2000
Montag, 3. Januar 2000
Wisteria Walk, Ashby-de-la-Zouch,
Leicestershire
Wie begrüße ich nun also das neue Jahrtausend?
Verzweifelt. Ich bin alleinerziehender Vater, ich wohne bei meiner
Mutter, meine Romane bleiben unveröffentlicht. Mein Kochbuch
Alle schreien nach Innereien liegt in jedem schlechten
Buchladen für 59 Pence herum. Auf meinem Hinterkopf prangt eine
kahle Stelle in der Größe eines Jaffa-Kekses. Niemandes Miene
erhellt sich, wenn ich einen Raum betrete. Meine Söhne würden mich
vermutlich vermissen, wenn ich durchbrennen würde, aber es könnte
ein oder zwei Wochen dauern, bis sie merken, dass ich weg bin. Wie
konnte es so weit kommen? Als junger Mensch war ich solch ein
Hoffnungsträger. Warum ist es mir verwehrt geblieben, meinen Anteil
an den glitzernden Preisen abzuräumen? Meine Fernsehprominenz im
Jahre 1997 war von kurzer Dauer. Außerdem – wer will schon dafür
berühmt sein, im Kabelfernsehen Innereien zu kochen? Es wird Zeit
für ein radikales Umdenken; ich muss mich selbst neu erfinden. So
kann ich nicht weitermachen, ich darf mich nicht widerstandslos
vorzeitig vergreisen lassen. Ich brauche einen Lebensplan, und zwar
einen, der meine beiden Söhne mit einschließt.
Dienstag, 4. Januar
Heute Morgen entschloss ich mich, meine Söhne in
die Formulierung meines neuen Lebensplans einzubinden. Ich ging in
ihr Zimmer, schaltete den Fernseher aus und nahm die Videokassette
heraus, über die sie gerade herzhaft lachten (Aufnahmen von Sky
News, die zeigten, wie Pandora Braithwaite mit ihren VIP-Genossen
in einer steifen Brise fröstelnd am Bahnhof Stratford Schlange
steht). Sie protestierten, doch ich erklärte: »Wir Moles müssen das
neue Jahrtausend am Kragen packen, es schütteln und zwingen, für
uns zu Werke zu gehen.« Dann gab ich jedem einen Zettel und einen
Stift und forderte sie auf, ihre Ziele im Leben aufzuschreiben.
William schrieb: »Mehr Süßigkeiten, eigener Fernseher, ein
Labradorwelpe wie aus der Klopapierwerbung.« Glenn notierte: »Ich
würde gern mit achtzehn heiraten, weil ich glaube das wär eine gute
Möglichkeit Sex zu kriegen, ohne dass man ständig in die Disco
muss. Vizeweltmeister im Rollerbladen wäre auch gans [sic] nett.«
Darauf sprach ich ihn sofort an. »Warum nur Vize? Warum nicht den
Meistertitel anstreben?«, wollte ich wissen. »Weil ich nicht zu
berühmt werden will, Dad«, antwortete er. »Stell dir vor, der arme
kleine Brooklyn muss doch jetzt von der Polizei beschützt werden.«
Mein armer Sohn ist besessen von den dämlichen Beckhams und ihrem
Sprössling.
Meine eigenen Lebensziele lauten folgendermaßen: 1.
Großes frei stehendes Haus in einem anständigen Vorort kaufen. 2.
Seelenverwandte mit gewaltigem Intellekt, hoher Ertragskraft und
beträchtlicher Oberweite finden. 3. Ein Treffen mit dem Ressortchef
von BBC Drama erzwingen und sein Büro erst wieder verlassen, wenn
er Der weiße
Lieferwagen, meine Komödie über einen Serienmörder, gekauft
hat. 4. Unauffällige Haarverdichtung machen lassen.
Mittwoch, 5. Januar
Meine Mutter und Iwan lagen den ganzen Tag mit der
australischen Grippe im Bett. Heute Abend habe ich nach ihnen
gesehen. Meine Mutter krächzte: »Das wird aber auch mal Zeit. Wir
sterben hier an Vernachlässigung.« Ich meinte: »Ich wollte eure
Privatsphäre nicht verletzen.« Sie flehte mich an, den Notarzt zu
rufen, da sie sich »todkrank« fühle, doch ich weigerte mich mit den
Worten: »Wir dürfen den staatlichen Gesundheitsdienst nicht noch
weiter belasten.« Dann rührte ich beiden jeweils einen
Erkältungstrunk aus der Tüte an und ließ sie allein, damit sie es
ausschwitzen konnten. Als ich die Schlafzimmertür hinter mir
schloss, hörte ich Iwan keuchen: »Da hatte ja das Finanzamt noch
mehr Mitgefühl mit mir.« Mehrmals wurde ich nachts von ihrem
lästigen Gehuste und den kläglichen Hilferufen geweckt. Schließlich
krabbelte Iwan nach unten und rief den Arzt an, der den
Krankenwagen kommen ließ.
Donnerstag, 6. Januar
Meine Mutter liegt jetzt knapp hundert Kilometer
entfernt im Krankenhaus, wo ihre Lungenentzündung behandelt wird.
Ich weigere mich, Schuldgefühle zu haben. Schuldgefühle sind eine
destruktive Empfindung und passen nicht in meinen neuen Lebensplan.
In dem Bemühen, eine vernünftige Sozialwohnung zu bekommen, habe
ich erneut
ein Bewerbungsformular ausgefüllt. Um ein paar Pluspunkte zu
kriegen, habe ich »schwul« angekreuzt. Die Formulare werden absolut
vertraulich behandelt, so dass niemand außerhalb des Wohnungsamtes
jemals erfahren wird, dass ich in Wahrheit …
Freitag, 7. Januar
Habe die Grippe, bin zu krank, um viel zu
schreiben. Ich bete darum, sterben zu dürfen. Iwan fand das
Bewerbungsformular für die Wohnung und sagte mir: »Ich hab’s schon
immer gewusst.«
Freitag, 28. Januar
Wisteria Walk, Ashby-de-la-Zouch,
Leicestershire
Die Sydney-Grippe ist über die Familie Mole
hinweggefegt wie ein Virushurrikan und hat uns traumatisiert und
geschwächt zurückgelassen. Im Badezimmerschränkchen war nicht
annähernd genug Platz für die ganzen Medikamente, weshalb ein
eigentlich für Badeöle vorgesehenes Kiefernregalbrett freigeräumt
und zweckentfremdet wurde. Bei jedem von uns Moles traten
Komplikationen auf. Angesichts Dr. Ngs ständiger Hausbesuche
überrascht es mich, dass er nicht Zahnbürste und Pantoffeln bei uns
deponiert hat. Eines Tages, als er dringend an mein Krankenlager
gerufen wurde, rief er von seinem Handy aus bei der medizinischen
Fachzeitschrift Lancet an und fragte, ob man dort an einem
zehnseitigen Artikel über »ärztliche Wutanfälle« interessiert
sei.
Samstag, 29. Januar
Heute Morgen erhielt ich folgenden Brief:
Lieber Adrian,
weißt du noch, wer ich bin? Ich bin deine
Mutter, Pauline Mole. Derzeit wohnhaft in Bett 5, Station 20,
Glengorse District Hospital. Ich erhole mich von einer
Lungenentzündung und einer Rippenfellentzündung und bin seit drei
langen Wochen hier (auf Sauerstoff). Es kränkt mich sehr, dass du
mich weder besucht noch mir Blumen oder eine Karte geschickt hast.
Derart von dir vernachlässigt zu werden, verzögert meine Genesung.
Ich kann nicht schlafen, weil ich dauernd darüber nachgrübeln muss,
was ich falsch gemacht habe.
Alles Liebe von deiner Mutter.
PS: Ich habe aufgehört zu rauchen. Es ist
einfach zu umständlich mit der Sauerstoffmaske.
Liebe Mum,
sind es wirklich schon drei Wochen? Die Zeit
ist wie im Fluge vergangen. Freut mich zu hören, dass du das
Rauchen aufgegeben hast. Ich habe die Aschenbecher (alle 31) im
Haus zusammengesucht und in den Müll geworfen, damit die Versuchung
bei deiner Rückkehr nicht so groß ist. Der Grund, warum ich dich
nicht besucht habe, ist, dass ich immer noch von der Sydney-Grippe
geschwächt bin. Dr. Ng wurde viermal an mein Bett gerufen, zweimal
mitten in der Nacht.
Du solltest dich glücklich schätzen, ein
Krankenhausbett ergattert zu haben, wenn auch knapp hundert
Kilometer von zu Hause entfernt. Ich hatte vor, dir einen
Blumenstrauß zu schicken, aber offen gestanden war ich entsetzt
über die Preise, die heutzutage verlangt werden. Der billigste
Strauß kostet 15 £! Dazu kommen noch 2,50 £ Zustellungskosten. Die
reinste Ausbeutung. Ich gebe zu, dass ich dir eine Genesungskarte
hätte schicken können, aber der Besuch eines Geschäfts kommt erst
wieder in Betracht, wenn ich die Kraft in meinen Beinen
zurückerlangt habe. Dein Gatte Iwan hat mich über deine
Fortschritte auf dem Laufenden gehalten. Ich habe durchaus an dich
gedacht und bin gekränkt und verärgert über den Vorwurf, dich
vernachlässigt zu haben.
Dein Sohn, Adrian
Diese Nachricht gab ich Iwan für meine Mutter mit.
Er ist völlig willenlos vor Liebe und fährt tatsächlich täglich
einhundert Kilometer hin und wieder zurück, nur um sie zu besuchen.
Um zehn Uhr abends kam er aus dem Krankenhaus zurück, völlig
verzückt. »Heute Morgen ist deine Mutter aufgewacht und hat sich
ihr Schminktäschchen erbeten«, berichtete er. Dann erzählte er mir
im Vertrauen, dass er ganz zu Anfang nach ihrer Einweisung in die
Klinik zweimal an ihrem Bett vorbeigelaufen war, ohne sie zu
erkennen. Er hatte sie noch nie ohne Lippenstift oder Wimperntusche
gesehen. Meine Mutter hatte ihm ihre Antwort auf meinen Brief
mitgegeben.
Lieber Adrian,
dann bin ich dir also keine 17,50 £ wert? Wenn
ich mir überlege, mit wie viel Geld und Aufmerksamkeit ich dich in
den vergangenen 32 Jahren überschüttet habe, wird mir ganz übel.
Wahrscheinlich werde ich in einigen Tagen entlassen. Bis dahin
möchte ich, dass du den Wisteria Walk verlassen hast. Du musst mit
deinen Jungs zu deinem Vater und Tania ziehen. Sie haben noch vier
freie Zimmer im Haus.
Deine ehemalige Mutter
Sonntag, 30. Januar
Komme gerade aus The Lawns zurück, wo ich meinem
Vater und seiner Frau Tania mein Wohnungsdilemma erklärt habe. Sie
waren nicht gerade begeistert davon, meine Jungs und mich
aufzunehmen. »Wir brauchen diese Zimmer«, sagte mein Vater. »In
einem davon bewahre ich meine Golfschläger auf, und in dem anderen
überwintert Tania die Geranien.«
»Dann wären immer noch zwei frei«, gab ich zu
bedenken.
»Leider nicht«, sagte Tania. »Eines möchte ich zu
einem Meditationsraum umgestalten.«
»Und das letzte Zimmer?«, fragte ich mit zynischem
Hohnlächeln. Mein Vater wandte sich ab, aber Tania hielt meinem
Blick stand.
»Im vierten Zimmer bewahre ich meine Sammlung von
Millenium-Dome-Andenken auf«, erklärte sie. Als ich taumelnd das
Haus verließ, wischte ich mir Tränen aus den
Augenwinkeln. Alle Hoffnung ist dahin. Der soziale Wohnungsbau
winkt.
Montag, 31. Januar
The Lawns, Ashby-de-la-Zouch,
Leicestershire
Nach einem dramatischen Anruf meines Vaters am
späten Abend wurde mir und meiner Familie vorübergehend (nur für
eine Woche) Asyl unter oben genannter Adresse gewährt. Meine Söhne
und ich teilen uns ein Zimmer mit 16 überwinternden Geranien. Ich
selbst schlafe auf einer Luftmatratze – extra bestellt aus dem
Innovations-Katalog -, die Jungen auf einem Doppelfuton. Ich
habe mich schon immer gefragt, wer eigentlich Futons kauft, jetzt
weiß ich es: Es ist Tania Braithwaite, meine neue Stiefmutter, die
alles liebt, was aus Japan kommt. Erst kürzlich hat sie Henry,
ihren Labrador, umbenannt. Er soll ab jetzt Yoko gerufen werden.
Kein Wunder, dass das arme Geschöpf einen verwirrten Eindruck
macht.
Es wird nicht lange dauern, bis auch das Haus
umgetauft werden muss. Die bisher namengebenden Rasenflächen von
The Lawns sind praktisch alle verschwunden und wurden durch
Kiesflächen, bedeutungsvolle Steine und Teiche voller Koikarpfen
ersetzt. »Brauchen die Karpfen denn dann auch ein japanisches
Spezial-Schuppenshampoo, Dad?«, fragte Glenn mich heute Morgen, als
wir auf dem Weg zum Auto an einem Teich vorbeikamen.
Wir waren schon beinahe an seiner Schule, als mir
auffiel, dass Glenn einen Scherz gemacht hatte. Sein
hintergründiger Witz muss doch wohl ein Zeichen für die Intelligenz
meines älteren Sohns sein, oder? Seine Lehrer
täuschen sich ganz eindeutig in ihrer Einschätzung seiner
Fähigkeiten. Er könnte die Kathy Lette des neuen Jahrtausends
werden.
Wie üblich parkte ich auf den Zickzacklinien vor
dem Eingang der Grundschule und wurde zu meinem Erstaunen von der
Schulleiterin Mrs Parvez heftig zurechtgewiesen. »Mr Mole«, sagte
sie, »ich habe sowohl mündlich als auch schriftlich die Eltern
wiederholt gebeten, nicht auf den Zickzacklinien zu parken. Warum
können Sie William nicht zu Fuß zur Schule bringen?« Ich küsste
William und schubste ihn auf den Spielplatz, bevor ich mich mit Mrs
Parvez’ Beschwerde befasste.
Mittwoch, 2. Februar
Bin ich der Einzige, der bemerkt hat, dass heute
der 2. 2. 2000 ist? Niemand sonst hat ein Wort darüber verloren.
Ich rief beim Wohnungsamt an und wurde, nachdem ich mein Dilemma
geschildert hatte, in die Abteilung für Obdachlose durchgestellt.
Alles, was sich Abteilung nennt, macht mich misstrauisch; es
hat einen Beigeschmack von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und
von Abweichung von der Normalität. Ich vereinbarte einen Termin mit
meiner zuständigen Sachbearbeiterin Ms Pigg. Warum, o warum nur
machen Leute mit grotesken Namen keinen Gebrauch von unseren
bürgerfreundlichen Gesetzen zur Namensänderung?
Donnerstag, 3. Februar
Ms Pigg ist eine ansprechende junge Frau (Brüste
wie große Bramley-Kochäpfel, Beine unter langem schwarzem Rock
versteckt, Vorname Pamela). Sie las gerade mein Antragsformular,
als ich ihr Büro betrat. »Also gut«, sagte sie nach einem kurzen,
aber langweiligen Gespräch über das Wetter, »Sie sind ein schwuler,
alleinerziehender Vater von zwei Jungen.« Ich bückte mich und zog
meine Socken hoch. Ich brauchte Bedenkzeit. Sollte ich mich zu
meiner Heterosexualität bekennen oder mein Täuschungsmanöver
durchziehen – um dadurch mehr Wohnungspunkte zu sammeln? Ms Pigg
sah mich verständnisvoll an. Ich strich mir über den Schnurrbart.
Dann sagte Ms Pigg: »Ganz offensichtlich sind Sie mit Ihrer
Sexualität nicht im Reinen, Mr Mole.«
Ich überlegte, welche Strafe wohl auf die Angabe
falscher Informationen in einem städtischen Formular steht. »Nein«,
murmelte ich. »Niemand darf das je erfahren.« Ms Pigg berührte
meine Hand. »Vertrauen Sie mir«, sagte sie. Der Moment, in dem ich
die Wahrheit hätte gestehen können, verstrich. »Ich hätte da ein
Vier-Zimmer-Häuschen mit Garten in der Gaitskell-Siedlung …«
»Nein«, fiel ich ihr ins Wort, »nicht nach
Gaitskell – da wohnen lauter Homophobe. Gibt es denn keine
schwulenfreundliche Enklave, wo die Leute ihre Häuser und Gärten
anständig pflegen und wohlerzogene Haustiere halten?«
Ms Pigg runzelte die Stirn. »Sie haben offenbar
sehr stereotype Ansichten über homosexuelle Menschen«, stellte sie
fest. »Ich musste gerade erst zwei schwule Männer zwangsräumen
lassen. Die Wohnung war völlig verdreckt, und der Hund der beiden
hat die ganze Nachbarschaft terrorisiert.«
Freitag, 4. Februar
The Lawns
Glenn wurde vom Unterricht ausgeschlossen, weil er
das Gerücht verbreitete, die Schulkrankenschwester, Mrs McKye, sei
eine Massenmörderin. »Es war nur ein Witz, Dad«, protestierte er.
»Sie bringt seit dreißig Jahren fünf Tage die Woche Kopfläuse
um.«
Ich erklärte ihm die Sache mit dem Serienmörder Dr.
Harold Shipman und gab ihm den guten Rat, sich fürs Erste jeglichen
Kommentar über Ärzteschaft und Pflegeberufe zu sparen. Am Samstag
ziehen wir in den Arthur Askey Way 13 in der
Gaitskell-Siedlung.
Samstag, 5. Februar
Arthur Askey Way 13,
Gaitskell-Siedlung
Ich kann gar nicht verstehen, warum niemand dieses
Haus mieten wollte.
Es ist trocken, verfügt über Zentralheizung, hat
drei separate Schlafzimmer, ein neues Badezimmer, eine gut
ausgestattete Küche und einen großen Wohn-Ess-Bereich. Die Fenster
sind doppelverglast und es gibt sowohl einen Vorgarten mit einem
gepflasterten Autostellplatz als auch hinter dem Haus noch einen
Garten mit einem mittelgroßen Baum darin. Außerdem wurde es auf
Kosten des Sozialamts komplett renoviert.
Als ich Pamela Pigg von der Obdachlosenabteilung
des Wohnungsamtes fragte, warum das Haus seit über einem Jahr leer
stehe, antwortete sie: »Ich muss Ihnen sagen, Mr Mole, dass dieses
Haus berüchtigt ist.«
Weiter wollte sie sich dazu nicht äußern.
Vielleicht hat hier einst ein berühmter Sohn Leicesters gelebt. Der
Stürmer Gary Lineker oder gar Willie Thorne, das Snooker-As? Beide
stammten aus bescheidenen Verhältnissen, bevor sie ihre jeweilige
Leiter ins Land des Ruhmes erklommen.
Glenn und William haben gemischte Gefühle, was
unseren Umzug betrifft. Natürlich freuen sie sich über ihr eigenes
Zimmer, aber Glenn meinte: »Ich bin nicht hart genug für Gaitskell,
Dad, und du auch nicht.« William wollte wissen: »Warum haben alle
Geschäfte Stacheldraht vor den Fenstern?«
Ich tischte ihm eine absurde Lüge auf, dass die
englische Territorialarmee die Einkaufsstraße am Wochenende für
militärische Übungen nutzt, doch ihm war deutlich anzusehen, dass
selbst er – der leichtgläubigste Junge der Welt – mir das nicht
abnahm. Man muss den Dingen ins Auge sehen: Wir wohnen ab jetzt
unter Angehörigen der Klasse, die Soziologen als »Unterschicht«
bezeichnen und die mein Vater, der widerstrebend den Lieferwagen
mit meinen spärlichen Möbelstücken steuerte, »Teufelsbrut«
nannte.
Unsere unmittelbaren Nachbarn allerdings, die
Ludlows, deren Haus durch eine gemeinsame Mauer unmittelbar an
unseres anschließt, scheinen eher von der stillen Sorte zu sein.
Bisher habe ich keinen Pieps von ihnen gehört. Ich kenne ihren
Namen nur, weil jemand mit schwarzer Lackfarbe »Hier wohnen die
Ludlows« auf die Fassade geschrieben hat.
Sonntag, 6. Februar
Ich ließ die Jungs vor dem Fernseher sitzen und
ging zu Fuß zum Zeitungsladen. An der vergitterten Tür hing ein
Zettel: »Keine Abgabe von Klebstoff und Zigaretten an Minnejährige,
Sturmhauben müssen abgenommen werden.« Ich nahm meine Sturmhaube ab
und ging hinein.
Hinter der Theke stand ein südasiatisch aussehender
Mann. Eine Frau – vermutlich seine Gattin – füllte die Regale mit
Zeitschriften auf, die ich als pornografisch zu erkennen
glaubte.
»Guten Morgen«, grüßte ich fröhlich. »Den
Observer, bitte.«
»Da kommen Sie zu spät, mein Freund, der Pfarrer
war schon da und hat ihn gekauft«, sagte der Mann mit breitestem
Leicester-Akzent.
»Sie haben nur ein Exemplar einer hervorragenden
überregionalen Zeitung vorrätig?«, vergewisserte ich mich.
»Nee, wir haben haufenweise.« Er deutete auf die
News of the World, die People und die Sunday
Sport.
Ich bat ihn darum, künftig zwei Exemplare des
Observer zu bestellen. Bereits im Gehen fragte ich so
liebenswürdig wie nur irgend möglich: »Verstößt es nicht gegen Ihre
Religion, Pornografie anzubieten?«
Er war entrüstet. »Nein, ich bin Katholik, wir
kommen aus Goa, und überhaupt ist ein nackter weiblicher Körper
doch was ganz Natürliches. Was haben Sie denn dagegen?«
Ich fürchte, mit den Goanern hatte ich nicht den
besten Start. Am Eingang zu dem kleinen Supermarkt Food Is U ließ
ich mich von einem dicken Kerl in Wachmannuniform durchsuchen und
ging dann hinein, um ein paar Croissants und eine Tüte direkt
gepressten Orangensaft zu kaufen.
Nach Hause kam ich mit einem dick geschnittenen Toastbrot und
einem Pack Capri-Sonne. Es gab zwei komplette Regale mit Keksen und
Kuchen sowie eins, das ausschließlich Chips und Limo gewidmet
war.
Wenn wir uns eingelebt haben, schreibe ich
vielleicht an den Geschäftsführer und schlage ihm vor, sein
Warenangebot auszuweiten.
Freitag, 11. Februar
Meine Mutter hat uns heute im neuen Heim besucht.
Der Weg durch die Siedlung hatte sie ganz offensichtlich den
letzten Nerv gekostet. »Das überlebst du niemals, Adrian«, sagte
sie. Sie hatte extra den neuen Hund mitgebracht, aber er weigerte
sich, aus dem Auto auszusteigen. Ich habe eine Valentinskarte an
Pandora geschickt, mit dem Text: »O Pandora, du Süße, ich lieg dir
immer noch zu Füße-n.«
Sonntag, 13. Februar
Die Ludlows sind zurück. Sie hatten in
Chapel-Saint-Leonards »die Wohnwagensaison eröffnet«. Es handelt
sich um zwei Erwachsene, sechs Kinder und drei große Hunde. Der
Lärm ist unbeschreiblich.
Montag, 14. Februar
Valentinstag
Keine einzige Karte, nicht eine.
Montag, 28. Februar
Arthur Askey Way
Glenn kam heute mit einem Brief von seinem
Turnlehrer Mr Lunt nach Hause. Darin stand:
Sehr geehrter Mr Mole,
Glenn gab mir heute vor dem Sportunterricht
folgendes Schreiben. Obwohl es nicht seine Handschrift ist, bin ich
überzeugt davon, dass es auch nicht Ihre sein kann.
Ich las die beigefügte, unbeholfen geschriebene
Nachricht:
Sehr geehrter Mr Lunt,
es ist was Tragisches passiert mit mein Sohn
Glenn er hat eine tötliche Krankheit und wird nicht lange leben das
ist nur eine Frage der Zeit er weiß nix davon also sagen sie es ihm
bitte nicht aber es wäre besser wenn er nicht den Dauerlauf
mitmachen täte weil das könnte ihn aufregen mit froindlichen Grüsen
Mr Mole
Glenn brach zusammen und gestand, dass er seine
Mutter Sharon Bott überredet hatte, den Brief zu schreiben. Er
sagte: »Ich hasse Dauerlauf, Dad. Wir müssen kurze Hosen anziehen
und durch die Dörfer laufen und die Leute da lachen und nennen mich
Hühnerbein.«
Ich stellte Sharon in ihrer schmutzigen Küche zur
Rede, wo sie gerade indisches Hähnchenkorma für das Abendessen der
Kinder auftaute. Nicht zum ersten Mal war ich erschüttert, dass ich
einmal eine sexuelle Beziehung zu dieser Frau
unterhalten habe. Inzwischen sähe Moby Dick neben ihr zierlich
aus.
Während sie die Folien von den Plastikbehältern
entfernte, jammerte sie: »Ich hab ein weiches Herz, Aidy, ich kann
es nicht leiden, wenn jemand Glenn verarschen tut.«
Ich bat sie, sich in Zukunft nicht mehr in Glenns
Erziehung einzumischen, worauf sie einwandte: »Ich bin seine
Mutter. Die Hälfte von seinen Genen hat er von mir.«
»Ja, leider, das Grammatik-, Satzzeichen- und
Rechtschreibungsgen«, versetzte ich. Als ich ging, sagte sie noch:
»Ich liebe dich immer noch wie verrückt, Aidy.« Ich tat, als hätte
ich sie nicht gehört.
Mr Lunt schrieb ich folgende Antwort:
Sehr geehrter Mr Lunt,
meine eigene Jugend wurde mir durch Spötteleien
über meine von Akne gezeichnete Haut zur Qual gemacht. Glenn leidet
unter einem ähnlichen Komplex in Bezug auf seine abnorm dünnen
Beine. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie Glenn gestatten würden,
beim nächsten Dauerlauf eine Jogginghose zu tragen, oder die Route
ändern und sich künftig auf unbevölkerten Feldern und Wegen halten
würden, um den Spott der ignoranten, Füchse mordenden, Singvogel
keulenden, Hecken rodenden, Flüsse verseuchenden Landbevölkerung zu
meiden. Hochachtungsvoll,
A. A. Mole
Dienstag, 29. Februar
Schalttag. Ein Brief des sehr ehrenwerten Neil
Kinnock! Dem ich einmal persönlich begegnet bin, als ich noch der
Innereienkoch des Hoi Polloi war, jenem Restaurant in Soho, das
später als Sauerstoffbar H2O wiedereröffnet wurde.
In dem Brief stand:
Verehrter Mr Mole,
mit großem Vergnügen lege ich Ihre Einladung
zum Galadiner anlässlich der Einhundertjahrfeier der Labour Party
am Montag, den 10. April 2000, bei. Ich werde an diesem Abend die
Rolle des Gastgebers erfüllen und bin entzückt, dass erneut der
Premierminister als Ehrengast teilnehmen wird.
Wie Sie sich wohl denken können, werden die
Sicherheitsvorkehrungen äußerst streng sein. Bedauerlicherweise
kann ich Ihnen daher zu diesem Zeitpunkt den genauen
Veranstaltungsort noch nicht mitteilen. Nur so viel: Es wird sich
um ein Hotel im Zentrum Londons handeln …
Offensichtlich habe ich einen bleibenden Eindruck
bei Mr Kinnock hinterlassen. Ihm müssen die Schafhoden in
Schwarzer-Johannisbeer-Coulis richtig geschmeckt haben.
20:30 Uhr
Sharon Bott hat soeben in Tränen aufgelöst das
Haus verlassen. Um 19:30 Uhr traf sie unaufgefordert mit einem Taxi
ein. Sie reckte eine Flasche spanischen Billigsekt in die Luft,
dann ließ sie sich auf eines ihrer massigen Knie hinab und machte
mir einen Heiratsantrag. Ich lehnte ab.
Glenn war enttäuscht. Er meinte: »Ich wäre der Einzige in meiner
Klasse gewesen, dem sein Vater mit seiner Mutter
zusammenwohnt.«
Mittwoch, 1. März
Eine kurz angebundene Antwort von Lunt:
Sehr geehrter Mr Mole,
das Tragen von Jogginghosen ist bei
Geländeläufen nicht zulässig. Mit freundlichen Grüßen,
Mr Lunt
PS: Als jemand, der selbst auf dem Land wohnt,
empfinde ich Ihre Bemerkungen über die Landbevölkerung als extrem
beleidigend.
Freitag, 3. März
Meine Mutter wies mich gerade auf das
Kleingedruckte unter meiner Einladung zum Galadiner der Labour
Party hin. Die Karten kosten 600 £. Ich habe mir einen Termin beim
Optiker geben lassen.
