10
Ungefähr fünf Kilometer entfernt, in der Fleet Street, drückte Barry Grover sich in den Schatten der Häuser herum und wartete darauf, daß Glen Hopkins Dienstschluß hatte. Erst als die Ablösung, Reg Linden, gut eine Viertelstunde da war, tippelte er über die Straße und betrat das Gebäude. Reg, der als Nachtwächter kaum Kontakt mit den Angestellten in der Redaktion hatte, wunderte sich schon lange nicht mehr über Barrys nächtliche Besuche, freute sich vielmehr, etwas Gesellschaft zu haben. Er nahm stets interessiert Anteil an Barrys Recherchen und war der Ansicht, das Problem des Mannes sei chronische Schlaflosigkeit. Zwischen den beiden Männern bestand eine Freundschaft jener eigenen, unkomplizierten Art, wie sie nur zwischen Menschen möglich ist, die nicht allzuviel voneinander zu wissen verlangen.
Er lächelte gutmütig. »Versuchen Sie immer noch, Ihrem toten Wermutbruder auf die Spur zu kommen?«
Barry nickte. Wäre Reg ein etwas besserer Beobachter gewesen, so wäre ihm vielleicht Barrys Erregung aufgefallen, er hätte sich vielleicht sogar darüber gewundert, daß Barrys Hosenschlitz offen war, aber es war nun mal nicht seine starke Seite, auf andere zu achten.
»Vielleicht hilft Ihnen das weiter«, sagte er und zog unter seinem Pult ein Taschenbuch hervor. »Kapitel fünf - vermißte Personen. Keine Fotos, leider, aber ein paar ganz nützliche Angaben über James Streeter. Meine Frau hat das Buch zufällig in einer Buchhandlung gesehen und dachte, Sie könnten vielleicht was damit anfangen. Sie ist an Ihren Projekten immer sehr interessiert.« Er winkte ab, als Barry ihm danken wollte, und versprach, ihm später eine Tasse Tee zu bringen.
Deacon entleerte einen weiteren Müllsack voll Wäsche in die Maschine. »Du hast doch gesagt, in der Lagerhalle wären noch Sachen von Billy«, erinnerte er Terry. »War das nur ein Trick, um mich dahin zu lotsen, oder stimmt es?«
»Es stimmt, aber wenn Sie das Zeug sehen wollen, müssen Sie was springen lassen.«
»Wo ist es?«
Terry wies mit dem Kopf zum Wohnzimmer, wo die Koffer in einer Ecke standen. »Da drin.«
»Und was soll mich daran hindern, selbst nachzusehen?«
»Das hier.« Der Junge ballte seine rechte Hand zur Faust. »Ich leg’ Sie flach, und wenn Sie zurückschlagen, hab’ ich den Beweis für’n gewaltsamen Überfall.« Er lächelte zuckersüß. »Ob ich auch noch sexuelle Nötigung dranhänge, kommt ganz auf meine Stimmung an.«
»Wieviel willst du haben?«
»Mein Kumpel hat von dem alten Knacker fünfhundert gekriegt.«
»Du spinnst ja, Terry. Der gute alte Billy kann mir gestohlen bleiben. Er langweilt mich sowieso schon.«
»Von wegen! Sie kriegen ihn gar nicht aus dem Kopf, genau wie ich auch. Vierhundert.«
»Zwanzig.«
»Hundert.«
»Fünfzig, und ich kann dir nur wünschen, daß es sich lohnt, sonst« - nun ballte Deacon die Hand zur Faust - »bekommst du die hier zu spüren. Und ich pfeif’ auf die Konsequenzen.«
»Abgemacht. Her mit den Fünfzig.« Terry öffnete seine Hand.
Deacon wies zu den Küchenschränken. »Im dritten Schrank von rechts steht eine Keksdose auf dem oberen Bord. Nimm dir fünf Zehner und laß den Rest drin.« Er sah zu, wie der Junge die Dose suchte, das Bündel Geldscheine herausnahm, das darin lag, und fünfzig Pfund abzählte.
