängnisaufseherin. Sie alle fürchten, dass ich mein Leben vergeude. Ich wandte ein, dass ich in Vollzeit zwei Kinder und eine 97-jährige Frau versorge. Meine Mutter sagte: »Wozu hast du denn die ganzen Bücher gelesen, wenn du jetzt mit deinem Wissen nichts anfängst außer Waschen und Bügeln und Kochen? Dann hättest du genauso gut als Mädchen auf die Welt kommen können.«
Tante Susan drückte ihre Zigarre aus und fuhr sich mit den Fingern durch die kurzgeschorenen Haare, bevor sie sagte: »Adrian, ich könnte dir einen Job in der Gefängnisbücherei besorgen.«
Um sie alle zum Schweigen zu bringen, versprach ich, es mir zu überlegen, aber die Vorstellung, in Kontakt mit Häftlingen zu stehen – und seien sie auch des Lesens und Schreibens kundig -, erfüllt mich mit Entsetzen. Tania äußerte die Ansicht, ich sei auf ungesunde Art und Weise auf alte Leute fixiert. »Warum kannst du dich nicht einfach damit begnügen, ehrenamtlich in einem Altersheim zu arbeiten? Warum verspürst du den Drang, einen von ihnen bei dir im Haus wohnen zu haben?« Darauf konnte ich ihr keine Antwort geben. Als alle weg waren, fragte Mrs Wormington: »Wer war denn die hochnäsige Ziege in dem Kimono?«

Montag, 10. Juli

Nächste Woche lasse ich mir die Bücherei im Wind-on-the-Wolds-Gefängnis zeigen. Dort ist eine Teilzeitstelle frei, um Gottes willen!

Donnerstag, 13. Juli

Meine Mutter hat gerade panisch angerufen und etwas von Creutzfeldt-Jakob geplappert. Sie ist einmal auf dem Weg zum Gartencenter in Quorn mit dem Auto durch das besonders schwer betroffene Dorf Queniborough gefahren und ist jetzt überzeugt, dass sie sich als nächstes Opfer in die Schar der Unglückseligen reihen wird, die sich die tödliche Krankheit dort geholt haben. Seit Iwan Braithwaite mit seinem zwanghaften Sterilisieren von Schneidebrettchen und Besprühen der Hundedecke mit Sagrotan in unser Haus gezogen ist, hat sie sich zum Hypochonder entwickelt.
Ich bemühte mich, ihre Ängste zu zerstreuen, doch sie war geradezu hysterisch und flehte mich um Vergebung an. »Wofür denn?«, fragte ich, weil ich nicht sofort wusste, welches ihrer diversen elterlichen Verbrechen ich ihr verzeihen sollte. »Für die billigen Rindfleischburger, die ich früher dreimal die Woche auf den Tisch gebracht habe«, sagte sie. »Ich wusste doch nicht, dass die aus altem Rückenmark und Sägemehl gemacht werden, Aidy.«
Ich tröstete sie, dass ich die Rindfleischburger meiner Kindheit so durch und durch ekelhaft gefunden hatte, dass ich sie immer heimlich an den Hund verfütterte. Sobald meine Mutter eine Packung dieser widerlichen Dinger aus dem Eisfach holte, bezog das Tier unter dem Tisch Posten. Ich persönlich warte nur auf den Lebensmittelskandal, der fertigen Kabeljau in Buttersauce aus dem Kochbeutel betrifft. Ich muss ganze Schwärme davon vertilgt haben. Und dann waren da noch die Rinderbraten-Fertiggerichte mit Beilagen, die wir früher immer sonntags verzehrten. Die ganze Alufolie kann uns auch nicht sonderlich gutgetan haben. »Von jetzt an esse ich nur noch 100 % Bio«, erklärte meine Mutter.
»Aber du weißt doch mit richtigen Lebensmitteln gar nichts anzufangen«, erinnerte ich sie, worauf sie entgegnete: »Aber ich hab doch Delia und Nigel und Jamie, die helfen mir.« Als würden sich in ihrer dürftig ausgerüsteten Küche lauter Promiköche gegenseitig vom Herd wegschubsen.

Freitag, 14. Juli

Mrs Wormington ist mit den Ludlows nach Mablethorpe gefahren. Sie haben einen Wohnwagen mit acht Schlafkojen auf einer Wiese nicht weit vom Meer stehen. Sie wollten auch William mitnehmen, aber ich musste Nein sagen. Der Junge ist so leicht zu beeinflussen und übernimmt allzu bereitwillig die unglückselige Ausdrucksweise der Ludlows. Gestern war er zum Spielen bei ihnen, und als er nach Hause kam und ich sagte, es sei Zeit fürs Bett, antwortete er: »Erzähl das doch’ner Parkuhr. Hier hast du zehn Pence. Sprich nach dem Piepton.« Peggy Ludlow berichtete, dass die Jerry Springer Show im Fernsehen lief, während William auf dem Teppich mit Vince Ludlows Steckschlüsselsatz spielte.

Samstag, 15. Juli

Heute Abend habe ich mir die Doku Hinter den Kulissen von Downing Street angesehen. Welch stattliche Erscheinung er doch ist. Er ist gebieterisch, charmant, klug und hat einen üppigen Haarschopf. Alles in allem sehr imposant. Alastair Campbell ist genau der Mann, der ich gerne wäre. Mr Blair hingegen wirkt im Vergleich dazu glanzlos. Seit Leo darauf beharrt, mit im Ehebett zu schlafen und Euan, der älteste Blair-Sprössling, zur Flasche greift, ist er wie verwandelt. Ja, man könnte sagen, Tony hat eine Verweiblichung vollzogen: Sein Haar ist flaumiger geworden, seine Stimme weicher, sein Ausdruck ist mädchenhaft, die Hände bewegen sich so anmutig wie die einer Geisha. Hat er eine Hormontherapie begonnen, die ihn letztlich zu Toni transformieren wird – dem ersten weiblichen Labour-Premier? Das Land muss gewarnt werden. Wir werden Zeit brauchen, um uns an die Veränderung zu gewöhnen.
William Hague hingegen strotzt in letzter Zeit vor Testosteron. Als Nächstes wird er noch ein parlamentarisches Charter der Hell’s Angels gründen, wenn er seinen Hormonspiegel nicht unter Kontrolle bekommt. Freut sich Ffion über diesen neuen zupackenden Mussolini-artigen Mann in ihrem Bett oder schläft sie bereits im Gästezimmer, wie die Frau von Prince Edward?

Sonntag, 16. Juli

Die Ludlows sind mit Unterkühlung von einem Spaziergang über die Promenade in Mablethorpe zurückgekehrt. Mrs Wormington musste ins Krankenhaus von Skegness gebracht werden. Man hat sie in eine silberne Rettungsdecke gewickelt.
Als Tante Susan mich auf meinem Handy anrief und ärgerlich fragte, warum ich nicht wie versprochen in der Gefängnisbücherei vorgesprochen habe, erwiderte ich wahrheitsgemäß, dass ich mit einem Trauerfall rechne.

Mittwoch, 19. Juli

Arthur Askey Way
 
Das Sommerwetter in Mablethorpe hat Mrs Wormington umgebracht. Sie war eine topfitte 97-Jährige, als sie mein Haus im Arthur Askey Way am Freitag, den 14. Juli, um 13:15 Uhr verließ. Ich gehe deswegen so ins Detail, weil Eunice, Mrs Wormingtons Schwiegertochter, gerade dieses Haus verlassen hat. Sie war gekommen, um die Habseligkeiten der Verstorbenen abzuholen und warf mir vor, eine »gebrechliche Frau zum Sterben an die Ostküste« geschickt zu haben.
Erst als sie in ihrem dreirädrigen Reliant Robin davongefahren war, begriff ich, dass sie mich praktisch des Mordes bezichtigt hatte. Sofort rief ich meine Mutter an, die eine anerkannte Expertin in Sachen Rechtsstreitigkeiten ist (sie ist der Schrecken der Zivilgerichte). Sie riet mir, den Rat ihres Anwalts Charlie Dovecote einzuholen.
Es kostete mich 50 £ zuzüglich Mehrwertsteuer, von Dovecote zu erfahren, dass es zwar tollkühn gewesen sein mag, eine knapp Hundertjährige in einer steifen Ostbrise auf einem Esel reiten zu lassen, dies aber nicht den Tatbestand des Mordes erfülle.
Als ich Mrs Wormingtons Bett abzog, fand ich ein Bündel alter Briefe unter der Matratze. Ich war froh, dass die furchtbare Eunice sie übersehen hatte.
2. Oktober 1917
Lieber Sergeant Palmer,
ich hoffe, Sie haben sich gut in Ihrem neuen Quartier in Ypern eingelebt und das Wetter ist angenehm. Wir lesen ganz wunderbare Berichte von General Haigs Führerschaft in der Zeitung. Ich bin froh, dass Sie sich in so guten Händen befinden. Danke, dass Sie mich baten, Sie Cedric zu nennen. Jedoch glaube ich, dass unsere Freundschaft noch viel zu jung ist für solcherlei Vertraulichkeiten. Wir kennen uns ja erst seit einem Jahr.
Mit den besten Wünschen verbleibe ich Ihre
 
Miss Broadway
Das, so nehme ich an, war Mrs Wormingtons Mädchenname. Der gesellschaftliche Umgang jener Tage war noch von solcher Feinfühligkeit geprägt. Kein Wunder, dass Mrs Wormington schockiert über Denise Van Outens schmuddelige kleine Frühstückssendung im Fernsehen war. Selbst mir, einem Bewunderer der weiblichen Brust, werden die Busen zur Hauptsendezeit langsam zu viel.

Donnerstag, 20. Juli

William wollte wissen, wohin Mrs Wormington gegangen sei. Ich sagte, sie sei auf einer langen Reise an einen Ort, an dem sie Frieden fände. Ich schmückte das noch ein bisschen aus – dass Mrs Wormington über die Hügel laufe und Blumen unter den wärmenden Sonnenstrahlen pflücke usw. usf. Vielleicht habe ich es mit der Idylle ein klein wenig übertrieben, denn als William Glenn dabei zusah, wie der seine Rollerblades putzte, hörte ich ihn sagen: »Mrs Wormington ist gar nicht tot, Glenn. Sie ist ins Teletubbyland gezogen.«

Freitag, 21. Juli

Ein Auto, das Jack Straw beförderte, wurde von der Polizei mit 176,7 Stundenkilometern angehalten. Ich hoffe doch, dass der Übeltäter die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommt. Mir brennen heute noch die Ohren von der Schimpftirade, die ich von einem Verkehrspolizisten zu hören bekam, weil ich in der Tempo-30-Zone der Foxglove Avenue 32 km/h fuhr. Als ich humorvoll anmerkte, ich sei ja nicht gerade Jeremy Clarkson, höhnte der Polizist: »Das stimmt, der ist größer, hat mehr Haare und ist mit Sicherheit reicher und berühmter als Sie, Sir.« Ich erwog, ihn dem Beschwerdeausschuss der Polizei zu melden, war aber nicht sicher, ob Sarkasmus als tätlicher Angriff zählt – obwohl ich die Verletzung heute noch spüre.

Samstag, 22. Juli

Heute war ich in Pandoras Abgeordnetensprechstunde. Ich wollte mit ihr über meine Theorie sprechen, dass Mr Blair heimlich eine Hormontherapie begonnen hat, die ihn von Tony zu Toni umwandeln wird. Ich erinnerte sie daran, dass er kürzlich erklärt hatte, nur ungern Anzüge zu tragen.
»Sei nicht immer so albern«, blaffte sie. »Verzieh dich und mach deinen Platz für einen Bürger mit echten Problemen frei.« Ich wies darauf hin, dass niemand sonst darauf warte, sie zu sprechen. »Apathische Penner«, wütete sie über ihren Wählerkreis. »Wenn ich in London geblieben wäre, hätte ich mir meine Prada-Bowlingtasche abholen können.«
Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie einen so langweiligen Sport für Menschen mittleren Alters angefangen hat.

Montag, 24. Juli

Arthur Askey Way
 
Mrs Wormingtons Beerdigung heute Morgen war überraschend gut besucht. Ich wusste gar nicht, dass sie Mitglied in so vielen Vereinen und Klubs gewesen war. Da waren Trauergäste im Namen von Amnesty International, des Foxand-Ferret-Damen-Dartsteams und des Britischen Kaktusklubs. Auch war mir nicht bewusst gewesen, dass sie einen solchen Hang zum Katholizismus hatte. Während der Zeit, die sie bei mir wohnte, drehte sich das Gespräch meist um Kekse, wobei sie sich gegen Ende ihres Lebens fast zwanghaft mit dem Zustand des Gebisses der Königinmutter beschäftigte.
William bettelte, mit zur Beerdigung zu dürfen; ich gab meine Erlaubnis, untersagte ihm aber, in der Kirche zu sprechen. Der Junge hat eine Stimme wie ein Marktschreier. Er verstieß nur ein einziges Mal gegen meine Auflage, als er in der Pause zwischen einer Hymne und einem Gebet fragte: »Dad, warum riechen alte Leute so komisch?« Die Kirche war gerammelt voll mit älteren Menschen, denen der Charme oder Humor in der unschuldigen Frage des Jungen zu entgehen schien. Ein alter Bursche ein paar Plätze weiter brüllte seinem tauben Sitznachbarn zu: »Den sollte man mal ordentlich übers Knie legen.« Ich hatte William erklärt, was er zu erwarten hatte: Dass da eine Kiste stünde, die man Sarg nennt, und dass Mrs Wormington tot darin läge. Das schien er auch zu begreifen, doch als der Sarg dann langsam ins Grab gelassen wurde, schrie William: »Sie sollten jetzt besser rauskommen, Mrs Wormington!« Später zu Hause sagte er, er habe geglaubt, tote Menschen kämen wieder zurück ins Leben, wie Kenny in South Park.
Auf der Trauerfeier las ich ein selbst verfasstes Gedicht vor. Es kam offenbar ganz gut an – wobei meine Mutter hinterher beim Leichenschmaus meinte, sie hätte meinen Vortrag ziemlich selbstgefällig gefunden und ich hätte den Zettel niemals aus meinem DIN-A4-Block reißen sollen.
REQUIEM FÜR MRS WORMINGTON
Sie war eins achtzig groß,
und nicht grade zierlich.
Ihr Lächeln war nicht gütig,
ihr Benehmen manierlich.
 