Sonntag, 5. März
Ich habe den ganzen Tag gegrübelt – soll ich in
Glenns Interesse weiterhin gegen das Jogginghosen-Verbot angehen,
oder sollte ich nachgeben und den Jungen damit seelischer Folter
während der Dauerläufe und einem möglichen Trauma in seinem
späteren Leben aussetzen? Ich telefonierte herum und holte mir
mehrere Meinungen ein. Mein Vater erinnerte mich daran, dass er
sich damals »ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt« habe, als er
mich darin unterstützte, mich gegen den tyrannischen Schulleiter
Froschauge Scruton aufzulehnen, indem ich rote Socken zur Schule
trug und dadurch dem Gebot schwarzer Fußbekleidung trotzte. Meine
Mutter sagte: »Gib nach, Aidy – gegen Jack Straws autoritäres
Regime kommst du nicht an.«
Ich rief meine Abgeordnete Pandora Braithwaite an,
die sich vor zwanzig Jahren meinem Rote-Socken-Aufstand
angeschlossen hatte. Sie sagte: »Ich hab jetzt keine Zeit,
Schätzchen, Ken und Frank sind zum Essen da, und ich wollte gerade
das Schweinehirn in Ziegenkäse auftragen.« Ich hatte also doch
Recht! Ken Livingstone und Frank Dobson stecken unter einer Decke.
Ihr wahrer Feind ist Tony Blair. Sie haben sich miteinander
verschworen, um Mr Blair aussehen zu lassen, als habe er seine
Partei nicht im Griff.
Als Glenn im Bett war, schrieb ich an seinen
Schulleiter Roger Patience:
Sehr geehrter Herr Rektor,
mein Sohn Glenn Bott hat abnorm dünne Beine,
was ihn stark belastet. Könnten Sie unter diesen Umständen bitte
eine Ausnahme machen und ihm gestatten, die
Dauerläufe in einer langen Jogginghose zu absolvieren? Mit
freundlichen Grüßen,
A. A. Mole
Dienstag, 7. März
Faschingsdienstag
Peggy Ludlow kam am frühen Abend vorbei, um sich
Mehl, Zitrone, Eier, Milch, eine Bratpfanne und Öl auszuleihen. Ich
fragte sarkastisch: »Wäre es nicht einfacher, wenn ich Ihre
Pfannkuchen in meiner Küche machen würde?« Sie stimmte mir zu, und
die gesamte Ludlow-Sippe strömte herbei und hockte in meinem
Wohnzimmer vor dem Fernseher, während ich in der Küche Pfannkuchen
wendete, bis mir das Handgelenk schmerzte.
Vince Ludlow scheint überhaupt nicht zu arbeiten,
obwohl seine Familie immer tipptopp in Designerkleidung herumläuft.
Peggy geht mir nicht aus dem Sinn. Heute trug sie ein ärmelloses
Etuikleid in Schlangenlederoptik. Es war das erste Mal, dass ich
ihre Oberarme sah. Sie hat mehrere Tätowierungen, deren jüngste den
Kopf von Jeremy Paxman darstellt. Als ich sagte, ich sei ebenfalls
ein Fan von Newsnight, erwiderte sie, sie habe eigentlich
nach Jeremy Clarkson verlangt und werde den Tätowierer
verklagen.
Mittwoch, 8. März
Aschermittwoch
Meine Mutter hat mich und die Jungs zu einer Party
anlässlich des Nichtrauchertags eingeladen, um ihren angestrebten
neuen Status als Nichtraucherin zu feiern. Wir trafen etwas
verspätet gegen 19:30 Uhr ein, und sie kam leicht gereizt zur Tür:
»Ihr habt die Aschenbecherzertrümmerungszeremonie verpasst.« Um
19:45 Uhr rauchte sie im Garten, umringt von Familie und Freunden,
ihre letzte Zigarette. Tränen rannen ihr über das vom Tabak
verwüstete Gesicht. Dann klebte Iwan ihr feierlich ein
Nikotinpflaster auf den Oberarm.
Als ich zurück ins Haus schlenderte, schien es mir
einfach nicht mehr dasselbe ohne die immerwährende Rauchwolke. Noch
keine Antwort von Patience hinsichtlich der Jogginghose.
Donnerstag, 9. März
Ein Anruf der Schulsekretärin, dass Roger Patience
ab sofort nur noch unter folgender E-Mail-Adresse erreicht werden
kann: patience@neilarmstrong-gesamtschule.com.
Freitag, 10. März
Heute Nachmittag habe ich meiner Mutter
unangekündigt einen Besuch abgestattet: Sie rauchte eine Silk Cut,
kaute Nicorette-Kaugummi und hatte zwei Nikotinpflaster aufgeklebt,
an jedem Oberschenkel eins. Sie flehte mich an, Iwan nichts zu
verraten.
Samstag, 11. März
Pandora wohnte heute der Feierstunde anlässlich
der Schließung des Gemeindezentrums hier in der Gaitskell-Siedlung
bei. Sie erzählte mir, dass ihre Gäste beim Abendessen zwei
Sportler seien, Tim Henman und Geoffrey Boycott – demnach ein
trostloser Abend.
Sonntag, 12. März
Der Jogginghosenstreit zieht sich weiter hin. Der
Schulleiter bleibt stur. Ich trug Glenn auf, seinen Jogginganzug
vor dem Dauerlauf anzuziehen und nach Hause zu kommen, falls sein
Sportlehrer ihm befähle, ihn wieder auszuziehen. Um 11:15 Uhr war
Glenn mit folgender Nachricht zurück:
Sehr geehrter Mr Mole,
wie ich bereits bis zum Überdruss erklärt habe,
darf Glenn bei Geländeläufen keinen Trainingsanzug tragen. Es war
das Tragen von kurzen Hosen und Rippunterhemden bei
Minustemperaturen, was unsere jungen Männer stählte und unser
großartiges Land dazu befähigte, zwei Weltkriege und eine Handvoll
Rudermedaillen bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta zu
gewinnen. Mit freundlichen Grüßen,
R. Patience (Geschäftsführender Leiter)
Neil-Armstrong-Gesamtschule
Neil-Armstrong-Gesamtschule
Ich rief Pandora im Unterhaus an und wurde in ein
Callcenter weiterverbunden, wo eine Stimme vom Band mich
aufforderte, die Sterntaste zu drücken, falls ich ein Bewohner des
Wahlkreises sei, oder die Rautentaste, falls ich eine Beschwerde
über den staatlichen Gesundheitsdienst, die Straßenbeleuchtung oder
die Zuteilung einer Sozialwohnung vorzubringen habe.
Wutentbrannt lauschte ich der Stimme, die mir die
Zahlen eins bis acht vorbetete, bis sie mir schließlich mitteilte,
die Neun zu drücken, »falls Sie mit jemandem persönlich zu sprechen
wünschen«. »Endlich«, atmete ich auf, »kann ich mit Pandora
sprechen.« Aber sie kam nicht an den Apparat. Es war nur Lorraine
vom Callcenter, die mich nach einem bissigen Schlagabtausch darüber
informierte, dass »Ihr Anruf aufgezeichnet wird«.
Daraufhin rief ich meine neue Stiefmutter (ist
gleich Pandoras Mutter) Tania an und bat sie um Pandoras
E-Mail-Adresse. »Ich reinige gerade den Koiteich, Adrian«, sagte
sie. »Könntest du zu einem günstigeren Zeitpunkt nochmal
anrufen?«
»Deine Kois sind dir also wichtiger als die
Probleme deines Stiefenkels, ja?«, fragte ich ärgerlich.
»Genau so ist es«, blaffte sie. »Ich gebe Patience
Recht. Kurze Hosen und Unterhemden haben dieses Land in der Tat
groß gemacht.« Es stimmt also: Fortschreitendes Alter macht
Menschen rechtslastiger. Tania war früher eine führende Radikale in
den politischen Kreisen von Ashby-de-la-Zouch.
Dienstag, 14. März
Jetzt hat William Ärger in der Schule, weil er die
Auffassung vertreten hat, dass Posh Spice die nächste Königin von
England werden soll. Seinem Bericht zufolge musste er auf Anweisung
seiner Lehrerin Mrs Claricoates während der Märchenstunde allein im
Wendy-und-Kevin-Haus sitzen. Mir ist bewusst, dass das als Strafe
nicht unbedingt in die Bambus-unter-die-Fingernägel-Liga fällt,
aber als er nach Hause kam, war er immer noch niedergeschmettert
und zudem vollkommen verwirrt über das Prinzip der
Erbmonarchie.
Glenn ließ ich heute zu Hause bleiben, während ich
über meinen nächsten Zug im Jogginghosenstreit nachdachte: ein
Brief an einen aus der alten linken Garde, den
Unterhausabgeordneten Jeremy Corbyn zum Beispiel? Den Leicester
Mercury alarmieren? Oder vielleicht eine Petition?
Mittwoch, 15. März
Vince Ludlow wurde wegen eines Zahlungsrückstands
von 140 £ verhaftet! Vier Polizisten kamen ihn um 7:30 Uhr mit
Haftbefehl abholen. Im Oktober 1997 wurde er anscheinend mit einer
Geldbuße von 280 £ belegt, weil er im Anschluss an seine
Geburtstagsfeier im Snobs den Messingtürknauf des Amtsgerichts
gestohlen hatte. Peggy war ganz aufgelöst, als wir beide von
unseren jeweiligen Haustüren aus dem Mannschaftswagen der Polizei
nachblickten, wie er um die Ecke bog. »Jetzt ist Vince weg«,
schluchzte sie, »und keine einzige Kippe im Haus.«
Donnerstag, 16. März
Mein Vater macht sich Sorgen wegen des kränkelnden
Rover Werks in Longbridge. »Das ist eine verdammte Tragödie. Wo
soll ich denn in Zukunft Ersatzteile herkriegen?«
Habe heute meine alte Schulfreundin Lizzie Broadway
im Zeitungsladen getroffen. Sie hat Katzenfutter gekauft. Ich
fragte sie, ob sie auch in der Siedlung wohne. »Gott bewahre,
nein«, sagte sie. »Sehe ich sozial ausgegrenzt aus?« Damit eilte
sie zu ihrem am Bordstein geparkten BMW, dessen Radkappen gerade
von einer Bande Halbwüchsiger mit dem Zollstock ausgemessen
wurden.
Freitag, 17. März
St. Patrick’s Day
Pandora rief an und befahl mir, sie nicht weiter
zu belästigen. In nur drei Minuten verwendete sie 19-mal das Wort
»unmissverständlich«. Ist die Verwendung dieses Wortes heutzutage
obligatorisch für Politiker?
Montag, 20. März
Glenns Foto prangte heute Abend auf der Titelseite
des Ashby Bugle. Die Überschrift lautete »GLENS DAUERKAMPF
GEGEN DEN LAUF«. Es war kein schmeichelhaftes Bild: Sein neuer
Beckham-Haarschnitt zusammen mit der Art, wie er mürrisch in die
Sonne blinzelte, gab ihm das brutale Aussehen eines Mitglieds einer
rechten Wehrsportgruppe. Als ich meine Zeitung bezahlte, musterte
eine Rentnerin hinter
mir das Foto und sagte: »Dem möcht ich aber auch nicht am
Rentenzahltag über den Weg laufen.«
Wie gern hätte ich der schnurrbärtigen Seekuh
gesagt, dass Glenn ein guter Junge ist, aber sie fing übergangslos
einen Streit mit dem Kioskinhaber wegen ihrer nicht gelieferten
People’s Friend an. Also verließ ich das Geschäft, ohne
meinen Sohn zu verteidigen. Zu Hause angekommen, las ich voller
Abscheu den Artikel; er strotzte vor Ungenauigkeiten.
An den Chefredakteur des Ashby Bugle
Sehr geehrter Herr,
normalerweise schreibe ich keine Leserbriefe, aber
in diesem Fall muss ich es tun, da Sie einen wenig sachkundigen und
fehlerhaften Artikel über meinen Sohn Glenn und seine Weigerung,
beim Schuldauerlauf der Neil-Armstrong-Gesamtschule eine kurze Hose
zu tragen, verfasst haben.
1. Glen heißt Glenn. Sie haben seinen Namen
durchgängig falsch buchstabiert.
2. Ich heiße Adrian Mole, nicht A.
Drän-Mole.
3. Ich bin 33 Jahre alt, nicht 73.
4. Ich bin nicht »arbeitslos«; ich schreibe
derzeit eine Serienmörder-Komödie für die BBC mit dem Titel Der
weiße Lieferwagen.
5. Glenn trägt keinen Ohrring im rechten Ohr. Er
trägt ihn im linken.
6. Glenn wird nicht von der Abgeordneten Dr.
Pandora Braithwaite unterstützt. Im Gegenteil, sie lehnt es ab,
sich für unsere Kampagne einzusetzen. Ich zitiere aus ihrer
jüngsten E-Mail: »Ich hab den besch. Zwiebelausschuss am
Hals, ich hab keine Zeit, mich um solchen besch.
Schuluniformsquatsch zu kümmern.«
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen,
A. Mole, Glenns Vater
Dienstag, 21. März
Glenn kam heute zu mir, als ich mir beim Bügeln
die Archers im Radio anhörte. Er flehte mich an, ihn wieder
zur Schule gehen zu lassen und sagte, er würde mit Freuden eine
kurze weiße Hose zum Dauerlauf anziehen. Ich erinnerte ihn daran,
dass BBC Midlands Today Interesse angemeldet hat, in ihren
Regionalnachrichten über seine Kampagne zu berichten.
Er sagte: »Es ist nicht mehr meine Kampagne, Dad.
Es ist deine.« Beim Bügeln seiner kurzen weißen Sporthose sinnierte
ich über die Opfer, die Eltern für ihre Kinder bringen. Ich werde
das Gespött des nächsten Elternabends sein.
Donnerstag, 23. März
Der folgende Brief wurde heute im Bugle
abgedruckt:
Sehr geehrter Chefredakteur,
die BBC möchte klarstellen, dass Adrian Mole nicht
von uns beauftragt wurde, eine Serienmörder-Komödie namens Der
weiße Lieferwagen zu verfassen. Hochachtungsvoll,
Geoffrey Perkins (Ressortchef Unterhaltung)
Freitag, 24. März
Pamela Pigg von der Obdachlosenabteilung kam auf
ihrem Heimweg vorbei, um mir mitzuteilen, dass eine
Maisonettewohnung in der Prescott-Siedlung frei sei. »Das ist eine
neue Wohnanlage speziell für Mieter, die zur neuen Mittelschicht
aufstreben möchten.«
Sie berichtete, man sei an Alan Titchmarsh
herangetreten, er solle den Innenhof mit dem Mülltonnenbereich
entwerfen. Er habe zwar abgelehnt, doch, wie Pamela sagte:
»Immerhin hat man ihn gefragt.«
Ich kochte ihr eine Tasse Instantkaffee und schnitt
das heikle Thema einer Namensänderung an. Sie ging sofort in die
Defensive und erklärte, schon im Domesday Book werde ein
Pigg erwähnt, einer habe in Ypern gekämpft und erst kürzlich habe
ein Pigg den Orden des British Empire für seine Verdienste um das
Postamt verliehen bekommen. Als ich zaghaft meinte: »Ja, aber wie
kann ein Mole eine Beziehung mit einer Pigg haben?«, gab sie
schüchtern zurück: »Na ja, wir wären doch Pamela und Adrian, oder?«
Ihr scheint klar zu sein, dass ich doch nicht so richtig schwul
bin.
Samstag, 25. März
Pamela und ich hatten unser erstes Rendezvous und
haben uns das Bootsrennen angesehen. Ich wettete mit ihr um 500 £,
dass Cambridge gewinnen würde, aber das ist mir egal. Ich glaube,
ich könnte in eine Frau namens Pigg verliebt sein.
Dienstag, 28. März
O Pamela! Pamela! Pamela! Ununterbrochen flüstere
ich ihren Namen vor mich hin. Ihren Nachnamen – Pigg – flüstere ich
allerdings nicht, wenn ich auch weiterhin optimistisch bin, dass
sie letzten Endes ein Einsehen haben und eine Namensänderung
beantragen wird.
Aber, ach, diese drei erhabenen Silben: Pam-e-la.
Das ist wie Musik von Abba! Wie ein Gebirgsbach. Wie der Garten des
Rathauses von Leicester zur Kirschblüte. Wie das Lachen von Edward
Heath. Wie ein Crunchie-Toffeeriegel aus dem Kühlschrank.
Aber Pigg. Pigg ist roh und knapp. Es ist wie
Schlick. Wie das Gebiss der Queen Mum. Wie diese komischen
Dornensträucher, die von der Stadtverwaltung am Straßenrand
gepflanzt werden. Wie die vorhersehbare Wendung in einem Roman von
Jeffrey Archer. Wie der Topfschnitt von Ann Widdecombe.
Mittwoch, 29. März
Bin ich verliebt? Ich habe meinen besten Freund
Nigel in der Arbeit angerufen, und er hat mir einen Fragebogen
zugefaxt. Manche der Punkte waren relevant, andere nicht. Er
erklärte mir, wenn ich mindestens vier davon mit Ja beantworte, sei
ich definitiv verliebt. Ganz unten an den Rand hatte er noch
gekritzelt, dass der Fragebogen natürlich für schwule Männer
entworfen wurde, aber wahrscheinlich auch bei Heteros funktioniere.
a. Denkst du ständig an ihn?
b. Hast du dir die Brust entwachsen lassen?
c. Rufst du ihn öfter als viermal pro Tag
an?
d. Hast du aufgehört, in die Sauna zu
gehen?
e. Hast du Angst, zum Friseur zu gehen, weil ihm
der neue Schnitt vielleicht nicht gefällt?
f. Schreibst du verkünstelte Naturlyrik?
Ich saß mit einer Tasse Kaffee und einem Kuli am
Küchentisch und ermittelte schnell, dass ich in Pamela Pigg
verliebt bin. Daraufhin rief ich sie im Wohnungsamt an, um es ihr
mitzuteilen (mein fünfter Anruf an diesem Tag), doch ihr
Vorgesetzter, Terry Nutting, sagte, er habe ihr »Sonderurlaub wegen
eines Trauerfalls« gegeben, damit sie zum Friseur gehen und etwas
gegen ihren jammervollen Haarschnitt unternehmen könne.
Nutting hält sich ja für so geistreich. Dem wird
sein bärtiges Lachen schon noch vergehen, wenn Pamela sich
freinimmt, um meine Frau zu werden. Laut Pammy ist Nutting ein
inkompetenter Faulpelz, der den ganzen Tag in seinem Büro sitzt und
auf die Kontaktanzeigen in der Satirezeitschrift Private Eye
antwortet.
Sie sagte in ihrer süßen Stimme (wie ein Zephyr,
der über ein Hänflingsei bläst): »Terry Nutting würde einen
Obdachlosen nicht mal erkennen, wenn er in einem Hauseingang über
ihn stolpert.«
Freitag, 31. März
Pamelas neue Frisur wächst mir langsam ans Herz.
Leider wächst sie nicht buchstäblich. Ich meine damit, dass ich sie
inzwischen schon mehrere Sekunden lang ansehen kann, ohne
zusammenzuzucken. Allerdings bin ich nach wie vor der Meinung,
dass weniger kurz besser gewesen wäre: Ihr Schädel hat eine etwas
eigenartige Form, und die Kopfhaut ist übersät von Narben und den
Folgen von Unfällen in der Kindheit.
Samstag, 1. April
Um 11:30 Uhr rief meine Schwester Rosie an, um mir
mitzuteilen, dass ein Brief von Greg Dyke, dem Chef der BBC, für
mich gekommen sei, in dem er schreibt, er habe mein episches
Gedicht Die rastlose Kaulquappe gelesen und wolle sie von
Andrew Davies für BBC 2 adaptieren lassen. Als ich sie bat, mir den
Brief zu faxen, lachte sie ihr grauenhaftes Lachen und legte
auf.
Sonntag, 2. April
Nun habe ich also das Alter von 33 Jahren erreicht
– genau so alt war Jesus, als man ihn umbrachte. Glenn schenkte mir
eine Karte, auf der in altertümlicher Frakturschrift stand
»Herzlichen Glückwunsch dem alleinerziehenden Vater«. Darunter
befand sich das Bild eines Mannes mit Schnurrbart, der auf einer
alten Steinbrücke steht und in den Fluss hinabstarrt – als wollte
er sich hinunterstürzen. Vielleicht, um seiner Verantwortung zu
entfliehen. William hatte in der Vorschule eine Karte aus
Eierschalen, Linsen und zerkrümelten Cornflakes gebastelt. Ich
bedankte mich bei ihm, fand sie aber insgeheim ekelhaft, besonders
da doch die halbe Welt Hunger leidet.
Montag, 3. April
Meine Liebschaft mit Pamela hat heute Abend das
sexuelle Stadium erreicht, obwohl die »vollständige Vereinigung«,
wie sie es nennt, noch aussteht. Pamela ist eine Anhängerin des
Frauenkondoms, doch nach eingehender Prüfung eines Exemplars, das
sie aus ihrer Aktentasche zog, entdeckten wir, dass es 1998
hergestellt worden war. Wir entschieden uns, es nicht zu riskieren.
Pam allerdings drängte darauf, den Akt zu vollziehen, mit den
Worten: »Ich will es einfach hinter mich bringen, Adrian.«
Ich erklärte ihr, dass ich keine Kondome mehr im
Haus aufbewahrte, seit William eins davon als seinen Beitrag zum
Heißluftballon-Wandkunstwerk mit in die Vorschule genommen hat.
Ausgerechnet ein adleräugiger Kinder- und Jugendbeauftragter hatte
den »Langen Lümmel« zwischen den Wattewolken aufsteigen
sehen.
Pamela hat mich gefragt, ob ich am nächsten
Wochenende mit ihr nach Stockport fahren und ihre Eltern
kennenlernen möchte. Ich log und sagte: »Aber ja, Wiggly.« Sie hat
mich gebeten, sie Wiggly zu nennen. Sie nennt mich Snuffly. Seit
wir uns kennen, habe ich nämlich einen leichten Schnupfen.
Dienstag, 4. April
Die Ludlows haben heute Abend eine
Willkommensparty für Vince anlässlich seiner Entlassung aus dem
Gefängnis gegeben. Ich ging erst um 22:00 Uhr nach nebenan, als
William und Glenn schon im Bett lagen. Ich möchte nicht, dass meine
Söhne das Wort »Gefängnis« mit dem Wort »Party«
in Zusammenhang bringen. Vince sagte, er habe den wegen Meineids
inhaftierten konservativen Politiker Jonathan Aitken in der
Gefängniskapelle gesehen und sei Zeuge von Mr Aitkens religiöser
Inbrunst geworden. »Der hat sein Tamburin so fest geschüttelt, dass
ihm die Rolex abgefallen ist.« Vince gab mir den Tipp, beim
Grand-National-Pferderennen auf Papillon zu setzen. Ich erwiderte,
es sei doch höchst unwahrscheinlich, dass zum zweiten Mal in Folge
eine Sohn/Jockey-Vater/Trainer-Kombination gewänne.
Sobald ich wieder zu Hause war, rief ich Pamela
an. Sie sagte, sie liege mit einem kleinen Don Juan im Bett. »Ich
finde Hardcover im Bett auch immer unpraktisch«, pflichtete ich ihr
bei. Pamela lachte, als hätte ich einen Witz gemacht.
Donnerstag, 6. April
Die Piggs mögen keine Kinder, deshalb nimmt meine
Mutter William übers Wochenende zu sich, und Glenn geht zu seiner
Mutter.
Pamela warnte mich heute Abend, ihrem Vater nicht
zu erzählen, dass ich ein unveröffentlichter Dichter und Romanautor
sei. Ich wies darauf hin, dass von mir zwei Kochbücher auf dem
Markt sind: Alle schreien nach Innereien – das Buch! und
Alle schreien nach Innereien – noch ein Buch! Daraufhin
sagte sie, ihr Vater sei ein militanter Vegetarier und ehemaliger
Kajak-Lehrer der Royal Air Force. Mir graut davor, Mr Pigg
kennenzulernen.
Freitag, 7. April
Die Alte Schmiede, Stockport
Er ist schlimmer, als ich befürchtet hatte. »Nenn
mich Porky!«, dröhnte er. Er trug eine Art flauschigen
Strampelanzug und Gummisocken und war gerade von einer
Trainingsfahrt durch einen künstlichen Slalomkurs auf dem Tees
zurückgekehrt. Er hat angeboten, mit mir am Sonntag in seinem
Doppelkajak die Stromschnellen hinunterzufahren. Mrs Pigg belud
unterdessen ihren Lieferwagen für einen Jahrmarkt auf dem Land, wo
sie die igelförmigen Schuhbürsten verkauft, die sie aus
Kiefernzapfen und Plastikborsten fertigt.
Als Mrs Pigg mir mein schmales Gästebett zeigte,
forderte sie mich auf, sie Snouty zu nennen. Auf meine Frage, auf
welchen Namen sie denn getauft sei, funkelte sie mich böse an und
sagte: »Warum unterstellst du, dass meine Eltern Christen gewesen
sind?« Ich erklärte ihr, ich habe das Hochzeitsfoto ihrer Eltern
auf dem Kamin stehen sehen, das vor einer Kirche aufgenommen und
auf dem ein Pfarrer zu sehen war, der ein Exemplar des Alten
Testaments in Händen hielt. Sie sagte, ich solle Pamela in der
Nacht nicht »behelligen«, da Mr Pigg Sex außerhalb einer
langfristigen Beziehung nicht gutheiße.
Samstag, 8. April
Die Piggs luden mich heute Abend in ein
Beefeater-Restaurant zum Essen ein. Eine Pappfigur des Fernsehkochs
Brian Turner hieß uns willkommen. Als Porky herausfand, dass ich
ein alleinerziehender Vater bin, der in einer Sozialwohnung
lebt, geriet das Gespräch plötzlich ins Stocken. Die Spannung war
geradezu greifbar, und Pamelas linkes Auge begann ganz
unvorteilhaft zu zucken.
Doch noch war nicht alles verloren, denn Porky und
ich entschieden uns beide für die frittierten Champignons in
leichter Panade für 2,95 £ (mit zwei Dips). Porky und ich haben nun
etwas gemeinsam: Noch viele Jahre werden wir uns über unsere
Beefeater-Erfahrung austauschen.
Danke, Mr Turner.
Montag, 10. April
William wachte schreiend mitten in der Nacht auf.
Er hatte einen Alptraum über seine bevorstehende
Schulzwischenprüfung gehabt. Er brabbelte überwiegend
unzusammenhängendes Zeug, aber immerhin bekam ich heraus, dass in
seinem Traum David Blunketts Blindenhund sowie der schwule
Teletubby Tinky Winky vorkamen. Ich bohrte nicht weiter nach.
Pamela hat mich seit unserem Wochenende bei ihren
Eltern nicht angerufen. Ich befürchte, dass ich neben der haarigen
Männlichkeit ihres Vaters wie ein eher dürftiges Exemplar unseres
Geschlechts wirkte. Meine profunde Kenntnis des Frühwerks von
Philip Larkin kann sich mit Porky Piggs Eskimorolle auf Wildwasser
im Doppelkajak nicht messen. Ich sah Pamela sofort an, dass meine
Weigerung, mich zu Porky in das wackelige Plastikboot zu setzen,
Zweifel in ihr säte.
Hat ein Urinstinkt sie gewarnt, dass meine
Spermatozoen und ihre Eizellen inkompatibel sind und die Qualität
des Genpools nicht erhöhen würden? Bin ich zu einer weiteren
gescheiterten Beziehung verdammt? Wie dem auch sei, sie war sehr
still, als wir gen Süden fuhren, und behielt ihre Zunge für sich,
als ich sie zum Abschied küsste.
Dienstag, 11. April
Heute Morgen reichte ich William seine übliche
Einkaufstüte voller Toilettenpapierrollen und zerdrückter
Müslipackungen und war verblüfft, als er sie mir umgehend mit den
Worten zurückgab: »Wie dürfen in der Schule nicht mehr spielen,
Dad, du brauchst das also nicht mehr zu sammeln.«
Nach der Schule brach ich die Regeln und wartete
vor Williams Klassenzimmer auf ihn. Durch die Glasscheibe in der
Tür konnte ich beobachten, dass die Kinder brav in Reihen saßen und
von einem »Prüfungstrainer« in Prüfungstechniken unterwiesen
wurden. (Früher nannte man so was Hilfslehrer.) Die Wetterkarte und
der Heimat- und Sachkundetisch waren nirgends zu entdecken, der
Hamsterkäfig leer. Im Raum verteilt hingen Ermahnungen. Gerade
schrieb der Prüfungstrainer »Prüfungen sind gut, Spielen ist
schlecht« an die Tafel. Die Kinder tauchten ihre Federn ins
Tintenfass und schrieben den Slogan ab. Seit wann ist es
vorgeschrieben, mit Tinte zu schreiben? Ich fürchte, dass Mrs
Parvez, die Schulleiterin, einmal mehr die Richtlinien des
Bildungsministeriums fehlgedeutet hat. Sie wird erst zufrieden
sein, wenn die Kinder Holzschuhe tragen.
Mittwoch, 12. April
Heute habe ich einen neuen Roman in Angriff
genommen, kam aber nur zäh voran. Ich schrieb lediglich eine halbe
Seite, einschließlich Buchtitel und meines Namens.
DER SCHWEINESTALL
von Adrian Mole
Das Schwein grunzte in seinem Stall. Es war sehr
traurig. Irgendwie fühlte es sich anders als die anderen Schweine,
mit denen es zusammen hauste. »Sieh sie dir an«, dachte das
Schwein. »Sie ahnen nicht einmal, dass sie nur ein Teil der
Nahrungskette sind.« Das Schwein war unzufrieden, seit es einen
Blick auf Alain de Bottons Fernsehserie Philosophie: Eine
Anleitung zum Leben durch einen Spalt in der Gardine des Bauern
erhascht hatte. Die Weisheit von Sokrates, Epikur und Montaigne
hatte ihm vor Augen geführt, dass es vollkommen ungebildet war und
nichts von der Welt jenseits seines Stalls wusste.