»Mann, Sie sind echt ein komischer Kauz«, sagte Terry, als er sich wieder setzte. »Da sind doch mindestens noch zweihundert drin. Was soll mich davon abhalten, die Kohle zu klauen, jetzt, wo ich weiß, wo sie ist?«
»Nichts«, antwortete Deacon. »Außer daß sie mir gehört und du sie dir nicht verdient hast. Jedenfalls noch nicht.«
»Und was müßte ich tun, um sie zu verdienen?«
»Lesen lernen.« Er sah den zynischen Blick in Terrys Augen. »Ich bring’ es dir bei.«
»Klar, zwei Tage lang, und wenn ich’s dann immer noch nicht kann, kriegen Sie’n Wutanfall, und ich hab’ meine Zeit für nichts geopfert.«
»Warum hat Billy es dir nicht beigebracht?«
»Er hat’s ein- oder zweimal versucht«, erwiderte der Junge wegwerfend, »aber der hat so schlecht gesehen, daß er einem höchstens das beibringen konnte, was er im Kopf hatte. Das hat auch zu seinen Strafen gehört. Er hat sich einmal’ne Nadel ins Auge gestochen, und danach konnte er nie mehr länger lesen, ohne Kopfweh zu kriegen.« Er nahm sich noch eine Zigarette. »Ich sag’ doch, der war total meschugge. Der war nur glücklich, wenn er sich selbst was antun konnte.«
 
Es war ein magerer Besitz: eine abgegriffene Postkarte, einige Malkreiden, ein Silberdollar und zwei Briefe auf dünnem Papier, die in der Hand auseinanderzufallen drohten, so oft waren sie gelesen worden.
»Ist das alles, was da war?« fragte Deacon.
»Ich hab’s Ihnen doch gesagt, er wollte nichts und er hatte nichts.’n bißchen wie Sie, wenn man sich’s überlegt.«
Deacon breitete die Gegenstände auf dem Tisch aus. »Wieso hatte er die Sachen nicht bei sich, als er starb?«
Terry zuckte die Achseln. »Weil er ein paar Tage, bevor er abgehauen ist, zu mir gesagt hat, ich soll sie verbrennen. Aber ich hab’ sie aufgehoben. Hätt’ ja sein können, daß es ihm später leid getan hätte.«
»Hat er gesagt, warum er sie verbrannt haben wollte?«
»Kann ich nicht behaupten. Er hatte mal wieder einen von seinen Wahnsinnsanfällen. Er hat geschrien, alles wäre Staub, und dann hat er zu mir gesagt, ich soll den ganzen Krempel ins Feuer schmeißen.«
»Asche zu Asche und Staub zu Staub«, murmelte Deacon. Er griff nach der Karte und drehte sie herum. Auf der einen Seite war sie leer, auf der anderen zeigte sie eine Reproduktion von Leonardo da Vincis Zeichnung »Die Heilige Jungfrau und das Kind mit der heiligen Anna«. Sie war an den Kanten abgegriffen und über die glänzende Fläche des Bildes zogen sich Knicke, aber das konnte die Kraft von da Vincis Zeichnung nicht beeinträchtigen. »Wieso hatte er die?«
»Er hat sie abgezeichnet. Auf dem Pflaster. Das ist die Familie, die er immer gemalt hat.« Terry berührte kurz die Figur Johannes des Täufers als Säugling rechts im Bild. »Das Kind hier hat er weggelassen« - sein Finger glitt weiter zum Gesicht der heiligen Anna -, »und aus der Frau hat er einen Mann gemacht. Die andere Frau und das Kind auf ihrem Schoß hat er so gemalt wie sie da drauf sind. Er war echt gut. Auf Billys Bildern konnte man immer alles genau erkennen. Da ist das hier schon ziemlich schlampig im Vergleich.«
Deacon lachte. »Das ist eines der größten Meisterwerke der Welt, Terry.«