Sie trug keine Seide,
keine Spitzenhandschuh’.
Sie erlebte zwei Kriege,
doch fand keine Ruh’.
 
Sie versorgte sich selbst
und lebte allein,
musste arbeiten hart,
wollt keine Schuldnerin sein.
 
Adieu, Mrs Wormington,
Sie alter Schlingel,
ich hoffe, Sie frier’n nicht mehr
oben im Himmel.
Mehrfach wurde ich nach der Bedeutung von »frier’n nicht mehr« gefragt, da nicht alle wussten, dass Mrs Wormington nach einem Urlaub in Mablethorpe an Unterkühlung gestorben war.

Dienstag, 25. Juli

Glenn und William haben sechs Wochen Schulferien. Was soll ich nur mit ihnen anfangen? Ich verfüge über keine finanziellen Mittel, um für Ablenkung zu sorgen. Wir haben erst den zweiten Ferientag, aber William hat bereits erklärt, ihm sei »langweilig«. Ich erzählte ihm, dass ich mich als Junge früher pausenlos selbst beschäftigt hätte. Aber in Wahrheit kann ich mich erinnern, die ganze Zeit nur aus dem Fenster gestarrt und darauf gewartet zu haben, dass die Schule wieder anfängt.

Mittwoch, 26. Juli

Widerstrebend hob ich 50 £ von meinem Bausparvermögen ab, kaufte ein Familienticket für die Bahn und fuhr mit meinen Söhnen nach London in die Tate Gallery of Modern Art. Niemand hatte mich vor der riesigen Metallspinne in der Turbinenhalle gewarnt. William hat eine Spinnenphobie und erstarrte vor Schreck bei dem Anblick. Dann stieß er einen durchdringenden Schrei aus. Ein amerikanischer Tourist fragte mich, ob William eine »akustische Begleitung der Skulptur von Louise Bourgeois« sei. Ich verneinte und erklärte, er sei einfach nur ein kleiner Junge, der Angst vor Spinnen habe.

Donnerstag, 27. Juli

Der Absturz der Concorde ist von den Titelseiten verschwunden; es sind keine Briten ums Leben gekommen.

Samstag, 29. Juli

Arthur Askey Way
 
Iwan Braithwaite ist weiterhin fasziniert von dem, was er als »Arbeiterklassenkultur« bezeichnet. Er hat uns einen, wie er es nennt, »Eimer-und-Spaten-Urlaub« mit der ganzen Familie am Strand von Skegness vorgeschlagen. Unentwegt faselte er von Zuckerwatte und Eselreiten und der »hinreißenden Vulgarität der Spielhallen«. Mir blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Den Urlaub meiner Wahl – den Besuch literarischer Schreine auf der ganzen Welt – kann ich mir nicht leisten. Eigentlich habe ich mir überhaupt erst einen angesehen: das Haus von Julian Barnes in Leicester. Wobei er im Alter von sechs Wochen schon wieder von dort wegzog.

Sonntag, 30. Juli

Eine Pension wurde gebucht: das Utopia. Übernachtung, Frühstück und Abendessen wird Iwan £ 13,50 pro Person pro Nacht kosten – William bezahlt den halben Preis. Rosie weigert sich mitzukommen: Sie sagte, sie müsse zur Abschlussfeier ihres neuen Freundes Mad Dog Jackson. Er hat kürzlich sein Studium beendet, und seine Magisterarbeit »Sozialismus, Nekrophilie und andere Tabus« hat das Interesse des Spectator geweckt.

Montag, 31. Juli

Das Utopia
 
So viel zum gesetzlichen Verbot der Irreführung von Verbrauchern! Das Dystopia wäre ein treffenderer Name für diese Synthetik-Hölle. Ich teile mir mit William und Glenn eine zugige Mansardenkammer, die so klein ist wie ein Rattenloch – ach, was sage ich, ein Spitzmausloch. Der Blick aus der Dachluke fällt auf schwermütige Seemöwen mit Pommeskrümeln in den Schnäbeln. Die Besitzer, Barry und Yvonne Windermere, sind ehemalige Varietékünstler. Ich drehe durch, wenn Barry noch einen einzigen »Witz« erzählt. Iwan und meine Mutter halten dieses abgehalfterte alte Duo für »fabelhafte Originale«. Ich persönlich möchte jedes Mal, wenn ich den Spruch mit den fabelhaften Originalen höre, wegrennen – ins Meer, bis die kalten Wogen über meinem Kopf zusammenschlagen.

Mittwoch, 2. August

Windschutz am Strand von Skegness
 
Glenn schmollt oben in der Mansarde. Er hat schon sein gesamtes Taschengeld in die Automaten in der Spielhalle gesteckt, wo wir vor dem grausamen Wind, der ungebremst vom Ural über die Nordsee weht, Schutz suchten. Iwan und meine Mutter mühten sich ab, einen Windschutz zu bauen, und William – im Anorak – kauerte sich dahinter und versuchte, eine Sandburg zu bauen. Doch seine Hände wurden blau, und ich musste mit ihm in ein Café gehen, damit er wieder auftauen konnte. Der Laden war voll bibbernder Familien, die furchtbares Essen zu sich nahmen. Iwan sagte zu meiner Mutter: »Das ist doch eine authentische Arbeiterklasse-Erfahrung, oder, Pauline?« Seine Augen glänzten vor Aufregung. Vulgarität turnt ihn an. Deshalb hat er sich in meine Mutter verliebt und sie geheiratet.
Meine Mutter sog heftig an ihrer St.-Moritz-Mentholkippe mit dem goldgeränderten Filter und gab zurück: »Iwan, ich gehöre jetzt nicht mehr zur Arbeiterschicht. Ich lese den Guardian und kaufe den Kaffee als ganze Bohne, oder ist dir das noch gar nicht aufgefallen?«

Donnerstag, 3. August

Heute kam die Sonne heraus. Iwan kaufte sich einen Sonnenhut mit dem Aufdruck »Küss mich schnell und popp mich langsam«. Ich sah meine Mutter zusammenzucken, als er ihn aufsetzte, doch sie enthielt sich eines Kommentars und täuschte Interesse an einem Stein in Penisform vor.

Freitag, 4. August

Geburtstag der Königinmutter
 
Barry und Yvonne haben das Speisezimmer mit kleinen Union-Jack-Flaggen dekoriert. Das kleine Tischchen, auf dem normalerweise die Gewürze stehen, wurde in einen Altar für Queen Mum verwandelt. Zu beiden Seiten eines grellen Fotos der betagten Königinmutter brannten Kerzen.
Barry ist ihr einmal hinter der Bühne des Palladium Theatre in London begegnet. »Was hat sie zu Ihnen gesagt?«, fragte ich. »Sie hat mich gefragt, wie lange ich schon warte«, erwiderte er, die schlabberigen Lippen vor Rührung bebend. »Und was haben Sie darauf geantwortet?« – »Noch nicht lange, Ma’am«, sagte er und brach fast zusammen.
Leider warf Glenn beim Abendessen eine der Kerzen um und steckte das Foto der Queen Mum in Brand. Ich goss eine Tasse Tee darüber, aber der Schaden war beträchtlich. Wir wurden gebeten, abzureisen. Möglicherweise ein Beweis dafür, dass es einen Gott gibt.

Freitag, 18. August

Arthur Askey Way
 
Ich wurde unbarmherzig hinters Licht geführt! Ich fühle mich so gedemütigt, dass mir ganz schlecht ist! Wie konnte er mir in den vergangenen fünf Wochen solch schreckliche Lügen auftischen? Ich habe ihn so bewundert. Er war der Typ Mann, der ich selbst gern gewesen wäre. Er war ein Mann, der den Widrigkeiten des Schicksals trotzte (dem Tod seiner jungen Frau bei einem Autounfall). Ein Mann, der andere Männer anführen konnte (ein Offizier der Territorialarmee). Außerdem war er ein Heiler (wie Jesus) und obendrein noch ein Reiki-Meister.
Ich wäre ihm praktisch bedenkenlos in einen Dschungel gefolgt. So zuversichtlich war ich, dass »Nasty Nick« bei Big Brother die 70.000 £ gewinnen würde, dass ich 50 £ von meinem festverzinslichen Sparbuch abhob (und damit Zinsverlust in Kauf nahm) und eine Wette mit meinem Vater abschloss. Schadenfroh rief er mich heute um 16:45 Uhr von seinem Krankenhausbett aus an, wo er immer noch mit diversen Krankenhausinfektionen darniederliegt, um mir mitzuteilen, dass mein Held das Big-Brother-Haus verlassen müsse.
Zuerst glaubte ich meinem Vater nicht, liebes Tagebuch. Einmal hat er mir erzählt, ich hätte 7 Millionen Pfund im Lotto gewonnen. Das kam mich teuer zu stehen. Um meinen »Gewinn« zu feiern, rief ich den Lotus-Flower-Asia-Heimservice an und bestellte das Festmenü für sechs Personen. Als ich den grausamen Scherz meines Vaters aufdeckte, versuchte ich, die Bestellung zu stornieren, geriet aber letztlich vor der Haustür in eine wütende Auseinandersetzung mit Mr Wong, der sich weigerte, ohne die 96,21 £, die ich ihm seiner Meinung nach schuldete, wieder auf sein Moped zu steigen.
Als meine Mutter mich jedoch auf dem Handy anrief, um mir mitzuteilen, dass sie und Iwan sich die Sendung im Internet ansähen, wusste ich, dass es stimmen musste. Ich konnte Craigs Lispeln ziemlich deutlich durch die Leitung hören. Die Ludlows kamen extra rüber, um mir diese welterschütternde Nachricht zu eröffnen, und Vince sagte: »Das ist ein verfluchter Triumph für die Arbeiterklasse, wenn du mich fragst.« Peggy Ludlow meinte, sie habe immer geglaubt, dass Nick in Wirklichkeit Tim Henman sei, der sich verkleidet ins Big-Brother-Haus geflüchtet habe, um sich vor dem Tennisspielen zu drücken.
 
Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen. Haben alle meine Helden tönerne Füße? Erst vor Kurzem habe ich mich von Mr Aitkens Absturz erholt. Ich bete, dass Lord Hattersley nicht als heimlicher Autor von kitschigen Liebesromanen enttarnt oder dass Will Self nicht als Ausschussmitglied des Britischen Wohnwagenklubs entlarvt wird.

Samstag, 19. August

Heute sagte ich zu Glenn: »Glenn, du wirst dich immer daran erinnern, wo du gerade warst, als du erfahren hast, dass Nick aus dem Haus geworfen wurde.« Er sah mich über die Schulter an und meinte: »Klar werd ich das, Dad – weil ich hab’s doch im Fernsehen geschaut.«
»Du warst dabei, als Geschichte geschrieben wurde«, sagte ich.
»Was, so wie der Zweite Weltkrieg?«, fragte er zweifelnd.
»Nein, eher so wie der Tag, an dem David Beckham beim Friseur war.«
»Du bringst populäre Geschichte mit richtiger Geschichte durcheinander, Dad«, sagte Glenn. Nachdenklich ging ich auf mein Zimmer und begann mit dem nächsten Kapitel von Der Schweinestall. (Die Schweinepest hat die gesamte Schweinepopulation Englands ausgelöscht, außer Peter, meinem Helden. Vielleicht benenne ich das Buch um in Das letzte Schwein.)
 
Mein Vater rief heute Morgen an und verlangte von mir, meine Wettschulden zu begleichen! Ich persönlich halte es ja für einen großen Fehler, dass heutzutage jedes Krankenhausbett mit einem Telefon ausgestattet ist. Die Patienten lassen ihre leidgeprüften Angehörigen nicht in Ruhe mit ihren unablässigen mürrischen Forderungen nach Energydrinks und Taschentüchern.

Montag, 21. August

Das letzte Schwein
 
Peter beobachtete vom Schweinestall aus, wie der Geländewagen vor dem Computerschuppen im Hof anhielt. Farmer Brown trat aus dem Chemikalienlager und begrüßte das Team von Sky News. »Wo ist das letzte Schwein Englands?«, rief ein Forscher. Peter wälzte sich im Morast. Er wollte vor der Kamera gut aussehen: er würde berühmt werden.

Sonntag, 3. September

Arthur Askey Way
 
Kann man heute überhaupt noch jemandem trauen? Mein Finanzberater Terry »The Shark« Brighton wurde vom Betrugsdezernat verhaftet. Angeblich betreibt er seit Jahren einen Wohnwagen-Finanzierungsschwindel. Das heißt also, ich kann mich von den 500 £ Einlage und dem Traum von einem eigenen Willberby-Westmoreland-Wohnwagen, den ich auf dem Grundstück meiner Mutter abstellen wollte, verabschieden. Gut, es stimmt schon, sie stand meinem Plan sowieso eher feindselig gegenüber und erklärte: »Ich will kein Wohnwagengesocks vor meiner Haustür haben.« Doch es wäre mir schon noch gelungen, sie umzustimmen.
Ich muss die Gaitskell-Siedlung verlassen, bevor William sich dem Gruppenzwang beugt und anfängt, einen Laserpointer mit in die Schule zu nehmen. Zudem wird die Ehe der Ludlows nebenan derzeit von Unstimmigkeiten getrübt. Kaum ein Tag oder eine Nacht vergeht ohne heftigen Streit und das unverkennbare Geräusch eines menschlichen Kopfes, der gegen unsere Verbindungsmauer geschlagen wird. Der arme Vince tut mir leid. Peggy ist eine furchteinflößende Frau, wenn sie gereizt wird.

Montag, 4. September

Die Schule hat wieder angefangen. Gott sei Dank! William beklagte sich heute Morgen, dass ihm seine Schuluniform zu groß sei. Ich sagte, daran sei er selbst schuld, weil er sich geweigert hatte, sie im Geschäft anzuprobieren. Aber vielleicht bitte ich meine Mutter, die Hose zu kürzen. Sie schleift über den Boden, so dass er aussieht, als hätte man ihm beide Unterschenkel amputiert.
 