Es spähte hinüber in den Koben, in dem Pamela Pigg
lustvoll grunzend ihre haarige, feuchte Schnauze in den Trog
steckte. Seit Jahren schon war er in Pamela verliebt, doch nun
fragte er sich, ob sie ihm intellektuell ebenbürtig war. Da war
etwas in ihren Schweinsäuglein, das ihn abstieß …
NOTIZEN ZUM NEUEN ROMAN:
1. Sollte das Schwein einen Namen haben? 2.
Sollten die Gedanken des Schweins in Anführungszeichen gesetzt
werden? 3. Funktioniert die Geschichte? Oder ist der Protagonist
(das Schwein) als Figur zu eingeschränkt, da es
(a) nicht mit den anderen Schweinen kommunizieren kann und (b)
niemals den Stall verlässt?
Sonntag, 16. April
Pamela Pigg hat soeben wutentbrannt dieses Haus
verlassen, nachdem sie mir vorgeworfen hatte, ihr Leben zu stehlen
und es in »fünftklassige Kunst« zu verwandeln. Sie hat das
Manuskript von Der Schweinestall gelesen, das ich
blöderweise unter einem Exemplar der Men’s Health auf dem
Küchentisch liegen gelassen hatte. Als sie zu ihrem Auto stürmte,
rief ich ihr nach: »Ich bin Künstler. Wir müssen unser Material
auftreiben, wo wir können.«
Pamela schrie zurück: »Und ich bin Mitarbeiterin
des Wohnungsamts. Wir müssen den Umzug des Künstlers in die
versprochene Maisonettenwohnung abblasen.« Ich ging wieder ins Haus
und las den Artikel auf Seite 124 der Men’s Health –
zügelloser Sex – für meine Kunst, selbstverständlich.
Montag, 17. April
Arthur Askey Way
William bat mich heute um 2,49 £. Er möchte sich
eine Großpackung Pokémon-Karten kaufen. Als ich Nein sagte, brach
er in Tränen aus und warf sich auf den Küchenboden. Glenn kam
herein und meinte: »Du musst ihm das Geld geben, Dad, weil er wird
auf dem Spielplatz nicht mehr respektiert.«
Wie man mir erklärte, hat ein Set insgesamt 151
Figuren, William allerdings hat nur 37 der gängigsten davon
gesammelt. Glenn sagte: »Das ist wie, also, wie Turnschuhe von
Marks & Spencer anhaben, verstehst du?« Glenn hat mir nie
verziehen, dass ich ihn einmal mit meinen alten
Marks-&-Spencer-Turnschuhen in die Schule geschickt habe, als
seine Nikes verschwunden waren. Nachts wacht er immer noch manchmal
schweißgebadet auf und ruft nach dem Childline-Sorgentelefon.
Dienstag, 18. April
Tania rief heute Morgen um 10:30 Uhr an, um mir
mitzuteilen, dass mein Vater bei dem Versuch, eine Pagode im Garten
zu bauen, von der Leiter gefallen sei und sich am Rücken verletzt
habe. Er warte auf den Krankenwagen, sagte sie. Im Hintergrund
konnte ich das Stöhnen meines Vaters sowie Plätschern und
Vogelgezwitscher hören.
Ich ließ William und Glenn in der Obhut der Ludlows
und eilte nach The Lawns. Mein Vater lag halb im, halb neben dem
Koikarpfenteich und schien schlimme Schmerzen zu haben. Tania
kauerte neben ihm und instruierte ihn, »den Schmerz wegzuatmen,
George«. Der Krankenwagen brauchte eine geschlagene Stunde, nachdem
ihn der Computer in die psychiatrische Klinik in Rutland
fehlgeleitet hatte. Trotzdem waren die beiden Sanitäter, Derek und
Craig, ungetrübt fröhlich und bar jedes schlechten Gewissens. Es
war bereits ihr fünfter Gartenunfall innerhalb von fünf Tagen. Sie
gaben Alan Titchmarsh und seiner Gartensendung die Schuld an dem
derzeitigen alarmierenden Ansturm auf die Notaufnahme. Tania blieb
zu Hause, um die Karpfen zu beruhigen und eine Tasche zu packen,
und ich fuhr mit meinem Vater im Krankenwagen mit. Um ihn von
seinen Schmerzen abzulenken, versuchte ich, ihn in ein Gespräch
über Titchmarshs Gärtnerkonkurrentin Charlie Dimmock zu verwickeln,
aber er hatte keine Lust.
Um zwei Uhr nachmittags erhielt er die Diagnose:
zwei angeknackste Rückenwirbel, eine gebrochene Schulter und eine
tiefe Schnittwunde im linken Oberschenkel, die von der
Homebase-Kundenkarte in seiner Hosentasche stammte. Um 20:30 Uhr
wurde er endlich auf die Bevan-Station gebracht und in ein Bett
gelegt. Ohne seine Zähne und mit den wild abstehenden grauen Haaren
sah man ihm seine 56 Jahre deutlich an. Er liegt flach auf dem
Rücken und ist nicht in der Lage, auch nur das Geringste selbst zu
machen. »Also alles wie gehabt«, seufzte meine Mutter, seine
Exfrau, als ich ihr am Telefon einen Lagebericht gab.
Preisfrage: Wo kann ich zwei Pokémon-Ostereier
kaufen?
Mittwoch, 19. April
Als ich meinen Vater heute besuchte, fand ich ihn
völlig aufgelöst vor. Das Krankenhaus hat sein Gebiss verloren.
»Nicht, dass es groß was ausmachen würde«, nuschelte er zahnlos,
»ich komm ja sowieso nicht an mein blödes Essen ran.« Sein
Frühstückstablett hat man 15 cm außerhalb der Reichweite seines
gesunden Arms abgestellt, immerhin 5 cm näher als die Notklingel.
Er macht sich Gedanken über Tanias Reaktion, wenn sie ihn erstmals
ohne seine Zähne sieht. Offenbar glaubt sie, er hätte noch seine
eigenen.
Pamela Pigg rief an, um mir zu sagen, dass sie
unsere Beziehung wieder aufleben lassen will. Sie hat den Jungs
zwei Pokémon-Ostereier gekauft. Ich sagte Ja.
Sonntag, 23. April
Ostersonntag, Sankt-Georgs-Tag, Shakespeares Geburtstag
Ich wusste heute nicht, welche Hose ich anziehen
oder was ich zum Frühstück essen sollte. Leide ich etwa am
Angebotsübersättigungssyndrom, dieser modernen Krankheit? Ich kann
mich einfach nicht entscheiden.
Jemand hat mit rotem Stift K R L N M auf die
Unterlagen meines Vaters geschrieben. Ich fragte eine
Assistenzärztin, was das bedeutet. »Keine Reanimation, lohnt nicht
mehr«, sagte sie und eilte weiter. Ich hoffe, das war ein Witz. Als
ich Pamela heute Morgen alles Gute zum Sankt-Georgs-Tag wünschen
wollte, beschuldigte sie mich, »den Faschismus zu feiern«. Wir sind
dem Untergang geweiht. Dem Untergang.
Dienstag, 25. April
Mein Vater hat mich angefleht, ihm heute
Nachmittag bei der Flucht aus dem Krankenhaus zu helfen. Er sagte,
der Schlafmangel und die wundgelegenen Stellen raubten ihm langsam
den Lebenswillen. Seine falschen Zähne sind noch nicht wieder
aufgetaucht, trotz einer internen Ermittlung auf höchster Ebene. Er
lebt von Suppe und Haferbrei – falls jemand daran denkt, ihn zu
füttern. Er selbst ist praktisch hilflos.
Ich persönlich gebe Tania, seiner neuen Frau, die
Schuld an seinem Unfall. Mein Vater ist zu alt, um auf einer Leiter
herumzuturnen und unter ihrer peinlich genauen Anleitung eine
Pagode im japanischen Stil zu errichten. Ich habe angeregt, einen
Dienstplan aufzustellen, damit
zu den Mahlzeiten immer jemand aus der Familie vor Ort ist.
Außerdem rief ich Pandora in ihrem Büro in
Westminster an und bat sie, inkognito ins Krankenhaus zu kommen.
Dann könne sie die Dritte-Welt-Bedingungen mit eigenen Augen sehen.
Sie sagte, sie würde ja »vorbeischauen«, wenn sie könnte, aber sie
sei »schwerst beschäftigt« mit Frank Dobsons
Bürgermeisterkandidatur. Ich stieß ein hohles Lachen aus und
fragte, ob ihr bewusst sei, dass heute in Australien und Neuseeland
Anzac Day sei, der Jahrestag eines ähnlich zum Scheitern
verurteilten Feldzugs.
Donnerstag, 27. April
Bevan-Station
Ein Brief aus Nigeria von meiner Exfrau Jo-Jo,
Williams Mutter und Erbin eines LKW-Reifenhersteller-Vermögens. Ich
lebe in der ständigen Angst, Jo-Jo könnte William zu sich holen,
wenn der Bürgerkrieg in Nigeria vorbei ist.
Lieber Adrian,
deine Mutter hat mir geschrieben, dass William
in »moralisch bedenklichen Verhältnissen« lebt. Sie schreibt, er
verkehre »tagtäglich« mit Kriminellen. Kann das wahr sein? Ich habe
mir im Internet die Satellitenaufnahme des Arthur Askey Way
angesehen und zu meiner großen Beunruhigung entdeckt, dass vor
deinem Haus ein ausgebranntes Auto steht. Außerdem konnte ich
erkennen, dass dein Vorgarten
extrem verwahrlost ist. Ist das etwa die Matratze, auf der wir
früher geschlafen haben?
Bitte vergiss nicht, Adrian, dass William halb
Nigerianer und der Enkel eines Stammesführers ist. Daher ist es von
größter Wichtigkeit, dass er sehr sorgfältig erzogen wird. Meine
Lebensumstände erlauben mir momentan nicht, ihn zu mir zu holen,
daher bitte ich dich inständig, William aus der Gaitskell-Siedlung
zu entfernen, bevor sein Charakter und seine Persönlichkeit
unwiderruflich beschädigt sind.
Ich habe versucht, dich telefonisch zu
erreichen, aber eine Stimme vom Band teilte mir mit, es sei »nicht
möglich, Ihre Verbindung herzustellen«. Daraufhin habe ich dich im
Internet recherchiert und zu meiner Bestürzung entdeckt, dass du
als hohes Kreditrisiko giltst und bei deinem Zeitungsladen 75,31 £,
beim Milchmann 43,89 £ und bei der British Telecom 254,08 £
Schulden hast. Eine eingehendere Suche förderte zutage, dass dein
Konto um 947,16 £ überzogen ist. Des Weiteren fand ich die
Information, dass du dir am 19. Dezember 1999 dein gesamtes
Guthaben bei der Bausparkasse hast auszahlen lassen. Dieses Geld
war für Williams Klavierstunden beiseitegelegt. Hat er
Unterricht?
Ich mache mir große Sorgen um deine geistige
Gesundheit. Durch eine Recherche in deinen Krankenakten fand ich
heraus, dass du im vergangenen Monat dreimal beim Arzt warst und
dich darüber beklagtest, du würdest ausgespäht. Dein Arzt machte
sich die Notiz: »Möglicherweise leichte Paranoia.« Bitte schreib
mir unter jojomole@aol.com.
1984 ist also gekommen, im Jahr 2000. Das ist das
Ende der Privatsphäre. Ich könnte ebenso gut nackt durch die
Straßen laufen und die unbedeutenden Einzelheiten meines Lebens
laut herausbrüllen.
Ich stellte meine Mutter zur Rede und warf ihr
schwere Treulosigkeit vor. Sie zeigte keine Reue. »William
verbringt zu viel Zeit bei den Ludlows«, sagte sie. »Vince Ludlow
ist ein Berufsverbrecher, du meine Güte!« Ich muss gestehen, liebes
Tagebuch, dass Williams Bezugssystem sich in letzter Zeit erweitert
hat. Gestern Abend hörte ich ihn zu Glenn sagen: »Mad Frankie
Fraser war um einiges härter drauf als Charlie Kray.«
Samstag, 29. April
Ich fragte Pamela Pigg nach der
Maisonettenwohnung, die sie mir versprochen hatte. Sie antwortete
(genüsslich, wie ich fand): »Die habe ich einer Asylbewerberfamilie
gegeben.« Ich schlug einen Wohnungstausch vor, worauf sie
entgegnete: »So verzweifelt sind die auch wieder nicht.«
Montag, 1. Mai
Arthur Askey Way
Heute fuhr ich meine Mutter ins Krankenhaus, um
ihren Exmann und meinen Vater (ein und dieselbe Person) zu
besuchen. Wir teilten uns gerade brüderlich ein Mars – immer
abwechselnd einen Bissen -, als ich von einem Streifenwagen
herausgewinkt wurde.
Ich hatte weder Alkohol noch Drogen konsumiert und
mich auch an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten. Zur
Sicherheit fragte ich meine Mutter, ob sie im Rückspiegel eine
anstößige Geste gemacht habe, was sie verneinte. Daher war ich
verdutzt, warum man mich angehalten hatte. Zwei Polizisten stiegen
aus dem Wagen. Polizist Eins sagte: »Würden Sie bitte aus dem
Fahrzeug steigen, Sir.« Ich tat, wie mir geheißen. Polizist Zwei
fragte mit höhnischem Unterton: »Sie essen gern mal ein Stück
Schokolade, stimmt das, Sir?«
»Offen gestanden bin ich wohl ein leichter
Schokoholiker«, scherzte ich.
»Knabbern wohl gern mal in Ihrem Fahrzeug auf
Kakaoprodukten herum, Sir?«, meinte Polizist Eins.
Ich war etwas perplex, antwortete aber: »Ja,
meistens kaufe ich mir beim Tanken Schokolade.«
Meine Mutter hatte dem Gespräch mit kaum
verhohlener Verärgerung gelauscht. »Es verstößt ja wohl nicht gegen
das Gesetz, in seinem eigenen Auto zu essen, oder?«
Polizist Eins ging langsam um den Wagen herum zur
Beifahrerseite. Meine Mutter kurbelte das Fenster herunter. »Es
verstößt aber gegen das Gesetz, ohne die gebotene Vorsicht und
Aufmerksamkeit zu fahren, Madam«, erwiderte er. »Und dieser
Marsriegel wurden zwischen Ihnen und dem Fahrer des Wagens hin- und
hergereicht wie der Stab beim Staffellauf.«
»Die Polizisten im Fernsehen stopfen sich auch
immer am Steuer voll«, sagte ich.
Ich bemerkte ein Nervenzucken unmittelbar über
seiner Schläfe, und er befahl meiner Mutter, auszusteigen, während
er und sein Kollege das Wageninnere untersuchten. (Auf der Suche
nach was: Twix, Smarties, Luftschokolade?)
Wir kamen zu spät ins Krankenhaus. Der Katheter meines Vaters
hatte sich gelöst. Während wir darauf warteten, dass jemand für uns
zwei saubere Bettlaken irgendwo in der Klinik auftrieb, beobachtete
ich Beryl, die outgesourcte Reinigungsfrau, dabei, wie sie einen
schmutzigen, zerlumpten Mopp über den Fußboden der Station schob.
Mir schauderte bei dem Gedanken an die Viren, von denen dieser Mopp
wimmeln musste. Ich hoffte nur, dass sie sich nicht in den
wundgelegenen Stellen meines Vaters häuslich niedergelassen
hatten.
Mittwoch, 3. Mai
Was ist nur aus den Archers geworden?
Früher einmal konnte man sich die Folgen im Beisein junger und
leicht beeinflussbarer Menschen anhören. Jetzt muss ich das Radio
ausschalten, wenn Glenn oder William in der Küche sind.
Die Liebesszenen zwischen Sid Perks und Jolene sind
akustische Pornografie. Es ist, wie zwei Warzenschweinen beim
Paarungsakt zu lauschen. Würde jemand bitte mal Kathy Perks über
Sids Untreue ins Bild setzen? Und könnte derjenige, der bei der BBC
für die Akzente zuständig ist, diesem sexuellen Belästiger Simon
mal beibringen, wie man kanadisch klingt?
Dem derzeitigen Handlungsverlauf nach zu urteilen,
prophezeie ich, dass bald ein sozial engagierter Dorfbewohner die
Meinung äußern wird, dass Ambridge einen Jugendklub braucht.
Drehbuchvorschlag:
JILL ARCHER (mit warmer Anteilnahme in der
Stimme): Hast du das Graffiti auf Onkel Toms Grabstein gesehen:
»Sid Perks nagelt Jolene«?
SOZIAL ENGAGIERTER DORFBEWOHNER (mit reichlich
Anteilnahme in der Stimme): Ja, und ich bin untröstlich über
den Schaden an der Statue von Walter Gabriel auf dem
Dorfanger.
JILL ARCHER: Ja, es war grausam, ihm eine
Biosteckrübe in den …
SOZIAL ENGAGIERTER DORFBEWOHNER (unterbricht
sie): Das ist die Null-Bock-Generation, Jill. Sie wissen nicht,
wohin, und haben nichts zu tun. Was sie brauchen, ist ein
Jugendklub.
JILL ARCHER: Glaubst du? Glaubst du
wirklich?
Dam-di-dam-di-dam-di-dam-dam-di-dam-di-dam-dam
usw.
Freitag, 5. Mai
Pandora ist emsig damit beschäftigt, sich von
jeder Schuld an Mr Dobsons unterirdischem Abschneiden in der
Bürgermeisterwahl reinzuwaschen. Sie sagte: »Ich habe ihn
angefleht, sich diesen bescheuerten Bart abzurasieren, ein paar
Kilo abzunehmen, sich einen neuen Anzug zu kaufen, sich die Haare
zu färben und die Zähne begradigen und bleichen zu lassen. Die
Sache hat er ganz allein sich selbst zuzuschreiben.«
Samstag, 6. Mai
Arthur Askey Way
Meine Mutter rief mich heute Morgen an und fragte,
ob ich ihr Fahrstunden geben würde, weil sie mehr mit dem Wagen
unterwegs sein will und ihre Fahrpraxis aufpolieren möchte. Ich
lachte ziemlich lange. Schließlich sagte sie: »Ja oder nein?« Ich
antwortete: »Das würde in einer Katastrophe enden, du kannst ja
nicht mal links von rechts unterscheiden.« Ich erkundigte mich, ob
sie schon ihren neuen Gatten gebeten hatte. Sie meinte: »Iwan ist
der Meinung, der Straßenverkehr sei auch ohne mich schon gefährlich
genug.« Ich riet ihr, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen,
worauf sie erwiderte, es gebe keine öffentlichen Verkehrsmittel zur
Crème de la Crème der Flohmärkte in Saddington, mitten auf dem
platten Land in Leicestershire.
»Warum fährt Iwan dich nicht nach Saddington?«,
fragte ich.
»Iwan ist gelernter Buchhalter – er wird nervös
beim Anblick so vieler Bargeldtransaktionen zwischen
unausgebildeten Laien«, sagte sie.
Iwan war früher Hauptbuchhalter bei der
Co-op-Molkerei, bis der kalte Wind des Wandels die Milchflaschen
von den Stufen der Zeit wehte und sie durch den Tetrapak im
Kühlregal der Supermärkte ersetzte.
Meine Mutter plapperte immer noch weiter: »Das
letzte Mal, als ich auf einem Flohmarkt war, hat mir Iwan den
ganzen Spaß verdorben, weil er ständig über den Mangel an
Vorschriften genörgelt hat. Er sagte, sowohl die Käufer als auch
die Verkäufer seien Anarchisten und sollten gezwungen werden,
Steuern und Mehrwertsteuer zu bezahlen.
Er hat sogar Pandora aufgefordert, einen Gesetzesantrag
einzubringen: Das Flohmarktregulierungsgesetz.«
Als sie erwähnte, dass dort auch Abba-Platten und
-Memorabilien zum Verkauf stünden, erbot ich mich, sie eines
Sonntags hinzufahren.
Montag, 8. Mai
Mit meinem Vater geht es im Krankenhaus weiter
bergab. Nun hat er sich mit einem Virus infiziert (dem durch das
outgesourcte Putzen verbreiteten) und liegt auf einer
Isolierstation. Tania ist praktisch durchgehend bei ihm. Sie nutzt
seinen geschwächten Zustand aus, um ihm große Werke der
Weltliteratur vorzulesen. Mit Moby Dick ist sie schon zur
Hälfte durch. Als sie einmal auf die Toilette ging, fragte ich
meinen Vater, wie ihm Melvilles bemerkenswerte allegorische
Seefahrergeschichte gefalle. »Überhaupt nicht«, jammerte er. »Ich
kann das Fischen nicht ausstehen.«
Mir fiel auf, dass Tania eine Ausgabe von George
Eliots Silas Marner: Der Weber von Raveloe auf dem
Nachttischchen deponiert hat. Offensichtlich sollte das der nächste
literarische Leckerbissen zum Vorlesen sein. Ich überlegte, ob ich
Tania gegenüber erwähnen sollte, dass mein Vater eine heftige
Abneigung gegen Bücher, Filme und Fernsehserien über Kinder hat.
(Irgendwas ist ihm mal in einem Kino zugestoßen, während er sich
einen Shirley-Temple-Film ansah – was genau, weiß ich nicht, aber
es hatte etwas mit einem Gabardinemantel zu tun.)
Tania hätte festeren Boden unter den Füßen, wenn
sie sich an Raymond Chandler oder den frühen Dick Francis
hielte.
Freitag, 12. Mai
Pamela Pigg kam vorbei, um mir mitzuteilen, dass
sie für mich ein kleines Reihenhäuschen mit Blick auf ein
Kanalbecken in Leicester gefunden habe. Die derzeitige Bewohnerin,
eine Mrs Wormington, ist Rentnerin. Sie liegt im Krankenhaus, wird
aber derzeit nicht oral ernährt, weshalb Pamela davon ausgeht, dass
ich wahrscheinlich in ein paar Wochen einziehen kann. Ich fragte:
»Nicht oral ernährt im Sinne von: sie wird bald den
Sozialwohnungsbestand entlasten?«
Pamela sagte: »Sie belegt ein Haus mit vier
Schlafzimmern und ist 97 Jahre alt.«
Daraufhin meinte ich: »Pamela, ich möchte nicht,
dass Mrs Wormington sterben muss, damit ich den Blick auf die
Kanalboote durch mein Wohnzimmerfenster genießen kann.« Ich
erkundigte mich, in welchem Krankenhaus Mrs Wormington liege. Es
ist dasselbe, in dem auch mein Vater ist, auf der Pankhurst-Station
– was irgendwie passend ist. Wobei Mrs Emmeline Pankhurst damals
aus eigenem Willen auf die Nahrungsaufnahme verzichtete.
Sonntag, 14. Mai
Mrs Wormington wird deshalb nicht oral ernährt,
weil sie einen Schlaganfall hatte und nicht vernünftig schlucken
kann. Sie hat weder Angehörige noch Freunde: »Die sind mir alle
weggestorben, Junge«, erzählte sie mir. Ich befeuchtete ihren Mund
mit einem in Wasser getauchten Wattestäbchen. »Ich belästige die
Schwestern nicht gern«, krächzte sie.
Sollen Rentner der sprichwörtliche Mühlstein um
meinen Hals sein? Ich spüre schon Mrs Wormingtons altersfleckige
Hand an meiner Gurgel.
Mittwoch, 17. Mai
Nach einem Besuch bei meinem Vater, der von Tania
dazu gedrängt wird, das Krankenhaus wegen Vernachlässigung und dem
Verlust seines Gebisses zu verklagen, ging ich auf die
Pankhurst-Station, um nach Mrs Wormington zu sehen. Sie darf immer
noch nichts zu sich nehmen, obwohl inzwischen Zweifel hinsichtlich
ihrer Schluckfähigkeit bestehen.
Ich war im Zimmer, als eine junge Ärztin in Jeans
und T-Shirt (Aufdruck: Vertrauen Sie mir, ich bin Journalistin)
brüllte: »Wir haben Mrs Namole, die HNO-Ärztin, gebeten, Sie zu
untersuchen, Mrs Wormington.« Ich fragte, ob das bedeute, Mrs
Wormington dürfe eine Tasse Tee trinken. »Noch nicht. Wir wollen ja
nicht, dass sie erstickt«, gab die Ärztin zurück. »Ich werde
sterben, wenn ich nicht bald eine Tasse Tee kriege«, röchelte die
Patientin. Hastig eilte die Ärztin von dannen. Ich lief ihr nach.
»Wann kommt die HNO-Ärztin das nächste Mal auf die Station?«,
wollte ich wissen. »Mrs Namoles nächste Visite hier ist am
Freitagnachmittag«, sagte sie.
Als der Teewagen herumgeschoben wurde, baute ich
mich als Sichtschutz vor Mrs Wormington auf, doch sie hörte die
Räder quietschen. »Ich habe 90 Jahre lang jeden Tag acht Tassen Tee
getrunken«, ächzte sie. Die arme Frau gehörte von Rechts wegen in
eine Suchtklinik. Sie macht das Äquivalent eines Crack-Entzugs
durch.
Als ich im Fäkalienraum nach einer Vase für die
Nelken suchte, die ich mitgebracht hatte, hörte ich einen Arzt im
Schwesternzimmer über die »Bett-Blockierer« lamentieren. Beim
Abschied sagte Mrs Wormington zu mir: »Winkewinke, mein Junge! Gott
segne dich, bis morgen.« Ich sitze in der Falle! In der
Falle!
Erneut ist ein Rentner in mein Leben eingebrochen
und hält mich als Geisel.
Freitag, 19. Mai
Glenn fragte mich, warum die Wäscheleine voller
Flanellnachthemden und riesiger Schlüpfer hängt. Ich erzählte ihm
von Mrs Wormington, und er sagte: »Da bin ich aber erleichtert,
Dad, ich dachte schon, du bist jetzt andersrum.«
Samstag, 20. Mai
Ich wachte um 3:00 Uhr nachts mit einem Ruck auf,
genau als Leo Blair geboren wurde (gibt es eine seelische
Verbindung zwischen mir und Cherie?). Als ich nach unten ging,
entdeckte ich einen Zettel, den Pamela Pigg irgendwann im Laufe der
Nacht durch den Briefschlitz gesteckt haben musste. Auf ein
herausgerissenes rosa Kalenderblatt hatte sie geschrieben:
Lieber Adrian,
ich war heute auf einem Junggesellinnenabend
mit den Mädels aus der Obdachlosenabteilung. Phillipa, die mit den
Zähnen, wird am Mittwochmorgen Mary
»heiraten«, die mit der Nase. Wir waren im Humperdink’s, diesem
neuen Nachtklub in Melton Mowbray. Ich fühlte mich schrecklich
deplatziert, um mich herum waren lauter halbwüchsige, sehr knapp
bekleidete Mädchen. In meinem gepunkteten Outfit von Principles kam
ich mir so altbacken vor. Das ist das letzte Mal, dass ich eine
Empfehlung der Moderedakteurin des Leicester Mercury
befolge.
Worum es mir aber eigentlich geht, Adrian, ist,
dass der DJ unser Lied gespielt hat, »My Heart Will Go On«. Ich
musste sofort die Tanzfläche verlassen. Kannst du dich noch an
deinen Gefühlszustand erinnern, als wir nach der vom
Leonardo-di-Caprio-Fanklub veranstalteten Sondervorführung von
Titanic aus dem Multiplex kamen? Damals habe ich zum ersten Mal
einen erwachsenen Mann weinen sehen. Das war ein großes Privileg.
Ich vermisse dich, Adrian. Können wir es nicht noch einmal
versuchen? Es war dumm von mir, mich wegen deines albernen
Schweinebuchs so aufzuregen. In ewiger Liebe,
Pammy
PS: Mary und Phillipa meinten, du kannst gern
auch zur Hochzeit kommen. Ich soll ihre Trauzeugin sein. Statt
Geschenken wird um Spenden an die Fawcett Society für die
Gleichstellung von Frauen gebeten. PPS: Ich hatte aufwühlende
Fantasien, mich dir hinzugeben.
Das ist doch Erpressung! Wenn ich mit ihr zu
dieser Lesbenhochzeit gehe, dann wird sie sich mir »hingeben«, oder
was? Als ob ich noch eine weitere Minute in der Gesellschaft
einer Frau verbringen wollte, die einen feministischen Wutanfall
bekam, weil sie in meinem Bücherregal Philip Larkins Tagebücher
entdeckte.
Mittwoch, 24. Mai
Die Hochzeit lief ganz gut. Ich war der einzige
Mann dort. Selbst die Standesbeamtin war eine Frau. Ist das der
Anfang vom Ende für die Männer? Pamela kam hinterher mit zu mir,
weigerte sich aber, sich mir »hinzugeben«, als sie eine Ausgabe der
Briefe von Kingsley Amis auf meinem Nachttisch und Mrs
Wormingtons Schlüpfer auf der Wäscheleine entdeckte.