»So gut wie das von Billy ist es nicht. Ich mein’, schauen Sie sich doch mal die Beine an. Die sind ganz durcheinander. Billy hat sie schön auseinandergehalten. Er hat dem Mann braune Beine gemacht und der Frau blaue.«
Mit einem unterdrückten Auflachen senkte Deacon seinen Kopf zum Tisch hinunter. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und schneuzte sich laut, ehe er sich wieder aufrichtete. »Erinnere mich dran, daß ich dir bei Gelegenheit mal das Original zeige«, sagte er. »Es hängt in der National Gallery am Trafalgar Square, und ich bin nicht so überzeugt wie du, daß man die Beine unbedingt auseinanderhalten muß.« Er trank einen Schluck Bier. »Erklär mir doch mal, wie Billy überhaupt malen konnte, wenn er nicht gut gesehen hat.«
»Zum Zeichnen hat er genug gesehen - ich mein’, er hat fast jeden Abend auf Papierfetzen gezeichnet -, und außerdem hat er seine Pflasterbilder immer riesengroß gemacht. Nur beim Lesen hat er Kopfweh gekriegt.«
»Und wie war’s mit dem Schreiben? Er hat doch immer einen Titel unter das Bild gesetzt.«
»Ja, ganz groß, genau wie das Bild, sonst wär’s den Leuten ja nicht aufgefallen.«
»Woher weißt du, was da stand, wenn du nicht lesen kannst?«
»Billy hat mir beigebracht, wie man’s schreibt.« Er zog sich Deacons Block und Stift heran und begann sorgfältig, die Buchstaben quer über das Blatt zu zeichnen.
Gesegnet sind die Armen.
»Wenn du das kannst«, meinte Deacon sachlich, »dann kannst du in zwei Tagen lesen lernen.« Er ergriff einen der Briefe und breitete ihn vorsichtig vor sich auf dem Tisch aus.
Cadogan Square, 4. April
 
Liebster,
danke Dir für Deinen schönen Brief, aber ich
wollte, Du könntest das Hier und Jetzt genießen
und die Zukunft vergessen. Natürlich fühle ich
mich geschmeichelt, daß Du die ganze Welt wissen
lassen willst, daß Du mich liebst, aber ist das,
was wir haben, nicht um so köstlicher, weil es
ein Geheimnis ist. Du schreibst, Dein Spiegel
soll Dich nicht für alt erklären, solange die
Jugend sich von mir nicht wendet, aber Shakespeare
hat seine Geliebte nie genannt, Liebster,
weil er wußte, wie grausam die Welt sein kann.
Willst Du mich als berechnende Person angeprangert
sehen, die es darauf angelegt hat, jeden
Mann zu verführen, der ihr Sicherheit bieten
konnte? Genau das nämlich wird geschehen, wenn
Du Dich unbedingt öffentlich zu mir bekennen
möchtest. Ich liebe Dich von ganzem Herzen, aber
es wird mir das Herz brechen, wenn Du wegen des
Geredes der Leute aufhörst, mich zu lieben.
Bitte, bitte, lassen wir doch alles so, wie es
ist. In Liebe, Deine V.
Deacon entfaltete das zweite Schreiben und legte es neben das erste. Es war von derselben Hand geschrieben.
Paris
Freitag
 
Liebster,
bitte halte mich nicht für verrückt, aber ich
habe solche Angst davor zu sterben. Manchmal
habe ich Alpträume, in denen ich in schwarzen
Welten treibe, wo keines Menschen Liebe mich erreichen
kann. Was meinst Du, ist so die Hölle?
Auf ewig zu wissen, daß es die Liebe gibt, und
auf ewig dazu verdammt sein, ohne sie zu existieren?
Wenn es so ist, wird das meine Strafe
für das Glück sein, das ich mit Dir erlebe.
