Der Brief
Anfang April erwischte ich auf MTV zufällig einen kurzen Beitrag aus Los Angeles über Robin und die Band. Robin erzählte mit knappen Worten von gerade abgeschlossenen Aufnahmen von dem neuen Album, das bald auf den Markt kommen sollte.
Er sah umwerfend gut aus, mit noch länger gewordenem Haar und strahlenden, blauen Augen, die er zur Abwechslung mal nicht hinter der Sonnenbrille versteckte. Ihn zu sehen und zu hören berührte mich sehr und ich starrte perplex und aufgeregt auf den Bildschirm. Dieser kurze Fernsehauftritt von Robin machte mir wieder bewusst, wer er eigentlich war - ein berühmter Sänger, einer von den auserwählten Schönen und Reichen, die für uns Normalsterbliche immer unerreichbar bleiben und die in den Medien nur eine Illusion von sich preisgeben, ihr wahres Ich aber bleibt sorgfältig versteckt und verborgen hinter ihrem glänzenden Image. Ich schaute dem gut gelaunten, lächelnden Robin zu, der im Interview über seine neue CD sprach und auf übliche Weise versuchte, das Interesse der potentiellen Käufer zu wecken. Dabei flirtete er ungeniert und gut kalkuliert mit der jungen Moderatorin und ließ so die Herzen seiner weiblichen Fans höher schlagen.
Aber ich sah den echten Robin, den Mann, den ich immer noch liebte und der mit mir einige kurze Tage seines wirklichen Lebens verbracht hatte. Mit diesem kostbaren Geschenk machte er mich unbeschreiblich reich, aber in diesem Augenblick fühlte ich mich verarmt, wie jemand der gerade seinen wertvollen Schatz verloren hat. Einen unersetzlichen Schatz. Einen, den man niemals zweimal geschenkt kriegt.
Nach dem Fernsehbeitrag machte ich das Gerät aus und warf einen Blick auf den Wandkalender mit den Bildern von Präraffaeliten. Scheinbar hatte die Band eine kleine Terminverzögerung, die neue CD sollte ursprünglich schon im März auf den amerikanischen Markt kommen und zwei Wochen später auch in europäischen Ländern erscheinen. Obwohl die Band bekannt dafür war, ihre Alben in Rekordzeit zu produzieren, war Robins Schätzung der notwendigen Zeit scheinbar doch etwas zu übertrieben.
Ja, so war er - wenn die Begeisterung ihn packte, fühlte er sich in der Lage, Berge zu versetzen. Oder Zukunftspläne zu schmieden, die schwindelerregend und unrealisierbar waren. Ich lächelte milde bei diesen Gedanken an Robins ansteckenden Enthusiasmus, den ich immer so mitreißend und leidenschaftlich erlebt hatte.
Die CD erwartete ich mit großer Neugier, aber ich befürchtete auch, dass die Songs meine kaum verheilten Wunden neu aufreißen würden. Trotzdem zählte ich schon die Tage bis zu dem Erscheinungsdatum und der damit verbundenen Pressekonferenz in meiner Stadt, auf der Robin persönlich erscheinen sollte.
Manchmal spielte ich mit dem verführerischen Gedanken, mich heimlich unter die Fans zu mischen, die vor dem Hotel auf Robin und die Band warten würden, um ihn noch ein letztes Mal zu sehen, aber ich schlug mir diese unkluge Idee immer schnellstens aus dem Kopf.
Einige Tage vor dem Termin klingelte der Postbote an meiner Tür und reichte mir eine große Briefsendung. Als ich den Absender sah, blieb mir fast mein Herz stehen - es war Robins Management! Mit zitternder Hand öffnete ich den gepolsterten Brief und nahm die nagelneue CD in die Hände. Dazu lag noch ein Brief mit Robins Handschrift und einige Blätter mit Songtexten. Mit flauem Gefühl im Magen ging ich wie eine Schlafwandelnde in mein Zimmer und setzte mich auf den Boden neben dem Bett. Erst las ich den Brief, geschrieben mit Robins großer, schwungvoller Handschrift.
Liebe Diana!
Endlich kann ich dir unsere neue CD zuschicken, die wahrscheinlich
mein persönlichstes Album geworden ist. Du wirst gleich hören,
welche Songs uns gewidmet sind und wie sehr mich unsere Begegnung
beeinflusst hat.
Diana, ich muss dich unbedingt sehen. Es ist etwas passiert,
was vieles ändert und ich will dir das persönlich sagen, nicht am
Telefon oder im Brief. Bitte, komm zu der Pressekonferenz
im Hotel ... am Freitag. Ich werde dich auf die Gästeliste setzen,
so dass du problemlos reingelassen wirst. Ich kann verstehen,
wenn du mich lieber meiden möchtest, aber es ist sehr wichtig!
Ich werde auf dich warten. Wenn ich dir noch etwas bedeute, wirst du
dort sein! Du wirst es nicht bereuen.
In Liebe, dein R.