Sonntag, 28. Mai
Arthur Askey Way
Die Ähnlichkeit zwischen Leo Blair und William
Hague ist geradezu unheimlich. Sie könnten gegenseitig als
Doppelgänger durchgehen. Steckt Mr Hague in Strampler,
Babyschühchen und Wollmütze, und er ist die leibhaftige
Verkörperung des kleinsten Blair. Haben Cherie und Hague
wasserdichte Alibis für den Tag, an dem Leo gezeugt wurde? Es würde
mich nicht überraschen, wenn Mr Blair in ebendiesem Augenblick eine
tränenüberströmte Mrs Blair auf ihrem Landsitz Chequers zur Rede
stellt. Und Ffion muss inzwischen ein Foto von Leo gesehen und die
eheliche Treue ihres Gatten infrage gestellt haben.
Meine Mutter teilt meinen Verdacht – in unserer
Familie gibt es diverse Kinder, bei denen die Vaterschaft nach
wie vor im Dunkeln liegt. Ich an Mr Blairs Stelle würde auf der
Stelle einen DNA-Test verlangen. Wie kann er sich auf die
Staatsgeschäfte konzentrieren oder seinem konservativen
Kontrahenten im Unterhaus über das Rednerpult hinweg in die Augen
sehen, solange er die Wahrheit nicht kennt?
Übrigens – falls meine schon länger vertretene
Theorie (nämlich dass William Hague das uneheliche Kind von
Margaret Thatcher ist) stimmt, dann würde das bedeuten, dass der
kleine Leo Blair Thatcher-Blut in sich trägt. Normalerweise halte
ich ja nichts von Verschwörungstheorien, aber in diesem Fall fühle
ich mich veranlasst, jemanden zu warnen – bloß wen?
Dienstag, 30. Mai
Pandora ist morgen in ihrem Wahlkreis. Sie ist
Ehrengast bei der Schließung der Bücherei St. Barnabas. Das
Grillfest auf dem Parkplatz der Bücherei beginnt um 18:30. Ich
werde meine Söhne mitnehmen. Außerdem werde ich Pandora gegenüber
meinen Befürchtungen hinsichtlich der Blutsbande zwischen Blair,
Hague und Thatcher Ausdruck verleihen.
Mittwoch, 31. Mai
Es war schmerzvoll, mit anzusehen, wie gebundene
Bücher zur Zubereitung von Megaburgern und Extra-Riesen-Hotdogs
verheizt wurden. Die frisch verrentete Bibliothekarin, Mrs
Froggatt, warf ein paar Barbara Cartlands auf den Grill,
als die Glut zu verlöschen drohte. Sie flackerten mit einem
unheimlichen pinkfarbenen Leuchten auf. Es gelang mir gerade noch,
ein paar Bände P. G. Wodehouse und William Brown zu retten, aber
für die anderen konnte ich nichts tun. Glenn konnte gar nicht
hinsehen. »Das ist nicht okay, Dad«, sagte er. Unter seinem rauen
Äußeren verbirgt sich ein ziemlich sensibler Bursche.
Gegen 19:00 Uhr erschien Pandora und hielt eine
Rede, in der sie erklärte, dass Büchereien durch den Siegeszug des
Internets überflüssig geworden seien. Ein alter Mann schrie aus der
Menge: »Von 75 Pence pro Woche Rentenerhöhung kann ich mir kein
Internet leisten!«
Ich versuchte, mit Pandora über meinen Verdacht Leo
Blair betreffend zu sprechen, aber sie hatte es plötzlich ziemlich
eilig. Offensichtlich war ihr bewusst geworden, dass es eine
potenzielle PR-Katastrophe wäre, vor brennenden Büchern
fotografiert zu werden.
Donnerstag, 1. Juni
Mrs Wormington hat sich so weit erholt, dass sie
das Krankenhaus verlassen kann. Als ich gerade mit Glenn und
William bei ihr zu Besuch war, tauchte ihr Sohn Ted plötzlich auf
und versuchte, sie dazu zu überreden, in ein Altenheim zu ziehen.
Sie hatte Ted seit 21 Jahren nicht mehr gesehen, seit einem Streit
über eine Standuhr. Doch Mrs Wormington blieb hartnäckig, sie wolle
in ihr eigenes Haus zurückkehren. Ted sagte: »Du spinnst doch,
Mama. Du kannst mit 97 nicht ganz allein leben. Wenn du nicht in
ein Altenheim gehst, musst du zu mir und Eunice ziehen.« Ein
Ausdruck des Entsetzens huschte über ihr verrunzeltes
Gesicht. Während Ted kurz weg war, um Eunice anzurufen,
umklammerte Mrs Wormington meinen Ärmel. »Du darfst nicht zulassen,
dass er mich zu sich und Eunice holt. Sonst bin ich in einer Woche
tot. Diese Eunice ist eine schlecht gelaunte alte Ziege – die hat
noch nie in ihrem Leben gelacht.« Als Ted zurückkehrte, berichtete
er, dass Eunice immer noch verstimmt wegen der Standuhr sei. Glenn
verkündete: »Kein Problem, sie kommt mit zu uns.« Ich hätte ihn
umbringen können.
Freitag, 2. Juni
Mrs Wormington hat über die Königinmutter
gelästert. »Die hat doch noch nie im Leben einen Finger krumm
gemacht«, schimpfte sie. »Kein Wunder, dass sie ständig lächelt.«
Morgen zieht sie bei uns ein. Der Windelservice für Erwachsene ist
schon bestellt.
Samstag, 3. Juni
Arthur Askey Way
Wegen Mrs Wormingtons fortgeschrittenem Alter ist
es, als läge ein lebendiges Geschichtsbuch aufgeschlagen auf dem
Küchentisch. Die Erwähnung von Dunkirk rief eine Anekdote über
ihren jüngeren Bruder Cedric ab, der auf seinem kleinen Schiff, der
Betty Grable, während der berühmten Evakuierung der
alliierten Truppen über den Ärmelkanal segelte. »Bei seiner
Rückkehr war er nicht mehr derselbe«, erzählte sie. »Er hat zu
stricken angefangen und ist der Kommunistischen Partei
beigetreten.« Offenbar reichten diese
beiden Aktivitäten aus, um ihn aus dem Schoß der Familie
Wormington zu verbannen. »Ich habe ihm immer heimlich geschrieben«,
sagte sie. »Und zum Geburtstag hab ich ihm Strickmuster geschickt.«
William und Glenn kleben anlässlich des Jahrestags der Evakuierung
am Fernseher, in der Hoffnung, in einem der vielen Berichte Cedric
auf seiner Betty Grable zu entdecken.
Sonntag, 4. Juni
Meine Mutter kam vorbei, um bei Mrs Wormington und
den Jungs zu bleiben, während ich meinen Vater im Krankenhaus
besuchte. Seine ursprünglichen Verletzungen heilen gut, aber er
leidet immer noch unter der Infektion, die er sich im Krankenhaus
geholt hat. Wie es aussieht, hat sein Körper auf den Großteil der
starken Antibiotika nicht angesprochen, die man ihm verabreicht
hat. Was mein Vater zum Anlass für Prahlereien nimmt – im Stil von
»kein Antibiotikum der Welt kann es mit George Mole
aufnehmen«.
Tania hat sich alle Mühe gegeben, ihn zu einem
neuen Mann der Mittelschicht zu machen, aber ich fürchte, das ist
vergebliche Liebesmüh. Seit dem Gartenpagodenunfall ist er in seine
alten Angewohnheiten zurückverfallen: Jeden Morgen wird ihm die
Sun von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Women’s
Voluntary Service ans Bett gebracht, und aus dem
computergenerierten Menüformular sucht er sich unfehlbar die schwer
verdaulichen Nahrungsmittel aus. Auch das Vorlesen erbaulicher
Literatur hat Tania aufgegeben, seit er am Ende von Die Möwe
Jonathan laut lachen musste.
Als ich nach Hause kam, fand ich eine tröstliche
Szene generationenübergreifender Harmonie vor: Mrs Wormington,
meine Mutter, Glenn und William saßen im Kreis und reichten den
Nissenkamm von einem zum anderen. William hat wieder einmal
Kopfläuse in unser Heim gebracht.
Iwan Braithwaite kam meine Mutter abholen. Bei ihm
wurde kürzlich das Angebotsübersättigungssyndrom diagnostiziert,
nachdem er im Supermarkt vor dem Waschpulverregal zusammengebrochen
war. Eine Überwachungskamera filmte sein absonderliches Verhalten –
volle zwanzig Minuten lang lief er auf und ab und kritzelte
Berechnungen auf einen Block. Dann kniete er sich neben die Persil
Ökotabs und brach in Tränen aus. Als meine Mutter schließlich
erschien, um ihn abzuholen, saß er hungrig und durstig im Büro des
Marktleiters. Man hatte ihm zwar Tee und Kaffee sowie
Ingwerplätzchen und Haferkekse angeboten, aber selbstredend war er
nicht in der Lage gewesen, sich zu entscheiden.
Zwar mag ich den Mann nicht, aber sein Leiden kann
ich nachempfinden. Ich bekomme selbst ein Pochen in den Schläfen,
wenn ich mich zwischen Hunderten von Shampoosorten entscheiden
soll.
Montag, 5. Juni
Habe an Der Schweinestall gearbeitet,
meinem neuen Roman. Seit der Trennung von Pamela Pigg schreibe ich
besser denn je. Hat P. Pig mich in irgendeiner Weise
blockiert?
Dienstag, 6. Juni
Während die Jungs in der Schule waren und Mrs
Wormington sich von einer hausierenden Fußpflegerin behandeln ließ,
schrieb ich über eine Seite an Der Schweinestall. Sollte ich
meinem Schweinehelden einen Namen geben oder sollte das Schwein
symbolisch für die Menschheit in all ihrer Mühsal stehen? Ich
brauche literarischen Rat von einem Lektor.
22:00 Uhr. Habe gerade im Internet nach Lektoren
gesucht und stieß auf den Lektor des Jahres …
An: Penguin Books, Kensington
Sehr geehrte Louise Moore,
herzlichen Glückwunsch zu Ihrer renommierten
Auszeichnung. Mein Name ist Adrian Mole, ich bin ein
Vollzeitbetreuer und Teilzeitautor und -dramatiker (bislang
unveröffentlicht und nicht aufgeführt). Derzeit arbeite ich an
einem Bewusstseinsstrom-Roman aus der Sicht eines Schweins. Damit
habe ich mir keine leichte Aufgabe gestellt – denn ich bin
natürlich selbst kein Schwein und habe keine Ahnung, was diese
Tiere so den lieben langen Tag denken. Darf ich Sie aufsuchen?
Damit verbleibe ich, verehrte Dame, Ihr bescheidener und ergebener
Diener,
Adrian Mole
Donnerstag, 8. Juni
Arthur Askey Way
Ich stecke in einem schweren Dilemma. Aus Mrs
Wormingtons Daily Express fiel heute eine Beilage. Ein
glänzendes buntes DIN-A6-Blatt mit der Überschrift
»Prominenten-Puzzle!« lud mich ein, die Oberfläche eines
Mercedes-Cabrios zu rubbeln, um darunter das Bild eines berühmten
Stars freizulegen. Ich folgte der Anweisung. Während das kleine
Häufchen metallisch grauen Staubs neben mir anwuchs, erkannte ich
nach und nach die Züge von Cameron Diaz.
Mrs Wormington sah mir über die Schulter. »Wer soll
das denn sein?«, fragte sie. (Als sie das letzte Mal im Kino war,
lief ein Film mit Rock Hudson. Ich bete, sie möge niemals erfahren,
dass Rock sich schwer zusammennehmen musste, um Doris Day zu küssen
– die Wahrheit könnte sie umbringen.) Ich studierte weiter die
Anleitung: »Nun rubbeln Sie, beginnend bei Nummer 1, die vier
Felder an der Seite frei.« Glenn und William bettelten jetzt darum,
je zwei Felder freikratzen zu dürfen. Glenn las laut die
Instruktionen vor, während William rubbelte. »Wenn Sie ein dazu
passendes Bild finden – hören Sie auf zu rubbeln – Sie haben
gewonnen!« Leider enthüllte Williams eifriges Schaben mit dem
Zweipencestück Tom Cruise und George Clooney. Mrs Wormington
musterte diese beiden Mega-Herzensbrecher und bezeichnete sie als
»warme Brüder«, die aussahen, als ob sie »kein Lavendelsäckchen
stopfen« könnten.
William erklärte, er sei aufgrund seines Versagens
»am Boden zerstört«. Ich darf ihn nicht mehr so viel fernsehen
lassen; es hat eine verderbliche Wirkung auf sein Vokabular.
Ihm fehlt der Sinn für das rechte Maß. Als er gestern vom Fahrrad
fiel und ich ihn fragte, ob alles in Ordnung sei, antwortete er:
»Alles okay, Dad, Höhen und Tiefen gehören zum Leben.«
Die Spannung wuchs, als Glenn die Münze zur Hand
nahm. Schritt für Schritt kam das Gesicht Samuel L. Jacksons zum
Vorschein. Mrs Wormington verwechselte ihn mit Michael Jackson und
schien zu glauben, dass M. Jackson tatsächlich seinen Schimpansen
Bubbles geheiratet habe. Ich versuchte ihr zu erklären, dass der
Affe vielmehr Trauzeuge bei Elizabeth Taylors letzter Hochzeit
gewesen sei, doch ich sah ihr an, dass der Lauf der modernen Welt
ihr Begreifen überstieg.
Inzwischen war die Atmosphäre so dicht, dass das
Wort »greifbar« in der Luft vibrierte. Glenn schloss die Augen in
stillem Gebet, dann rubbelte er das vierte Feld frei.
Unglaublicherweise, unfassbarerweise wurde das lächelnde Gesicht
von Cameron Diaz unter den grauen Krümeln sichtbar. Unser
kollektiver Freudenschrei lockte Vince und Peggy Ludlow an unsere
Tür. »Ich hab einen Mercedes gewonnen, Dad!«, rief Glenn, und wir
umarmten uns allesamt, wenn wir auch Mrs Wormington ausklammerten,
da ihre Knochen brüchig sind. Fieberhaft las ich weiter.
»Glückliche Gewinner können umgehend herausfinden,
was sie gewonnen haben. Wählen Sie einfach die 0906- 551-1020 und
hören Sie gut zu. Halten Sie einen Stift bereit, um sich Ihre
persönliche Gewinnzahl zu notieren, die Sie brauchen werden, um
Anspruch auf Ihren Preis zu erheben.«
Ich drehte die Broschüre um. Glenn hatte nicht
zwangsläufig ein Mercedes Cabrio gewonnen, wenn er auch für zehn
überglückliche Sekunden glaubte, dass es so war. Er
berichtete mir später, dass er sich in diesem kurzen Zeitraum
ausgemalt hatte, in einem silbernen Wagen mit offenem Verdeck und
aus den Boxen dröhnendem Gangstarap zur Schule zu fahren. In seiner
Vision parkte er neben dem klapprigen VW des Schulleiters und
spazierte über den Spielplatz, die Autoschlüssel am Zeigefinger
baumelnd. Ich musste ihm schonend beibringen, dass er
möglicherweise einen anderen, weniger wertvollen Preis gewonnen
hatte, wie zum Beispiel: ein Wochenende in Cannes mit 500 £
Taschengeld, eine Gartenmöbelgarnitur aus Hartholz, eine
Spülmaschine oder sogar noch kleinere Gewinne wie ein
Schlüsselmäppchen, einen Rasierapparat, Küchenscheren oder ein
Sortiment Pflanzensamen.
Peggy las das Kleingedruckte und wies darauf hin,
dass es mich 1 £ pro Minute kosten würde, herauszufinden, was Glenn
tatsächlich gewonnen hatte, und dass ein Anruf durchschnittlich
mindestens 3,5 Minuten dauerte.
Begreifst du mein Dilemma, liebes Tagebuch? Soll
ich über drei Pfund hinblättern, nur um zu erfahren, dass Glenn ein
Sortiment Pflanzensamen gewonnen hat, oder beziehe ich klar
Stellung gegen Ausbeutung und riskiere, dass ihm ein Mercedes
Cabrio durch die Lappen geht?
Donnerstag, 22. Juni
Arthur Askey Way
Die ganze Straße befindet sich in heller
Aufregung. Brandon Ludlow, 22-jähriger Fußballfan, soll heute
Nachmittag aus Charleroi, Belgien, nach Hause zurückkehren. Vor dem
Haus der Ludlows hängt ein Transparent: »Willkommen zu Hause, unser
Held«.
Brandon wurde vor dem Spiel England-Rumänien
verhaftet. Dem Vernehmen nach saß er friedlich in einem Straßencafé
und unterhielt sich beim Essen mit seinem Freund »Mad Dog« Jackson
über Tolstoi, als ein brutaler belgischer Polizist in Kampfmontur
ihn unbarmherzig mit einem Schlagstock attackierte.
Mad Dog Jackson entkam, aber Brandon wurde mit
einem Kabelbinder gefesselt und in den Laderaum eines
Polizeitransporters geworfen, wo er mit dem Gesicht nach unten nur
Zentimeter von einer Urinlache entfernt liegen blieb. Als der
Transporter voll war, wurde er zur Wache gefahren. Brandon wurde in
eine Arrestzelle geschubst, wo er mit 40 weiteren Festgenommenen
bis Tagesanbruch stehen musste. Brandon durfte nicht bei seiner
Familie, den Ludlows, anrufen (was im Übrigen auch zwecklos gewesen
wäre, da das Telefon der Ludlows wegen nicht bezahlter Rechnungen
abgestellt worden ist).
Peggy Ludlow droht, den belgischen Premierminister
zu verklagen, sobald sie herausgefunden hat, wer das ist. Beim
Zubereiten der Partyverpflegung sagte sie zu mir: »Adrian, unser
Brandon ist das Einzigste von meinen Kindern, was kein Hooligan
ist. Unser Brandon ist schon immer ein seltsames Kind gewesen,
weißt du, der hat nur so zum Spaß Bücher gelesen und über Sachen
gesprochen, wo sich keiner von uns anderen dafür interessiert
hat.«
Sie erzählte weiter, dass Brandon nur zu
Recherchezwecken zu diesem Spiel gefahren sei. Er schreibe an einem
Essay über David Beckham mit dem Titel »Gott oder Inselbegabung?«
und hoffe, ihn im London Review Of Books
unterzubringen.
16:00 Uhr
Der Lärm draußen – plärrende Autohupen, schrilles
Pfeifen, bellende Dobermänner – sagt mir, dass Brandon angekommen
ist. Wir sind alle zu der Party eingeladen. Glenn und William sind
sehr aufgeregt, da sie die Krawalle in Charleroi gespannt auf dem
Fernsehbildschirm verfolgt haben.
Genau genommen haben sie sogar mehr Interesse an
den Straßenschlachten als an dem Spiel auf dem Fußballfeld gezeigt.
Mrs Wormington unterhielt sich mit mir, während ich eins ihrer
gewaltigen, weit schwingenden Sommerkleider bügelte. Ihrer Ansicht
nach haben sich gewisse Kreise junger Engländer schon immer wie
Barbaren benommen, wenn sie gruppenweise ins Ausland reisten. »Was
denkst du denn, wie wir’s geschafft haben, all diese fremden Länder
zu erobern? Die Schlappschwanztruppe war das jedenfalls nicht, die
die Landkarte rosa gefärbt hat.«
Sie bestand darauf, einen Hut zur Party der Ludlows
zu tragen, offenbar in der irrigen Annahme, wir gingen ins
mittelalterliche Ludlow Castle statt ins Wohnzimmer einer
Sozialwohnung. Ich führte ein sehr interessantes Gespräch mit
Brandon, der wirklich ein sehr sensibler, intelligenter junger Mann
ist. Er erinnerte mich an mich selbst in jüngeren Jahren, bevor
mich der Alltag als alleinerziehender Vater und die nie enden
wollende Hausarbeit (die nun auch noch die Pflege einer über
Neunzigjährigen beinhaltet) in den Würgegriff nahmen. Bei
Toastbrot-und-Schmelzkäse-Sandwichs unterhielten wir uns über
seinen Leidensweg. Brandon sagte, seine Nacht in der Zelle wurde
einzig dadurch erträglich, dass auch ein Anwalt unter den
Verhafteten war, der zufällig ein Exemplar des Spectator von
letzter Woche bei sich hatte. Ebendieser Anwalt versuchte, seine
Hooligan-Kollegen dazu zu bringen, den Namen Boris Johnsons zu
skandieren, doch nur wenige fielen mit ein, und schließlich gab er
auf und legte sich schlafen, allerdings erst, nachdem er Brandon
eine ganz besonders schaurige sexuelle Fantasie gestanden hatte, in
der es unter anderem um die Journalistin Petronella Wyatt und den
konservativen Kolumnisten Bruce Anderson ging.
Nach einer hitzigen Debatte mit Vince Ludlow über
Mrs Wormingtons Angewohnheit, jedes Mal, wenn die Ludlows den
Geschlechtsakt vollziehen, mit einem orthopädischen Schuh an die
Verbindungswand zu klopfen, brachte ich meine Familie nach
Hause.
Sonntag, 25. Juni
Brandon kam wie versprochen vorbei, um mein
Manuskript von Der Schweinestall zu lesen. Ich wage nicht,
es aus den Händen zu geben. Viel Arbeit steckt in den ersten drei
Kapiteln. Nach den ersten paar Seiten blickte Brandon auf und
meinte, er halte es für einen Fehler, meinen Schweinehelden Luzifer
zu nennen, da es im Leser falsche mephistophelische Erwartungen
wecke. Auf eine solch beißende Kritik hätte ich gut verzichten
können, aber ich muss zugeben, dass Brandon nicht ganz unrecht hat.
Während die Waschmaschine noch schleuderte, taufte ich Luzifer in
Peter um. Es ist verblüffend, wie sehr das den ganzen Tonfall
verändert hat. Jetzt liest es sich wie ein Kinderbuch. Vielleicht
gebe ich dem Buch den Untertitel Eine Bauernhof-Allegorie.
Pass auf, Harry Potter. Jetzt kommt Peter Pig!
Samstag, 1. Juli
Arthur Askey Way
Um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, habe
ich mir überlegt, William das umgeschriebene Manuskript von Der
Schweinestall als Gutenachtgeschichte vorzulesen. Der
politische und philosophische Subtext dürfte ihm zwar entgehen,
aber ich hatte die Hoffnung, dass die Erzählung selbst ihn fesseln
würde. Bereits nach ein paar Absätzen meckerte er, er wolle eine
Geschichte von Noddy und Großohr hören, doch ich ließ nicht
locker.
Peter Pig hob seinen Schweinskopf aus dem Trog und
betrachtete den erbarmungslos grauen Himmel der East Midlands. Eine
Wolke, die aussah wie ein handelsüblicher Wattebausch, eilte über
den oben erwähnten Himmel wie ein Eurostar-Hochgeschwindigkeitszug
bei der Ausfahrt aus Waterloo Station.
Peter seufzte und wanderte im Stall herum. Der
Schmutz und der Schlamm quollen ihm zwischen die Hufe. Sie waren
ekelerregend, die Bedingungen, unter denen er leben musste, dachte
er. Warum sollten Bauer Hogg und seine Frau Pamela den Luxus von
Teppichen und Plastikfliesen unter ihren Füßen genießen, während er
und seine Mitschweine dazu verdammt waren, durch ihre eigenen
Exkremente zu waten?
Peter wandte den Blick dem Innenhof zu, wo Bauer
Hogg und Pamela ein Grillfest für ihre Freunde abhielten.
Der widerliche Gestank von Schweinefett, das auf
»Eine für alles«-Grillkohle tropfte, wehte zu ihm herüber und ließ
ihm die Augen tränen.
Er lauschte den Gesprächen der Menschen, die sich
an dem Buffet gütlich taten, das Pamela nach dem Abspann der
Archers im Radio zubereitet hatte.
Die Gäste schlürften Sekt mit Orangensaft, und
Peter sehnte sich danach, die Flüssigkeit in seinem eigenen Maul zu
spüren. Seine Mitschweine Antonia und Miles führten im Koben
nebenan eine heftige Diskussion über das Wesen des Daseins. Peter
seufzte, er hatte philosophische Debatten so satt. Typisch, dass
ausgerechnet er mit zwei Intellektuellen in einem Schweinestall
festsitzen musste. Wie er nach Smalltalk lechzte! Er drehte seine
Ohren Richtung Innenhof und strengte sich an, etwas von der
Unterhaltung mitzubekommen. »Jedenfalls hab ich es satt«, sagte ein
grauhaariger Mann namens Ken, »nach allem, was Mo durchgemacht
hat.«
Eine gepflegt aussehende Frau namens Barbara
zischte: »Nicht hier, Ken, da hinten neben dem Gewürzgurkenglas
steht ein Kerl namens Derek von der Ashby Gazette.«
»Ich lasse mir nicht den Mund verbieten«, donnerte
Ken. »Es ist feige von Tony, ihr so in den Rücken zu fallen.«
Vom Schweinestall aus beobachtete Peter, wie Derek
sich vom Gurkenglas abwandte, seinen Notizblock zückte und sich an
Ken und Barbara heranpirschte.
An dieser Stelle begann William zu heulen, weil er
eine Noddy-Geschichte wollte. Ich jedoch las noch einige Zeilen in
Der Schweinestall weiter.
Ein anderes Grüppchen sorgte für den Smalltalk,
nach dem Peter dürstete. Von einer Frau in einer weißen Jeans hörte
er: »Wir unterstützen ja im Prinzip das System Gesamtschule, aber
unsere Kinder sind wahnsinnig sensibel, deshalb.« Und ein Mann, der
eine Ray-Ban mit Drahtgestell trug, verkündete: »Die Häuserpreise
müssen einfach bald sinken. Wir haben für unseres …«
Peter war im siebten Himmel. Später am Abend – die
Grillglut war längst verglommen – sah er hinauf in die Sterne und
sann über das Wesen des Smalltalks nach. Um leichter einzuschlafen,
übte er sich in dieser Kunst. Er wählte eines seiner
Lieblingsthemen: »Das nennt sich nun Sommer? Ich kann mich gar
nicht mehr erinnern, wann das letzte Mal die Sonne geschienen
hat.«
Binnen weniger Minuten war William
eingeschlafen.
Sonntag, 2. Juli
Ich kann Noddy nicht ausstehen, aber ich hatte es
William versprochen, also dachte ich mir folgende Geschichte aus:
Großohr hatte Geburtstag, also fuhr Noddy zum
Feiern mit seinem Taxi ins Spielzeugland. Die Kumpel gingen von Pub
zu Pub und tranken ein Pint nach dem anderen. Großohrs Gesicht
wurde sehr rot, und das Glöckchen an Noddys Mütze klingelte wie
verrückt. Als sie aus dem letzten Pub kamen, beschimpfte ein Trupp
Kegel Großohr als Perversen und fing eine Prügelei an. Mr Plod, der
Polizist, wurde gerufen und sah, wie Noddy dem größten Kegel einen
Kopfstoß versetzte.
»Hey, ich bring dich jetzt zum nächsten
Geldautomaten«, sagte Mr Plod. »Sag mir deine PIN-Nummer, Noddy.«
Aber leider war Noddy so betrunken, dass er sie vergessen hatte,
also haute Mr Plod ihm feste mit seinem Gummiknüppel auf den
Kopf.
Gute Nacht.
Mittwoch, 5. Juli
Arthur Askey Way
Ins Krankenhaus kam mein Vater ursprünglich wegen
Knochenbrüchen und diverser anderer Verletzungen, die er sich
zuzog, als er beim Bau einer japanischen Pagode für die von allem
Orientalischen besessene Tania von der Leiter fiel.
Inzwischen wird er seit Monaten wegen einer
Krankenhausinfektion stationär behandelt und hat sich vollständig
an den Anstaltsalltag gewöhnt. Wenn er um 7:00, 12:00 und 17:00 Uhr
den Essenswagen am Ende des Flurs anrollen hört, sammelt sich
Speichel in seinem Mund. Er behauptet, dort glücklich zu sein,
sagt, er habe keine Sorgen: Andere Leute bezahlten die Rechnungen,
seien auf den gefährlichen Straßen unterwegs, steckten in Staus
fest und müssten den Einkauf im Supermarkt erledigen.
Sharon Bott, die Mutter meines Sohnes Glenn,
arbeitet als Putzfrau im Krankenhaus. Sie erzählte, dass ihr Mopp
im Rahmen eines Infektionskontrollprogramms zu Tests ins Labor
geschickt wurde. Als ihr der Mopp wieder ausgehändigt wurde, »sah
er aus wie durch den Wolf gedreht«.
Donnerstag, 6. Juli
Ich habe gerade einen Stapel Gedichte unter dem
Waschbecken versteckt gefunden. Sie sind in Glenns Handschrift
verfasst. Warum er glaubt, den Beweis einer besonderen
Empfindsamkeit vor mir verstecken zu müssen, ist mir ein absolutes
Rätsel. Dieses Haus ist ganz dem kreativen Geist geweiht. William
zum Beispiel bastelt mit Leidenschaft Miniaturgärten in alten
Schuhkartons. Vielleicht wird er später
mal ein Landschaftsgärtner wie der legendäre Capability Brown oder
die unvergleichliche Charlie Dimmock.
Am besten gefällt mir das Gedicht »Warum?«.
WARUM?
Warum muss alles Schöne verrecken,
Bäume, Vögel und auch Schnecken?
Bäume, Vögel und auch Schnecken?