Vince kam heute Morgen her und bat flehentlich um Asyl. Er erzählte mir, dass Peggy ihn vergangene Woche mit der besten Freundin ihrer Tochter, Mandy Trotter, im Bett erwischt habe.
»Die hat sich quasi auf mich geworfen und mir den Reißverschluss aufgezogen, ehe ich sie davon abhalten konnte. Was hätte ich denn machen sollen?«
Glenn zeigte mir Mandy Trotter, als wir im Supermarkt einkaufen waren. Sie räumte die unteren Regale ein. Sie ist nur knapp eins fünfzig groß, und obwohl sie eindeutig bereits mündig ist, sieht sie doch wie ein ausgemergeltes Kind aus. Vince kann seinen Reißverschluss nicht sonderlich heftig verteidigt haben.

Dienstag, 5. September

Peggy war hier, um ihre Seite der Geschichte zu erzählen. Demnach ist Mandy Trotter von Vince schwanger. »Was findet er an dieser dürren Schlampe?«, fragte sie. Ihr prachtvoller Busen wogte und ihre traumhaft langen Beine in der Netzstrumpfhose fanden keine Ruhe unter meinem Küchentisch, während sie Asche auf meine Plastikfliesen fallen ließ. Ich war sprachlos vor Verlangen nach ihr.
Es wird höchste Zeit, dass ich eine Sexualpartnerin finde: eine nicht neurotische, kinderlose, nicht rauchende, wunderschöne Frau, die sich für Literatur, Eddie-Stobart-LKWs und Hausarbeit begeistert, wäre ideal. Ist denn ein kleines bisschen Glück wirklich zu viel verlangt?

Mittwoch, 6. September

Ich habe versucht, zu verstehen, was Außenminister Robin Cook heute Morgen im Fernsehen bei Today gesagt hat. Ich glaube, er sprach von seiner ethischen Außenpolitik. Allerdings nuschelt er inzwischen so stark und in einer derart absurden Geschwindigkeit, dass man ihm unmöglich folgen kann. Das stellt eine Verletzung meiner Menschenrechte als englischer Wähler dar. Versteht Gaynor dieser Tage überhaupt noch ein Wort von dem, was er sagt, oder hört sie ihrem kleinen bärtigen Kobold von Ehemann schon längst nicht mehr zu?

Donnerstag, 7. September

Iwan Braithwaite wurde auf Basis des Psychiatriegesetzes zwangseingewiesen! Vier Polizisten und eine Zwangsjacke waren erforderlich, um ihn in den Krankenwagen zu verfrachten. Die Sicherung in seinem Kopf brannte durch, als sein Laptop, der Drucker, das Fax, seine drei Telefone, der Fernseher, das Radio und der Pager alle gleichzeitig angeschaltet waren und unterschiedliche Informationen übermittelten.
Als dann auch noch meine Mutter in seinen Arbeitsbereich trat und ihn fragte: »Iwan, weißt du was?«, drehte er durch und begann, alles kurz und klein zu schlagen.
Robin Cook sollte sich das eine Warnung sein lassen.

Samstag, 9. September

Arthur Askey Way
 
Jetzt liegen zwei männliche Mitglieder unserer Familie im Krankenhaus: Die Vireninfektion meines Vaters mutiert ständig, und er nimmt inzwischen an einem kontrollierten Arzneimittelversuch teil. Er liegt auf einer Quarantänestation. Offen gestanden war das eine gewisse Erleichterung: Besuche sind streng verboten. Man kann ihn durch eine Glasscheibe betrachten, aber was soll das bringen: zehn Kilometer hin und zehn Kilometer wieder zurück zu fahren, nur um einen älteren Mann dabei zu beobachten, wie er sich den Kopf über das Kreuzworträtsel in der Sun zerbricht?
Iwan Braithwaite darf ebenfalls keinen Besuch empfangen. Der für ihn zuständige Psychiatriepfleger, ein gewisser Steve Harper, sagte: »Iwan braucht eine Auszeit von der Familiendynamik.« Die fragliche Familiendynamik – meine Mutter – ist fuchsteufelswild und verbringt fast den ganzen Tag damit, vor der Tür der geschlossenen Abteilung zu sitzen und jedem, der ihr Gehör schenkt, mitzuteilen, dass eine »Überdosis Informationstechnologie« Iwans Zusammenbruch ausgelöst habe. Nur eine halbe Stunde vor seinem Kollaps habe er noch 300 E-Mails bearbeitet, erzählte sie mir. Ich bin jetzt überzeugt davon, dass die Technik für die meisten Missstände unserer Gesellschaft verantwortlich ist.
Früher belächelte ich die hartnäckige Behauptung meiner toten Großmutter Edna Mole immer, dass Mikrowellen das Gehirn schädigen, doch seit ich auf eine höhere Wattleistung aufgerüstet habe, bemerke ich ein Nachlassen meiner intellektuellen Leistung. Ich brauchte über eine Stunde, bis mir wieder eingefallen war, ob die Worte »Wer schläft, fühlt kein Zahnweh« von Shakespeare oder aber von Sir Walter Raleigh stammen. Ich zitierte sie um 4:00 Uhr morgens gegenüber Glenn, der einen Abszess hat. Trotzdem schlief er nicht ein, sondern hielt mich mit seinem Schmerzgestöhne wach. Natürlich hatten wir mal wieder keine einzige Schmerztablette im Haus.

Sonntag, 10. September

Beim ersten Morgengrauen ging ich in die Notapotheke und bat um Paracetamol. Die Apothekerin, ein Mädchen von ungefähr 10 Jahren, fragte mich, ob ich vorhabe, mich umzubringen. Ich versicherte ihr, dass ich nichts dergleichen plane, und sie händigte mir die Tabletten aus. Heute habe ich versucht, zu tanken, aber die Schlangen waren zu lang, und vor den Zapfsäulen fand eine Schlägerei statt. Warum nur?

Montag, 11. September

Mohammed von der BP-Tankstelle weigerte sich heute Morgen, mir für mehr als 35 £ Bleifrei zu verkaufen. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, und unsere Freundschaft vertiefte sich noch im Laufe meiner benzintankenden Jahre, dennoch verweigert er mir seine Hilfe. Wie soll ich William zur Schule bringen? Es gibt keinen günstig ge legenen öffentlichen Nahverkehr, und die Strecke beträgt fast eineinhalb Kilometer.

Mittwoch, 13. September

Ich rief meine Parlamentsabgeordnete Pandora Braithwaite an, um mich über die Benzinknappheit zu beschweren. Sie erinnerte mich daran, dass wir als Kinder immer gute zwei Kilometer bis zur Neil-Armstrong-Gesamtschule liefen. Ich wiederum erinnerte sie daran, dass »wir jetzt das Jahr 2000 haben und Pädophile die Alleen und Sackgassen unsicher machen«. Höhnisch erwiderte sie: »Du hast offenbar den Mann aus dem Süßigkeitenladen vergessen, der immer so getan hat, als wäre ihm die Hose runtergerutscht, wenn wir unschuldig nach was zum Lutschen fragten.« Ich wollte wissen, warum sie so schlechte Laune habe. »Ganz im Gegenteil«, gab sie zurück, »ich habe ausgezeichnete Laune. Ich bin total erleichtert, dass ich nicht in Andrew Rawnsleys Buch Servants of the People erwähnt werde. Dabei war ich mir sicher, dass er die Geschichte von mir, Mo Mowlam und Gordon Brown in diesem Lastenaufzug in dem Hotel in Bournemouth verwenden würde.«

Donnerstag, 14. September

Glenn hat als Hausaufgabe ein Referat über Armut in der Dritten Welt bekommen. Ich wollte mit ihm zur Recherche in die Bücherei in der Nachbarsozialsiedlung. Leider war sie wegen »Personalknappheit« geschlossen. Ich rief meine Mutter an, und sie brachte einige Statistiken vorbei, die sie im Internet gefunden hatte. Zu meinem Schrecken stellte ich fest, dass meine Söhne und ich in den vergangenen zwei Jahren in Drittweltarmut gelebt haben.
Glenn ist erleichtert: Er hatte vorgehabt, sein Referat über Bangladesch zu halten, aber nun meinte er: »Dann muss ich ja einfach nur durch unsere Siedlung laufen und mit den Leuten sprechen, Dad.«

Freitag, 15. September

Arthur Askey Way
 
Von wegen Freunde fürs Leben! Mohammed hat sich strikt geweigert, mir heute Benzin zu verkaufen, obwohl ich den Montego auf seine Tankstelle geschoben hatte, um das bisschen Sprit zu sparen, das mir noch verblieben war. Ich erinnerte ihn daran, dass ich einmal auf dem Spielplatz der Neil-Armstrong-Gesamtschule für ihn eingetreten war, als Barry Kent wie ein Tobsüchtiger auf seine Klassenkameraden losgegangen war, nachdem er zu viele Walker’s-Chips gegessen hatte. »Ich wüsste nicht, dass du dich jemals für mich eingesetzt hättest, Moley«, erwiderte Mohammed, während er eine Hebamme an eine Zapfsäule dirigierte.
Ich wies ihn darauf hin, dass ich Barry damals den Rat gegeben hatte, einen Antimobbingkurs im Jugendklub Off The Streets zu besuchen. »Deshalb hat er mir trotzdem die Finger umgebogen«, sagte Mohammed traurig.
Meine Mutter fuhr auf die Tankstelle und reihte sich in die Schlange der Fahrer mit Sondergenehmigung ein. »Mit welcher Begründung willst du denn eine Sondergenehmigung haben?«, wollte ich wissen. »Bist du neuerdings bei den Notdiensten beschäftigt?«
»Wenn du es genau wissen willst: gewissermaßen ja«, sagte sie. »Ich habe versprochen, Iwans Nervenklinik einige Vasen vorbeizubringen, die ich nicht mehr haben will. Die haben da nichts für die Blumen der Besucher.« Ich fragte mich, wie sie Mohammed davon überzeugen wollte, dass ihr Benzinbedarf legitim war, musste dann aber zu meiner Empörung mit ansehen, wie sie sich ganz vorne in die Schlange reihen durfte und von Mohammed persönlich bedient wurde!
Daraufhin startete ich selbst einen weiteren Versuch, mir etwas Benzin anzueignen, indem ich ihn an unser Krippenspiel Allmächtiger Jesus! in der Schule erinnerte. Ich hatte damals Regie geführt und Mohammed die Hauptrolle verschafft. »Ja, und deshalb hab ich heute, fünfzehn Jahre später, immer noch Ärger mit ein paar von den Gemeindeältesten«, sagte er. »Ich hab ja gleich gesagt, dass es nicht gut ankommen wird, wenn ich Jesus als Heroinsüchtigen spiele.«
»Das war deine freie Entscheidung, Mohammed«, wandte ich ein.
»Nein, war es nicht. Dir ging’s damals dreckig, weil deine Eltern sich getrennt haben, und ich hab das nur gemacht, um dir zu helfen.«
Während ich mein Auto zurück nach Hause schob, zerbrach ich mir den Kopf, wie jemand nur so nachtragend sein konnte. So nachtragend, dass davon sein Urteilsvermögen im Hinblick auf die Benzinzuteilung beeinträchtigt werden konnte.

Samstag, 16. September

Pandora überlegt, ein Haus auf dem Land in Suffolk zu kaufen, um ihren Wählern zu entfliehen. Das Anwesen nennt sich Oakley Park, im Dorf Hoxne. Ich habe es mir im Internet angesehen und zu meiner Besorgnis entdeckt, dass es der Schauplatz eines makabren Doppelmordes im Jahre 1777 war, als Sir Frederick Brownlow seine Frau Felicity mit dem jungen Stallburschen Fergus Bellington im Bett erwischte.
Wenn ich »Bett« schreibe, meine ich das nicht ganz wörtlich – tatsächlich vollzogen die Liebenden den Geschlechtsakt hinter der Standuhr jenseits des Torbogens in der Eingangshalle. Schlag Mitternacht zerhackte Sir Frederick – von Eifersucht germartert – die beiden mit seinem Schwert in mundgerechte Stücke. (»Es wurde mannigfach geschärft, da so stumpf gemacht von ihren Knochen.«) Die Happen wurden hinterher an die Schweine verfüttert. Ich warnte Pandora, dass ein Fluch auf dem Haus liege und dass jeder mit den Initialen F. B. ein schlimmes Ende nähme, wenn er auch nur einen Fuß in den Innenhof setzt.
»Du meine Güte«, sagte sie, »was faselst du denn da? Meine Initialen sind P. L. E. B.« Dann hielt sie einen endlosen Vortrag über Idioten, die das Internet mit uninteressanter und unnötiger Information verstopfen.

Sonntag, 17. September

Tag der Luftschlacht um England: Das Vormittagsprogramm auf Radio 4 wurde heute von einem eintönigen Gottesdienst zum Gedenken an dieses bedeutende historische Ereignis beherrscht. Warum lässt die anglikanische Kirche zu, dass in ihrem Namen solch grauenhafte Musik gespielt wird? Und warum sprechen die Kirchenoberen mit so unnatürlichen Stimmen, dass sie wie Außerirdische klingen?
Radio 4 hätte lieber den Soundtrack dieser Douglas-Bader-Biografie spielen sollen. Das hätte vielen Zuhörern Freude bereitet.

Montag, 18. September

Arthur Askey Way
 
Das Leben ist öde nach den Aufregungen der Ölkrise. Ich habe einen kleinen Panik-Hamsterkauf von Wasserflaschen, Zucker, Brotbackmischung und Ölsardinen getätigt, aber nichts reicht an den wilden Rauschzustand heran, als ich – für kurze Augenblicke – wahrhaftig glaubte, die Zivilisation sei am Ende und wir wieder bei der Pferdekutsche gelandet.
 