Immer wieder peinigt mich der Gedanke, daß es
nicht recht ist, daß ein Mensch einen anderen so
sehr liebt, daß er die Trennung von ihm nicht
ertragen kann. Bitte, bitte bleib nicht länger
fort als unbedingt nötig. Das Leben ist kein
Leben ohne Dich. V.
»Hat Billy sie dir vorgelesen, Terry?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Es sind Liebesbriefe. Sogar sehr schöne Liebesbriefe. Möchtest du sie hören?« Er legte Terrys Achselzucken als Bejahung aus und las ihm die Briefe vor. Als er fertig war, wartete er auf eine Reaktion, aber er bekam keine. »Hat er je von jemandem gesprochen, dessen Name mit einem ›V.‹ anfängt?« fragte er dann. »Sie scheint wesentlich jünger gewesen zu sein als er.«
Terry antwortete nicht gleich. »Ganz egal, wer sie ist, ich wette, sie ist tot«, sagte er. »Billy hat mal zu mir gesagt, die Hölle wäre, ewig allein gelassen zu werden und nichts dagegen tun zu können, und dann hat er angefangen zu heulen. Er hat gesagt, er müßte immer weinen, wenn er daran denkt, daß jemand so einsam ist, aber ich glaub’, in Wirklichkeit hat er wegen dieser Frau geweint. Das ist ziemlich traurig, nicht?«
»Ja«, sagte Deacon langsam, »aber ich würde gern wissen, wieso er glaubte, sie sei in der Hölle.« Er las die Briefe noch einmal durch, fand aber nichts, was Billys Gewißheit über Vs Schicksal erklärt hätte.
»Er hat geglaubt, daß er selbst in die Hölle kommt. Irgendwie, auf so’ne ganz komische Weise, hat er sich direkt drauf gefreut. Er hat gesagt, er hätte jede Strafe, die die Götter ihm aufbrummen könnten, verdient.«
»Weil er ein Mörder war?«
»Wahrscheinlich. Andauernd hat er davon geredet, daß das Leben ein heiliges Geschenk ist. Das hat Tom jedesmal auf die Palme gebracht. ›Wenn’s so verdammt heilig ist‹, hat er dann gesagt, ›wieso leben wir dann in dieser Hölle von einem Scheißhaus?‹ Und Billy hat gesagt« - er bemühte sich jetzt um eine kultiviertere Ausdrucksweise - »›ihr seid aus eigener Entscheidung hier, denn zu dem Geschenk gehört auch der freie Wille. Entscheide dich jetzt, ob du den Zorn der Götter auf deinem Haupt sammeln möchtest. Wenn die Antwort nein lautet, dann wähle einen weiseren Weg.‹«
Deacon lachte leise. »Hat er das tatsächlich so gesagt?«
»Klar. Manchmal hab’ ich’s für ihn gesagt, wenn er zu blau war, um es selbst zu sagen.« Er ahmte wieder Billys Sprechweise nach. »›Ihr seid aus eigener Entscheidung hier, denn zu dem Geschenk gehört auch der freie Wille.‹ Bla-bla-bla. Manchmal war er schon ein bißchen bescheuert, hat überhaupt nicht gemerkt, wenn er den Leuten auf den Zeiger gegangen ist. Oder wenn, dann war’s ihm scheißegal. Dann hat er sich vollaufen lassen und hat angefangen rumzuschreien, und das war noch schlimmer, weil wir nicht mal kapiert haben, über was er sich eigentlich aufregt.«
Deacon holte noch zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank und warf die leeren Dosen in den Mülleimer. »Kannst du dich erinnern, ob er mal was über Buße gesagt hat?« fragte er und blieb, an die Arbeitsplatte gelehnt, stehen.