Allerdings werde ich einen Fehler in Glenns
Gedicht korrigieren müssen. Schnecken sind nicht schön. Sie haben
ein abstoßendes Äußeres und zudem ausgesprochen unangenehme
Angewohnheiten. Am zweitliebsten mag ich ein Gedicht mit dem Titel
»Patsy«.
PATSY
Ich liebe wie dein Schlürfen klingt,
wenn du aus einem Becher trinkst.
Liam ist doch bindungsscheu,
komm zu mir, ich bleib dir treu.
Ich bin zwar noch ein junger Spund,
bin auch nicht reich, doch kerngesund.
Flieh aus deinem gold’nen Käfig,
doch wisse, ich bin minderjährig.
Auf Sex muss ich darum verzichten
und keusche Liebeslieder dichten.
wenn du aus einem Becher trinkst.
Liam ist doch bindungsscheu,
komm zu mir, ich bleib dir treu.
Ich bin zwar noch ein junger Spund,
bin auch nicht reich, doch kerngesund.
Flieh aus deinem gold’nen Käfig,
doch wisse, ich bin minderjährig.
Auf Sex muss ich darum verzichten
und keusche Liebeslieder dichten.
Als Glenn von der Schule nach Hause kam, schnappte
ich ihn mir sofort wegen der Gedichte. Er ließ den Kopf hängen und
wurde knallrot. »Sag das bloß keinem, Dad«, bat er.
Samstag, 8. Juli
Meine Mutter hat eine Familienkonferenz
einberufen. Ich bin das Thema. Mein Vater war per Telefon aus dem
Krankenhaus zugeschaltet. Weitere Anwesende waren: Iwan
Braithwaite, Tania, Mrs Wormington und meine Tante Susan, eine
Gefängnisaufseherin. Sie alle fürchten, dass ich mein Leben
vergeude. Ich wandte ein, dass ich in Vollzeit zwei Kinder und eine
97-jährige Frau versorge. Meine Mutter sagte: »Wozu hast du denn
die ganzen Bücher gelesen, wenn du jetzt mit deinem Wissen nichts
anfängst außer Waschen und Bügeln und Kochen? Dann hättest du
genauso gut als Mädchen auf die Welt kommen können.«
Tante Susan drückte ihre Zigarre aus und fuhr sich
mit den Fingern durch die kurzgeschorenen Haare, bevor sie sagte:
»Adrian, ich könnte dir einen Job in der Gefängnisbücherei
besorgen.«
Um sie alle zum Schweigen zu bringen, versprach
ich, es mir zu überlegen, aber die Vorstellung, in Kontakt mit
Häftlingen zu stehen – und seien sie auch des Lesens und Schreibens
kundig -, erfüllt mich mit Entsetzen. Tania äußerte die Ansicht,
ich sei auf ungesunde Art und Weise auf alte Leute fixiert. »Warum
kannst du dich nicht einfach damit begnügen, ehrenamtlich in einem
Altersheim zu arbeiten? Warum verspürst du den Drang, einen von
ihnen bei dir im Haus wohnen zu haben?« Darauf konnte ich ihr keine
Antwort geben. Als alle weg waren, fragte Mrs Wormington: »Wer war
denn die hochnäsige Ziege in dem Kimono?«
Montag, 10. Juli
Nächste Woche lasse ich mir die Bücherei im
Wind-on-the-Wolds-Gefängnis zeigen. Dort ist eine Teilzeitstelle
frei, um Gottes willen!
Donnerstag, 13. Juli
Meine Mutter hat gerade panisch angerufen und
etwas von Creutzfeldt-Jakob geplappert. Sie ist einmal auf dem Weg
zum Gartencenter in Quorn mit dem Auto durch das besonders schwer
betroffene Dorf Queniborough gefahren und ist jetzt überzeugt, dass
sie sich als nächstes Opfer in die Schar der Unglückseligen reihen
wird, die sich die tödliche Krankheit dort geholt haben. Seit Iwan
Braithwaite mit seinem zwanghaften Sterilisieren von
Schneidebrettchen und Besprühen der Hundedecke mit Sagrotan in
unser Haus gezogen ist, hat sie sich zum Hypochonder
entwickelt.
Ich bemühte mich, ihre Ängste zu zerstreuen, doch
sie war geradezu hysterisch und flehte mich um Vergebung an. »Wofür
denn?«, fragte ich, weil ich nicht sofort wusste, welches ihrer
diversen elterlichen Verbrechen ich ihr verzeihen sollte. »Für die
billigen Rindfleischburger, die ich früher dreimal die Woche auf
den Tisch gebracht habe«, sagte sie. »Ich wusste doch nicht, dass
die aus altem Rückenmark und Sägemehl gemacht werden, Aidy.«
Ich tröstete sie, dass ich die Rindfleischburger
meiner Kindheit so durch und durch ekelhaft gefunden hatte, dass
ich sie immer heimlich an den Hund verfütterte. Sobald meine Mutter
eine Packung dieser widerlichen Dinger aus
dem Eisfach holte, bezog das Tier unter dem Tisch Posten. Ich
persönlich warte nur auf den Lebensmittelskandal, der fertigen
Kabeljau in Buttersauce aus dem Kochbeutel betrifft. Ich muss ganze
Schwärme davon vertilgt haben. Und dann waren da noch die
Rinderbraten-Fertiggerichte mit Beilagen, die wir früher immer
sonntags verzehrten. Die ganze Alufolie kann uns auch nicht
sonderlich gutgetan haben. »Von jetzt an esse ich nur noch 100 %
Bio«, erklärte meine Mutter.
»Aber du weißt doch mit richtigen Lebensmitteln gar
nichts anzufangen«, erinnerte ich sie, worauf sie entgegnete: »Aber
ich hab doch Delia und Nigel und Jamie, die helfen mir.« Als würden
sich in ihrer dürftig ausgerüsteten Küche lauter Promiköche
gegenseitig vom Herd wegschubsen.
Freitag, 14. Juli
Mrs Wormington ist mit den Ludlows nach
Mablethorpe gefahren. Sie haben einen Wohnwagen mit acht
Schlafkojen auf einer Wiese nicht weit vom Meer stehen. Sie wollten
auch William mitnehmen, aber ich musste Nein sagen. Der Junge ist
so leicht zu beeinflussen und übernimmt allzu bereitwillig die
unglückselige Ausdrucksweise der Ludlows. Gestern war er zum
Spielen bei ihnen, und als er nach Hause kam und ich sagte, es sei
Zeit fürs Bett, antwortete er: »Erzähl das doch’ner Parkuhr. Hier
hast du zehn Pence. Sprich nach dem Piepton.« Peggy Ludlow
berichtete, dass die Jerry Springer Show im Fernsehen lief,
während William auf dem Teppich mit Vince Ludlows
Steckschlüsselsatz spielte.
Samstag, 15. Juli
Heute Abend habe ich mir die Doku Hinter den
Kulissen von Downing Street angesehen. Welch stattliche
Erscheinung er doch ist. Er ist gebieterisch, charmant, klug und
hat einen üppigen Haarschopf. Alles in allem sehr imposant.
Alastair Campbell ist genau der Mann, der ich gerne wäre. Mr Blair
hingegen wirkt im Vergleich dazu glanzlos. Seit Leo darauf beharrt,
mit im Ehebett zu schlafen und Euan, der älteste Blair-Sprössling,
zur Flasche greift, ist er wie verwandelt. Ja, man könnte sagen,
Tony hat eine Verweiblichung vollzogen: Sein Haar ist flaumiger
geworden, seine Stimme weicher, sein Ausdruck ist mädchenhaft, die
Hände bewegen sich so anmutig wie die einer Geisha. Hat er eine
Hormontherapie begonnen, die ihn letztlich zu Toni transformieren
wird – dem ersten weiblichen Labour-Premier? Das Land muss gewarnt
werden. Wir werden Zeit brauchen, um uns an die Veränderung zu
gewöhnen.
William Hague hingegen strotzt in letzter Zeit vor
Testosteron. Als Nächstes wird er noch ein parlamentarisches
Charter der Hell’s Angels gründen, wenn er seinen Hormonspiegel
nicht unter Kontrolle bekommt. Freut sich Ffion über diesen neuen
zupackenden Mussolini-artigen Mann in ihrem Bett oder schläft sie
bereits im Gästezimmer, wie die Frau von Prince Edward?
Sonntag, 16. Juli
Die Ludlows sind mit Unterkühlung von einem
Spaziergang über die Promenade in Mablethorpe zurückgekehrt. Mrs
Wormington musste ins Krankenhaus von Skegness gebracht werden. Man
hat sie in eine silberne Rettungsdecke gewickelt.
Als Tante Susan mich auf meinem Handy anrief und
ärgerlich fragte, warum ich nicht wie versprochen in der
Gefängnisbücherei vorgesprochen habe, erwiderte ich wahrheitsgemäß,
dass ich mit einem Trauerfall rechne.
Mittwoch, 19. Juli
Arthur Askey Way
Das Sommerwetter in Mablethorpe hat Mrs Wormington
umgebracht. Sie war eine topfitte 97-Jährige, als sie mein Haus im
Arthur Askey Way am Freitag, den 14. Juli, um 13:15 Uhr verließ.
Ich gehe deswegen so ins Detail, weil Eunice, Mrs Wormingtons
Schwiegertochter, gerade dieses Haus verlassen hat. Sie war
gekommen, um die Habseligkeiten der Verstorbenen abzuholen und warf
mir vor, eine »gebrechliche Frau zum Sterben an die Ostküste«
geschickt zu haben.
Erst als sie in ihrem dreirädrigen Reliant Robin
davongefahren war, begriff ich, dass sie mich praktisch des Mordes
bezichtigt hatte. Sofort rief ich meine Mutter an, die eine
anerkannte Expertin in Sachen Rechtsstreitigkeiten ist (sie ist der
Schrecken der Zivilgerichte). Sie riet mir, den Rat ihres Anwalts
Charlie Dovecote einzuholen.
Es kostete mich 50 £ zuzüglich Mehrwertsteuer, von
Dovecote zu erfahren, dass es zwar tollkühn gewesen sein mag,
eine knapp Hundertjährige in einer steifen Ostbrise auf einem Esel
reiten zu lassen, dies aber nicht den Tatbestand des Mordes
erfülle.
Als ich Mrs Wormingtons Bett abzog, fand ich ein
Bündel alter Briefe unter der Matratze. Ich war froh, dass die
furchtbare Eunice sie übersehen hatte.
2. Oktober 1917
Lieber Sergeant Palmer,
ich hoffe, Sie haben sich gut in Ihrem neuen
Quartier in Ypern eingelebt und das Wetter ist angenehm. Wir lesen
ganz wunderbare Berichte von General Haigs Führerschaft in der
Zeitung. Ich bin froh, dass Sie sich in so guten Händen befinden.
Danke, dass Sie mich baten, Sie Cedric zu nennen. Jedoch glaube
ich, dass unsere Freundschaft noch viel zu jung ist für solcherlei
Vertraulichkeiten. Wir kennen uns ja erst seit einem
Jahr.
Mit den besten Wünschen verbleibe ich
Ihre
Miss Broadway
Das, so nehme ich an, war Mrs Wormingtons
Mädchenname. Der gesellschaftliche Umgang jener Tage war noch von
solcher Feinfühligkeit geprägt. Kein Wunder, dass Mrs Wormington
schockiert über Denise Van Outens schmuddelige kleine
Frühstückssendung im Fernsehen war. Selbst mir, einem Bewunderer
der weiblichen Brust, werden die Busen zur Hauptsendezeit langsam
zu viel.
Donnerstag, 20. Juli
William wollte wissen, wohin Mrs Wormington
gegangen sei. Ich sagte, sie sei auf einer langen Reise an einen
Ort, an dem sie Frieden fände. Ich schmückte das noch ein bisschen
aus – dass Mrs Wormington über die Hügel laufe und Blumen unter den
wärmenden Sonnenstrahlen pflücke usw. usf. Vielleicht habe ich es
mit der Idylle ein klein wenig übertrieben, denn als William Glenn
dabei zusah, wie der seine Rollerblades putzte, hörte ich ihn
sagen: »Mrs Wormington ist gar nicht tot, Glenn. Sie ist ins
Teletubbyland gezogen.«
Freitag, 21. Juli
Ein Auto, das Jack Straw beförderte, wurde von der
Polizei mit 176,7 Stundenkilometern angehalten. Ich hoffe doch,
dass der Übeltäter die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommt.
Mir brennen heute noch die Ohren von der Schimpftirade, die ich von
einem Verkehrspolizisten zu hören bekam, weil ich in der
Tempo-30-Zone der Foxglove Avenue 32 km/h fuhr. Als ich humorvoll
anmerkte, ich sei ja nicht gerade Jeremy Clarkson, höhnte der
Polizist: »Das stimmt, der ist größer, hat mehr Haare und ist mit
Sicherheit reicher und berühmter als Sie, Sir.« Ich erwog, ihn dem
Beschwerdeausschuss der Polizei zu melden, war aber nicht sicher,
ob Sarkasmus als tätlicher Angriff zählt – obwohl ich die
Verletzung heute noch spüre.
Samstag, 22. Juli
Heute war ich in Pandoras
Abgeordnetensprechstunde. Ich wollte mit ihr über meine Theorie
sprechen, dass Mr Blair heimlich eine Hormontherapie begonnen hat,
die ihn von Tony zu Toni umwandeln wird. Ich erinnerte sie daran,
dass er kürzlich erklärt hatte, nur ungern Anzüge zu tragen.
»Sei nicht immer so albern«, blaffte sie. »Verzieh
dich und mach deinen Platz für einen Bürger mit echten Problemen
frei.« Ich wies darauf hin, dass niemand sonst darauf warte, sie zu
sprechen. »Apathische Penner«, wütete sie über ihren Wählerkreis.
»Wenn ich in London geblieben wäre, hätte ich mir meine
Prada-Bowlingtasche abholen können.«
Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie einen so
langweiligen Sport für Menschen mittleren Alters angefangen
hat.
Montag, 24. Juli
Arthur Askey Way
Mrs Wormingtons Beerdigung heute Morgen war
überraschend gut besucht. Ich wusste gar nicht, dass sie Mitglied
in so vielen Vereinen und Klubs gewesen war. Da waren Trauergäste
im Namen von Amnesty International, des
Foxand-Ferret-Damen-Dartsteams und des Britischen Kaktusklubs. Auch
war mir nicht bewusst gewesen, dass sie einen solchen Hang zum
Katholizismus hatte. Während der Zeit, die sie bei mir wohnte,
drehte sich das Gespräch meist um Kekse, wobei sie sich gegen Ende
ihres Lebens fast zwanghaft mit dem Zustand des Gebisses der
Königinmutter beschäftigte.
William bettelte, mit zur Beerdigung zu dürfen; ich
gab meine Erlaubnis, untersagte ihm aber, in der Kirche zu
sprechen. Der Junge hat eine Stimme wie ein Marktschreier. Er
verstieß nur ein einziges Mal gegen meine Auflage, als er in der
Pause zwischen einer Hymne und einem Gebet fragte: »Dad, warum
riechen alte Leute so komisch?« Die Kirche war gerammelt voll mit
älteren Menschen, denen der Charme oder Humor in der unschuldigen
Frage des Jungen zu entgehen schien. Ein alter Bursche ein paar
Plätze weiter brüllte seinem tauben Sitznachbarn zu: »Den sollte
man mal ordentlich übers Knie legen.« Ich hatte William erklärt,
was er zu erwarten hatte: Dass da eine Kiste stünde, die man Sarg
nennt, und dass Mrs Wormington tot darin läge. Das schien er auch
zu begreifen, doch als der Sarg dann langsam ins Grab gelassen
wurde, schrie William: »Sie sollten jetzt besser rauskommen, Mrs
Wormington!« Später zu Hause sagte er, er habe geglaubt, tote
Menschen kämen wieder zurück ins Leben, wie Kenny in South
Park.
Auf der Trauerfeier las ich ein selbst verfasstes
Gedicht vor. Es kam offenbar ganz gut an – wobei meine Mutter
hinterher beim Leichenschmaus meinte, sie hätte meinen Vortrag
ziemlich selbstgefällig gefunden und ich hätte den Zettel niemals
aus meinem DIN-A4-Block reißen sollen.
REQUIEM FÜR MRS WORMINGTON
Sie war eins achtzig groß,
und nicht grade zierlich.
Ihr Lächeln war nicht gütig,
ihr Benehmen manierlich.
und nicht grade zierlich.
Ihr Lächeln war nicht gütig,
ihr Benehmen manierlich.
Sie trug keine Seide,
keine Spitzenhandschuh’.
Sie erlebte zwei Kriege,
doch fand keine Ruh’.
keine Spitzenhandschuh’.
Sie erlebte zwei Kriege,
doch fand keine Ruh’.
Sie versorgte sich selbst
und lebte allein,
musste arbeiten hart,
wollt keine Schuldnerin sein.
und lebte allein,
musste arbeiten hart,
wollt keine Schuldnerin sein.
Adieu, Mrs Wormington,
Sie alter Schlingel,
ich hoffe, Sie frier’n nicht mehr
oben im Himmel.
Sie alter Schlingel,
ich hoffe, Sie frier’n nicht mehr
oben im Himmel.
Mehrfach wurde ich nach der Bedeutung von »frier’n
nicht mehr« gefragt, da nicht alle wussten, dass Mrs Wormington
nach einem Urlaub in Mablethorpe an Unterkühlung gestorben
war.
Dienstag, 25. Juli
Glenn und William haben sechs Wochen Schulferien.
Was soll ich nur mit ihnen anfangen? Ich verfüge über keine
finanziellen Mittel, um für Ablenkung zu sorgen. Wir haben erst den
zweiten Ferientag, aber William hat bereits erklärt, ihm sei
»langweilig«. Ich erzählte ihm, dass ich mich als Junge früher
pausenlos selbst beschäftigt hätte. Aber in Wahrheit kann ich mich
erinnern, die ganze Zeit nur aus dem Fenster gestarrt und darauf
gewartet zu haben, dass die Schule wieder anfängt.
Mittwoch, 26. Juli
Widerstrebend hob ich 50 £ von meinem
Bausparvermögen ab, kaufte ein Familienticket für die Bahn und fuhr
mit meinen Söhnen nach London in die Tate Gallery of Modern Art.
Niemand hatte mich vor der riesigen Metallspinne in der
Turbinenhalle gewarnt. William hat eine Spinnenphobie und erstarrte
vor Schreck bei dem Anblick. Dann stieß er einen durchdringenden
Schrei aus. Ein amerikanischer Tourist fragte mich, ob William eine
»akustische Begleitung der Skulptur von Louise Bourgeois« sei. Ich
verneinte und erklärte, er sei einfach nur ein kleiner Junge, der
Angst vor Spinnen habe.
Donnerstag, 27. Juli
Der Absturz der Concorde ist von den Titelseiten
verschwunden; es sind keine Briten ums Leben gekommen.
Samstag, 29. Juli
Arthur Askey Way
Iwan Braithwaite ist weiterhin fasziniert von dem,
was er als »Arbeiterklassenkultur« bezeichnet. Er hat uns einen,
wie er es nennt, »Eimer-und-Spaten-Urlaub« mit der ganzen Familie
am Strand von Skegness vorgeschlagen. Unentwegt faselte er von
Zuckerwatte und Eselreiten und der »hinreißenden Vulgarität der
Spielhallen«. Mir blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen.
Den Urlaub meiner Wahl – den Besuch literarischer Schreine auf der
ganzen Welt –
kann ich mir nicht leisten. Eigentlich habe ich mir überhaupt erst
einen angesehen: das Haus von Julian Barnes in Leicester. Wobei er
im Alter von sechs Wochen schon wieder von dort wegzog.
Sonntag, 30. Juli
Eine Pension wurde gebucht: das Utopia.
Übernachtung, Frühstück und Abendessen wird Iwan £ 13,50 pro Person
pro Nacht kosten – William bezahlt den halben Preis. Rosie weigert
sich mitzukommen: Sie sagte, sie müsse zur Abschlussfeier ihres
neuen Freundes Mad Dog Jackson. Er hat kürzlich sein Studium
beendet, und seine Magisterarbeit »Sozialismus, Nekrophilie und
andere Tabus« hat das Interesse des Spectator geweckt.
Montag, 31. Juli
Das Utopia
So viel zum gesetzlichen Verbot der Irreführung
von Verbrauchern! Das Dystopia wäre ein treffenderer Name
für diese Synthetik-Hölle. Ich teile mir mit William und Glenn eine
zugige Mansardenkammer, die so klein ist wie ein Rattenloch – ach,
was sage ich, ein Spitzmausloch. Der Blick aus der Dachluke fällt
auf schwermütige Seemöwen mit Pommeskrümeln in den Schnäbeln. Die
Besitzer, Barry und Yvonne Windermere, sind ehemalige
Varietékünstler. Ich drehe durch, wenn Barry noch einen einzigen
»Witz« erzählt. Iwan und meine Mutter halten dieses abgehalfterte
alte Duo für »fabelhafte Originale«. Ich persönlich möchte
jedes Mal, wenn ich den Spruch mit den fabelhaften Originalen
höre, wegrennen – ins Meer, bis die kalten Wogen über meinem Kopf
zusammenschlagen.
Mittwoch, 2. August
Windschutz am Strand von Skegness
Glenn schmollt oben in der Mansarde. Er hat schon
sein gesamtes Taschengeld in die Automaten in der Spielhalle
gesteckt, wo wir vor dem grausamen Wind, der ungebremst vom Ural
über die Nordsee weht, Schutz suchten. Iwan und meine Mutter mühten
sich ab, einen Windschutz zu bauen, und William – im Anorak –
kauerte sich dahinter und versuchte, eine Sandburg zu bauen. Doch
seine Hände wurden blau, und ich musste mit ihm in ein Café gehen,
damit er wieder auftauen konnte. Der Laden war voll bibbernder
Familien, die furchtbares Essen zu sich nahmen. Iwan sagte zu
meiner Mutter: »Das ist doch eine authentische
Arbeiterklasse-Erfahrung, oder, Pauline?« Seine Augen glänzten vor
Aufregung. Vulgarität turnt ihn an. Deshalb hat er sich in meine
Mutter verliebt und sie geheiratet.
Meine Mutter sog heftig an ihrer
St.-Moritz-Mentholkippe mit dem goldgeränderten Filter und gab
zurück: »Iwan, ich gehöre jetzt nicht mehr zur Arbeiterschicht. Ich
lese den Guardian und kaufe den Kaffee als ganze Bohne, oder
ist dir das noch gar nicht aufgefallen?«
Donnerstag, 3. August
Heute kam die Sonne heraus. Iwan kaufte sich einen
Sonnenhut mit dem Aufdruck »Küss mich schnell und popp mich
langsam«. Ich sah meine Mutter zusammenzucken, als er ihn
aufsetzte, doch sie enthielt sich eines Kommentars und täuschte
Interesse an einem Stein in Penisform vor.
Freitag, 4. August
Geburtstag der Königinmutter
Barry und Yvonne haben das Speisezimmer mit
kleinen Union-Jack-Flaggen dekoriert. Das kleine Tischchen, auf dem
normalerweise die Gewürze stehen, wurde in einen Altar für Queen
Mum verwandelt. Zu beiden Seiten eines grellen Fotos der betagten
Königinmutter brannten Kerzen.
Barry ist ihr einmal hinter der Bühne des Palladium
Theatre in London begegnet. »Was hat sie zu Ihnen gesagt?«, fragte
ich. »Sie hat mich gefragt, wie lange ich schon warte«, erwiderte
er, die schlabberigen Lippen vor Rührung bebend. »Und was haben Sie
darauf geantwortet?« – »Noch nicht lange, Ma’am«, sagte er und
brach fast zusammen.
Leider warf Glenn beim Abendessen eine der Kerzen
um und steckte das Foto der Queen Mum in Brand. Ich goss eine Tasse
Tee darüber, aber der Schaden war beträchtlich. Wir wurden gebeten,
abzureisen. Möglicherweise ein Beweis dafür, dass es einen Gott
gibt.
Freitag, 18. August
Arthur Askey Way
Ich wurde unbarmherzig hinters Licht geführt! Ich
fühle mich so gedemütigt, dass mir ganz schlecht ist! Wie konnte er
mir in den vergangenen fünf Wochen solch schreckliche Lügen
auftischen? Ich habe ihn so bewundert. Er war der Typ Mann, der ich
selbst gern gewesen wäre. Er war ein Mann, der den Widrigkeiten des
Schicksals trotzte (dem Tod seiner jungen Frau bei einem
Autounfall). Ein Mann, der andere Männer anführen konnte (ein
Offizier der Territorialarmee). Außerdem war er ein Heiler (wie
Jesus) und obendrein noch ein Reiki-Meister.
Ich wäre ihm praktisch bedenkenlos in einen
Dschungel gefolgt. So zuversichtlich war ich, dass »Nasty Nick« bei
Big Brother die 70.000 £ gewinnen würde, dass ich 50 £ von meinem
festverzinslichen Sparbuch abhob (und damit Zinsverlust in Kauf
nahm) und eine Wette mit meinem Vater abschloss. Schadenfroh rief
er mich heute um 16:45 Uhr von seinem Krankenhausbett aus an, wo er
immer noch mit diversen Krankenhausinfektionen darniederliegt, um
mir mitzuteilen, dass mein Held das Big-Brother-Haus verlassen
müsse.
Zuerst glaubte ich meinem Vater nicht, liebes
Tagebuch. Einmal hat er mir erzählt, ich hätte 7 Millionen Pfund im
Lotto gewonnen. Das kam mich teuer zu stehen. Um meinen »Gewinn« zu
feiern, rief ich den Lotus-Flower-Asia-Heimservice an und bestellte
das Festmenü für sechs Personen. Als ich den grausamen Scherz
meines Vaters aufdeckte, versuchte ich, die Bestellung zu
stornieren, geriet aber letztlich vor der Haustür in eine wütende
Auseinandersetzung mit Mr Wong, der sich weigerte, ohne die 96,21
£, die ich
ihm seiner Meinung nach schuldete, wieder auf sein Moped zu
steigen.
Als meine Mutter mich jedoch auf dem Handy anrief,
um mir mitzuteilen, dass sie und Iwan sich die Sendung im Internet
ansähen, wusste ich, dass es stimmen musste. Ich konnte Craigs
Lispeln ziemlich deutlich durch die Leitung hören. Die Ludlows
kamen extra rüber, um mir diese welterschütternde Nachricht zu
eröffnen, und Vince sagte: »Das ist ein verfluchter Triumph für die
Arbeiterklasse, wenn du mich fragst.« Peggy Ludlow meinte, sie habe
immer geglaubt, dass Nick in Wirklichkeit Tim Henman sei, der sich
verkleidet ins Big-Brother-Haus geflüchtet habe, um sich vor dem
Tennisspielen zu drücken.
Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen. Haben alle
meine Helden tönerne Füße? Erst vor Kurzem habe ich mich von Mr
Aitkens Absturz erholt. Ich bete, dass Lord Hattersley nicht als
heimlicher Autor von kitschigen Liebesromanen enttarnt oder dass
Will Self nicht als Ausschussmitglied des Britischen Wohnwagenklubs
entlarvt wird.
Samstag, 19. August
Heute sagte ich zu Glenn: »Glenn, du wirst dich
immer daran erinnern, wo du gerade warst, als du erfahren hast,
dass Nick aus dem Haus geworfen wurde.« Er sah mich über die
Schulter an und meinte: »Klar werd ich das, Dad – weil ich hab’s
doch im Fernsehen geschaut.«
»Du warst dabei, als Geschichte geschrieben wurde«,
sagte ich.
»Was, so wie der Zweite Weltkrieg?«, fragte er
zweifelnd.
»Nein, eher so wie der Tag, an dem David Beckham
beim Friseur war.«
»Du bringst populäre Geschichte mit richtiger
Geschichte durcheinander, Dad«, sagte Glenn. Nachdenklich ging ich
auf mein Zimmer und begann mit dem nächsten Kapitel von Der
Schweinestall. (Die Schweinepest hat die gesamte
Schweinepopulation Englands ausgelöscht, außer Peter, meinem
Helden. Vielleicht benenne ich das Buch um in Das letzte
Schwein.)
Mein Vater rief heute Morgen an und verlangte von
mir, meine Wettschulden zu begleichen! Ich persönlich halte es ja
für einen großen Fehler, dass heutzutage jedes Krankenhausbett mit
einem Telefon ausgestattet ist. Die Patienten lassen ihre
leidgeprüften Angehörigen nicht in Ruhe mit ihren unablässigen
mürrischen Forderungen nach Energydrinks und Taschentüchern.
Montag, 21. August
Das letzte Schwein
Peter beobachtete vom Schweinestall aus, wie der
Geländewagen vor dem Computerschuppen im Hof anhielt. Farmer Brown
trat aus dem Chemikalienlager und begrüßte das Team von Sky
News. »Wo ist das letzte Schwein Englands?«, rief ein Forscher.
Peter wälzte sich im Morast. Er wollte vor der Kamera gut aussehen:
er würde berühmt werden.
Sonntag, 3. September
Arthur Askey Way
Kann man heute überhaupt noch jemandem trauen?