Ich wurde für Freitag ins Arbeitsamt geladen, um zu erklären, warum ich kürzlich in ein Formular eintrug, dass ich für eine Stelle nicht zur Verfügung stünde und gern weiterhin Sozialleistungen bezöge. Ich habe den gesamten heutigen Tag damit verbracht, mich vorzubereiten. Außerdem habe ich ein Manifest verfasst. Das Hauptargument ist, dass die Gesellschaft sich um ihre Künstler kümmern sollte, und der Schlussabsatz lautet: »Wie tragisch wäre der Verlust für die Nation, wenn ein großes Werk aus meiner Feder ungeschrieben bliebe wegen der banalen Notwendigkeit, beispielsweise als Hilfslagerarbeiter pünktlich einzustempeln.«

Dienstag, 19. September

Um 13:00 Uhr wurde ich von meiner Mutter per Handy kontaktiert, die schrie: »Lass alles stehen und liegen und stell dich für Benzin an!«
Während ich hastig in mein Auto kletterte, rief ich den Nachbarn auf der Straße die Neuigkeiten zu. Rasch bildete sich ein Konvoi von 30 Wagen hinter mir. Als wir Mohammeds Tankstelle erreichten, waren wir bereits 100 und hatten eine Polizeieskorte. Mohammeds Unterkiefer klappte herunter, als er mich an der Spitze des Konvois in die Tankstelle biegen sah. Er wollte gerade mit seiner Frau zum Hamsterkauf in den Supermarkt fahren – sie hatte gehört, dass die Pampers knapp würden. Im Nachhinein bin ich leicht beschämt, dass ich mich von der Hysterie anstecken ließ, aber ich brauche meinen PKW nun mal. Ich bin zu sensibel für einen Vollzeitfußgänger. Die autolose Bevölkerung ist unberechenbar, sie verfügt über laute Stimmen und ihre Launen sind unkalkulierbar. Ich fühle mich einfach sicherer in meinem Wagen mit meinen Abba-Kassetten und Radio 4.

Freitag, 22. September

Ich wurde zur vereinbarten Zeit, um 10:30 Uhr, im Arbeitsamt vorstellig, und war überrascht, unverzüglich von einer recht sympathischen jungen Frau namens Jane Doxy in ihr Büro gebeten zu werden. Sie war proper in ein marineblaues Kostüm mit weißer Bluse gekleidet. Hohe Absätze wären ihrem Erscheinungsbild – meiner Ansicht nach – zuträglich gewesen, aber zweifellos wusste Jane die Bequemlichkeit ihrer Gucci-Imitat-Mokassins zu schätzen.
Ich war so vorausschauend, ein Exemplar des Guardian mitzunehmen, um Jane zu vermitteln, dass ich ein intelligenter und belesener Mann bin. Obwohl ich mich angesichts der Daily Mail in ihrer Handtasche fragte, ob ich das Richtige getan hatte. Sie habe mein Manifest mit großem Interesse gelesen, sagte sie. Allerdings hätte sie (und die ganze Abteilung) den Eindruck, dass meine Schreiberei »nur ein Hobby« sei und dass »es nicht Aufgabe der Regierung sei, meine Freizeitinteressen zu subventionieren«.
Sie gab mir zwei Telefonnummern. Die erste war die von Eddie’s Tea Bar. Eddie hob selbst ab. Es ging um eine Stelle als Aushilfe in seinem Gaststättenbetrieb, einem in einer Parkbucht neben dem Zementwerk abgestellten Imbisswagen. Ich fragte, worin meine Aufgaben bestünden. »Du müsstest alles Mögliche machen, Burger braten, die Gasflaschen wechseln, so Zeug eben, für 3,60 £ die Stunde.« Unter dem wachsamen Blick von Jane Doxy rief ich bei der zweiten Nummer an. Eine sanfte Rentnerin namens Mrs Banbury-Pryce ging an den Apparat und sagte, sie brauche jemanden, der zweimal täglich mit ihren sechs Hunden Gassi ginge.
 
Am Montag fange ich bei Eddie an. Ich wusste einfach, dass ich mit meinem weichen Herz über kurz oder lang Mrs Banbury-Pryce beim Zuhaken ihres Korsetts und Schneiden ihrer Zehennägel behilflich wäre.

Sonntag, 24. September

Wachte um fünf Uhr morgens auf und stellte fest, dass ein kleines Erdbeben die East Midlands erschüttert hatte. Ein paar Hunde bellten, aber tragischerweise für die Medien wurde niemand getötet.

Montag, 2. Oktober

Eddie’s Tea Bar, Zementwerk, Leicestershire
 
Ich habe gerade Pause, sitze auf einem weißen Plastikstuhl und schreibe an einem dazu passenden Klapptisch. Ich bin umgeben von LKW- und Autofahrern. Es ist erst 11:30 Uhr, aber ich bin schon völlig erschöpft. Seit 5:00 Uhr bin ich auf den Beinen (wobei ich – um völlig aufrichtig zu sein, und auf die Gefahr hin, pedantisch zu wirken – die Fahrt hierher im Wagen sitzend absolviert habe).
Eddie und seine dritte Frau Sandra waren schon hier, als ich ankam, und die Teemaschine wurde bereits angeheizt, wie auch die Fritteusen und die Bratfläche. Eddie und Sandra müssen Fett in ihren Blutbahnen haben. Ihre Haare, Haut und Poren müssen davon verstopft sein. Als er mir eine riesenhafte Schürze reichte, sagte Eddie: »Den Gestank nach Fett kriegst du nie wieder los, mein Junge. Macht es schwer, eine Frau außerhalb der Branche zu finden.« Alle seine Ehefrauen waren demnach ebenfalls im Imbissgeschäft tätig. Ich versicherte ihm, dass ich momentan nicht aktiv auf der Suche nach einer Frau sei, und erzählte ihm, dass ich für einen Kurs im Erwachsenenbildungszentrum in Leicester mit dem Titel »Leben ohne Partner« angemeldet sei. Mitleidig betrachtete er mich und fragte leise, ob bei mir »unter den Klamotten irgendwas nicht stimmt«.
Ich versicherte ihm, dass ich geschaffen sei wie jeder andere Mann auch, dass aber mein Herz in jüngster Zeit einige Male gebrochen worden sei und ich Zeit brauche, um mich davon zu erholen. Eddie hob den Pfannenwender von den brutzelnden Speckscheiben und meinte: »Ich kriege schlimmes Kopfweh, wenn ich nicht einmal am Tag meine Wurst verstecken kann, stimmt’s, Sandra?«
Sandra strich sich eine fettige Haarsträhne hinters Ohr und bestätigte: »Als ich mir die Krampfadern im Krankenhaus hab machen lassen, war er auf einer Schachtel Nurofen am Tag.« Eddie schüttelte den Kopf und starrte blicklos auf den LKW-Parkplatz, man sah ihm an, dass er den Schrecken sexueller Entbehrung noch einmal durchlebte.
Ich rief meine Mutter an, um mich zu erkundigen, wie die Kinderbetreuung am Morgen geklappt habe. »Miserabel«, sagte sie. »Ich kann nicht jeden Tag im Dunklen aufstehen und schon um fünf Uhr bei dir sein. Da schlafe ich ja am Steuer ein.« Ich wies sie darauf hin, dass kein Hort vor sieben Uhr öffne, und bat sie inständig, weiterzumachen. Bitter antwortete sie: »Dafür gebe ich Tony Blair und Jack Straw die Schuld. Warum müssen die Omas mit reingezogen werden und sich um ihre Enkel kümmern? Ich hab meine Strafe schon mit dir und deiner Schwester verbüßt.«
Aus ihrem Mund klang die Erziehung von meiner Schwester und mir wie eine freudlose Angelegenheit. Ich fragte, wie es Iwan in der psychiatrischen Klinik gehe. »Er hat eine Aversion gegen alles Technische entwickelt«, sagte sie. »Als ein Pfleger mit einem elektronischen Feuerzeug die Kerzen am Geburtstagskuchen eines Patienten anzünden wollte, musste Iwan sediert werden.« Ich frage mich, ob Iwan »Techno« Braithwaite jemals wieder in der Lage sein wird, sich der modernen Welt zu stellen.

Dienstag, 3. Oktober

Arthur Askey Way
 
D. H. Lawrence – mein persönlicher literarischer Held – arbeitete gern mit den Händen und war angeblich sehr stolz auf seine selbstgemachte Marmelade. Ich habe jetzt ebenfalls die kleinen Freuden manueller Arbeit entdeckt. Ich bilde mir ein, dass D. H. stolz auf mich gewesen wäre, als ich unserem ersten Kunden Les, der einen Eddie-Stobbart-LKW voller Mineralwasser von Liskeard nach Dundee fährt, ein Speck-Ei-Sandwich servierte. Les’ Sandwich war wirklich ein Kunstwerk, wenn ich das mal so sagen darf. Der Speck war saftig, das Ei feinfühlig gebraten, um ein Auslaufen des Dotters zu vermeiden, und das Brot war so weiß und weich wie eine frisch geschlüpfte Made. Ich war insgeheim hocherfreut, als Les es als »Oberliga« deklarierte.

Mittwoch, 4. Oktober

Konnte nicht schlafen, weil ich die ganze Zeit über Sinn und Unsinn des Transports von Mineralwasser von Liskeard nach Dundee nachdenken musste. Schottland schwimmt doch in dem Zeug.
 
»Leben ohne Partner« wurde abgesagt. Ich war der einzige Teilnehmer.

Donnerstag, 5. Oktober

Eddie’s Tea Bar, Zementwerk, Leicestershire
 
Bei Eddie zu arbeiten hat mir einen einzigartigen Einblick in die Funktionsweise des Kapitalismus gewährt. Eddie kauft im Großhandel Speck, Rinderhack, Weißbrot in Scheiben, Ketchup etc. in Gastronomiepacks und setzt dann mich für 3,60 £ die Stunde ein, um diese Zutaten in fertige Speisen umzuwandeln, die mit 200 % Profit verkauft werden. Eddie hat keine Computerkasse. Sein Laden ist ein reines Bargeschäft. Neben dem sich an den Kanten aufrollenden Samantha-Fox-Poster im Imbisswagen hängt ein Zettel: »Bitte nicht nach einem Beleg fragen, da dessen Verweigerung häufig für Verärgerung sorgt.«
Die Münzen bewahrt er in einer alten Cadbury’s-Keksdose auf. Es stört meinen Ordnungssinn, die Münzen alle durcheinanderfliegen zu sehen, aber es funktioniert eigentlich ganz gut. Banknoten werden in Eddies Schürzentasche gesteckt. Ich habe den Verdacht, dass Eddie wenig Steuern oder Umsatzsteuer bezahlt, wobei er durchaus lautstark seine Meinung zum Thema Sozialhilfebetrug äußert: »Die sollte man alle auf eine Insel irgendwo in der Nordsee schicken und sich selbst überlassen«, erklärte er heute Morgen. »Obwohl«, ergänzte er dann mitfühlend, »ein Päckchen Samen und einen Spaten würd ich ihnen schon mitgeben.«
Eddies Keksdose ist das proletarische Gegenstück zu einer Steueroase auf den Kaiman-Inseln. Es fehlen nur die Finanzberater und Buchhalter. Um Eddies »Buchhaltung« kümmert sich seine Frau, während sie sich die Wochenzusammenfassung der EastEnders im Fernsehen anschaut. Das ist offenbar ein festes Ritual.
Die LKW-Fahrer führen eine weitere Facette der Globalisierung vor Augen. Manche der Trucker sind drei Tage unterwegs, um rumänische Kühlschränke nach Bolton, England, zu schaffen. Andere haben Wüstenrennmausfutter aus Bury St. Edmunds nach Hamburg gebracht und kehren mit einer Fuhre hamburgischer Möhren zurück, die sie in einem Lagerhaus in Stowmarket, Suffolk, abladen. Das ist blanker Wahnsinn.
Inzwischen achte ich darauf, mich bei jedem LKW-Fahrer, den ich bediene, nach seinem Bestimmungsort und seiner Ladung zu erkundigen. Dadurch gelangte ich zu der Erkenntnis, dass der Kapitalismus keine vernünftige Methode ist, die Weltwirtschaft zu betreiben – er ist ineffizient, und er beutet Arbeiter wie beispielsweise mich aus.
Ich trug dieses Argument Eddie vor, während ich die Bratfläche mit dem Pfannenwender sauber kratzte. Er war grundsätzlich anderer Ansicht als ich: »Wenn du weiter nach Revolution schreist, Moley, hängst du bald ohne jeden Job so was von in der Luft, dass deine blöden Birkenstocks keinen Bodenkontakt mehr kriegen.«

Freitag, 6. Oktober

William und Glenn sind beide nicht in der Schule, weil ihre Haare von Kopfläusen verseucht sind. Ich rief Eddie auf seinem Handy an und teilte ihm mit, ich könne heute nicht zur Arbeit kommen, da ich damit beschäftigt sei, die Nissen von den Häuptern meiner Söhne zu verbannen. Eddie gab zurück: »Ich und meine bessere Hälfte lagen die ganze Nacht wach und haben uns die Birnen gekratzt, wie wenn es Rubbellose wären. Du solltest mal deinen eigenen Kürbis untersuchen, Mole.«
Glenn und William setzten mich an meinen Schreibtisch und richteten die Gelenkleuchte auf meinen Kopf. In meinen Haaren waren derartig viele Nissen, dass Glenn sagte: »Damit könntest du das Wembley-Stadion vollmachen, Dad.« Er wird sich morgen mit einer Gruppe aus der Schule das Spiel England gegen Deutschland ansehen. Sie machen ein Projekt über historische Momente Englands, und er hofft, ein paar Grashalme zu ergattern, die er in seine Projektmappe einkleben kann. Wobei – wie es der Schulleiter in seiner E-Mail an mich formulierte – Glenns Kopf »von mir persönlich morgens inspiziert wird, und wenn Hinweise auf Kopfläuse oder ihre Nachkommenschaft in Form von Nissen gefunden werden, dann wird ihm NICHT gestattet, den Bus nach Wembley zu besteigen«.
 
Ich war den Großteil der Nacht wach und durchforstete Glenns Haar mit einem Nissenkamm. Um 3:30 Uhr gab ich schließlich auf und rasierte ihm den Schädel. Ich verbrauchte fünf Wegwerfrasierer. Jetzt sieht er zwar aus wie ein Schläger, aber wenigstens durfte er in den Bus einsteigen.