»Oh, das hat er oft geschrien. ›Tut Buße! Tut Buße! Es ist später, als ihr glaubt.‹ Auch damals, als er sich mitten im arschkalten Winter nackt ausgezogen hat. ›Tut Buße! Tut Buße!‹ hat er dauernd gebrüllt.«
»Weißt du, was das heißt?«
»Klar. Daß man sich für was entschuldigt.«
Deacon nickte. »Warum hat Billy dann nicht seinen eigenen Rat befolgt und sich für den Mord, den er begangen hatte, entschuldigt? Dann hätte er den Himmel vor sich gesehen statt der Hölle.« Nur hatte er dem Psychiater erklärt, daß seine eigene Erlösung ihn nicht interessiere …
Terry ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen. »Ich versteh’ schon, was Sie meinen«, sagte er schließlich, »aber wissen Sie, darüber hab’ ich vorher noch nie nachgedacht. Das Schlimme bei Billy war, daß er fast immer rumgetobt hat, und man ist ganz blöd im Kopf geworden, wenn man ihm zugehört hat. Und von dem Mord hat er nur einmal was gesagt, als er über irgendwas echt ausgerastet ist.« Er kniff die Augen in konzentriertem Nachdenken zusammen. »Auf jeden Fall hat er direkt hinterher mit der Hand ins Feuer gelangt und sie einfach drin gelassen, bis wir alle ihn weggezogen haben. Wahrscheinlich hat deshalb keiner von uns daran gedacht, ihn zu fragen, warum er nicht selbst Buße tut.« Er zuckte die Achseln. »Ich denk’ mal, es ist nicht ganz einfach. Ich denk’, es war seine Schuld, daß die Frau in die Hölle gekommen ist, und darum hat er gemeint, daß er da auch hingehört. Das arme Schwein.«
Deacon erinnerte sich seines Verdachts, als er diese Geschichte das erstemal gehört und den Eindruck gehabt hatte, daß Terry von einem Zwischenfall sprach, von dem die anderen Männer in der Lagerhalle keine Ahnung hatten. Sie hatten sich der Hand im Feuer erinnert, aber nicht des Mordgeständnisses.
»Vielleicht gab es aber auch gar nichts zu büßen«, meinte er. »Ein anderer Weg zur Hölle ist, das Geschenk des Lebens, das man von den Göttern erhalten hat, zu zerstören, indem man sich selbst tötet. Jahrhundertelang wurden Selbstmörder nicht auf Friedhöfen begraben zum Zeichen dafür, daß sie sich der Gnade Gottes entzogen hatten. Ist das nicht vielleicht der Weg, den Billy gegangen ist?«
»Das haben Sie mich schon mal gefragt, und ich hab’ Ihnen gesagt, daß Billy nie versucht hat, sich umzubringen.«
»Er hat sich aber zu Tode gehungert.«
»Quatsch. Er hat nur vergessen zu essen. Das ist was ganz anderes. Die meiste Zeit war er viel zu besoffen und hat gar nicht gewußt, was er tut.«
Deacon dachte zurück. »Du hast gesagt, er hätte jemanden erdrosselt, weil die Götter es ihm so bestimmt hatten. Waren das die Worte, die er gebraucht hat?«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Versuch’s.«
»Es war jedenfalls so was Ähnliches.«
Deacon machte ein skeptisches Gesicht. »Du hast mir auch erzählt, er hätte sich die Hände verbrannt, um den Zorn der Götter abzulenken. Aber warum hätte er das tun sollen, wenn er doch in die Hölle wollte?«
»Scheiße!« sagte Terry ärgerlich. »Woher soll ich das wissen? Der Alte war ein Irrer.«
»Ja, nur deckt sich deine Definition von einem Irren nicht mit meiner«, versetzte Deacon ungeduldig. »Ist dir nie der Gedanke gekommen, daß Billy dauernd gebrüllt und getobt hat, wie du sagst, weil er mit einem Haufen Kerle zusammen war, die kein einziges Wort von dem, was er gesagt hat, verstanden haben? Es wundert mich überhaupt nicht, daß er vor lauter Verzweiflung getrunken hat.«
»Es war nicht unsere Schuld«, widersprach der Junge trotzig. »Wir haben unser Bestes für ihn getan, und es war nicht leicht, cool zu bleiben, wenn er auf uns losgegangen ist.«
»Also schön, versuchen wir’s mit dieser Frage: Du hast gesagt, kurz bevor er dir sagte, daß er ein Mörder sei, war er sehr aufgebracht über irgend etwas. Was war es?«
Terry antwortete nicht.