Mein Finanzberater Terry »The Shark« Brighton wurde vom
Betrugsdezernat verhaftet. Angeblich betreibt er seit Jahren einen
Wohnwagen-Finanzierungsschwindel. Das heißt also, ich kann mich von
den 500 £ Einlage und dem Traum von einem eigenen
Willberby-Westmoreland-Wohnwagen, den ich auf dem Grundstück meiner
Mutter abstellen wollte, verabschieden. Gut, es stimmt schon, sie
stand meinem Plan sowieso eher feindselig gegenüber und erklärte:
»Ich will kein Wohnwagengesocks vor meiner Haustür haben.« Doch es
wäre mir schon noch gelungen, sie umzustimmen.
Ich muss die Gaitskell-Siedlung verlassen, bevor
William sich dem Gruppenzwang beugt und anfängt, einen Laserpointer
mit in die Schule zu nehmen. Zudem wird die Ehe der Ludlows nebenan
derzeit von Unstimmigkeiten getrübt. Kaum ein Tag oder eine Nacht
vergeht ohne heftigen Streit und das unverkennbare Geräusch eines
menschlichen Kopfes, der gegen unsere Verbindungsmauer geschlagen
wird. Der arme Vince tut mir leid. Peggy ist eine furchteinflößende
Frau, wenn sie gereizt wird.
Montag, 4. September
Die Schule hat wieder angefangen. Gott sei Dank!
William beklagte sich heute Morgen, dass ihm seine Schuluniform zu
groß sei. Ich sagte, daran sei er selbst schuld, weil er sich
geweigert hatte, sie im Geschäft anzuprobieren. Aber vielleicht
bitte ich meine Mutter, die Hose zu kürzen. Sie
schleift über den Boden, so dass er aussieht, als hätte man ihm
beide Unterschenkel amputiert.
Vince kam heute Morgen her und bat flehentlich um
Asyl. Er erzählte mir, dass Peggy ihn vergangene Woche mit der
besten Freundin ihrer Tochter, Mandy Trotter, im Bett erwischt
habe.
»Die hat sich quasi auf mich geworfen und mir den
Reißverschluss aufgezogen, ehe ich sie davon abhalten konnte. Was
hätte ich denn machen sollen?«
Glenn zeigte mir Mandy Trotter, als wir im
Supermarkt einkaufen waren. Sie räumte die unteren Regale ein. Sie
ist nur knapp eins fünfzig groß, und obwohl sie eindeutig bereits
mündig ist, sieht sie doch wie ein ausgemergeltes Kind aus. Vince
kann seinen Reißverschluss nicht sonderlich heftig verteidigt
haben.
Dienstag, 5. September
Peggy war hier, um ihre Seite der Geschichte zu
erzählen. Demnach ist Mandy Trotter von Vince schwanger. »Was
findet er an dieser dürren Schlampe?«, fragte sie. Ihr prachtvoller
Busen wogte und ihre traumhaft langen Beine in der Netzstrumpfhose
fanden keine Ruhe unter meinem Küchentisch, während sie Asche auf
meine Plastikfliesen fallen ließ. Ich war sprachlos vor Verlangen
nach ihr.
Es wird höchste Zeit, dass ich eine Sexualpartnerin
finde: eine nicht neurotische, kinderlose, nicht rauchende,
wunderschöne Frau, die sich für Literatur, Eddie-Stobart-LKWs und
Hausarbeit begeistert, wäre ideal. Ist denn ein kleines bisschen
Glück wirklich zu viel verlangt?
Mittwoch, 6. September
Ich habe versucht, zu verstehen, was Außenminister
Robin Cook heute Morgen im Fernsehen bei Today gesagt hat.
Ich glaube, er sprach von seiner ethischen Außenpolitik. Allerdings
nuschelt er inzwischen so stark und in einer derart absurden
Geschwindigkeit, dass man ihm unmöglich folgen kann. Das stellt
eine Verletzung meiner Menschenrechte als englischer Wähler dar.
Versteht Gaynor dieser Tage überhaupt noch ein Wort von dem, was er
sagt, oder hört sie ihrem kleinen bärtigen Kobold von Ehemann schon
längst nicht mehr zu?
Donnerstag, 7. September
Iwan Braithwaite wurde auf Basis des
Psychiatriegesetzes zwangseingewiesen! Vier Polizisten und eine
Zwangsjacke waren erforderlich, um ihn in den Krankenwagen zu
verfrachten. Die Sicherung in seinem Kopf brannte durch, als sein
Laptop, der Drucker, das Fax, seine drei Telefone, der Fernseher,
das Radio und der Pager alle gleichzeitig angeschaltet waren und
unterschiedliche Informationen übermittelten.
Als dann auch noch meine Mutter in seinen
Arbeitsbereich trat und ihn fragte: »Iwan, weißt du was?«, drehte
er durch und begann, alles kurz und klein zu schlagen.
Robin Cook sollte sich das eine Warnung sein
lassen.
Samstag, 9. September
Arthur Askey Way
Jetzt liegen zwei männliche Mitglieder unserer
Familie im Krankenhaus: Die Vireninfektion meines Vaters mutiert
ständig, und er nimmt inzwischen an einem kontrollierten
Arzneimittelversuch teil. Er liegt auf einer Quarantänestation.
Offen gestanden war das eine gewisse Erleichterung: Besuche sind
streng verboten. Man kann ihn durch eine Glasscheibe betrachten,
aber was soll das bringen: zehn Kilometer hin und zehn Kilometer
wieder zurück zu fahren, nur um einen älteren Mann dabei zu
beobachten, wie er sich den Kopf über das Kreuzworträtsel in der
Sun zerbricht?
Iwan Braithwaite darf ebenfalls keinen Besuch
empfangen. Der für ihn zuständige Psychiatriepfleger, ein gewisser
Steve Harper, sagte: »Iwan braucht eine Auszeit von der
Familiendynamik.« Die fragliche Familiendynamik – meine Mutter –
ist fuchsteufelswild und verbringt fast den ganzen Tag damit, vor
der Tür der geschlossenen Abteilung zu sitzen und jedem, der ihr
Gehör schenkt, mitzuteilen, dass eine »Überdosis
Informationstechnologie« Iwans Zusammenbruch ausgelöst habe. Nur
eine halbe Stunde vor seinem Kollaps habe er noch 300 E-Mails
bearbeitet, erzählte sie mir. Ich bin jetzt überzeugt davon, dass
die Technik für die meisten Missstände unserer Gesellschaft
verantwortlich ist.
Früher belächelte ich die hartnäckige Behauptung
meiner toten Großmutter Edna Mole immer, dass Mikrowellen das
Gehirn schädigen, doch seit ich auf eine höhere Wattleistung
aufgerüstet habe, bemerke ich ein Nachlassen meiner intellektuellen
Leistung. Ich brauchte über eine Stunde, bis mir wieder eingefallen
war, ob die Worte »Wer schläft,
fühlt kein Zahnweh« von Shakespeare oder aber von Sir Walter
Raleigh stammen. Ich zitierte sie um 4:00 Uhr morgens gegenüber
Glenn, der einen Abszess hat. Trotzdem schlief er nicht ein,
sondern hielt mich mit seinem Schmerzgestöhne wach. Natürlich
hatten wir mal wieder keine einzige Schmerztablette im Haus.
Sonntag, 10. September
Beim ersten Morgengrauen ging ich in die
Notapotheke und bat um Paracetamol. Die Apothekerin, ein Mädchen
von ungefähr 10 Jahren, fragte mich, ob ich vorhabe, mich
umzubringen. Ich versicherte ihr, dass ich nichts dergleichen
plane, und sie händigte mir die Tabletten aus. Heute habe ich
versucht, zu tanken, aber die Schlangen waren zu lang, und vor den
Zapfsäulen fand eine Schlägerei statt. Warum nur?
Montag, 11. September
Mohammed von der BP-Tankstelle weigerte sich heute
Morgen, mir für mehr als 35 £ Bleifrei zu verkaufen. Wir sind
zusammen zur Schule gegangen, und unsere Freundschaft vertiefte
sich noch im Laufe meiner benzintankenden Jahre, dennoch verweigert
er mir seine Hilfe. Wie soll ich William zur Schule bringen? Es
gibt keinen günstig ge legenen öffentlichen Nahverkehr, und die
Strecke beträgt fast eineinhalb Kilometer.
Mittwoch, 13. September
Ich rief meine Parlamentsabgeordnete Pandora
Braithwaite an, um mich über die Benzinknappheit zu beschweren. Sie
erinnerte mich daran, dass wir als Kinder immer gute zwei Kilometer
bis zur Neil-Armstrong-Gesamtschule liefen. Ich wiederum erinnerte
sie daran, dass »wir jetzt das Jahr 2000 haben und Pädophile die
Alleen und Sackgassen unsicher machen«. Höhnisch erwiderte sie: »Du
hast offenbar den Mann aus dem Süßigkeitenladen vergessen, der
immer so getan hat, als wäre ihm die Hose runtergerutscht, wenn wir
unschuldig nach was zum Lutschen fragten.« Ich wollte wissen, warum
sie so schlechte Laune habe. »Ganz im Gegenteil«, gab sie zurück,
»ich habe ausgezeichnete Laune. Ich bin total erleichtert, dass ich
nicht in Andrew Rawnsleys Buch Servants of the People
erwähnt werde. Dabei war ich mir sicher, dass er die Geschichte von
mir, Mo Mowlam und Gordon Brown in diesem Lastenaufzug in dem Hotel
in Bournemouth verwenden würde.«
Donnerstag, 14. September
Glenn hat als Hausaufgabe ein Referat über Armut
in der Dritten Welt bekommen. Ich wollte mit ihm zur Recherche in
die Bücherei in der Nachbarsozialsiedlung. Leider war sie wegen
»Personalknappheit« geschlossen. Ich rief meine Mutter an, und sie
brachte einige Statistiken vorbei, die sie im Internet gefunden
hatte. Zu meinem Schrecken stellte ich fest, dass meine Söhne und
ich in den vergangenen zwei Jahren in Drittweltarmut gelebt
haben.
Glenn ist erleichtert: Er hatte vorgehabt, sein
Referat über Bangladesch zu halten, aber nun meinte er: »Dann muss
ich ja einfach nur durch unsere Siedlung laufen und mit den Leuten
sprechen, Dad.«
Freitag, 15. September
Arthur Askey Way
Von wegen Freunde fürs Leben! Mohammed hat sich
strikt geweigert, mir heute Benzin zu verkaufen, obwohl ich den
Montego auf seine Tankstelle geschoben hatte, um das bisschen Sprit
zu sparen, das mir noch verblieben war. Ich erinnerte ihn daran,
dass ich einmal auf dem Spielplatz der Neil-Armstrong-Gesamtschule
für ihn eingetreten war, als Barry Kent wie ein Tobsüchtiger auf
seine Klassenkameraden losgegangen war, nachdem er zu viele
Walker’s-Chips gegessen hatte. »Ich wüsste nicht, dass du dich
jemals für mich eingesetzt hättest, Moley«, erwiderte Mohammed,
während er eine Hebamme an eine Zapfsäule dirigierte.
Ich wies ihn darauf hin, dass ich Barry damals den
Rat gegeben hatte, einen Antimobbingkurs im Jugendklub Off The
Streets zu besuchen. »Deshalb hat er mir trotzdem die Finger
umgebogen«, sagte Mohammed traurig.
Meine Mutter fuhr auf die Tankstelle und reihte
sich in die Schlange der Fahrer mit Sondergenehmigung ein. »Mit
welcher Begründung willst du denn eine Sondergenehmigung haben?«,
wollte ich wissen. »Bist du neuerdings bei den Notdiensten
beschäftigt?«
»Wenn du es genau wissen willst: gewissermaßen ja«,
sagte sie. »Ich habe versprochen, Iwans Nervenklinik einige
Vasen vorbeizubringen, die ich nicht mehr haben will. Die haben da
nichts für die Blumen der Besucher.« Ich fragte mich, wie sie
Mohammed davon überzeugen wollte, dass ihr Benzinbedarf legitim
war, musste dann aber zu meiner Empörung mit ansehen, wie sie sich
ganz vorne in die Schlange reihen durfte und von Mohammed
persönlich bedient wurde!
Daraufhin startete ich selbst einen weiteren
Versuch, mir etwas Benzin anzueignen, indem ich ihn an unser
Krippenspiel Allmächtiger Jesus! in der Schule erinnerte.
Ich hatte damals Regie geführt und Mohammed die Hauptrolle
verschafft. »Ja, und deshalb hab ich heute, fünfzehn Jahre später,
immer noch Ärger mit ein paar von den Gemeindeältesten«, sagte er.
»Ich hab ja gleich gesagt, dass es nicht gut ankommen wird, wenn
ich Jesus als Heroinsüchtigen spiele.«
»Das war deine freie Entscheidung, Mohammed«,
wandte ich ein.
»Nein, war es nicht. Dir ging’s damals dreckig,
weil deine Eltern sich getrennt haben, und ich hab das nur gemacht,
um dir zu helfen.«
Während ich mein Auto zurück nach Hause schob,
zerbrach ich mir den Kopf, wie jemand nur so nachtragend sein
konnte. So nachtragend, dass davon sein Urteilsvermögen im Hinblick
auf die Benzinzuteilung beeinträchtigt werden konnte.
Samstag, 16. September
Pandora überlegt, ein Haus auf dem Land in Suffolk
zu kaufen, um ihren Wählern zu entfliehen. Das Anwesen nennt sich
Oakley Park, im Dorf Hoxne. Ich habe es mir im Internet angesehen
und zu meiner Besorgnis entdeckt, dass es der Schauplatz eines
makabren Doppelmordes im Jahre 1777 war, als Sir Frederick Brownlow
seine Frau Felicity mit dem jungen Stallburschen Fergus Bellington
im Bett erwischte.
Wenn ich »Bett« schreibe, meine ich das nicht ganz
wörtlich – tatsächlich vollzogen die Liebenden den Geschlechtsakt
hinter der Standuhr jenseits des Torbogens in der Eingangshalle.
Schlag Mitternacht zerhackte Sir Frederick – von Eifersucht
germartert – die beiden mit seinem Schwert in mundgerechte Stücke.
(»Es wurde mannigfach geschärft, da so stumpf gemacht von ihren
Knochen.«) Die Happen wurden hinterher an die Schweine verfüttert.
Ich warnte Pandora, dass ein Fluch auf dem Haus liege und dass
jeder mit den Initialen F. B. ein schlimmes Ende nähme, wenn er
auch nur einen Fuß in den Innenhof setzt.
»Du meine Güte«, sagte sie, »was faselst du denn
da? Meine Initialen sind P. L. E. B.« Dann hielt sie einen endlosen
Vortrag über Idioten, die das Internet mit uninteressanter und
unnötiger Information verstopfen.
Sonntag, 17. September
Tag der Luftschlacht um England: Das
Vormittagsprogramm auf Radio 4 wurde heute von einem eintönigen
Gottesdienst zum Gedenken an dieses bedeutende historische Ereignis
beherrscht. Warum lässt die anglikanische
Kirche zu, dass in ihrem Namen solch grauenhafte Musik gespielt
wird? Und warum sprechen die Kirchenoberen mit so unnatürlichen
Stimmen, dass sie wie Außerirdische klingen?
Radio 4 hätte lieber den Soundtrack dieser
Douglas-Bader-Biografie spielen sollen. Das hätte vielen Zuhörern
Freude bereitet.
Montag, 18. September
Arthur Askey Way
Das Leben ist öde nach den Aufregungen der
Ölkrise. Ich habe einen kleinen Panik-Hamsterkauf von
Wasserflaschen, Zucker, Brotbackmischung und Ölsardinen getätigt,
aber nichts reicht an den wilden Rauschzustand heran, als ich – für
kurze Augenblicke – wahrhaftig glaubte, die Zivilisation sei am
Ende und wir wieder bei der Pferdekutsche gelandet.
Ich wurde für Freitag ins Arbeitsamt geladen, um
zu erklären, warum ich kürzlich in ein Formular eintrug, dass ich
für eine Stelle nicht zur Verfügung stünde und gern weiterhin
Sozialleistungen bezöge. Ich habe den gesamten heutigen Tag damit
verbracht, mich vorzubereiten. Außerdem habe ich ein Manifest
verfasst. Das Hauptargument ist, dass die Gesellschaft sich um ihre
Künstler kümmern sollte, und der Schlussabsatz lautet: »Wie
tragisch wäre der Verlust für die Nation, wenn ein großes Werk aus
meiner Feder ungeschrieben bliebe wegen der banalen Notwendigkeit,
beispielsweise als Hilfslagerarbeiter pünktlich
einzustempeln.«
Dienstag, 19. September
Um 13:00 Uhr wurde ich von meiner Mutter per Handy
kontaktiert, die schrie: »Lass alles stehen und liegen und stell
dich für Benzin an!«
Während ich hastig in mein Auto kletterte, rief ich
den Nachbarn auf der Straße die Neuigkeiten zu. Rasch bildete sich
ein Konvoi von 30 Wagen hinter mir. Als wir Mohammeds Tankstelle
erreichten, waren wir bereits 100 und hatten eine Polizeieskorte.
Mohammeds Unterkiefer klappte herunter, als er mich an der Spitze
des Konvois in die Tankstelle biegen sah. Er wollte gerade mit
seiner Frau zum Hamsterkauf in den Supermarkt fahren – sie hatte
gehört, dass die Pampers knapp würden. Im Nachhinein bin ich leicht
beschämt, dass ich mich von der Hysterie anstecken ließ, aber ich
brauche meinen PKW nun mal. Ich bin zu sensibel für einen
Vollzeitfußgänger. Die autolose Bevölkerung ist unberechenbar, sie
verfügt über laute Stimmen und ihre Launen sind unkalkulierbar. Ich
fühle mich einfach sicherer in meinem Wagen mit meinen
Abba-Kassetten und Radio 4.
Freitag, 22. September
Ich wurde zur vereinbarten Zeit, um 10:30 Uhr, im
Arbeitsamt vorstellig, und war überrascht, unverzüglich von einer
recht sympathischen jungen Frau namens Jane Doxy in ihr Büro
gebeten zu werden. Sie war proper in ein marineblaues Kostüm mit
weißer Bluse gekleidet. Hohe Absätze wären ihrem Erscheinungsbild –
meiner Ansicht nach – zuträglich gewesen, aber zweifellos wusste
Jane
die Bequemlichkeit ihrer Gucci-Imitat-Mokassins zu schätzen.
Ich war so vorausschauend, ein Exemplar des
Guardian mitzunehmen, um Jane zu vermitteln, dass ich ein
intelligenter und belesener Mann bin. Obwohl ich mich angesichts
der Daily Mail in ihrer Handtasche fragte, ob ich das
Richtige getan hatte. Sie habe mein Manifest mit großem Interesse
gelesen, sagte sie. Allerdings hätte sie (und die ganze Abteilung)
den Eindruck, dass meine Schreiberei »nur ein Hobby« sei und dass
»es nicht Aufgabe der Regierung sei, meine Freizeitinteressen zu
subventionieren«.
Sie gab mir zwei Telefonnummern. Die erste war die
von Eddie’s Tea Bar. Eddie hob selbst ab. Es ging um eine Stelle
als Aushilfe in seinem Gaststättenbetrieb, einem in einer Parkbucht
neben dem Zementwerk abgestellten Imbisswagen. Ich fragte, worin
meine Aufgaben bestünden. »Du müsstest alles Mögliche machen,
Burger braten, die Gasflaschen wechseln, so Zeug eben, für 3,60 £
die Stunde.« Unter dem wachsamen Blick von Jane Doxy rief ich bei
der zweiten Nummer an. Eine sanfte Rentnerin namens Mrs
Banbury-Pryce ging an den Apparat und sagte, sie brauche jemanden,
der zweimal täglich mit ihren sechs Hunden Gassi ginge.
Am Montag fange ich bei Eddie an. Ich wusste
einfach, dass ich mit meinem weichen Herz über kurz oder lang Mrs
Banbury-Pryce beim Zuhaken ihres Korsetts und Schneiden ihrer
Zehennägel behilflich wäre.
Sonntag, 24. September
Wachte um fünf Uhr morgens auf und stellte fest,
dass ein kleines Erdbeben die East Midlands erschüttert hatte. Ein
paar Hunde bellten, aber tragischerweise für die Medien wurde
niemand getötet.
Montag, 2. Oktober
Eddie’s Tea Bar, Zementwerk,
Leicestershire
Ich habe gerade Pause, sitze auf einem weißen
Plastikstuhl und schreibe an einem dazu passenden Klapptisch. Ich
bin umgeben von LKW- und Autofahrern. Es ist erst 11:30 Uhr, aber
ich bin schon völlig erschöpft. Seit 5:00 Uhr bin ich auf den
Beinen (wobei ich – um völlig aufrichtig zu sein, und auf die
Gefahr hin, pedantisch zu wirken – die Fahrt hierher im Wagen
sitzend absolviert habe).
Eddie und seine dritte Frau Sandra waren schon
hier, als ich ankam, und die Teemaschine wurde bereits angeheizt,
wie auch die Fritteusen und die Bratfläche. Eddie und Sandra müssen
Fett in ihren Blutbahnen haben. Ihre Haare, Haut und Poren müssen
davon verstopft sein. Als er mir eine riesenhafte Schürze reichte,
sagte Eddie: »Den Gestank nach Fett kriegst du nie wieder los, mein
Junge. Macht es schwer, eine Frau außerhalb der Branche zu finden.«
Alle seine Ehefrauen waren demnach ebenfalls im Imbissgeschäft
tätig. Ich versicherte ihm, dass ich momentan nicht aktiv auf der
Suche nach einer Frau sei, und erzählte ihm, dass ich für einen
Kurs im Erwachsenenbildungszentrum in Leicester mit dem Titel
»Leben ohne Partner« angemeldet sei. Mitleidig betrachtete er mich
und
fragte leise, ob bei mir »unter den Klamotten irgendwas nicht
stimmt«.
Ich versicherte ihm, dass ich geschaffen sei wie
jeder andere Mann auch, dass aber mein Herz in jüngster Zeit einige
Male gebrochen worden sei und ich Zeit brauche, um mich davon zu
erholen. Eddie hob den Pfannenwender von den brutzelnden
Speckscheiben und meinte: »Ich kriege schlimmes Kopfweh, wenn ich
nicht einmal am Tag meine Wurst verstecken kann, stimmt’s,
Sandra?«
Sandra strich sich eine fettige Haarsträhne hinters
Ohr und bestätigte: »Als ich mir die Krampfadern im Krankenhaus hab
machen lassen, war er auf einer Schachtel Nurofen am Tag.« Eddie
schüttelte den Kopf und starrte blicklos auf den LKW-Parkplatz, man
sah ihm an, dass er den Schrecken sexueller Entbehrung noch einmal
durchlebte.
Ich rief meine Mutter an, um mich zu erkundigen,
wie die Kinderbetreuung am Morgen geklappt habe. »Miserabel«, sagte
sie. »Ich kann nicht jeden Tag im Dunklen aufstehen und schon um
fünf Uhr bei dir sein. Da schlafe ich ja am Steuer ein.« Ich wies
sie darauf hin, dass kein Hort vor sieben Uhr öffne, und bat sie
inständig, weiterzumachen. Bitter antwortete sie: »Dafür gebe ich
Tony Blair und Jack Straw die Schuld. Warum müssen die Omas mit
reingezogen werden und sich um ihre Enkel kümmern? Ich hab meine
Strafe schon mit dir und deiner Schwester verbüßt.«
Aus ihrem Mund klang die Erziehung von meiner
Schwester und mir wie eine freudlose Angelegenheit. Ich fragte, wie
es Iwan in der psychiatrischen Klinik gehe. »Er hat eine Aversion
gegen alles Technische entwickelt«, sagte sie. »Als ein Pfleger mit
einem elektronischen Feuerzeug die Kerzen am Geburtstagskuchen
eines Patienten anzünden
wollte, musste Iwan sediert werden.« Ich frage mich, ob Iwan
»Techno« Braithwaite jemals wieder in der Lage sein wird, sich der
modernen Welt zu stellen.
Dienstag, 3. Oktober
Arthur Askey Way
D. H. Lawrence – mein persönlicher literarischer
Held – arbeitete gern mit den Händen und war angeblich sehr stolz
auf seine selbstgemachte Marmelade. Ich habe jetzt ebenfalls die
kleinen Freuden manueller Arbeit entdeckt. Ich bilde mir ein, dass
D. H. stolz auf mich gewesen wäre, als ich unserem ersten Kunden
Les, der einen Eddie-Stobbart-LKW voller Mineralwasser von Liskeard
nach Dundee fährt, ein Speck-Ei-Sandwich servierte. Les’ Sandwich
war wirklich ein Kunstwerk, wenn ich das mal so sagen darf. Der
Speck war saftig, das Ei feinfühlig gebraten, um ein Auslaufen des
Dotters zu vermeiden, und das Brot war so weiß und weich wie eine
frisch geschlüpfte Made. Ich war insgeheim hocherfreut, als Les es
als »Oberliga« deklarierte.
Mittwoch, 4. Oktober
Konnte nicht schlafen, weil ich die ganze Zeit
über Sinn und Unsinn des Transports von Mineralwasser von Liskeard
nach Dundee nachdenken musste. Schottland schwimmt doch in dem
Zeug.
»Leben ohne Partner« wurde abgesagt. Ich war der
einzige Teilnehmer.
Donnerstag, 5. Oktober
Eddie’s Tea Bar, Zementwerk,
Leicestershire
Bei Eddie zu arbeiten hat mir einen einzigartigen
Einblick in die Funktionsweise des Kapitalismus gewährt. Eddie
kauft im Großhandel Speck, Rinderhack, Weißbrot in Scheiben,
Ketchup etc. in Gastronomiepacks und setzt dann mich für 3,60 £ die
Stunde ein, um diese Zutaten in fertige Speisen umzuwandeln, die
mit 200 % Profit verkauft werden. Eddie hat keine Computerkasse.
Sein Laden ist ein reines Bargeschäft. Neben dem sich an den Kanten
aufrollenden Samantha-Fox-Poster im Imbisswagen hängt ein Zettel:
»Bitte nicht nach einem Beleg fragen, da dessen Verweigerung häufig
für Verärgerung sorgt.«
Die Münzen bewahrt er in einer alten
Cadbury’s-Keksdose auf. Es stört meinen Ordnungssinn, die Münzen
alle durcheinanderfliegen zu sehen, aber es funktioniert eigentlich
ganz gut. Banknoten werden in Eddies Schürzentasche gesteckt. Ich
habe den Verdacht, dass Eddie wenig Steuern oder Umsatzsteuer
bezahlt, wobei er durchaus lautstark seine Meinung zum Thema
Sozialhilfebetrug äußert: »Die sollte man alle auf eine Insel
irgendwo in der Nordsee schicken und sich selbst überlassen«,
erklärte er heute Morgen. »Obwohl«, ergänzte er dann mitfühlend,
»ein Päckchen Samen und einen Spaten würd ich ihnen schon
mitgeben.«
Eddies Keksdose ist das proletarische Gegenstück zu
einer Steueroase auf den Kaiman-Inseln. Es fehlen nur die
Finanzberater und Buchhalter. Um Eddies »Buchhaltung« kümmert sich
seine Frau, während sie sich die Wochenzusammenfassung der
EastEnders im Fernsehen anschaut. Das ist offenbar ein
festes Ritual.
Die LKW-Fahrer führen eine weitere Facette der
Globalisierung vor Augen. Manche der Trucker sind drei Tage
unterwegs, um rumänische Kühlschränke nach Bolton, England, zu
schaffen. Andere haben Wüstenrennmausfutter aus Bury St. Edmunds
nach Hamburg gebracht und kehren mit einer Fuhre hamburgischer
Möhren zurück, die sie in einem Lagerhaus in Stowmarket, Suffolk,
abladen. Das ist blanker Wahnsinn.
Inzwischen achte ich darauf, mich bei jedem
LKW-Fahrer, den ich bediene, nach seinem Bestimmungsort und seiner
Ladung zu erkundigen. Dadurch gelangte ich zu der Erkenntnis, dass
der Kapitalismus keine vernünftige Methode ist, die Weltwirtschaft
zu betreiben – er ist ineffizient, und er beutet Arbeiter wie
beispielsweise mich aus.
Ich trug dieses Argument Eddie vor, während ich die
Bratfläche mit dem Pfannenwender sauber kratzte. Er war
grundsätzlich anderer Ansicht als ich: »Wenn du weiter nach
Revolution schreist, Moley, hängst du bald ohne jeden Job so was
von in der Luft, dass deine blöden Birkenstocks keinen Bodenkontakt
mehr kriegen.«
Freitag, 6. Oktober
William und Glenn sind beide nicht in der Schule,
weil ihre Haare von Kopfläusen verseucht sind. Ich rief Eddie auf
seinem Handy an und teilte ihm mit, ich könne heute nicht zur
Arbeit kommen, da ich damit beschäftigt sei, die Nissen von den
Häuptern meiner Söhne zu verbannen. Eddie gab zurück: »Ich und
meine bessere Hälfte lagen die ganze Nacht wach und haben uns die
Birnen gekratzt, wie wenn
es Rubbellose wären. Du solltest mal deinen eigenen Kürbis
untersuchen, Mole.«
Glenn und William setzten mich an meinen
Schreibtisch und richteten die Gelenkleuchte auf meinen Kopf. In
meinen Haaren waren derartig viele Nissen, dass Glenn sagte: »Damit
könntest du das Wembley-Stadion vollmachen, Dad.« Er wird sich
morgen mit einer Gruppe aus der Schule das Spiel England gegen
Deutschland ansehen. Sie machen ein Projekt über historische
Momente Englands, und er hofft, ein paar Grashalme zu ergattern,
die er in seine Projektmappe einkleben kann. Wobei – wie es der
Schulleiter in seiner E-Mail an mich formulierte – Glenns Kopf »von
mir persönlich morgens inspiziert wird, und wenn Hinweise auf
Kopfläuse oder ihre Nachkommenschaft in Form von Nissen gefunden
werden, dann wird ihm NICHT gestattet, den Bus nach Wembley zu
besteigen«.