Samstag, 7. Oktober

Glenn kehrte siegreich mit einem Plastiksitz, einem Stück Rasen und einem von Kevin Keegans abgekauten Fingernägeln zurück. Der Junge wird es noch weit bringen.

Sonntag, 15. Oktober

Arthur Askey Way
 
Pandora rief mich heute an und bat um meinen Rat. Sie weiß nicht, ob sie gestehen soll, in Oxford Cannabis geraucht zu haben. »Warum fragst du mich?«, wollte ich wissen.
»Du bist die Stimme des englischen Durchschnittsbürgers«, versetzte sie gereizt. »Du bist ein perfektes Barometer der öffentlichen Meinung.«
Mir missfiel ihre unterschwellige Andeutung, ich sei ein langweiliger Provinzler; gleichzeitig war ich erfreut und geschmeichelt, um meine Meinung gebeten zu werden. Ich riet ihr, sich in Sachen Drogenkonsum bedeckt zu halten, und warnte sie, dass ein Geständnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ihr oberstes Ziel gefährden würde, der übernächste Premier zu werden. Sie legte auf mit den Worten: »Du hast Recht, Aidy, ich darf die Daily Mail nicht vergraulen.«

Montag, 16. Oktober

Der Schatten der Kopfläuse liegt weiterhin über unserem Haus. Was kann ich noch unternehmen, um die abscheulichen Kreaturen auszurotten? Meine Mutter war am Samstag beim Friseur, und Sebastian – ihr Stylist – floh entsetzt in den Farbmischraum, als er eine in ihrem Nacken nistende Kolonie entdeckte. Sie war wahnsinnig wütend auf mich und behauptete, so etwas Peinliches sei ihr nicht mehr passiert, seit sich bei ihrer Hochzeit mit Iwan Braithwaite auf dem Standesamt der Draht ihres BHs durch ihr Kleid gebohrt hatte. Selbst mein Vater, der immer noch in einem Quarantänezimmer im Krankenhaus liegt, hat Nissen. Was geht hier vor?
Ich erklärte Glenn, dass ich eine Verschwörung witterte: »Es ist doch offensichtlich, dass eine fremde Macht, sehr wahrscheinlich der Iran, eine besonders virulente Sorte von Läusen in dieses Land eingeschleust hat, um die Bevölkerung zu demoralisieren und das Pfund zu destabilisieren.«
Glenn schüttelte mitleidig den Kopf und sagte: »Geh dich hinlegen, Dad, und wickel dir ein nasses Handtuch um den Kopf.«

Dienstag, 17. Oktober

Heute las ich folgenden Artikel im Independent: »Dr. Pandora Braithwaite, Staatssekretärin für Fischerei, gab in einem Interview in der Sendung Newsnight mit Jeremy Paxman vergangenen Abend zu, während ihrer Studienzeit in Oxford Cannabis geraucht zu haben. Auf Paxmans direkte Frage: ›Haben Sie Haschisch geraucht oder nicht?‹, lächelte sie und antwortete: ›Sie nicht, Jeremy?‹
Paxmann erwiderte ungeduldig: ›Ich bin nicht hier, um Fragen zu beantworten, Frau Staatssekretärin, sondern Sie.‹ Braithwaite sagte: ›Na gut: Ja, habe ich. Haben wir alle. Und wissen Sie was: Ich habe es genossen. Es hat mir die ganze Arbeit erträglich gemacht.‹«
Ich sehe nun Schreckliches auf meine große Liebe zukommen. Ihre Position als Staatssekretärin der Krone ist mit Sicherheit unhaltbar geworden.

Mittwoch, 18. Oktober

Das gesamte Land spricht über Pandora. Laut einem Bericht des Guardian ist die Nachfrage nach Cannabis in Oxford sprunghaft angestiegen.

Donnerstag, 19. Oktober

Heute habe ich meine Arbeit in Eddie’s Tea Bar wiederaufgenommen. Ich musste feststellen, dass viele unserer LKW-Fahrer-Kunden sich am Kopf kratzten. Werden die Parasiten durch ganz Europa transportiert? Wie lange wird es dauern, bis sie die Weltherrschaft übernommen haben? Um 19:00 Uhr rief Glenn meine Mutter an und bat sie, schnell vorbeizukommen. Ich erklärte ihr meine Läuseverschwörungstheorie, und nachdem sie sich das Ganze eineinhalb Stunden lang angehört hatte, holte sie Dr. Ng.

Freitag, 20. Oktober

Ich bin jetzt ruhiger. Dr. Ng hat mir Prozac und eine Aromatherapiekurbehandlung verschrieben. Er sagte, ich leide unter Stress. Ich erzählte ihm von meiner unglücklichen Kindheit, und er zeigte sich sehr verständnisvoll. Allerdings hörte ich meine Mutter im Hintergrund heftig dementieren. »Er ist ein sehr glücklicher kleiner Junge gewesen«, berichtete sie dem Arzt. »Bis er älter wurde und angefangen hat, Dostojewski und diesen bescheuerten Kafka zu lesen.«
Pandora hat mir eine Genesungsmail geschrieben und vorgeschlagen, dass ich zur Erholung das neueste Buch von Lord Archer of Weston-super-Mare lesen soll. Später rief sie an und erzählte mir die erstaunliche Neuigkeit, dass sie keineswegs wegen ihres Drogengeständnisses geschmäht wird, sondern – ganz im Gegenteil – als heiße Favoritin für eine Beförderung gilt.

Samstag, 21. Oktober

Arthur Askey Way
 
Kletterte Pandora vergangene Woche noch die Sprossen der Lebensleiter empor, so rutscht sie diese Woche an der Regenrinne wieder herunter (jedenfalls bildlich gesprochen). Die Zeitungen sind voll von Bildern ihres Katers Maurice, der Donnerstagnacht vom Tierschutzverein gerettet werden musste, nachdem Nachbarn ein klägliches Miauen aus Pandoras Wohnung in Pimlico vernommen hatten. Bedauerlicherweise befand sie sich zum Zeitpunkt der Katerrettung gerade mit Keith Allen auf einer beruflichen Erkundungsmission im beliebten Pauschalferienort Agia Napa auf Zypern. Ein Sprecher des Tierschutzvereins RSPCA sagte: »Gegen Dr. Pandora Braithwaite wird möglicherweise Klage wegen Vernachlässigung und Tierquälerei erhoben. Maurice wurde seit fünf Tagen nicht gefüttert und ist stark abgemagert.«
Ich rief Pandoras Mutter Tania an, um mir die Hintergrundinfos zu holen, und sie erzählte mir, dass eine Störung in Maurices computergesteuertem Fütterungsapparat Feed-A-Pet aufgetreten sei, weswegen die Klappe sich nicht geöffnet habe, so dass das gefräßige Tier nicht an sein Futter gekommen sei. Manche der Schlagzeilen schlugen einen scharfen Ton an: »Pandoras Kater allein verhungert«, »Katzenhorror bei der Drogen-Abgeordneten«, »Pans Muschi unter Schock«.
In meiner (unbezahlten) Funktion als Pandoras Berater in Sachen englische Durchschnittsbevölkerung rief ich das Unterhaus an, um meine Hilfe anzubieten. Leider konnte Pandora das Telefonat nicht selbst entgegennehmen, weil sie gerade ein Krisengespräch mit Alastair Campbell führte. Ich hinterließ eine Nachricht bei ihrem Privatsekretär Nigel Hetherington: »Richte ihr aus, sie soll der Katzenhilfe e. V. eine großzügige Summe spenden.«
»Wie außerordentlich originell«, meinte Nigel. »Danke für diese Wahnsinnsidee, Moley.«
Es wurmt mich immer noch, dass Pandora sich für Nigel als ihre rechte Hand entschieden hat statt für mich. Mag ja sein, dass er drei Hochschulabschlüsse – in Management, BWL und Mode – hat, aber ich habe das Gefühl, dass ihm das gewisse Etwas fehlt. Ich selbst habe extrem viel Erfahrung im Umgang mit den Medien. 1993 war ich fünf Monate lang der Lyrik-Berichterstatter des Ashby Bugle (unbezahlt), bis der Chefredakteur wegen grober Insubordination gefeuert wurde (er hat mit einer leeren Wodkaflasche nach dem Herausgeber geworfen). Unerfreulicherweise war der neue Chefredakteur ein Sportfanatiker und verwandelte meine wöchentliche Kolumne in ein Suchbild-Preisausschreiben namens »Wo ist der Ball« – meiner Ansicht nach zum Schaden der kulturellen Landschaft von Ashby-de-la-Zouch.
William isst nicht. Ich vermute, er will bloß Aufmerksamkeit.

Sonntag, 22. Oktober

In den Medien tauchte heute ein Foto von Pandora und Maurice auf, begleitet von einer Verurteilung computergesteuerter Futterapparate. Pandora fordert eine wissenschaftliche Untersuchung der Zuverlässigkeit dieser Geräte. Sie hat gelobt, in Zukunft einen Katzensitter zu beschäftigen. Auf die Frage nach ihrer Beziehung zu Keith Allen antwortete sie: »Mr Allen und ich waren auf einer Erkundungsmission in Agia Napa. Wir gingen der Überlastung des britischen Konsulats durch mittellose junge Engländer nach, die ihren Heimflug nicht mehr selbst bezahlen können.«

Montag, 23. Oktober

In Nottingham geht die Polizei jetzt in der Innenstadt mit Schusswaffen auf Streife. Wie lange dauert es noch, bis Ashby-de-la-Zouch vom Rattern der Kalaschnikows erschüttert wird? Es geht bergab mit uns.

Dienstag, 24. Oktober

Eddie rief heute an, um sich zu beschweren, dass ich nicht bei der Arbeit erschienen bin. Ich erklärte ihm mein Kinderbetreuungsproblem während der Herbstferien. Er sagte: »Ich versuche hier, einen verdammten Imbiss zu betreiben. Dein Privatleben ist mir scheißegal, Mole.« Das ist mal wieder typisch für Englands und Eddies Einstellung gegenüber Kindern. Kein Wunder, dass drei von Eddies Sprösslingen derzeit Freiheitsstrafen absitzen dürfen und einer, Shane, beim Royal Ballet tanzt.
Glenn hat darum gebettelt, künftig für das Kochen zuständig zu sein. Ich habe mit Freuden die Mole-Schürze weitergereicht. Mir war bisher nicht bewusst, dass er sich für die kulinarischen Künste interessiert.

Mittwoch, 25. Oktober

Williams Appetit nimmt wieder zu. Glenn hat sich von dem Geld, das er sich durch das Bewachen der Autos der Sozialarbeiter, die die Siedlung besuchen, verdient hat, Kochen mit Jamie Oliver gekauft.

Freitag, 27. Oktober

Arthur Askey Way
 
Iwan Braithwaite wurde aus der Nervenklinik entlassen und ist jetzt in der Abstellkammer im Wisteria Walk eingesperrt. Meine Mutter spielt seine Krankenschwester. Ich sage »spielt«, weil sie ihre neue Rolle äußerst ungnädig erfüllt. Ich hörte sie am Telefon mit ihrem Bruder Pete sprechen, der in Norwich lebt. Es war ein selbstmitleidiger Monolog, den ich hier wiedergebe, obwohl es mir keine Freude bereitet …
»Als ich Iwan geheiratet habe, dachte ich, mein Leben würde sich ändern. Wie du weißt, Pete, gehört Iwan der oberen unteren Mittelschicht an, und er hatte versprochen, meinen Horizont zu erweitern. Aber der einzige Horizont, den ich in letzter Zeit gesehen habe, ist die Aussicht aus dem vierten Stock der Nervenklinik und der Blick auf meinen eigenen Garten. Ich hab’s vermasselt, Pete. Ich bin zu einem verdammten Kindermädchen mutiert. Auf Adrians Kinder muss ich auch noch aufpassen, wenn er arbeiten ist.«
[Pause]
»Nein, er bezahlt mich nicht! Gestern Abend hat er mir einen Strauß Supermarktblumen geschenkt und sich dann auch noch beschwert, weil ich den Kindern Fischstäbchen und Tiefkühlpommes zum Abendessen gemacht habe statt dem blöden Gesundheitskram, den er ihnen morgens mitgegeben hat. Das sind Jungs im Wachstum, Pete. Die brauchen mehr als nur ein paar Sprossen und einen Klumpen Tofu. Na ja, ich muss jetzt Schluss machen. Ich finde es auch schade, dass wir seit über zwanzig Jahren nicht miteinander geredet haben, Pete, aber Mum hatte mir wirklich ihr Bettelarmband versprochen, bevor sie starb, und deine Frau Yvonne hatte kein Recht, es sich zu nehmen und bei Mums Beerdigung an ihrem dicken Handgelenk zu tragen.«
[Pause]
»Nein! Mum hatte es mir versprochen, Pete!«
[Schluchzend]
»Sie hat Yvonne gehasst. Sie hat sie immer Nixon genannt …«
[Pause]
»… wegen ihrem Dreitagebart, deshalb!«
[Pause]
»Oh, das tut mir leid, Pete. Ich wusste nicht, dass Yvonne erst vor Kurzem gestorben ist. Wann denn?«
[Pause]
»Gestern! O mein Gott! O Pete. Das ist ja furchtbar!«
[Pause]
»Schickst du mir dann das Bettelarmband mit der Post, Pete? Am besten als Einschreiben.«
An dieser Stelle wurde die Leitung in Norwich unterbrochen.