»War es etwas Persönliches zwischen dir und ihm?« fragte Deacon, einer plötzlichen Intuition folgend. »Ist das der Grund, weshalb die anderen nichts davon wissen?« Er wartete einen Moment. »Was ist damals passiert, Terry? Hattet ihr Streit? Vielleicht wollte er dich erdrosseln und hat dann aus Reue die Hand ins Feuer gehalten?«
»Nein, es war genau umgekehrt«, antwortete Terry niedergeschlagen. »Ich wollte ihn erdrosseln. Er hat seine Hand nur ins Feuer gehalten, damit ich immer dran denken würde, wie nah ich dran war, jemanden umzubringen.«
 
Die schreckliche Ironie seiner Situation wurde Barry im Halbdunkel des Archivs mit Macht bewußt, als er merkte, daß er nicht länger damit zufrieden war, sich die Fotografien schöner Männer anzusehen und sich Phantasien darüber hinzugeben, was sie für ihn tun könnten.
Seine Hände zitterten ein wenig, als er die Aufnahmen von Amanda Powell heraussuchte.
Er wußte alles über sie, auch wo sie wohnte und daß sie allein lebte.
 
Soweit Terry sich erinnern konnte, war es zwei Wochen nach seinem vierzehnten Geburtstag, am letzten Wochenende im Februar, zu dem Zwischenfall gekommen. Das Wetter war seit Tagen bitterkalt gewesen, und die allgemeine Stimmung in der Lagerhalle gereizt. Bei großer Kälte war alles, wie er erklärte, viel schlimmer gewesen, denn wenn sie dann nicht einmal am Tag eine der Suppenküchen aufsuchten, um etwas Warmes in den Magen zu bekommen, war ein Überleben unmöglich. Häufig sträubten sich die älteren und geistig schwerer gestörten Männer dagegen, den Kokon, in den sie sich gesponnen hatten, zu verlassen, und dann fühlten Terry und Tom sich verpflichtet, sie so lange zu drangsalieren, bis sie sich in Bewegung setzten. Aber, sagte Terry, auf die Art habe man sich leicht Feinde gemacht, und Billy sei reizbarer und jähzorniger gewesen als die meisten anderen.
»Ein Grund, warum Tom heute nachmittag nicht wollte, daß ich die Bullen hol’, war das ganze Zeug, das in der Halle versteckt ist.« Er zog einen kleinen Klumpen Alufolie aus seiner Tasche und legte ihn auf den Tisch. »Ich kiffe« - er wies mit dem Kopf auf das Klümpchen -, »und wenn ich zu’nem Rave geh’, nehm’ ich auch mal E. Aber das ist Kinderkram im Vergleich dazu, was manche von denen sich reinwerfen. Praktisch jeden Tag liegen sie da massenweise rum, zu bis obenhin mit Pillen oder anderem Stoff, und die Hälfte von den Kerlen wohnt noch nicht mal da. Die kommen nur von der Straße rein, um sich’nen Schuß zu setzen, weil’s sicherer ist. Und dann liegt natürlich auch’n Haufen geklautes Zeug rum - Alkohol, Zigaretten und so. Man muß verdammt aufpassen, daß man in dem Verhau nicht über das Versteck von jemand stolpert, sonst hat man nämlich gleich’n Messer in den Rippen, so wie Walt heute nachmittag. Manchmal ist es echt schlimm. Letzte Woche hat’s zwei Prügeleien gegeben und die Messerstecherei heute. Das macht einen mit der Zeit ganz schön fertig.«
»Hast du deshalb heute die Polizei geholt?«
»Ja. Und wegen Billy. Ich hab’ in letzter Zeit viel an ihn denken müssen.« Er kehrte zu seinem Bericht zurück. »Jedenfalls - im letzten Februar war’s nicht anders, eher noch schlimmer, weil’s kälter war als jetzt, und deshalb haben natürlich auch viel mehr bekiffte Typen rumgelegen. Wenn die auf der Straße gepennt hätten, wären sie erfroren, darum haben Tom und die anderen sie reingelassen.«