Ich war den Großteil der Nacht wach und
durchforstete Glenns Haar mit einem Nissenkamm. Um 3:30 Uhr gab ich
schließlich auf und rasierte ihm den Schädel. Ich verbrauchte fünf
Wegwerfrasierer. Jetzt sieht er zwar aus wie ein Schläger, aber
wenigstens durfte er in den Bus einsteigen.
Samstag, 7. Oktober
Glenn kehrte siegreich mit einem Plastiksitz,
einem Stück Rasen und einem von Kevin Keegans abgekauten
Fingernägeln zurück. Der Junge wird es noch weit bringen.
Sonntag, 15. Oktober
Arthur Askey Way
Pandora rief mich heute an und bat um meinen Rat.
Sie weiß nicht, ob sie gestehen soll, in Oxford Cannabis geraucht
zu haben. »Warum fragst du mich?«, wollte ich wissen.
»Du bist die Stimme des englischen
Durchschnittsbürgers«, versetzte sie gereizt. »Du bist ein
perfektes Barometer der öffentlichen Meinung.«
Mir missfiel ihre unterschwellige Andeutung, ich
sei ein langweiliger Provinzler; gleichzeitig war ich erfreut und
geschmeichelt, um meine Meinung gebeten zu werden. Ich riet ihr,
sich in Sachen Drogenkonsum bedeckt zu halten, und warnte sie, dass
ein Geständnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ihr
oberstes Ziel gefährden würde, der übernächste Premier zu werden.
Sie legte auf mit den Worten: »Du hast Recht, Aidy, ich darf die
Daily Mail nicht vergraulen.«
Montag, 16. Oktober
Der Schatten der Kopfläuse liegt weiterhin über
unserem Haus. Was kann ich noch unternehmen, um die abscheulichen
Kreaturen auszurotten? Meine Mutter war am Samstag beim Friseur,
und Sebastian – ihr Stylist – floh entsetzt in den Farbmischraum,
als er eine in ihrem Nacken nistende Kolonie entdeckte. Sie war
wahnsinnig wütend auf mich und behauptete, so etwas Peinliches sei
ihr nicht mehr passiert, seit sich bei ihrer Hochzeit mit Iwan
Braithwaite auf dem Standesamt der Draht ihres BHs durch ihr Kleid
gebohrt hatte. Selbst mein Vater, der immer noch in einem
Quarantänezimmer im Krankenhaus liegt, hat Nissen. Was geht hier
vor?
Ich erklärte Glenn, dass ich eine Verschwörung
witterte: »Es ist doch offensichtlich, dass eine fremde Macht, sehr
wahrscheinlich der Iran, eine besonders virulente Sorte von Läusen
in dieses Land eingeschleust hat, um die Bevölkerung zu
demoralisieren und das Pfund zu destabilisieren.«
Glenn schüttelte mitleidig den Kopf und sagte: »Geh
dich hinlegen, Dad, und wickel dir ein nasses Handtuch um den
Kopf.«
Dienstag, 17. Oktober
Heute las ich folgenden Artikel im
Independent: »Dr. Pandora Braithwaite, Staatssekretärin für
Fischerei, gab in einem Interview in der Sendung Newsnight
mit Jeremy Paxman vergangenen Abend zu, während ihrer Studienzeit
in Oxford Cannabis geraucht zu haben. Auf Paxmans direkte Frage:
›Haben Sie Haschisch geraucht oder nicht?‹, lächelte sie und
antwortete: ›Sie nicht, Jeremy?‹
Paxmann erwiderte ungeduldig: ›Ich bin nicht hier,
um Fragen zu beantworten, Frau Staatssekretärin, sondern Sie.‹
Braithwaite sagte: ›Na gut: Ja, habe ich. Haben wir alle. Und
wissen Sie was: Ich habe es genossen. Es hat mir die ganze Arbeit
erträglich gemacht.‹«
Ich sehe nun Schreckliches auf meine große Liebe
zukommen. Ihre Position als Staatssekretärin der Krone ist mit
Sicherheit unhaltbar geworden.
Mittwoch, 18. Oktober
Das gesamte Land spricht über Pandora. Laut einem
Bericht des Guardian ist die Nachfrage nach Cannabis in
Oxford sprunghaft angestiegen.
Donnerstag, 19. Oktober
Heute habe ich meine Arbeit in Eddie’s Tea Bar
wiederaufgenommen. Ich musste feststellen, dass viele unserer
LKW-Fahrer-Kunden sich am Kopf kratzten. Werden die Parasiten durch
ganz Europa transportiert? Wie lange wird es dauern, bis sie die
Weltherrschaft übernommen haben? Um 19:00 Uhr rief Glenn meine
Mutter an und bat sie, schnell vorbeizukommen. Ich erklärte ihr
meine Läuseverschwörungstheorie, und nachdem sie sich das Ganze
eineinhalb Stunden lang angehört hatte, holte sie Dr. Ng.
Freitag, 20. Oktober
Ich bin jetzt ruhiger. Dr. Ng hat mir Prozac und
eine Aromatherapiekurbehandlung verschrieben. Er sagte, ich leide
unter Stress. Ich erzählte ihm von meiner unglücklichen Kindheit,
und er zeigte sich sehr verständnisvoll. Allerdings hörte ich meine
Mutter im Hintergrund heftig dementieren. »Er ist ein sehr
glücklicher kleiner Junge gewesen«, berichtete sie dem Arzt. »Bis
er älter wurde und angefangen hat, Dostojewski und diesen
bescheuerten Kafka zu lesen.«
Pandora hat mir eine Genesungsmail geschrieben und
vorgeschlagen, dass ich zur Erholung das neueste Buch
von Lord Archer of Weston-super-Mare lesen soll. Später rief sie
an und erzählte mir die erstaunliche Neuigkeit, dass sie keineswegs
wegen ihres Drogengeständnisses geschmäht wird, sondern – ganz im
Gegenteil – als heiße Favoritin für eine Beförderung gilt.
Samstag, 21. Oktober
Arthur Askey Way
Kletterte Pandora vergangene Woche noch die
Sprossen der Lebensleiter empor, so rutscht sie diese Woche an der
Regenrinne wieder herunter (jedenfalls bildlich gesprochen). Die
Zeitungen sind voll von Bildern ihres Katers Maurice, der
Donnerstagnacht vom Tierschutzverein gerettet werden musste,
nachdem Nachbarn ein klägliches Miauen aus Pandoras Wohnung in
Pimlico vernommen hatten. Bedauerlicherweise befand sie sich zum
Zeitpunkt der Katerrettung gerade mit Keith Allen auf einer
beruflichen Erkundungsmission im beliebten Pauschalferienort Agia
Napa auf Zypern. Ein Sprecher des Tierschutzvereins RSPCA sagte:
»Gegen Dr. Pandora Braithwaite wird möglicherweise Klage wegen
Vernachlässigung und Tierquälerei erhoben. Maurice wurde seit fünf
Tagen nicht gefüttert und ist stark abgemagert.«
Ich rief Pandoras Mutter Tania an, um mir die
Hintergrundinfos zu holen, und sie erzählte mir, dass eine Störung
in Maurices computergesteuertem Fütterungsapparat Feed-A-Pet
aufgetreten sei, weswegen die Klappe sich nicht geöffnet habe, so
dass das gefräßige Tier nicht an sein Futter gekommen sei. Manche
der Schlagzeilen schlugen einen scharfen Ton an: »Pandoras Kater
allein verhungert«, »Katzenhorror
bei der Drogen-Abgeordneten«, »Pans Muschi unter Schock«.
In meiner (unbezahlten) Funktion als Pandoras
Berater in Sachen englische Durchschnittsbevölkerung rief ich das
Unterhaus an, um meine Hilfe anzubieten. Leider konnte Pandora das
Telefonat nicht selbst entgegennehmen, weil sie gerade ein
Krisengespräch mit Alastair Campbell führte. Ich hinterließ eine
Nachricht bei ihrem Privatsekretär Nigel Hetherington: »Richte ihr
aus, sie soll der Katzenhilfe e. V. eine großzügige Summe
spenden.«
»Wie außerordentlich originell«, meinte Nigel.
»Danke für diese Wahnsinnsidee, Moley.«
Es wurmt mich immer noch, dass Pandora sich für
Nigel als ihre rechte Hand entschieden hat statt für mich. Mag ja
sein, dass er drei Hochschulabschlüsse – in Management, BWL und
Mode – hat, aber ich habe das Gefühl, dass ihm das gewisse Etwas
fehlt. Ich selbst habe extrem viel Erfahrung im Umgang mit den
Medien. 1993 war ich fünf Monate lang der Lyrik-Berichterstatter
des Ashby Bugle (unbezahlt), bis der Chefredakteur wegen
grober Insubordination gefeuert wurde (er hat mit einer leeren
Wodkaflasche nach dem Herausgeber geworfen). Unerfreulicherweise
war der neue Chefredakteur ein Sportfanatiker und verwandelte meine
wöchentliche Kolumne in ein Suchbild-Preisausschreiben namens »Wo
ist der Ball« – meiner Ansicht nach zum Schaden der kulturellen
Landschaft von Ashby-de-la-Zouch.
William isst nicht. Ich vermute, er will bloß
Aufmerksamkeit.
Sonntag, 22. Oktober
In den Medien tauchte heute ein Foto von Pandora
und Maurice auf, begleitet von einer Verurteilung
computergesteuerter Futterapparate. Pandora fordert eine
wissenschaftliche Untersuchung der Zuverlässigkeit dieser Geräte.
Sie hat gelobt, in Zukunft einen Katzensitter zu beschäftigen. Auf
die Frage nach ihrer Beziehung zu Keith Allen antwortete sie: »Mr
Allen und ich waren auf einer Erkundungsmission in Agia Napa. Wir
gingen der Überlastung des britischen Konsulats durch mittellose
junge Engländer nach, die ihren Heimflug nicht mehr selbst bezahlen
können.«
Montag, 23. Oktober
In Nottingham geht die Polizei jetzt in der
Innenstadt mit Schusswaffen auf Streife. Wie lange dauert es noch,
bis Ashby-de-la-Zouch vom Rattern der Kalaschnikows erschüttert
wird? Es geht bergab mit uns.
Dienstag, 24. Oktober
Eddie rief heute an, um sich zu beschweren, dass
ich nicht bei der Arbeit erschienen bin. Ich erklärte ihm mein
Kinderbetreuungsproblem während der Herbstferien. Er sagte: »Ich
versuche hier, einen verdammten Imbiss zu betreiben. Dein
Privatleben ist mir scheißegal, Mole.« Das ist mal wieder typisch
für Englands und Eddies Einstellung gegenüber Kindern. Kein Wunder,
dass drei von Eddies Sprösslingen
derzeit Freiheitsstrafen absitzen dürfen und einer, Shane, beim
Royal Ballet tanzt.
Glenn hat darum gebettelt, künftig für das Kochen
zuständig zu sein. Ich habe mit Freuden die Mole-Schürze
weitergereicht. Mir war bisher nicht bewusst, dass er sich für die
kulinarischen Künste interessiert.
Mittwoch, 25. Oktober
Williams Appetit nimmt wieder zu. Glenn hat sich
von dem Geld, das er sich durch das Bewachen der Autos der
Sozialarbeiter, die die Siedlung besuchen, verdient hat, Kochen
mit Jamie Oliver gekauft.
Freitag, 27. Oktober
Arthur Askey Way
Iwan Braithwaite wurde aus der Nervenklinik
entlassen und ist jetzt in der Abstellkammer im Wisteria Walk
eingesperrt. Meine Mutter spielt seine Krankenschwester. Ich sage
»spielt«, weil sie ihre neue Rolle äußerst ungnädig erfüllt. Ich
hörte sie am Telefon mit ihrem Bruder Pete sprechen, der in Norwich
lebt. Es war ein selbstmitleidiger Monolog, den ich hier
wiedergebe, obwohl es mir keine Freude bereitet …
»Als ich Iwan geheiratet habe, dachte ich, mein
Leben würde sich ändern. Wie du weißt, Pete, gehört Iwan der oberen
unteren Mittelschicht an, und er hatte versprochen, meinen Horizont
zu erweitern. Aber der einzige Horizont, den ich in letzter Zeit
gesehen habe, ist die Aussicht aus
dem vierten Stock der Nervenklinik und der Blick auf meinen
eigenen Garten. Ich hab’s vermasselt, Pete. Ich bin zu einem
verdammten Kindermädchen mutiert. Auf Adrians Kinder muss ich auch
noch aufpassen, wenn er arbeiten ist.«
[Pause]
»Nein, er bezahlt mich nicht! Gestern Abend hat er
mir einen Strauß Supermarktblumen geschenkt und sich dann auch noch
beschwert, weil ich den Kindern Fischstäbchen und Tiefkühlpommes
zum Abendessen gemacht habe statt dem blöden Gesundheitskram, den
er ihnen morgens mitgegeben hat. Das sind Jungs im Wachstum, Pete.
Die brauchen mehr als nur ein paar Sprossen und einen Klumpen Tofu.
Na ja, ich muss jetzt Schluss machen. Ich finde es auch schade,
dass wir seit über zwanzig Jahren nicht miteinander geredet haben,
Pete, aber Mum hatte mir wirklich ihr Bettelarmband versprochen,
bevor sie starb, und deine Frau Yvonne hatte kein Recht, es sich zu
nehmen und bei Mums Beerdigung an ihrem dicken Handgelenk zu
tragen.«
[Pause]
»Nein! Mum hatte es mir versprochen,
Pete!«
[Schluchzend]
»Sie hat Yvonne gehasst. Sie hat sie immer Nixon
genannt …«
[Pause]
»… wegen ihrem Dreitagebart, deshalb!«
[Pause]
»Oh, das tut mir leid, Pete. Ich wusste nicht, dass
Yvonne erst vor Kurzem gestorben ist. Wann denn?«
[Pause]
»Gestern! O mein Gott! O Pete. Das ist ja
furchtbar!«
[Pause]
»Schickst du mir dann das Bettelarmband mit der
Post, Pete? Am besten als Einschreiben.«
An dieser Stelle wurde die Leitung in Norwich
unterbrochen.
Samstag, 28. Oktober
Millenium Dome, Greenwich
Ich sitze hier bei Harry Ramsden’s Fish &
Chips und warte auf Glenn und William, die in der Schlange für die
Body Zone stehen. Die Wartezeit beträgt eineinviertel Stunden. Als
ich eine Alternative vorschlug – den Besuch der Faith Zone, in der
kein einziger Besucher war -, sagte Glenn: »Geh du ruhig beten,
Dad. Will und ich treffen dich dann später.«
Der Junge wird von Tag zu Tag selbstbewusster. Das
Kochen hat er zu Hause schon übernommen, und heute Morgen fand ich
einen Zettel in einer Milchflasche vor unserer Tür: »Heute keine
Milch. Sind im Millenium Dome. Beste Grüße, Glenn Bott-Mole.« Seit
wann trägt Glenn einen Doppelnamen? Und warum steht »Mole« an
zweiter Stelle? Glenn Mole-Bott klingt doch viel
kultivierter.
Die Faith Zone war immer noch leer. Die Pfarrerin
in dem pastellfarbenen Trainingsanzug war sichtlich dankbar, mich
zu sehen und sich meine religiösen Ansichten anzuhören. Ich
erzählte ihr, dass ich seit Neuestem Bäume anbete, und fragte, ob
es eine Organisation gäbe, der ich beitreten könne. Sie sah im
Index ihres Großen Buchs der Weltreligionen nach, fand aber
nichts und meinte daraufhin: »Die Liberaldemokraten bieten sich da
vielleicht am ehesten an.«
Sonntag, 29. Oktober
Die Szenen gestern Abend am Bahnhof St. Pancras
waren erbärmlich. Verzweifelte Menschen aus den East Midlands
liefen planlos durch die Bahnhofshalle, bis sie endlich in ihren
Ersatzzügen auf Umwegen an den kaputten Gleisen der
Midland-Main-Linie vorbeigeschleust wurden.
Montag, 30. Oktober
Wachte um 3:30 Uhr auf und stellte fest, dass sich
ein Wirbelsturm durch unsere Straße wälzte. Mehrere Mülltonnen
wurden umgeworfen, und ein blöder, verfluchter Baum hat meinen
Schuppen zerstört.
Dienstag, 31. Oktober
Arthur Askey Way
Pandoras Wochenendhäuschen Lock Keeper’s Cottage
am Ufer des Flusses Severn wurde überflutet. Sie musste von einem
Feuerwehrmann in einem Kanu geborgen werden. Die Rettungsaktion
wurde von Midlands Today gefilmt. Den Berichten zufolge
waren sie und eine Neunzehnjährige namens »Scottish Sandy« von den
Wassermassen einen Tag und eine Nacht lang in Pandoras Schlafzimmer
eingeschlossen. Laut Pandora stapelte Sandy gerade Sandsäcke vor
der Eingangstür, als die Flut sie überraschte und sie gezwungen
waren, ins obere Stockwerk zu fliehen. Von Julia Snoddy, der
Reporterin von Midlands Today, befragt, warum Pandora die
Rettungskräfte nicht früher benachrichtigt habe,
entgegnete die kontroverse Abgeordnete: »Ich wusste doch, wie viel
diese Leute zu tun hatten, und wollte ihnen nicht noch mehr Arbeit
machen.«
Als man sie bat, zu erzählen, was sie durchgemacht
habe, sagte sie: »Es war die Hölle. Mir gingen die Marlboro Lights
aus, und meine Prada-Tasche hatte ich unten im Wohnzimmer auf dem
Fußboden stehen lassen. Sie ist vom Hochwasser total ruiniert.«
Dann erklärte sie Ms Snoddy noch, sie werde bei Mr Prescott – dem
Hochwasser-Obermufti – darauf drängen, zusätzliche finanzielle
Mittel für Schutzmaßnahmen gegen Hochwasser in der Region
Severn-Trent bereitzustellen. »Es wird höchste Zeit, dass unsere
Flüsse mit Beton ausgegossen werden«, sagte sie. »Es wäre zwar
wahnsinnig schade, wenn das Schilf und das ganze Tierzeug und so
verlorengingen, aber wir leben jetzt in einem neuen Zeitalter und
können uns nicht leisten, sentimental gegenüber der Natur zu
sein.«
Sie führte aus, dass diverse Einzelhandelsketten
sich am Betonufer des Severn ansiedeln könnten: »Starbucks würde
den Cappuccino in unsere vernachlässigten ländlichen Gebiete
bringen«, erklärte sie.
Pandora hat die freie Natur schon immer gehasst;
auf unseren Schulwanderungen trug sie regelmäßig eine dunkle
Sonnenbrille und verkündete: »Das ganze Grün macht mich
to-tal krank.« Ihr Lock Keeper’s Cottage war im New Yorker
Stil möbliert. Die Jalousien waren stets geschlossen. Um genau zu
sein, waren sie an den Fensterbrettern festgenagelt.
Ich hoffe ganz ehrlich, dass Pandora ihr Ziel
nicht erreicht, der erste weibliche Labour-Premier zu werden. In
vielen privaten Gesprächen vertraute sie mir an, dass sie liebend
gern die Sumpflandschaften zugepflastert, Dartmoor mit
Kunstrasen überzogen und den Lake District mit Rolltreppen
ausgestattet sähe, um Behinderten den Zugang zu erleichtern. Meine
Mutter behauptet, Pandora habe das scherzhaft gemeint, aber ich bin
davon überzeugt, dass ihre Geringschätzung der englischen
Landschaft echt ist.
Mittwoch, 1. November
Mein Literaturagent Brick Eagleburger (dem es
bisher nicht gelungen ist, auch nur einen meiner Romane,
Fernsehserien, Hörspiele oder epischen Gedichte zu verkaufen)
kontaktierte mich heute nach einer Pause von zwei Jahren.
Irgendjemand in Wolverhampton – ein gewisser Jim Smith – möchte
gern Die rastlose Kaulquappe, mein 592-seitiges Prosagedicht
über die Reise einer Kaulquappe von den Anfangstagen des
Froschlaichtums bis zum Moment ihres Sterbens im
Froschgreisenalter, veröffentlichen. Das Werk zeichnet den
Lebensweg des Geschöpfs nach und zieht Parallelen zu Ereignissen
meines eigenen Werdegangs, wobei ich meine Scheidung weggelassen
habe, weil ich in keinem Amphibienhandbuch Informationen darüber
finden konnte, ob Frösche eine Form von Scheidung kennen oder ob
sie ihrem Partner ein Leben lang treu bleiben.
Glenn hat mich gerade unterrichtet, dass »Frösche
Tag und Nacht poppen, Dad, und zwar alles, was ihnen vor die Nase
kommt«.
Brick Eagleburger berichtete, Jim Smith habe ein
Fax geschickt, in dem es heißt: »Die rastlose Kaulquappe ist
ein lyrischer Abgesang auf die vergangene Pracht der englischen
Natur. Ich war zu Tränen gerührt vom gewaltsamen Tod des Froschs
unter den Rädern eines deutschen Schwerlasters.«
Brick ergänzte: »Der Bursche wird zwar null Komma
nothing dafür zahlen, aber die Publicity ist auf jeden Fall
super.« Ich fragte nach dem Namen von Jim Smiths Publikation und
erfuhr, dass es sich um das wöchentlich erscheinende Magazin
Frösche handelt.
Es berührte mich zutiefst, dass diese Tiere so
vielen Menschen derart am Herzen liegen, dass sie extra ein
Anmeldeformular für das Abo ausfüllen und neun Pfund pro Jahr
blechen. Ich persönlich kann die widerlichen, schleimigen Dinger
nicht ausstehen.
Sonntag, 12. November
Volkstrauertag
Ich war heute der Einzige an der BP-Tankstelle,
der die zwei Schweigeminuten einhielt.
Montag, 13. November
Brick Eagleburger ist völlig außer sich vor
Aufregung. Er ist fest überzeugt, dass seine Briefwahlstimme für
Florida Al Gore die Präsidentschaft sichern wird. Er könnte sogar
Recht behalten. Wenn Gore mit einer Stimme Vorsprung gewinnt, will
Brick sich das als persönliches Verdienst anrechnen. Er hat bereits
eine ganzseitige Anzeige in der Fachzeitung The Stage
gebucht. Darin heißt es:
Brick Eagleburger, Theateragent, ist spezialisiert
auf Wetteransagerinnen, Prominentenköche und Tierdarsteller,
einschließlich des weltberühmten Seehundes Billy. Mr Eagleburgers
Briefwahl entschied
über das Ergebnis der amerikanischen Präsidentenwahl. Neue
Künstler immer willkommen. 25 % Provision. Steuer- und
Anlageberatung inklusive.
Ich rief Brick an und fragte ihn, wann er und ich
uns treffen könnten, um meine weitere Schriftstellerkarriere zu
besprechen. Mit meinen 33 Jahren komme ich für den Nachwuchspreis
Young British Writers’ Award schon nicht mehr infrage. Warum lobt
niemand einen Wettbewerb für Junggebliebene aus? Das sind doch
reine Vorurteile. Nur weil uns schon langsam die Haare ausfallen
und wir an gelegentlichen sexuellen Funktionsstörungen leiden,
heißt das ja noch nicht, dass unsere literarischen Fähigkeiten
abgenutzt sind. Brick teilte mir in seinem grauenhaften Slang mit:
»Momentan bin ich total dicht, absolut no time slot frei,
Adrian.« Er meinte, es gäbe Ärger mit Seehund Billy, der seit
seiner Arbeit in einem Dubliner Zirkus, wo er unter den üblen
Einfluss Declan Tourettes und seines ewig fluchenden Hundes geraten
war, ein ernsthaftes Kokain-Problem habe. Innerhalb von sieben
Tagen sniefte Billy beträchtliche Mengen des bösen weißen Pulvers.
Nach zwei Wochen war er wegen seines Nachschubs komplett auf
Tourette angewiesen. Binnen drei Wochen war Billys Karriere
praktisch am Ende, seine Nasenscheidewand nachhaltig geschädigt,
und er konnte keinen Ball mehr mit der Schnauze werfen oder
fangen.
Glücklicherweise fing Brick ihn noch rechtzeitig
auf und verfrachtete ihn in eine geheime Tierentzugsklinik in
Milton Keynes. Dort befreite sich Billy, zusammen mit anderen
versehrten Tieren, von seiner teuren Sucht und wurde wieder
clean.
Dienstag, 14. November
Mein Leben ist unfassbar langweilig, aber der
heutige Tag war wirklich die Krönung: Es ist absolut nichts
passiert. Ich bin aufgestanden. Habe Rührei gemacht. Es war weder
gut noch schlecht, sondern irgendwas dazwischen. Dann lief ich zum
Zeitungsladen, wo ich gerade noch mit ansehen konnte, wie ein Mann
mit Bart (ein Fremder) den letzten Guardian kaufte. An
seinem Akzent merkte ich sofort, dass er nicht von hier war. Ich
finde es skandalös, dass Menschen einfach so irgendwelche Waren
kaufen dürfen, ganz gleich, wo sie wohnen, und damit die
Einheimischen lebensnotwendiger Güter berauben. Etwas in der Art
sagte ich auch zu meiner Mutter. Sie entgegnete: »Willst du damit
allen Ernstes andeuten, dass man den Leuten verbieten sollte, von
einer Gegend in die andere zu fahren? Plädierst du hier für eine
Art Postleitzahlen-Apartheid?«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
Die Wahrheit war, dass ich – wieder einmal – in völlig
unangemessener Weise auf einen geringfügigen Rückschlag reagiert
hatte. Schon mehrere Leute haben mir gegenüber erwähnt, dass ich
einen Therapeuten aufsuchen sollte. Allerdings beträgt die
Wartezeit für einen Therapeuten des staatlichen Gesundheitswesens
zwei Jahre, und es würde mir das Herz brechen, 25 £ pro Sitzung
hinzublättern, nur um herauszufinden, dass mit meiner
Persönlichkeit und meiner Gefühlswelt alles in bester Ordnung
ist.
Mittwoch, 15. November
Komme gerade aus der Praxis eines Jungianers
namens Dave Mutter. Ich saß auf seinem pinkfarbenen Velourssofa und
heulte 55 Minuten lang über den Yorkshire Pudding meiner Oma.
Donnerstag, 16. November
Habe Dave telefonisch dringend um einen Termin
gebeten. Ich kann heute Nachmittag vorbeikommen.
17:30 Uhr
Ich habe Dave von meinem wiederkehrenden Traum
erzählt – dass Gordon Brown mich nachts besuchen kommt und mich
anfleht, ihm mit der Wirtschaft zu helfen. Dave ist mein einziger
Freund.
Gott, liebes Tagebuch, es könnte sein, dass ich ein
bisschen in ihn verliebt bin!
Samstag, 18. November
Arthur Askey Way
Liebes Tagebuch, ich muss dir ein schreckliches
Geheimnis anvertrauen: Ich bin wahnsinnig in meinen Therapeuten
Dave Mutter verliebt. Nicht sexuell. Absolut nicht sexuell. In
keinster Weise sexuell. Dave ist kein sonderlich attraktiver Mann:
Stell dir Yul Brynner mit Schilddrüsenüberfunktion, grauem
Pferdeschwanz und hoher Stimme vor. Du wirst mir wohl zustimmen,
dass er nicht gerade homoerotische
Fantasien hervorruft. Meine Liebe zu Dave ist rein und streng
platonisch. Bei Tag erfüllt er meine Gedanken. Ich lebe nur für
meinen nächsten Termin bei ihm. Ich sehne mich danach, es jemandem
zu erzählen. Ich muss seinen Namen laut aussprechen – aber wem kann
ich mein Geheimnis anvertrauen? Vielleicht sollte ich zu einem
anderen Therapeuten gehen und es ihm/ihr beichten.
Montag, 20. November
Eddie’s Tea Bar, Zementwerk,
Leicestershire
Folgendes Gedicht dachte ich mir heute nach
Feierabend beim Putzen der Fritteuse aus. Das ist eine schlimme,
schlimme Arbeit, aber Eddie hat mich mit 25 £ bestochen, womit ich
mir eine extra Sitzung bei Dave leisten kann.
GEDICHT FÜR DAVE
Dave Mutter, Dave Mutter,
bei ihm fühl ich mich geborgen.
Meine Leidenschaft für ihn aber
bereitet mir Sorgen.
55 Minuten lang
etwa alle drei Tage
sitze ich auf seinem Sofa
in Seelenqual und klage
von Kummer und Sehnsucht
und der Entfremdungssituation
von Familie, von Freunden
und dem Rest der Nation.
bei ihm fühl ich mich geborgen.
Meine Leidenschaft für ihn aber
bereitet mir Sorgen.
55 Minuten lang
etwa alle drei Tage
sitze ich auf seinem Sofa
in Seelenqual und klage
von Kummer und Sehnsucht
und der Entfremdungssituation
von Familie, von Freunden
und dem Rest der Nation.