Samstag, 28. Oktober

Millenium Dome, Greenwich
 
Ich sitze hier bei Harry Ramsden’s Fish & Chips und warte auf Glenn und William, die in der Schlange für die Body Zone stehen. Die Wartezeit beträgt eineinviertel Stunden. Als ich eine Alternative vorschlug – den Besuch der Faith Zone, in der kein einziger Besucher war -, sagte Glenn: »Geh du ruhig beten, Dad. Will und ich treffen dich dann später.«
Der Junge wird von Tag zu Tag selbstbewusster. Das Kochen hat er zu Hause schon übernommen, und heute Morgen fand ich einen Zettel in einer Milchflasche vor unserer Tür: »Heute keine Milch. Sind im Millenium Dome. Beste Grüße, Glenn Bott-Mole.« Seit wann trägt Glenn einen Doppelnamen? Und warum steht »Mole« an zweiter Stelle? Glenn Mole-Bott klingt doch viel kultivierter.
Die Faith Zone war immer noch leer. Die Pfarrerin in dem pastellfarbenen Trainingsanzug war sichtlich dankbar, mich zu sehen und sich meine religiösen Ansichten anzuhören. Ich erzählte ihr, dass ich seit Neuestem Bäume anbete, und fragte, ob es eine Organisation gäbe, der ich beitreten könne. Sie sah im Index ihres Großen Buchs der Weltreligionen nach, fand aber nichts und meinte daraufhin: »Die Liberaldemokraten bieten sich da vielleicht am ehesten an.«

Sonntag, 29. Oktober

Die Szenen gestern Abend am Bahnhof St. Pancras waren erbärmlich. Verzweifelte Menschen aus den East Midlands liefen planlos durch die Bahnhofshalle, bis sie endlich in ihren Ersatzzügen auf Umwegen an den kaputten Gleisen der Midland-Main-Linie vorbeigeschleust wurden.

Montag, 30. Oktober

Wachte um 3:30 Uhr auf und stellte fest, dass sich ein Wirbelsturm durch unsere Straße wälzte. Mehrere Mülltonnen wurden umgeworfen, und ein blöder, verfluchter Baum hat meinen Schuppen zerstört.

Dienstag, 31. Oktober

Arthur Askey Way
 
Pandoras Wochenendhäuschen Lock Keeper’s Cottage am Ufer des Flusses Severn wurde überflutet. Sie musste von einem Feuerwehrmann in einem Kanu geborgen werden. Die Rettungsaktion wurde von Midlands Today gefilmt. Den Berichten zufolge waren sie und eine Neunzehnjährige namens »Scottish Sandy« von den Wassermassen einen Tag und eine Nacht lang in Pandoras Schlafzimmer eingeschlossen. Laut Pandora stapelte Sandy gerade Sandsäcke vor der Eingangstür, als die Flut sie überraschte und sie gezwungen waren, ins obere Stockwerk zu fliehen. Von Julia Snoddy, der Reporterin von Midlands Today, befragt, warum Pandora die Rettungskräfte nicht früher benachrichtigt habe, entgegnete die kontroverse Abgeordnete: »Ich wusste doch, wie viel diese Leute zu tun hatten, und wollte ihnen nicht noch mehr Arbeit machen.«
Als man sie bat, zu erzählen, was sie durchgemacht habe, sagte sie: »Es war die Hölle. Mir gingen die Marlboro Lights aus, und meine Prada-Tasche hatte ich unten im Wohnzimmer auf dem Fußboden stehen lassen. Sie ist vom Hochwasser total ruiniert.« Dann erklärte sie Ms Snoddy noch, sie werde bei Mr Prescott – dem Hochwasser-Obermufti – darauf drängen, zusätzliche finanzielle Mittel für Schutzmaßnahmen gegen Hochwasser in der Region Severn-Trent bereitzustellen. »Es wird höchste Zeit, dass unsere Flüsse mit Beton ausgegossen werden«, sagte sie. »Es wäre zwar wahnsinnig schade, wenn das Schilf und das ganze Tierzeug und so verlorengingen, aber wir leben jetzt in einem neuen Zeitalter und können uns nicht leisten, sentimental gegenüber der Natur zu sein.«
Sie führte aus, dass diverse Einzelhandelsketten sich am Betonufer des Severn ansiedeln könnten: »Starbucks würde den Cappuccino in unsere vernachlässigten ländlichen Gebiete bringen«, erklärte sie.
Pandora hat die freie Natur schon immer gehasst; auf unseren Schulwanderungen trug sie regelmäßig eine dunkle Sonnenbrille und verkündete: »Das ganze Grün macht mich to-tal krank.« Ihr Lock Keeper’s Cottage war im New Yorker Stil möbliert. Die Jalousien waren stets geschlossen. Um genau zu sein, waren sie an den Fensterbrettern festgenagelt.
 
Ich hoffe ganz ehrlich, dass Pandora ihr Ziel nicht erreicht, der erste weibliche Labour-Premier zu werden. In vielen privaten Gesprächen vertraute sie mir an, dass sie liebend gern die Sumpflandschaften zugepflastert, Dartmoor mit Kunstrasen überzogen und den Lake District mit Rolltreppen ausgestattet sähe, um Behinderten den Zugang zu erleichtern. Meine Mutter behauptet, Pandora habe das scherzhaft gemeint, aber ich bin davon überzeugt, dass ihre Geringschätzung der englischen Landschaft echt ist.

Mittwoch, 1. November

Mein Literaturagent Brick Eagleburger (dem es bisher nicht gelungen ist, auch nur einen meiner Romane, Fernsehserien, Hörspiele oder epischen Gedichte zu verkaufen) kontaktierte mich heute nach einer Pause von zwei Jahren. Irgendjemand in Wolverhampton – ein gewisser Jim Smith – möchte gern Die rastlose Kaulquappe, mein 592-seitiges Prosagedicht über die Reise einer Kaulquappe von den Anfangstagen des Froschlaichtums bis zum Moment ihres Sterbens im Froschgreisenalter, veröffentlichen. Das Werk zeichnet den Lebensweg des Geschöpfs nach und zieht Parallelen zu Ereignissen meines eigenen Werdegangs, wobei ich meine Scheidung weggelassen habe, weil ich in keinem Amphibienhandbuch Informationen darüber finden konnte, ob Frösche eine Form von Scheidung kennen oder ob sie ihrem Partner ein Leben lang treu bleiben.
Glenn hat mich gerade unterrichtet, dass »Frösche Tag und Nacht poppen, Dad, und zwar alles, was ihnen vor die Nase kommt«.
Brick Eagleburger berichtete, Jim Smith habe ein Fax geschickt, in dem es heißt: »Die rastlose Kaulquappe ist ein lyrischer Abgesang auf die vergangene Pracht der englischen Natur. Ich war zu Tränen gerührt vom gewaltsamen Tod des Froschs unter den Rädern eines deutschen Schwerlasters.«
Brick ergänzte: »Der Bursche wird zwar null Komma nothing dafür zahlen, aber die Publicity ist auf jeden Fall super.« Ich fragte nach dem Namen von Jim Smiths Publikation und erfuhr, dass es sich um das wöchentlich erscheinende Magazin Frösche handelt.
Es berührte mich zutiefst, dass diese Tiere so vielen Menschen derart am Herzen liegen, dass sie extra ein Anmeldeformular für das Abo ausfüllen und neun Pfund pro Jahr blechen. Ich persönlich kann die widerlichen, schleimigen Dinger nicht ausstehen.

Sonntag, 12. November

Volkstrauertag
 
Ich war heute der Einzige an der BP-Tankstelle, der die zwei Schweigeminuten einhielt.

Montag, 13. November

Brick Eagleburger ist völlig außer sich vor Aufregung. Er ist fest überzeugt, dass seine Briefwahlstimme für Florida Al Gore die Präsidentschaft sichern wird. Er könnte sogar Recht behalten. Wenn Gore mit einer Stimme Vorsprung gewinnt, will Brick sich das als persönliches Verdienst anrechnen. Er hat bereits eine ganzseitige Anzeige in der Fachzeitung The Stage gebucht. Darin heißt es:
Brick Eagleburger, Theateragent, ist spezialisiert auf Wetteransagerinnen, Prominentenköche und Tierdarsteller, einschließlich des weltberühmten Seehundes Billy. Mr Eagleburgers Briefwahl entschied über das Ergebnis der amerikanischen Präsidentenwahl. Neue Künstler immer willkommen. 25 % Provision. Steuer- und Anlageberatung inklusive.
Ich rief Brick an und fragte ihn, wann er und ich uns treffen könnten, um meine weitere Schriftstellerkarriere zu besprechen. Mit meinen 33 Jahren komme ich für den Nachwuchspreis Young British Writers’ Award schon nicht mehr infrage. Warum lobt niemand einen Wettbewerb für Junggebliebene aus? Das sind doch reine Vorurteile. Nur weil uns schon langsam die Haare ausfallen und wir an gelegentlichen sexuellen Funktionsstörungen leiden, heißt das ja noch nicht, dass unsere literarischen Fähigkeiten abgenutzt sind. Brick teilte mir in seinem grauenhaften Slang mit: »Momentan bin ich total dicht, absolut no time slot frei, Adrian.« Er meinte, es gäbe Ärger mit Seehund Billy, der seit seiner Arbeit in einem Dubliner Zirkus, wo er unter den üblen Einfluss Declan Tourettes und seines ewig fluchenden Hundes geraten war, ein ernsthaftes Kokain-Problem habe. Innerhalb von sieben Tagen sniefte Billy beträchtliche Mengen des bösen weißen Pulvers. Nach zwei Wochen war er wegen seines Nachschubs komplett auf Tourette angewiesen. Binnen drei Wochen war Billys Karriere praktisch am Ende, seine Nasenscheidewand nachhaltig geschädigt, und er konnte keinen Ball mehr mit der Schnauze werfen oder fangen.
Glücklicherweise fing Brick ihn noch rechtzeitig auf und verfrachtete ihn in eine geheime Tierentzugsklinik in Milton Keynes. Dort befreite sich Billy, zusammen mit anderen versehrten Tieren, von seiner teuren Sucht und wurde wieder clean.

Dienstag, 14. November

Mein Leben ist unfassbar langweilig, aber der heutige Tag war wirklich die Krönung: Es ist absolut nichts passiert. Ich bin aufgestanden. Habe Rührei gemacht. Es war weder gut noch schlecht, sondern irgendwas dazwischen. Dann lief ich zum Zeitungsladen, wo ich gerade noch mit ansehen konnte, wie ein Mann mit Bart (ein Fremder) den letzten Guardian kaufte. An seinem Akzent merkte ich sofort, dass er nicht von hier war. Ich finde es skandalös, dass Menschen einfach so irgendwelche Waren kaufen dürfen, ganz gleich, wo sie wohnen, und damit die Einheimischen lebensnotwendiger Güter berauben. Etwas in der Art sagte ich auch zu meiner Mutter. Sie entgegnete: »Willst du damit allen Ernstes andeuten, dass man den Leuten verbieten sollte, von einer Gegend in die andere zu fahren? Plädierst du hier für eine Art Postleitzahlen-Apartheid?«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Die Wahrheit war, dass ich – wieder einmal – in völlig unangemessener Weise auf einen geringfügigen Rückschlag reagiert hatte. Schon mehrere Leute haben mir gegenüber erwähnt, dass ich einen Therapeuten aufsuchen sollte. Allerdings beträgt die Wartezeit für einen Therapeuten des staatlichen Gesundheitswesens zwei Jahre, und es würde mir das Herz brechen, 25 £ pro Sitzung hinzublättern, nur um herauszufinden, dass mit meiner Persönlichkeit und meiner Gefühlswelt alles in bester Ordnung ist.

Mittwoch, 15. November

Komme gerade aus der Praxis eines Jungianers namens Dave Mutter. Ich saß auf seinem pinkfarbenen Velourssofa und heulte 55 Minuten lang über den Yorkshire Pudding meiner Oma.

Donnerstag, 16. November

Habe Dave telefonisch dringend um einen Termin gebeten. Ich kann heute Nachmittag vorbeikommen.

17:30 Uhr

Ich habe Dave von meinem wiederkehrenden Traum erzählt – dass Gordon Brown mich nachts besuchen kommt und mich anfleht, ihm mit der Wirtschaft zu helfen. Dave ist mein einziger Freund.
Gott, liebes Tagebuch, es könnte sein, dass ich ein bisschen in ihn verliebt bin!

Samstag, 18. November

Arthur Askey Way
 
Liebes Tagebuch, ich muss dir ein schreckliches Geheimnis anvertrauen: Ich bin wahnsinnig in meinen Therapeuten Dave Mutter verliebt. Nicht sexuell. Absolut nicht sexuell. In keinster Weise sexuell. Dave ist kein sonderlich attraktiver Mann: Stell dir Yul Brynner mit Schilddrüsenüberfunktion, grauem Pferdeschwanz und hoher Stimme vor. Du wirst mir wohl zustimmen, dass er nicht gerade homoerotische Fantasien hervorruft. Meine Liebe zu Dave ist rein und streng platonisch. Bei Tag erfüllt er meine Gedanken. Ich lebe nur für meinen nächsten Termin bei ihm. Ich sehne mich danach, es jemandem zu erzählen. Ich muss seinen Namen laut aussprechen – aber wem kann ich mein Geheimnis anvertrauen? Vielleicht sollte ich zu einem anderen Therapeuten gehen und es ihm/ihr beichten.

Montag, 20. November

Eddie’s Tea Bar, Zementwerk, Leicestershire
 
Folgendes Gedicht dachte ich mir heute nach Feierabend beim Putzen der Fritteuse aus. Das ist eine schlimme, schlimme Arbeit, aber Eddie hat mich mit 25 £ bestochen, womit ich mir eine extra Sitzung bei Dave leisten kann.
GEDICHT FÜR DAVE
Dave Mutter, Dave Mutter,
bei ihm fühl ich mich geborgen.
Meine Leidenschaft für ihn aber
bereitet mir Sorgen.
55 Minuten lang
etwa alle drei Tage
sitze ich auf seinem Sofa
in Seelenqual und klage
von Kummer und Sehnsucht
und der Entfremdungssituation
von Familie, von Freunden
und dem Rest der Nation.