P.S. Im Brief befinden sich noch zwei Texte von Songs die ich im Augenblick nicht veröffentlichen kann…Die Ballade Bittersweet Moon ist unvollendet, es fehlt mir noch die letzte Strophe…Vielleicht veröffentliche ich sie irgendwann in der Zukunft, wer weiß. Wie schon immer, ich möchte, dass du die Texte liest, weil sie dich betreffen.
Ich legte den Brief ab und atmete tief durch, völlig verwirrt, aufgeregt und aufgewühlt.
Wird das nie ein Ende haben? Warum lässt er mich nicht in Ruhe? Was will er mir so wichtiges sagen? Ich konnte nicht mehr, ich wollte ihn nicht noch mal sehen, es war doch aus zwischen uns und ich versuchte endlich von ihm weg zu kommen! Aber seine Worte schauten mich so verführerisch und vielversprechend aus dem weißen Papier an, sie flüsterten mir gerade zu: "Komm Baby, ich werde auf dich warten..." In meinem Kopf hörte ich seine Stimme, die mich hypnotisierte und willenlos machte. Was wollte er bloß von mir?
Unfähig klar zu denken, las ich erst die beiden Gedichte, die mich zutiefst berührten. Im ersten Gedicht mit dem Titel Bittersweet Moon sprach Robin über unsere zauberhafte Begegnung und über unsere erste Nacht und in dem zweiten Gedicht mit dem Titel Broken beschrieb er seine innere Zerrissenheit zwischen seinen Gefühlen für Claire und mich. Durch Tränen las ich seine erschütternden Worte, die mir verrieten, wie es ihm wirklich ging und was er fühlte, wenn er sich nicht hinter seinem chronischen Optimismus und seiner Sorglosigkeit versteckte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewusst, dass auch er unter unserer unglücklichen Beziehung litt und nicht nur ich. Diese zwei Gedichte waren viel zu intim und zu ehrlich, um sie zu veröffentlichen, da hatte er recht. Besonders das Gedicht Broken würde Claire zu sehr verletzen, wenn es auf der CD erscheinen würde. Aber ich fand es auch schade, die Texte waren viel zu schön, um unveröffentlicht zu bleiben. So gerne würde ich die Ballade Bittersweet Moon hören, ich konnte mich noch gut an den Refrain erinnern… Die Zuhörer würden sie nicht zwangsläufig als autobiographisch interpretieren, Robin hatte schon öfter Texte geschrieben, die sehr persönlich klangen, aber reine Fantasie waren. Diesmal hatte er wahrscheinlich selber Hemmungen, weil es sich um seine echten Gefühle handelte, und nicht um Fiktion. Mit einem Seufzer legte ich die Blätter ab und legte die CD auf.
Mit dem Booklet mit den Texten und Fotos in der Hand lehnte ich mich zurück auf das Bett und verbrachte die nächste Stunde wie in Trance. Einige Songtexte beschrieben unsere Begegnung, unsere Gefühle. Oder bildete ich mir das nur ein? Robin schrieb oft mehrdeutige, komplexe Texte, die nicht einfach zu interpretieren waren. Jedoch glaubte ich zwischen den Zeilen und versteckt hinter den Symbolen, die nur ich deuten konnte, unsere Liebesgeschichte erkannt zu haben. Robin verewigte sie auf seine persönliche Art und zeigte sie mir aus seinem eigenen Blickwinkel.
Ja, es war sein persönlichstes Album. Auch in den Liedern, die nichts mit uns zu tun hatten, reflektierte er seine Gedanken, seine Zweifel, seine Erkenntnisse, Enttäuschungen und Hoffnungen. Robin erlaubte mit diesem Album einen schonungslosen Einblick in seine innere Welt, wie noch nie zuvor. In dem Song, dessen Entstehung ich damals im Hotel beiwohnte, erkannte ich ohne Zweifel ein Motiv aus dem Lied O komm im Traum von Franz Liszt. Robin verwendete es als ein Zitat und kleidete es geschickt in ein neues Gewand. Die ganze Zeit liefen mir Tränen der Rührung über die Wangen, als ich der bittersüßen, melodischen Ballade zuhörte. Trotz der Eindeutigkeit des Textes war der Song für Uneingeweihte verschlüsselt.
Die leidenschaftliche Verliebtheit, Sehnsucht, Hoffnungslosigkeit und der Schmerz einer immer unglücklich werdenden Liebe waren universell und somit verriet Robin nicht ganz, wie sehr persönlich dieses Lied war. Ich aber fühlte mich dabei zutiefst berührt, geehrt, geschmeichelt, erinnert und vor allem geliebt.
Robins Ballade offenbarte mir, wie auch ihn unsere aussichtslose Situation belastete und wie schwer es für ihn gewesen war, mich verheimlichen zu müssen und nur kurze, gestohlene Augenblicke mit mir genießen zu dürfen, die immer einen bitteren Beigeschmack und Schuldgefühle hinterließen.