»Warum sind sie denn nicht in eines der Wohnheime gegangen? Ein Bett ist doch bestimmt besser als der Boden in der Lagerhalle.«
»Na, was glauben Sie wohl?« fragte Terry sarkastisch. »Wir reden hier von Drogies und Psychos, die nicht mal ihrem eigenen Schatten trauen.« Er rollte den silbernen Klumpen hin und her. »Tom hat sich da richtig gesundgestoßen. Einmal hat er einem sogar den Mantel abgenommen, weil der arme Hund sonst nichts anhatte. Prompt ist er in der Nacht erfroren. Und dann hat Tom ihn auf die Straße raustragen lassen - genauso wie er’s mit Walter machen wollte -, weil er vor den Bullen Schiß hatte. Und da ist Billy total ausgerastet. Er ist echt durchgedreht und hat geschrien, das müßte endlich aufhören.«
»Was hat er denn getan?« hakte Deacon nach, als der Junge nicht weitersprach.
»Das Schlimmste, was er überhaupt tun konnte. Er hat angefangen, die Flaschen von den andern zu zerschmeißen, und hat alles nach ihren Verstecken abgesucht, und dabei hat er die ganze Zeit geschrien, wir müßten das Böse ausrotten, bevor es uns verschlingt. Na ja, und da hab’ ich mir den Wahnsinnigen geschnappt und hab’ ihn in mein Zelt geschleppt und gefesselt, eh’ die andern ihn umbringen konnten. Und da hat er dann so richtig losgelegt.«
Terry nahm sich noch eine Zigarette. Seine Hand zitterte leicht, als er sie anzündete. »Sogar Sie hätten gesagt, daß er ein Irrer ist, wenn Sie ihn an dem Tag gesehen hätten. Bei dem waren sämtliche Sicherungen durchgebrannt, er hatte gezittert und geschrien.« Der Junge zog ein schiefes Gesicht. »Verstehen Sie, wenn der einmal angefangen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. Dann hat er immer weitergemacht, bis er so schlapp war, daß er aufgeben mußte. Aber diesmal hat er nicht aufgegeben. Er hat mich angespuckt und gesagt, ich wär’ das Letzte, und als ich nicht drauf gehört hab’, hat er angefangen zu schreien, ich wär”n Stricher, und jeder, der was von mir wollte, bräuchte nur ins Zelt reinkommen und sich’s holen.« Er sog nervös an seiner Zigarette. »Ich wollt’ ihn umbringen! Da hab’ ich ihn am Hals gepackt und zugedrückt.«
»Und was hat dich davon abgehalten, ihn zu töten?«
»Gar nichts. Ich hab’ gedrückt, bis ich dachte, er wär’ tot.« Er verfiel in ein langes Schweigen, das Deacon nicht störte. »Dann hab’ ich auf einmal Angst gekriegt und nicht gewußt, was ich tun soll. Da hab’ ich ihm die Fesseln runtergemacht und hab’ ihn ein bißchen rumgeschubst, weil ich sehen wollte, ob er wirklich tot ist, und plötzlich hat er die Augen aufgemacht und mir ins Gesicht gelächelt. Und da hat er mir dann von dem Kerl erzählt, den er umgebracht hat, und gesagt, daß die Menschen in ihrer Wut Sachen machen, die ihr Leben zerstören können. Danach hat er gesagt, er wollte den Göttern zeigen, daß es seine Schuld wäre und nicht meine, und ist rausgegangen und hat die Hand ins Feuer gehalten.«
Deacon wünschte, es wäre eine Frau gewesen, die sich Terrys Story angehört und ihn in den Arm genommen und getröstet hätte, die ihm gesagt hätte, daß jetzt alles gut wäre. Ihm selbst war diese natürliche Reaktion verwehrt. Er konnte nur seinen Blick von den Tränen abwenden, die in den Augen des Jungen glänzten, und prosaisch darüber sprechen, wie denn nun Terrys Kleider ohne Trockner über Nacht am besten trocknen würden.