Dienstag, 21. November
Brick Eagleburger hat mein episches Gedicht Die
rastlose Kaulquappe an einen gewissen Geoffrey Perkins im BBC
TV Centre gesandt. Ich fragte Brick, für welchen Bereich Mr Perkins
zuständig sei. Brick erwiderte: »Der Typ ist der Chef der gesamten
bescheuerten Unterhaltungssparte.« Wütend wies ich darauf hin, dass
Die rastlose Kaulquappe ein ganz und gar ernsthaftes
dramatisches Werk in der Tradition der altnordischen Saga
sei.
Brick sagte: »Jetzt hören Sie mal gut zu, Adrian,
ich habe das bescheuerte Manuskript von Ihrer Kaulquappe
überflogen, und ich muss Ihnen sagen, ich hab mir fast in die Hose
gepisst vor Lachen, so komisch ist das.« Dann ergänzte er noch:
»Meine Lieblingsszene ist die, wo die Kaulquappe im Gartenteich von
Marilyn Monroe liegt und hört, wie Arthur Miller irgendwelchen Müll
über Tolstoi verzapft.«
Ich wusste schon immer, dass Brick Eagleburger ein
Banause ist; jetzt aber stellt er mich und meine Arbeit noch dazu
in einem völlig falschen Licht dar.
Mittwoch, 22. November
Bei meiner heutigen Sitzung fragte ich meinen
geliebten Dave, ob es normal sei, vor dem Überqueren der Straße das
Vaterunser aufzusagen. Er zog ganz leicht die Augenbraue hoch und
nestelte an seinem Pferdeschwanz, bevor er hintergründig
antwortete: »Was heißt schon normal?«
Was hat das zu bedeuten? Dave ist mir
offensichtlich intellektuell überlegen. Ich bin nicht würdig, sein
Patient zu sein.
Donnerstag, 23. November
Ich habe mir einen zusätzlichen Therapeuten
gesucht. So kann ich zweimal pro Woche 55 Minuten lang
ununterbrochen über Dave sprechen. Meine neue Vertraute heißt
Anjelica House. Sie ist mittleren Alters, an mehr kann ich mich
nicht mehr erinnern. Morgen nach der Arbeit gehe ich zu ihr.
Freitag, 24. November
Anjelica hat mir erklärt, dass meine Liebe zu Dave
Mutter nichts anderes ist als das, was in der Psychobranche
»Übertragung« genannt wird. Sie ist eine wunderbar energische Frau,
und es könnte sein, dass ich ein bisschen in sie verliebt
bin.
Geoffrey Perkins ist hin und weg von Die
rastlose Kaulquappe. Er will Dawn French für die
Titelrolle.
Montag, 27. November
Arthur Askey Way
Heute ist erst der erste Tag des Ramadan, und
trotzdem hat Mohammed von der BP-Tankstelle jetzt schon schlechte
Laune wegen der Fastengebote, die ihm seine Religion auferlegt. An
einem normalen Arbeitstag isst er drei Tüten Käse-Zwiebel-Chips und
ein oder zwei KitKats. Ich merkte an, dass ihm zwanzig Kilo weniger
durchaus nicht schaden könnten. Zu meinem Erstaunen verfiel er in
einen wütenden Angriff auf meinen Charakter und mein
Erscheinungsbild
und endete mit den Worten: »Schau lieber mal selbst in den
Spiegel, Moley. Aus deiner Nase wachsen genug Haare, um einen
Einkaufskorb für eine Maus zu flechten. Und du siehst aus wie im
fünften Monat.«
Sofort entschuldigte ich mich für meine
Unhöflichkeit. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass meine
Therapeuten Dave Mutter und Anjelica House mich ermunterten, im
sozialen Umgang möglichst aufrichtig zu sein. Das schien seinen
Zorn noch zu verschärfen, aber Gott sei Dank wurde er von einer
zänkischen Autofahrerin, die sich über mangelndes Toilettenpapier
im Damenklo beschwerte, davon abgelenkt, mir noch weiter die
Meinung zu geigen.
Auf dem Heimweg grübelte ich über unser Gespräch
nach. Woher stammte Mohammeds Bild meiner zu einem
Mäuseeinkaufskorb verflochtenen Nasenhaare? Und was hatte seine
Bemerkung zu bedeuten, ich sähe aus wie im fünften Monat?
Dienstag, 28. November
Heute Morgen zog ich mich aus und musterte mich
eingehend im Kleiderschrankspiegel. Meine Vorderansicht ist ganz
annehmbar. Die Schultern hängen etwas, und meine Brustmuskeln sind
vielleicht nicht allzu ausgeprägt, aber im Prinzip liege ich
aussehenstechnisch immer noch über dem Durchschnitt. Mein Profil
lässt allerdings so einiges zu wünschen übrig, und ja, Mohammed,
mein alter Schulfreund, du hast die Wahrheit gesprochen: Im Profil
sehe ich aus wie im fünften Monat schwanger. Mein Bauch, einst
sanft konkav, ist inzwischen unübersehbar konvex.
Wie konnte das passieren, ohne dass ich etwas bemerkt habe?
Zu meinem Schrecken habe ich entdeckt, dass mein
Sohn Glenn ein – wie er es nennt – »Topsecret-Tagebuch« führt.
Zusätzlich hat er noch mit Stacheldraht umschnörkelt auf den
Umschlag geschrieben: »Öffnen auf aigene Gefar«. Ich war stark
versucht, herauszufinden, was der Junge über mich geschrieben
hatte. Hätte ich eine Möglichkeit gesehen, unbemerkt das Schloss
aufzubrechen, dann hätte ich es möglicherweise in Erfahrung
gebracht.
Mittwoch, 29. November
Kann mir jemand erklären, warum wir Engländer
unser Rindfleisch nach Frankreich exportieren, und die Franzosen
ihr Rindfleisch nach England? Ich habe diese Frage schon vielen
Leuten gestellt, aber niemand konnte mir eine befriedigende Antwort
geben. Heute hatte ich eine Sitzung mit Dave Mutter nach der
Arbeit. Ich erzählte ihm von Mohammeds Bemerkung über den
Mäuseeinkaufskorb. Dave sagte, er finde Mohammeds Metaphorik
»extrem verstörend«. Er war der Ansicht, Mohammed solle sich
professionelle psychiatrische Hilfe suchen.
Erfreulicherweise kann ich berichten, dass meine
Fixierung auf Dave Mutter vorbei ist. Er ist einfach nur ein
langweiliger, nicht mehr junger Mann mit einer Minnie-Maus-Stimme
und einem altmodischen Pferdeschwanz. Anjelica House hingegen,
meine Zweite-Meinung-Therapeutin, ist eine wahrlich prachtvolle
Frau. Warum wusste ich früher nie die Reize älterer Frauen zu
schätzen? Wieso habe ich
nie die Schönheit ihrer Krähenfüße bemerkt oder den köstlichen
Anblick ihrer schlaff herunterhängenden Oberarme, wenn sie ein
Kissen aufschütteln?
Mitternacht
Pandora rief gerade an, um sich zu erkundigen, ob
mein Vater schon von seiner Krankenhausinfektion genesen ist. Ich
erzählte ihr, dass er immer noch unter Quarantäne stehe. Sie war
entzückt: An seinem Beispiel möchte sie ein Argument gegen das
Outsourcing von Krankenhauspersonal veranschaulichen. Bevor sie
auflegte, deutete sie noch an, dass der Streit zwischen John
Prescott und der französischen Umweltministerin Dominique Voynet in
Wahrheit eher eine Neckerei unter Verliebten sei! Das heißt also,
dass diese beiden ihrer Lust frönten, während die Welt auf ihrer
Achse schwärte? Wenn das stimmt, dann sollten wir, die Bevölkerung
dieser Welt, es erfahren.
Donnerstag, 30. November
Arthur Askey Way
Meine Mutter hat sich als freiwillige Helferin bei
Earth Watch angemeldet. Sie hofft, Zugvögel bei ihrem Flug über
einen See in Kenia zählen zu dürfen. Offen gestanden bin ich
entsetzt. Meine Mutter missbraucht ein löbliches Naturschutzprojekt
für ihre Zwecke. Ich weiß mit Sicherheit, dass sie noch nie das
geringste Interesse an Vögeln, Kenia oder Zählen gezeigt hat. Ganz
offensichtlich hofft sie nur auf einen kostenlosen Urlaub. Man
sollte Earth Watch warnen: Sie kann noch nicht mal richtig zählen.
Die Statistiken für kenianische Zugvögel könnten auf Jahre hinaus
hoffnungslos durcheinandergeraten. Das wiederum könnte unter
Ornithologen zu Stress und Traumata sowie einem möglichen
vorzeitigen Tod führen.
Ich vertraute Glenn meine Besorgnis über die Waisen
der kenianischen Ornithologen an. Er zog die Stirn in Falten:
»Warum machst du dir Gedanken über was, wo noch gar nicht passiert
ist, Dad?« Darauf hatte ich keine vernünftige Antwort parat. Später
stellte mir meine Therapeutin Anjelica House dieselbe Frage.
Vielleicht sollte ich ihr 25-£-Honorar Glenn geben. Wenigstens
bliebe das Geld dann in der Familie, und außerdem müsste ich nicht
extra zu Mrs House fahren, wodurch ich das damit verbundene
Parkplatzproblem und die Peinlichkeit, Mr House unten im Gästeklo
urinieren zu hören, vermeiden könnte.
Freitag, 1. Dezember
Heute Morgen rief ich meine Mutter an und erfuhr
zu meinem Erstaunen und meiner Empörung, dass sie in Paris ist!
Iwan Braithwaite erzählte mir, dass sie in dem Hotel wohnt, in dem
Oscar Wilde diese Woche vor 100 Jahren starb. Wie kann sie es
wagen, mit dem Eurostar durch die Gegend zu gondeln, wenn überall
Menschen verhungern? Das ist doch widerwärtig. Vor allem, wo ich
doch der Wilde-Experte bin. Kaum jemand, der damals dabei war, wird
je meine Darstellung der Lady Bracknell in der mit vertauschten
Geschlechtern inszenierten Aufführung von Ernst Sein ist
alles an der Neil-Armstrong-Gesamtschule im Jahre 1982
vergessen.
Brick Eagleburger hat seinen Anwalt Peter Elf
gebeten, Zivilklage gegen die amerikanische Regierung einzureichen.
Brick ist inzwischen überzeugt davon, dass das Briefgeheimnis bei
seinen Wahlunterlagen verletzt wurde. Wie ich hörte, reagierte Mr
Elf zunächst zögerlich darauf, gegen die Vereinigten Staaten
anzutreten, da er normalerweise eher kleinere
Eigentumsübertragungen in der Region Hampton Wick abwickelt.
Samstag, 2. Dezember
Ich habe meine Stellung in Eddie’s Tea Bar
gekündigt. Die Arbeit war nicht befriedigend, und ich konnte mich
nie so recht mit dem ständigen Geruch nach ranzigem Fett in meinen
Kleidern anfreunden. Eddie nahm meine Kündigung mit Gleichmut auf:
»Ich wusste sofort, dass du nicht für die Gastronomie geschaffen
bist. Du hast nicht die Handgelenke dafür.« Ich wollte wissen, in
welcher Hinsicht meine Handgelenke unzulänglich seien. »Die müssen
beweglich sein, für das Buttern und das Braten, und deine
Handgelenke sind ungefähr so beweglich wie ein Klumpen
Kohle.«
Ich schilderte Glenn dieses Gespräch, während wir
Hummermedaillons zum Abendessen zubereiteten. Er fragte: »Was ist
ein Klumpen Kohle?« Ich antwortete: »Das war ein Stück schwarzes,
glänzendes Gestein, das wir früher angezündet und in Kaminen
verbrannt haben.«
Er lachte lang und schallend. Der Junge glaubt,
dass es schon immer Zentralheizung gab. Wahrscheinlich denkt er
auch, dass Jesus einen Radiator in seiner Krippe hatte.
Sonntag, 3. Dezember
Der Mob hier aus der Siedlung hat sich zu einem
Chor formiert, zieht von Tür zu Tür und verlangt Geld für ein paar
schiefe Töne des alten Slade-Songs »Merry Christmas Everybody«.
Jenen von uns, die sich weigern, einige Silbermünzen auszuhändigen,
wird damit gedroht, dass unsere Mülltonnen ans Ende der Straße
geschoben und möglicherweise sogar umgeworfen werden. Ich rief Lee
Bush, unseren Gemeindepolizisten, an, erreichte aber nur seine
Mailbox.
Montag, 4. Dezember
William ist auserkoren worden, den dritten Schäfer
im Krippenspiel der Schule zu mimen. Heute Abend fuhr ich zu
Habitat und kaufte ihm ein neues Geschirrtuch für seinen Kopfputz.
Nur das Beste ist gut genug für meinen Sohn.
Mittwoch, 6. Dezember
Arthur Askey Way
William glaubt immer noch an den Weihnachtsmann,
und er quengelte so lange, bis ich gestern Abend mit ihm zu
Debenhams fuhr, um zuzusehen, wie Santa sich seitlich am Gebäude
abseilte, bevor er feierlich seinen Posten im dritten Stock des
Kaufhauses bezog. Wir standen ganz vorn in der Menge, und als der
Weihnachtsmann mit schiefem Bart und durch die Abseilgurte
verrutschtem rotem Kostüm auf dem Boden landete, rief William ihm
zu: »Hallo, krieg ich
eine PlayStation 2 zu Weihnachten?« Der Weihnachtsmann entgegnete:
»Aber klar doch, mein Junge.«
Ich hätte den alten Trottel umbringen können. Wie
soll ich denn das Geld für eine PlayStation auftreiben? Die kosten
200 £. Und abgesehen davon gibt es im ganzen Land keine. Soll ich
William die Wahrheit sagen und ihn darüber aufklären, dass der sich
abseilende Weihnachtsmann in Wirklichkeit ein ergrautes Mitglied
der Rockettes, des Klettervereins von Leicestershire, ist (ein
Mensch, der nicht befugt ist, Versprechungen über
Weihnachtsgeschenke zu machen), oder soll ich bis zur Bescherung am
25. Dezember warten, um die Enttäuschung auf dem Kindergesicht zu
sehen?
Meine Großfamilie ist völlig aus dem Häuschen
wegen der Feiertage. Niemand weiß, wo er den ersten und zweiten
Feiertag und Silvester verbringen soll. Nur eins ist sicher: Ich
werde in diesem Haus keine Gäste bewirten. Ich kann mir nicht mal
den Barbie-Adventskalender leisten, an den William sein Herz
gehängt hat. Ich fragte Mohammed von der Tankstelle, ob ich einen
zum halben Preis kaufen könne, da der halbe Monat doch immerhin
schon vorbei sei. Aber er lehnte ab! Geht es noch gemeiner? Er
sagte, er könne den Barbie-Advent für nächstes Jahr aufheben und
dann wieder den vollen Preis dafür bekommen. So viel zum Thema Fest
der Liebe.
Donnerstag, 7. Dezember
Tania Braithwaite sprach widerstrebend eine
Einladung aus, das Weihnachtsfest am ersten Feiertag bei ihr in The
Lawns zu verbringen. Wir warteten nebeneinander in der Schlange im
Supermarkt, und sie sagte: »Dann kommt eben vorbei, wenn ihr nicht
wisst, wohin ihr sonst sollt.« Ein rascher Blick auf ihre Einkäufe
erinnerte mich an ihre truthahnlose, schokoladenlose Einstellung zu
den Festivitäten. Sojaprodukte überwogen im Einkaufswagen, außerdem
lagen darin ein Dutzend Flaschen Holunderblütensirup. Kein Wunder,
dass mein Vater sich weigert, zu genesen und seine
Krankenhausinfektion abzuschütteln. Er hat vor, Weihnachten mit
Tracy Lintel, seiner Quarantäneschwester, zu verbringen. Die für
die Festlichkeiten erforderlichen Ballons, Knallbonbons und
Luftschlangen liegen wahrscheinlich in ebendiesem Moment im
Sterilisator des Krankenhauses.
Freitag, 8. Dezember
Pamela Pigg rief heute an. Sie sagte: »Ich kriege
dich einfach nicht aus dem Kopf, Aidy.« Glenn hörte das mit (ihre
Stimme ist ziemlich schrill) und sagte düster: »Du musst verrückt
sein, wenn du mit der noch mal was anfängst, Dad.«
Pamela hat einen neuen Job, sie arbeitet jetzt mit
Landstreichern, wobei sie selbst diese Leute alleinstehende
Obdachlose nennt. Sie erzählte mir, dass es im Nachtasyl mehrere
freie Stellen gäbe. Außerdem ergänzte sie noch, dass ich ihrer
Meinung nach alle Eigenschaften besäße, die man
braucht, um mit diesen bedauernswerten Menschen zu arbeiten.
»Stimmt, du hast keinen Geruchssinn«, sagte Glenn.
Er spielt darauf an, dass ich kürzlich eine fünf Wochen alte
Packung Krabben, die ich aus Versehen im Auto neben der Heizung
vergessen hatte, nicht bemerkt hatte. Die übrigen Insassen mussten
zu meiner allergrößten Verblüffung würgen, während ich seelenruhig
am Steuer saß. Vielleicht sollte ich zur Uniklinik nach Leicester
fahren und einen Nasenfunktionstest machen lassen.
Samstag, 9. Dezember
Meine Mutter hat die Fassade ihres Hauses mit
einem lebensgroßen Lichterketten-Abbild des Weihnachtsmanns mit
seinem Schlitten verkleidet. Es ist unfassbar geschmacklos. Ihr
Vorgarten wird von Posh, Becks und Baby Brooklyn Beckham in Form
von Pappfiguren beherrscht. Jede Figur trägt einen aus einem
Drahtbügel und Lametta gebastelten Heiligenschein über dem Kopf.
»Das ist die Heilige Familie des Jahrs 2000«, erklärte meine
Mutter. Allerdings prophezeie ich, dass sie die Menschenmengen, die
sich jeden Abend vor ihrem Zaun versammeln, schon bald satthaben
wird. Brooklyns Krippe wurde bereits gestohlen.
Montag, 11. Dezember
Brick Eagleburger verklagt Peter Elf, seinen
Anwalt, weil der seine Rechte als amerikanischer Briefwähler nicht
geschützt habe. Elf weigerte sich, Bricks Vertretung zu übernehmen,
da er laut eigener Aussage »nicht mehr so ganz sattelfest« in den
Feinheiten des US-amerikanischen Verfassungsrechts ist.
Dienstag, 12. Dezember
Arthur Askey Way
Immer noch strömen Menschenmassen herbei, um das
Beckham-Tableau im Vorgarten meiner Mutter zu begaffen. Ermutigt
durch die Aufmerksamkeit hat sie noch die Heiligen Drei Könige samt
Geschenken hinzugefügt. Der erste König
(Tom Hanks) hat eine Prada-Einkaufstüte am
Pappzeigefinger hängen. Der zweite (Danny DeVito) reicht Baby
Brooklyn ein Sweatshirt von Gap dar. Der dritte König (Sylvester
Stallone) hält eine Flasche Calvin-Klein-Aftershave in der
Hand.
Ich fragte sie, woher sie die lebensgroßen
Pappfiguren habe, worauf sie erwiderte, sie kenne jemanden aus der
Filmbranche. Ich sehe eine Katastrophe auf uns zukommen. Die
Nachbarn sind stinksauer, weil sie ihre eigenen Autos nicht mehr
vor ihren eigenen Häusern parken können. Die Polizei war schon
zweimal da und hat meine Mutter gewarnt, man könne sie wegen
öffentlicher Ruhestörung anzeigen. Unter Berufung auf seine
angegriffenen Nerven ist Iwan Braithwaite, der derzeitige Ehemann
meiner Mutter, wieder zu seiner Exfrau Tania nach The Lawns
gezogen.
Meine Mutter, Iwan und Tania behaupten alle, dass
dies lediglich ein vorübergehendes und platonisches Arrangement
sei. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Als ich Iwan mit seiner
kleinen Reisetasche und seinem Laptop mit dem Auto vom Wisteria
Walk abholte, entspannte er sich sichtlich. Und als er in den
geräumigen, mit weißem Teppich ausgelegten Flur von The Lawns trat,
hatte er Tränen in den Augen.
Tania begrüßte ihn mit einem Glas
Holunderblütensirup und einem selbstgebackenen Mince Pie. Für
sanfte Hintergrundmusik sorgte eine CD von Charlotte Church. Es war
schwer zu sagen, was am süßlichsten war: der Holunderblütensirup,
das Gebäck oder das Geträller von Miss Church. Ich war froh, wieder
wegzukommen. Als ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich Iwan
sagen: »Es war die absolute Hölle, Tania.« Zu meiner Beunruhigung
gab sie zurück: »Jetzt bist du ja zu Hause, Iwan.«
Mittwoch, 13. Dezember
Mein armer Vater weiß noch gar nichts von der
neuen Wohnsituation in The Lawns. Seine Quarantäneschwester Tracy
Lintel nuschelte durch ihre Atemmaske: »Er darf keinem emotionalen
Trauma ausgesetzt werden, das könnte ihn umbringen.« Und ergänzte
dann noch: »Er hat gute Aussichten auf die Patienten-Auszeichnung
für den längsten Krankenhausaufenthalt.« Ich versprach ihr, ihm
nicht zu erzählen, dass seine neue Gattin wieder mit ihrem Exmann
zusammenwohnt. Und dass seine Exfrau diverse geltende Gesetze mit
Füßen tritt.
Donnerstag, 14. Dezember
Heute Abend musste ich folgenden Brief des
Weihnachtsmanns fälschen. Ich legte ihn auf Williams Kissen, bevor
er ins Bett ging.
Lieber William Mole,
ich habe dich das ganze Jahr beobachtet und war
sehr zufrieden mit deinem Verhalten. Leider muss ich dir mitteilen,
dass meine Elfen nicht genug PlayStations 2 anfertigen konnten,
daher wirst du dieses Geschenk am 25. Dezember nicht auf dem Sofa
vorfinden. Viele Grüße,
Der Weihnachtsmann, Grönland
PS: 2000 Elfen haben ihre Kündigung
erhalten.
William weinte eine halbe Stunde lang, weil der
Weihnachtsmann »Viele Grüße« geschrieben hatte und nicht »Liebe
Grüße«. Er ist ein sehr sensibler Junge.
Freitag, 15. Dezember
Das Krippenspiel fing mit fünfzehn Minuten
Verspätung an, weil eine Mutter, eine gewisse Mrs Lucy Morgan,
versucht hatte, eine Videokamera in die Schulaula zu schmuggeln.
Anfangs weigerte sie sich, die Kamera abzugeben, indem sie sich auf
das neue Informationsfreiheitsgesetz berief. Die Schulleiterin Mrs
Parvez wiederum berief sich auf die europäischen Gesetze zum Schutz
der Privatsphäre. Mehrere Guardian-Leser mischten sich in
die anschließende
Debatte ein, einige stellten sich auf Mrs Morgans Seite, andere
auf die von Mrs Parvez.
William war, offen gestanden, ein höchst
enttäuschender Hirte. Er ließ sein Schaf fallen und kickte es mit
gelangweilter Miene auf der Bühne herum. Einmal hätte das getretene
Schaf beinahe das Jesuskind (eine Action-Man-Figur in Windeln) aus
seiner Krippe geworfen.
Als wir hinterher auf William warteten, merkte
Glenn an: »Mr Blair sagt, es ist in Ordnung, wenn Eltern ihren
Kindern mal eine knallen, Dad.«
Ich wandte ein: »Ich kann William ja wohl schlecht
schlagen, weil er ein gelangweilter Hirte war, Glenn.«
Worauf er entgegnete: »Wenn er Jesus aus der Krippe
gekippt hätte, dann wäre ich auf die Bühne gesprungen und hätte ihm
selbst eine verpasst.«
Freitag, 22. Dezember
Arthur Askey Way
Schon wieder eine Abendveranstaltung! Dieses Mal
in der Neil-Armstrong-Gesamtschule, meiner Alma Mater, um Glenn in
der Aufführung des Feiertagsspiels zu sehen. Zu meiner Zeit hieß
das einfach Krippenspiel. In der Vorstellung im Jahr 1982 gab
Pandora eine geheimnisvoll faszinierende Maria. Mehrere Männer im
Publikum wurden ohnmächtig während der langwierigen Zangengeburt
des Jesuskinds.
Ich saß neben Mohammed, dessen Tochter Raki auch
zur Besetzung gehörte und eine Klebstoffschnüfflerin spielte, die
vor einer arrangierten Ehe wegläuft. Konsterniert musste ich
feststellen, dass Glenns Rolle ein obdachloser Alkoholsüchtiger
war. Die Aufführung verlief etwas chaotisch, da die Kinder keinen
Text bekommen hatten und auch nicht wussten, wo sie stehen sollten
bzw. wann sie überhaupt auftreten und wieder abgehen sollten. Das
führte zu gelegentlicher Überfüllung der Bühne und nötigte Mr
Billington, den jungen Theatergruppenleiter, laute Anweisungen zu
erteilen, die deutlich über dem grauenhaften Lärm des
Schulorchesters zu hören waren.
Roger Patience, der Rektor, saß neben der Bühne,
den Kopf in die Hände gestützt. Die Handlung spielte in einem
Nachtasyl. Eine schwangere Frau namens Marie erschien mit ihrem
»Partner« Joe und bat den zuständigen Sozialarbeiter um Zuflucht.
Maries genaue Worte waren: »Ich muss mal die Füße hochlegen, weil
ich krieg ein Kind, und außerdem sind die Bullen hinter mir her,
wegen der Windel, wo ich im Billigladen geklaut hab.«
Worauf der Sozialarbeiter/Wirt entgegnete: »Du
machst ja wohl Witze, oder? Hier ist alles voll, wir haben
Ferienzeit, da hättet ihr mal rechtzeitig buchen müssen.« An dieser
Stelle schaltete sich Joe ein: »Hey, hör bloß auf, meine Lady zu
dissen, Mann.« Dann kam Glenn auf die Bühne und zeigte eine
beunruhigend realistische Darstellung eines Menschen, der mehrere
Flaschen destillierter Flüssigkeiten konsumiert hat.
Eine Obdachlose/Engel kam auf die Bühne und
kreischte: »Ich hab grad einen hellen Stern im Westen gesehen. Der
war vorher noch nicht da. Das ist doch endkrass.« An dieser Stelle
trat Mohammeds Tochter an einer (hoffentlich leeren) Tube Uhu
schnüffelnd auf. Ich spürte, wie Mohammed unbehaglich auf seinem
Sitz herumrutschte. Danach verlor ich vorübergehend den Überblick
über das Geschehen auf der Bühne und wandte meine Aufmerksamkeit
dem Programm zu. Ich bemerkte, dass Pamela Pigg für ihre
»Unterstützung bei der Recherche über Obdachlose« gedankt
wurde.
Als ich meinen Blick das nächste Mal zur Bühne hob,
hielt Raki gerade einen improvisierten Monolog über die
Problematik, als radikale Feministin in einem fundamentalistisch
islamischen Haushalt aufzuwachsen. Mohammed murmelte: »Wenn die
glaubt, sie kriegt diese blöden Timberlands zu Weihnachten, dann
ist sie aber auf dem Holzweg.«
Ganz am Ende hielt Mr Billington eine Rede und
dankte den Kindern für ihre »begeisterte Umsetzung von
Improvisationstechniken«. Er wünschte uns allen »fröhliche
Feiertage«.
Als wir zusammen zum Parkplatz liefen, sagte
Mohammed: »Moley, warum machen die heutzutage kein normales
Krippenspiel mehr?« Ich sagte, dass man in gewissen Kreisen der
Ansicht sei, so etwas sei in einer multikulturellen Schule
unpassend.
Mohammed lachte und meinte: »Was für Kreise?
Kornkreise?«
Wir gingen auf ein Weihnachtsbier ins King’s Head.
Ich wollte eine Käserolle bestellen, erfuhr aber, dass dort
inzwischen nur noch thailändisches Essen serviert wird. Da ich
keine Lust hatte, zu meinem Getränk eine Nudelsuppe zu schlürfen,
aß ich nichts. Mit dem Ergebnis, dass ich leicht betrunken war, als
ich nach Hause kam und Pamela Pigg anrief, ob sie sich mit mir
treffen wolle. Freudig nahm sie die Einladung an: »Auf diesen
Augenblick habe ich sehnlichst gewartet.« Nach dem Auflegen
verfluchte ich die zwei Pints Radler, die ich vorher getrunken
hatte.
Montag, 25. Dezember
Erster Weihnachtsfeiertag
Unser Weihnachten ist völlig verdorben. Eine
Tragödie ist über meine Familie hereingebrochen. Gestern Abend
wurde meine Mutter unter dem Vorwurf schwerer Körperverletzung
verhaftet.
Das Beckham-Tableau in ihrem Vorgarten hatte
weiterhin große Mengen von Gaffern angelockt, woraufhin die Polizei
erschien. Eine Kaution wurde abgelehnt, weil meine Mutter bei einem
Beamten die Brennnessel gemacht hatte, als er versuchte, Brooklyns
neue Krippe abzubauen. Der betroffene Polizist muss sich einer
Traumabehandlung unterziehen und wird voraussichtlich zwei Monate
krankgeschrieben sein.