Spätestens bei diesem Song stand es für mich fest, dass ich zu der Pressekonferenz gehen würde, um zu hören was Robin mir noch zu sagen hatte. Gleichzeitig wünschte ich mir, von ihm endgültig Abschied zu nehmen, um zurück in mein Leben kehren zu können.
Damals am Telefon war der Abschied für mich zu irreal, es war viel mehr wie ein schlimmer Albtraum, aus dem ich nie richtig aufwachte. Von einem allerletzten Treffen mit Robin erhoffte ich mir die langersehnte Akzeptanz der Realität und damit auch meinen Seelenfrieden.
Die CD hörte ich mir immer wieder an, den ganzen Tag lang, sie begleitete mich auch noch in den Schlaf. Am nächsten Morgen kannte ich die Texte schon auswendig, ich saß am Flügel und sang die Lieder leise mit.
Nur noch ein Tag trennte mich von Robin und diesmal erwartete ich ihn mit einer erstaunlichen Ruhe. Es war kein Liebestreffen, das vor mir lag, sondern eine Konfrontation mit dem wirklichen Leben, als Abschluss einer berauschenden Episode, die Robin für mich und Tausende von Fans in dieser einmaligen CD für immer aufbewahrt hatte.
Auch ich hatte ein Abschlussgeschenk für Robin, das ich schon im Januar, noch vor unserem Schluss, vorbereitet hatte. Im Hausstudio eines befreundeten Tontechnikers nahm ich einige Stücke auf - von Liszt, Puccini, Gershwin, von der Band Heart, Robins Ballade, die ich in der ersten Nacht für ihn gesungen hatte und noch einen Song von mir, den ich inspiriert durch ihn geschrieben hatte. Ich begleitete mich selbst und die Tonqualität war ziemlich gut. Mein Bekannter brannte mir eine CD mit diesen Stücken und weil Robin bei unserem letzten Treffen bedauerte, keine Aufnahmen von mir zu haben, wollte ich ihm diese CD am Valentinstag schenken. Damals ahnte ich noch nicht, dass es sich um mein Abschiedsgeschenk handeln würde, ich ergoss mein ganzes Herz in die Lieder, zuversichtlich und fest an unsere Liebe glaubend. Wird ihm diese CD jetzt noch was bedeuten? Will er überhaupt noch meine Stimme hören? Egal. Mit unsicheren Gefühlen legte ich die CD auf den Flügel, um sie nicht zu vergessen. Ich wollte sie ihm trotzdem geben und von mir aus konnte sie auch im Müll landen. Sie war für ihn bestimmt und er sollte sie auch erhalten.
Am Freitag wachte ich gut ausgeschlafen auf und ich verbrachte den Tag nur mäßig aufgeregt. Weil ich mich so sehr nach meiner inneren Ruhe sehnte, fürchtete ich mich nicht vor Robins Anblick. Den Abend wollte ich schnellstens hinter mir haben und ich befand mich in einer Art fatalistischem Zustand. Ich erwartete Erlösung und war bereit für immer und ewig mein Schicksal zu akzeptieren. Das Einzige, was ich befürchtete, war eventueller Körperkontakt mit Robin. Meinem Körper vertraute ich nicht und ich nahm mir vor, jede eventuelle Intimität zwischen uns zu vermeiden, jeden Kuss, jede Umarmung, um bloß nicht schwach zu werden. Es kam mir sehr entgegen, dass wir uns in der Menschenmenge treffen würden, wo es keine Möglichkeit gab, uns zu nahe zu kommen oder zu sehr gefühlsbetont zu reagieren.
Am Abend zog ich mich um. Bewusst wählte ich einen anderen Stil, ich wollte diesmal nicht wie ein Robin-Groupie aussehen. Schwarze, enge Jeans, schwarze Bluse und schwarze Stiefeletten mit bequemer Absatzhöhe fand ich passend für diesen Anlass. Sexy, jedoch auf unauffällige und distanzierte Weise. Meine Haare trug ich offen und diesmal glatt gebürstet. Schwarze Klamotten bildeten einen dramatischen Kontrast mit meinem winterbleichen Gesicht und roten Haaren und ich benutzte als Make-Up nur schwarzen Kajal, Wimperntusche und etwas Puder für die Nase.
Als ich mich im Spiegel betrachtete, kam ich mir vor wie eine blutleere Witwe.
Nein, so durfte ich mich Robin nicht präsentieren. Er durfte mich nicht nur als einen Schatten von der Diana erleben, in die er sich einst verliebt hatte. Mit rotem Lippenstift betonte ich meinen Mund, hauchte ein wenig Rouge auf meine hohen Wangenknochen und schon sah ich sinnlicher und lebendiger aus. Mein Gesicht strahlte wieder und begeistert über die blitzschnelle Verwandlung lackierte ich mir noch meine Fingernägel blutrot.
So gefiel ich mir viel besser und selbstbewusst verließ ich die Wohnung in meiner kurzen, schwarzen Bikerjacke.