Dienstag, 21. November

Brick Eagleburger hat mein episches Gedicht Die rastlose Kaulquappe an einen gewissen Geoffrey Perkins im BBC TV Centre gesandt. Ich fragte Brick, für welchen Bereich Mr Perkins zuständig sei. Brick erwiderte: »Der Typ ist der Chef der gesamten bescheuerten Unterhaltungssparte.« Wütend wies ich darauf hin, dass Die rastlose Kaulquappe ein ganz und gar ernsthaftes dramatisches Werk in der Tradition der altnordischen Saga sei.
Brick sagte: »Jetzt hören Sie mal gut zu, Adrian, ich habe das bescheuerte Manuskript von Ihrer Kaulquappe überflogen, und ich muss Ihnen sagen, ich hab mir fast in die Hose gepisst vor Lachen, so komisch ist das.« Dann ergänzte er noch: »Meine Lieblingsszene ist die, wo die Kaulquappe im Gartenteich von Marilyn Monroe liegt und hört, wie Arthur Miller irgendwelchen Müll über Tolstoi verzapft.«
Ich wusste schon immer, dass Brick Eagleburger ein Banause ist; jetzt aber stellt er mich und meine Arbeit noch dazu in einem völlig falschen Licht dar.

Mittwoch, 22. November

Bei meiner heutigen Sitzung fragte ich meinen geliebten Dave, ob es normal sei, vor dem Überqueren der Straße das Vaterunser aufzusagen. Er zog ganz leicht die Augenbraue hoch und nestelte an seinem Pferdeschwanz, bevor er hintergründig antwortete: »Was heißt schon normal?«
Was hat das zu bedeuten? Dave ist mir offensichtlich intellektuell überlegen. Ich bin nicht würdig, sein Patient zu sein.

Donnerstag, 23. November

Ich habe mir einen zusätzlichen Therapeuten gesucht. So kann ich zweimal pro Woche 55 Minuten lang ununterbrochen über Dave sprechen. Meine neue Vertraute heißt Anjelica House. Sie ist mittleren Alters, an mehr kann ich mich nicht mehr erinnern. Morgen nach der Arbeit gehe ich zu ihr.

Freitag, 24. November

Anjelica hat mir erklärt, dass meine Liebe zu Dave Mutter nichts anderes ist als das, was in der Psychobranche »Übertragung« genannt wird. Sie ist eine wunderbar energische Frau, und es könnte sein, dass ich ein bisschen in sie verliebt bin.
Geoffrey Perkins ist hin und weg von Die rastlose Kaulquappe. Er will Dawn French für die Titelrolle.

Montag, 27. November

Arthur Askey Way
 
Heute ist erst der erste Tag des Ramadan, und trotzdem hat Mohammed von der BP-Tankstelle jetzt schon schlechte Laune wegen der Fastengebote, die ihm seine Religion auferlegt. An einem normalen Arbeitstag isst er drei Tüten Käse-Zwiebel-Chips und ein oder zwei KitKats. Ich merkte an, dass ihm zwanzig Kilo weniger durchaus nicht schaden könnten. Zu meinem Erstaunen verfiel er in einen wütenden Angriff auf meinen Charakter und mein Erscheinungsbild und endete mit den Worten: »Schau lieber mal selbst in den Spiegel, Moley. Aus deiner Nase wachsen genug Haare, um einen Einkaufskorb für eine Maus zu flechten. Und du siehst aus wie im fünften Monat.«
Sofort entschuldigte ich mich für meine Unhöflichkeit. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass meine Therapeuten Dave Mutter und Anjelica House mich ermunterten, im sozialen Umgang möglichst aufrichtig zu sein. Das schien seinen Zorn noch zu verschärfen, aber Gott sei Dank wurde er von einer zänkischen Autofahrerin, die sich über mangelndes Toilettenpapier im Damenklo beschwerte, davon abgelenkt, mir noch weiter die Meinung zu geigen.
Auf dem Heimweg grübelte ich über unser Gespräch nach. Woher stammte Mohammeds Bild meiner zu einem Mäuseeinkaufskorb verflochtenen Nasenhaare? Und was hatte seine Bemerkung zu bedeuten, ich sähe aus wie im fünften Monat?

Dienstag, 28. November

Heute Morgen zog ich mich aus und musterte mich eingehend im Kleiderschrankspiegel. Meine Vorderansicht ist ganz annehmbar. Die Schultern hängen etwas, und meine Brustmuskeln sind vielleicht nicht allzu ausgeprägt, aber im Prinzip liege ich aussehenstechnisch immer noch über dem Durchschnitt. Mein Profil lässt allerdings so einiges zu wünschen übrig, und ja, Mohammed, mein alter Schulfreund, du hast die Wahrheit gesprochen: Im Profil sehe ich aus wie im fünften Monat schwanger. Mein Bauch, einst sanft konkav, ist inzwischen unübersehbar konvex. Wie konnte das passieren, ohne dass ich etwas bemerkt habe?
Zu meinem Schrecken habe ich entdeckt, dass mein Sohn Glenn ein – wie er es nennt – »Topsecret-Tagebuch« führt. Zusätzlich hat er noch mit Stacheldraht umschnörkelt auf den Umschlag geschrieben: »Öffnen auf aigene Gefar«. Ich war stark versucht, herauszufinden, was der Junge über mich geschrieben hatte. Hätte ich eine Möglichkeit gesehen, unbemerkt das Schloss aufzubrechen, dann hätte ich es möglicherweise in Erfahrung gebracht.

Mittwoch, 29. November

Kann mir jemand erklären, warum wir Engländer unser Rindfleisch nach Frankreich exportieren, und die Franzosen ihr Rindfleisch nach England? Ich habe diese Frage schon vielen Leuten gestellt, aber niemand konnte mir eine befriedigende Antwort geben. Heute hatte ich eine Sitzung mit Dave Mutter nach der Arbeit. Ich erzählte ihm von Mohammeds Bemerkung über den Mäuseeinkaufskorb. Dave sagte, er finde Mohammeds Metaphorik »extrem verstörend«. Er war der Ansicht, Mohammed solle sich professionelle psychiatrische Hilfe suchen.
 
Erfreulicherweise kann ich berichten, dass meine Fixierung auf Dave Mutter vorbei ist. Er ist einfach nur ein langweiliger, nicht mehr junger Mann mit einer Minnie-Maus-Stimme und einem altmodischen Pferdeschwanz. Anjelica House hingegen, meine Zweite-Meinung-Therapeutin, ist eine wahrlich prachtvolle Frau. Warum wusste ich früher nie die Reize älterer Frauen zu schätzen? Wieso habe ich nie die Schönheit ihrer Krähenfüße bemerkt oder den köstlichen Anblick ihrer schlaff herunterhängenden Oberarme, wenn sie ein Kissen aufschütteln?

Mitternacht

Pandora rief gerade an, um sich zu erkundigen, ob mein Vater schon von seiner Krankenhausinfektion genesen ist. Ich erzählte ihr, dass er immer noch unter Quarantäne stehe. Sie war entzückt: An seinem Beispiel möchte sie ein Argument gegen das Outsourcing von Krankenhauspersonal veranschaulichen. Bevor sie auflegte, deutete sie noch an, dass der Streit zwischen John Prescott und der französischen Umweltministerin Dominique Voynet in Wahrheit eher eine Neckerei unter Verliebten sei! Das heißt also, dass diese beiden ihrer Lust frönten, während die Welt auf ihrer Achse schwärte? Wenn das stimmt, dann sollten wir, die Bevölkerung dieser Welt, es erfahren.

Donnerstag, 30. November

Arthur Askey Way
 
Meine Mutter hat sich als freiwillige Helferin bei Earth Watch angemeldet. Sie hofft, Zugvögel bei ihrem Flug über einen See in Kenia zählen zu dürfen. Offen gestanden bin ich entsetzt. Meine Mutter missbraucht ein löbliches Naturschutzprojekt für ihre Zwecke. Ich weiß mit Sicherheit, dass sie noch nie das geringste Interesse an Vögeln, Kenia oder Zählen gezeigt hat. Ganz offensichtlich hofft sie nur auf einen kostenlosen Urlaub. Man sollte Earth Watch warnen: Sie kann noch nicht mal richtig zählen. Die Statistiken für kenianische Zugvögel könnten auf Jahre hinaus hoffnungslos durcheinandergeraten. Das wiederum könnte unter Ornithologen zu Stress und Traumata sowie einem möglichen vorzeitigen Tod führen.
Ich vertraute Glenn meine Besorgnis über die Waisen der kenianischen Ornithologen an. Er zog die Stirn in Falten: »Warum machst du dir Gedanken über was, wo noch gar nicht passiert ist, Dad?« Darauf hatte ich keine vernünftige Antwort parat. Später stellte mir meine Therapeutin Anjelica House dieselbe Frage. Vielleicht sollte ich ihr 25-£-Honorar Glenn geben. Wenigstens bliebe das Geld dann in der Familie, und außerdem müsste ich nicht extra zu Mrs House fahren, wodurch ich das damit verbundene Parkplatzproblem und die Peinlichkeit, Mr House unten im Gästeklo urinieren zu hören, vermeiden könnte.

Freitag, 1. Dezember

Heute Morgen rief ich meine Mutter an und erfuhr zu meinem Erstaunen und meiner Empörung, dass sie in Paris ist! Iwan Braithwaite erzählte mir, dass sie in dem Hotel wohnt, in dem Oscar Wilde diese Woche vor 100 Jahren starb. Wie kann sie es wagen, mit dem Eurostar durch die Gegend zu gondeln, wenn überall Menschen verhungern? Das ist doch widerwärtig. Vor allem, wo ich doch der Wilde-Experte bin. Kaum jemand, der damals dabei war, wird je meine Darstellung der Lady Bracknell in der mit vertauschten Geschlechtern inszenierten Aufführung von Ernst Sein ist alles an der Neil-Armstrong-Gesamtschule im Jahre 1982 vergessen.
 
Brick Eagleburger hat seinen Anwalt Peter Elf gebeten, Zivilklage gegen die amerikanische Regierung einzureichen. Brick ist inzwischen überzeugt davon, dass das Briefgeheimnis bei seinen Wahlunterlagen verletzt wurde. Wie ich hörte, reagierte Mr Elf zunächst zögerlich darauf, gegen die Vereinigten Staaten anzutreten, da er normalerweise eher kleinere Eigentumsübertragungen in der Region Hampton Wick abwickelt.

Samstag, 2. Dezember

Ich habe meine Stellung in Eddie’s Tea Bar gekündigt. Die Arbeit war nicht befriedigend, und ich konnte mich nie so recht mit dem ständigen Geruch nach ranzigem Fett in meinen Kleidern anfreunden. Eddie nahm meine Kündigung mit Gleichmut auf: »Ich wusste sofort, dass du nicht für die Gastronomie geschaffen bist. Du hast nicht die Handgelenke dafür.« Ich wollte wissen, in welcher Hinsicht meine Handgelenke unzulänglich seien. »Die müssen beweglich sein, für das Buttern und das Braten, und deine Handgelenke sind ungefähr so beweglich wie ein Klumpen Kohle.«
Ich schilderte Glenn dieses Gespräch, während wir Hummermedaillons zum Abendessen zubereiteten. Er fragte: »Was ist ein Klumpen Kohle?« Ich antwortete: »Das war ein Stück schwarzes, glänzendes Gestein, das wir früher angezündet und in Kaminen verbrannt haben.«
Er lachte lang und schallend. Der Junge glaubt, dass es schon immer Zentralheizung gab. Wahrscheinlich denkt er auch, dass Jesus einen Radiator in seiner Krippe hatte.

Sonntag, 3. Dezember

Der Mob hier aus der Siedlung hat sich zu einem Chor formiert, zieht von Tür zu Tür und verlangt Geld für ein paar schiefe Töne des alten Slade-Songs »Merry Christmas Everybody«. Jenen von uns, die sich weigern, einige Silbermünzen auszuhändigen, wird damit gedroht, dass unsere Mülltonnen ans Ende der Straße geschoben und möglicherweise sogar umgeworfen werden. Ich rief Lee Bush, unseren Gemeindepolizisten, an, erreichte aber nur seine Mailbox.

Montag, 4. Dezember

William ist auserkoren worden, den dritten Schäfer im Krippenspiel der Schule zu mimen. Heute Abend fuhr ich zu Habitat und kaufte ihm ein neues Geschirrtuch für seinen Kopfputz. Nur das Beste ist gut genug für meinen Sohn.

Mittwoch, 6. Dezember

Arthur Askey Way
 
William glaubt immer noch an den Weihnachtsmann, und er quengelte so lange, bis ich gestern Abend mit ihm zu Debenhams fuhr, um zuzusehen, wie Santa sich seitlich am Gebäude abseilte, bevor er feierlich seinen Posten im dritten Stock des Kaufhauses bezog. Wir standen ganz vorn in der Menge, und als der Weihnachtsmann mit schiefem Bart und durch die Abseilgurte verrutschtem rotem Kostüm auf dem Boden landete, rief William ihm zu: »Hallo, krieg ich eine PlayStation 2 zu Weihnachten?« Der Weihnachtsmann entgegnete: »Aber klar doch, mein Junge.«
Ich hätte den alten Trottel umbringen können. Wie soll ich denn das Geld für eine PlayStation auftreiben? Die kosten 200 £. Und abgesehen davon gibt es im ganzen Land keine. Soll ich William die Wahrheit sagen und ihn darüber aufklären, dass der sich abseilende Weihnachtsmann in Wirklichkeit ein ergrautes Mitglied der Rockettes, des Klettervereins von Leicestershire, ist (ein Mensch, der nicht befugt ist, Versprechungen über Weihnachtsgeschenke zu machen), oder soll ich bis zur Bescherung am 25. Dezember warten, um die Enttäuschung auf dem Kindergesicht zu sehen?
 
Meine Großfamilie ist völlig aus dem Häuschen wegen der Feiertage. Niemand weiß, wo er den ersten und zweiten Feiertag und Silvester verbringen soll. Nur eins ist sicher: Ich werde in diesem Haus keine Gäste bewirten. Ich kann mir nicht mal den Barbie-Adventskalender leisten, an den William sein Herz gehängt hat. Ich fragte Mohammed von der Tankstelle, ob ich einen zum halben Preis kaufen könne, da der halbe Monat doch immerhin schon vorbei sei. Aber er lehnte ab! Geht es noch gemeiner? Er sagte, er könne den Barbie-Advent für nächstes Jahr aufheben und dann wieder den vollen Preis dafür bekommen. So viel zum Thema Fest der Liebe.

Donnerstag, 7. Dezember

Tania Braithwaite sprach widerstrebend eine Einladung aus, das Weihnachtsfest am ersten Feiertag bei ihr in The Lawns zu verbringen. Wir warteten nebeneinander in der Schlange im Supermarkt, und sie sagte: »Dann kommt eben vorbei, wenn ihr nicht wisst, wohin ihr sonst sollt.« Ein rascher Blick auf ihre Einkäufe erinnerte mich an ihre truthahnlose, schokoladenlose Einstellung zu den Festivitäten. Sojaprodukte überwogen im Einkaufswagen, außerdem lagen darin ein Dutzend Flaschen Holunderblütensirup. Kein Wunder, dass mein Vater sich weigert, zu genesen und seine Krankenhausinfektion abzuschütteln. Er hat vor, Weihnachten mit Tracy Lintel, seiner Quarantäneschwester, zu verbringen. Die für die Festlichkeiten erforderlichen Ballons, Knallbonbons und Luftschlangen liegen wahrscheinlich in ebendiesem Moment im Sterilisator des Krankenhauses.

Freitag, 8. Dezember

Pamela Pigg rief heute an. Sie sagte: »Ich kriege dich einfach nicht aus dem Kopf, Aidy.« Glenn hörte das mit (ihre Stimme ist ziemlich schrill) und sagte düster: »Du musst verrückt sein, wenn du mit der noch mal was anfängst, Dad.«
Pamela hat einen neuen Job, sie arbeitet jetzt mit Landstreichern, wobei sie selbst diese Leute alleinstehende Obdachlose nennt. Sie erzählte mir, dass es im Nachtasyl mehrere freie Stellen gäbe. Außerdem ergänzte sie noch, dass ich ihrer Meinung nach alle Eigenschaften besäße, die man braucht, um mit diesen bedauernswerten Menschen zu arbeiten.
»Stimmt, du hast keinen Geruchssinn«, sagte Glenn. Er spielt darauf an, dass ich kürzlich eine fünf Wochen alte Packung Krabben, die ich aus Versehen im Auto neben der Heizung vergessen hatte, nicht bemerkt hatte. Die übrigen Insassen mussten zu meiner allergrößten Verblüffung würgen, während ich seelenruhig am Steuer saß. Vielleicht sollte ich zur Uniklinik nach Leicester fahren und einen Nasenfunktionstest machen lassen.

Samstag, 9. Dezember

Meine Mutter hat die Fassade ihres Hauses mit einem lebensgroßen Lichterketten-Abbild des Weihnachtsmanns mit seinem Schlitten verkleidet. Es ist unfassbar geschmacklos. Ihr Vorgarten wird von Posh, Becks und Baby Brooklyn Beckham in Form von Pappfiguren beherrscht. Jede Figur trägt einen aus einem Drahtbügel und Lametta gebastelten Heiligenschein über dem Kopf. »Das ist die Heilige Familie des Jahrs 2000«, erklärte meine Mutter. Allerdings prophezeie ich, dass sie die Menschenmengen, die sich jeden Abend vor ihrem Zaun versammeln, schon bald satthaben wird. Brooklyns Krippe wurde bereits gestohlen.

Montag, 11. Dezember

Brick Eagleburger verklagt Peter Elf, seinen Anwalt, weil der seine Rechte als amerikanischer Briefwähler nicht geschützt habe. Elf weigerte sich, Bricks Vertretung zu übernehmen, da er laut eigener Aussage »nicht mehr so ganz sattelfest« in den Feinheiten des US-amerikanischen Verfassungsrechts ist.

Dienstag, 12. Dezember

Arthur Askey Way
 
Immer noch strömen Menschenmassen herbei, um das Beckham-Tableau im Vorgarten meiner Mutter zu begaffen. Ermutigt durch die Aufmerksamkeit hat sie noch die Heiligen Drei Könige samt Geschenken hinzugefügt. Der erste König
(Tom Hanks) hat eine Prada-Einkaufstüte am Pappzeigefinger hängen. Der zweite (Danny DeVito) reicht Baby Brooklyn ein Sweatshirt von Gap dar. Der dritte König (Sylvester Stallone) hält eine Flasche Calvin-Klein-Aftershave in der Hand.
Ich fragte sie, woher sie die lebensgroßen Pappfiguren habe, worauf sie erwiderte, sie kenne jemanden aus der Filmbranche. Ich sehe eine Katastrophe auf uns zukommen. Die Nachbarn sind stinksauer, weil sie ihre eigenen Autos nicht mehr vor ihren eigenen Häusern parken können. Die Polizei war schon zweimal da und hat meine Mutter gewarnt, man könne sie wegen öffentlicher Ruhestörung anzeigen. Unter Berufung auf seine angegriffenen Nerven ist Iwan Braithwaite, der derzeitige Ehemann meiner Mutter, wieder zu seiner Exfrau Tania nach The Lawns gezogen.
Meine Mutter, Iwan und Tania behaupten alle, dass dies lediglich ein vorübergehendes und platonisches Arrangement sei. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Als ich Iwan mit seiner kleinen Reisetasche und seinem Laptop mit dem Auto vom Wisteria Walk abholte, entspannte er sich sichtlich. Und als er in den geräumigen, mit weißem Teppich ausgelegten Flur von The Lawns trat, hatte er Tränen in den Augen.
Tania begrüßte ihn mit einem Glas Holunderblütensirup und einem selbstgebackenen Mince Pie. Für sanfte Hintergrundmusik sorgte eine CD von Charlotte Church. Es war schwer zu sagen, was am süßlichsten war: der Holunderblütensirup, das Gebäck oder das Geträller von Miss Church. Ich war froh, wieder wegzukommen. Als ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich Iwan sagen: »Es war die absolute Hölle, Tania.« Zu meiner Beunruhigung gab sie zurück: »Jetzt bist du ja zu Hause, Iwan.«

Mittwoch, 13. Dezember

Mein armer Vater weiß noch gar nichts von der neuen Wohnsituation in The Lawns. Seine Quarantäneschwester Tracy Lintel nuschelte durch ihre Atemmaske: »Er darf keinem emotionalen Trauma ausgesetzt werden, das könnte ihn umbringen.« Und ergänzte dann noch: »Er hat gute Aussichten auf die Patienten-Auszeichnung für den längsten Krankenhausaufenthalt.« Ich versprach ihr, ihm nicht zu erzählen, dass seine neue Gattin wieder mit ihrem Exmann zusammenwohnt. Und dass seine Exfrau diverse geltende Gesetze mit Füßen tritt.

Donnerstag, 14. Dezember

Heute Abend musste ich folgenden Brief des Weihnachtsmanns fälschen. Ich legte ihn auf Williams Kissen, bevor er ins Bett ging.
Lieber William Mole,
ich habe dich das ganze Jahr beobachtet und war sehr zufrieden mit deinem Verhalten. Leider muss ich dir mitteilen, dass meine Elfen nicht genug PlayStations 2 anfertigen konnten, daher wirst du dieses Geschenk am 25. Dezember nicht auf dem Sofa vorfinden. Viele Grüße,
Der Weihnachtsmann, Grönland
 
 
PS: 2000 Elfen haben ihre Kündigung erhalten.
William weinte eine halbe Stunde lang, weil der Weihnachtsmann »Viele Grüße« geschrieben hatte und nicht »Liebe Grüße«. Er ist ein sehr sensibler Junge.

Freitag, 15. Dezember

Das Krippenspiel fing mit fünfzehn Minuten Verspätung an, weil eine Mutter, eine gewisse Mrs Lucy Morgan, versucht hatte, eine Videokamera in die Schulaula zu schmuggeln. Anfangs weigerte sie sich, die Kamera abzugeben, indem sie sich auf das neue Informationsfreiheitsgesetz berief. Die Schulleiterin Mrs Parvez wiederum berief sich auf die europäischen Gesetze zum Schutz der Privatsphäre. Mehrere Guardian-Leser mischten sich in die anschließende Debatte ein, einige stellten sich auf Mrs Morgans Seite, andere auf die von Mrs Parvez.
William war, offen gestanden, ein höchst enttäuschender Hirte. Er ließ sein Schaf fallen und kickte es mit gelangweilter Miene auf der Bühne herum. Einmal hätte das getretene Schaf beinahe das Jesuskind (eine Action-Man-Figur in Windeln) aus seiner Krippe geworfen.
Als wir hinterher auf William warteten, merkte Glenn an: »Mr Blair sagt, es ist in Ordnung, wenn Eltern ihren Kindern mal eine knallen, Dad.«
Ich wandte ein: »Ich kann William ja wohl schlecht schlagen, weil er ein gelangweilter Hirte war, Glenn.«
Worauf er entgegnete: »Wenn er Jesus aus der Krippe gekippt hätte, dann wäre ich auf die Bühne gesprungen und hätte ihm selbst eine verpasst.«

Freitag, 22. Dezember

Arthur Askey Way
 
Schon wieder eine Abendveranstaltung! Dieses Mal in der Neil-Armstrong-Gesamtschule, meiner Alma Mater, um Glenn in der Aufführung des Feiertagsspiels zu sehen. Zu meiner Zeit hieß das einfach Krippenspiel. In der Vorstellung im Jahr 1982 gab Pandora eine geheimnisvoll faszinierende Maria. Mehrere Männer im Publikum wurden ohnmächtig während der langwierigen Zangengeburt des Jesuskinds.
Ich saß neben Mohammed, dessen Tochter Raki auch zur Besetzung gehörte und eine Klebstoffschnüfflerin spielte, die vor einer arrangierten Ehe wegläuft. Konsterniert musste ich feststellen, dass Glenns Rolle ein obdachloser Alkoholsüchtiger war. Die Aufführung verlief etwas chaotisch, da die Kinder keinen Text bekommen hatten und auch nicht wussten, wo sie stehen sollten bzw. wann sie überhaupt auftreten und wieder abgehen sollten. Das führte zu gelegentlicher Überfüllung der Bühne und nötigte Mr Billington, den jungen Theatergruppenleiter, laute Anweisungen zu erteilen, die deutlich über dem grauenhaften Lärm des Schulorchesters zu hören waren.
Roger Patience, der Rektor, saß neben der Bühne, den Kopf in die Hände gestützt. Die Handlung spielte in einem Nachtasyl. Eine schwangere Frau namens Marie erschien mit ihrem »Partner« Joe und bat den zuständigen Sozialarbeiter um Zuflucht. Maries genaue Worte waren: »Ich muss mal die Füße hochlegen, weil ich krieg ein Kind, und außerdem sind die Bullen hinter mir her, wegen der Windel, wo ich im Billigladen geklaut hab.«
Worauf der Sozialarbeiter/Wirt entgegnete: »Du machst ja wohl Witze, oder? Hier ist alles voll, wir haben Ferienzeit, da hättet ihr mal rechtzeitig buchen müssen.« An dieser Stelle schaltete sich Joe ein: »Hey, hör bloß auf, meine Lady zu dissen, Mann.« Dann kam Glenn auf die Bühne und zeigte eine beunruhigend realistische Darstellung eines Menschen, der mehrere Flaschen destillierter Flüssigkeiten konsumiert hat.
Eine Obdachlose/Engel kam auf die Bühne und kreischte: »Ich hab grad einen hellen Stern im Westen gesehen. Der war vorher noch nicht da. Das ist doch endkrass.« An dieser Stelle trat Mohammeds Tochter an einer (hoffentlich leeren) Tube Uhu schnüffelnd auf. Ich spürte, wie Mohammed unbehaglich auf seinem Sitz herumrutschte. Danach verlor ich vorübergehend den Überblick über das Geschehen auf der Bühne und wandte meine Aufmerksamkeit dem Programm zu. Ich bemerkte, dass Pamela Pigg für ihre »Unterstützung bei der Recherche über Obdachlose« gedankt wurde.
Als ich meinen Blick das nächste Mal zur Bühne hob, hielt Raki gerade einen improvisierten Monolog über die Problematik, als radikale Feministin in einem fundamentalistisch islamischen Haushalt aufzuwachsen. Mohammed murmelte: »Wenn die glaubt, sie kriegt diese blöden Timberlands zu Weihnachten, dann ist sie aber auf dem Holzweg.«
Ganz am Ende hielt Mr Billington eine Rede und dankte den Kindern für ihre »begeisterte Umsetzung von Improvisationstechniken«. Er wünschte uns allen »fröhliche Feiertage«.
Als wir zusammen zum Parkplatz liefen, sagte Mohammed: »Moley, warum machen die heutzutage kein normales Krippenspiel mehr?« Ich sagte, dass man in gewissen Kreisen der Ansicht sei, so etwas sei in einer multikulturellen Schule unpassend.
Mohammed lachte und meinte: »Was für Kreise? Kornkreise?«
 
Wir gingen auf ein Weihnachtsbier ins King’s Head. Ich wollte eine Käserolle bestellen, erfuhr aber, dass dort inzwischen nur noch thailändisches Essen serviert wird. Da ich keine Lust hatte, zu meinem Getränk eine Nudelsuppe zu schlürfen, aß ich nichts. Mit dem Ergebnis, dass ich leicht betrunken war, als ich nach Hause kam und Pamela Pigg anrief, ob sie sich mit mir treffen wolle. Freudig nahm sie die Einladung an: »Auf diesen Augenblick habe ich sehnlichst gewartet.« Nach dem Auflegen verfluchte ich die zwei Pints Radler, die ich vorher getrunken hatte.

Montag, 25. Dezember

Erster Weihnachtsfeiertag
 
Unser Weihnachten ist völlig verdorben. Eine Tragödie ist über meine Familie hereingebrochen. Gestern Abend wurde meine Mutter unter dem Vorwurf schwerer Körperverletzung verhaftet.
Das Beckham-Tableau in ihrem Vorgarten hatte weiterhin große Mengen von Gaffern angelockt, woraufhin die Polizei erschien. Eine Kaution wurde abgelehnt, weil meine Mutter bei einem Beamten die Brennnessel gemacht hatte, als er versuchte, Brooklyns neue Krippe abzubauen. Der betroffene Polizist muss sich einer Traumabehandlung unterziehen und wird voraussichtlich zwei Monate krankgeschrieben sein.