 
Reg Linden brachte Barry den Tee und stellte den Becher auf den Schreibtisch neben das Buch, das seine Frau gekauft hatte. Es lag aufgeschlagen, mit dem Einband nach oben, und er wies auf ein Zitat auf der Rückseite. »Äußerst lesenswert. Charles Lamb, The Street.«
»Meine Frau geht immer gern nach Empfehlungen«, bemerkte er, »aber die hier finde ich doch erstaunlich kurz für Mr. Lamb. Der kriegt sich doch sonst oft gar nicht mehr ein, wenn ihm ein Buch gefällt. Wär’s möglich, daß die Worte ›äußerst lesenswert‹ das einzig Positive in der Besprechung sind, und der Verlag hier kreativ gestrafft hat?«
Ein Grund, weshalb Reg Linden Barry mochte, war, daß dieser ihm gestattete, seine faden Witzchen an den Mann zu bringen. Auch jetzt lachte Barry pflichtschuldig, als er das Buch zur Hand nahm und nach vorn blätterte. »Erstmals veröffentlicht 1994, die Besprechung wird also im letzten Jahr erschienen sein. Ich such’ sie Ihnen raus«, versprach er. »Als kleines Dankeschön für das Buch und den Tee.«
»Sie könnte interessant sein«, prophezeite Reg.
…Ein ähnlich buntes Allerlei bietet Roger Hydes Buch Ungelöste Kriminalfälle des zwanzigsten Jahrhunderts. Obwohl es äußerst lesenswert ist, enttäuscht es dennoch, da es, wie schon der Titel andeutet, allzu viele Fragen aufwirft und unbeantwortet läßt und nicht berücksichtigt, daß andere Autoren sich bereits bemüht haben, zur Klärung einiger dieser »ungelösten« Kriminalfälle beizutragen. Da sind zum Beispiel die berüchtigten Digby-Morde aus dem Jahr 1933, als Gilbert und Fanny Digby und ihre drei kleinen Kinder eines Morgens im April tot in ihren Betten aufgefunden wurden, alle mit Arsen vergiftet, ohne daß es einen Anhaltspunkt dafür gegeben hätte, von wem oder warum sie ermordet worden waren. Hyde schildert den Hintergrund des Falls detailgenau - die Geschichten Gilberts und Fannys, die Personen, die, soweit bekannt, in den Tagen vor den Morden in dem Haus ein und aus gegangen sind, den Tatort selbst -, aber er erwähnt mit keinem Wort M. G. Dunners Buch Sweet Fanny Digby (1963), in dem dargestellt wird, daß Fanny Digby, die an Depressionen litt, am Tag zuvor dabei beobachtet wurde, wie sie Fliegenpapier in einer Emailleschüssel wässerte.
Weiter ist da der Fall des Diplomaten Peter Fenton, der im Juli 1988 nach dem Selbstmord seiner Frau Verity sein Haus verließ und spurlos verschwand. Auch hier wieder erzählt Hyde die Vorgeschichte des Falles in großem Detail, weist auf das Driberg-Syndikat und die Tatsache hin, daß Fenton Zugang zu NATO-Geheimnissen hatte, versäumte es jedoch, den Artikel von Anne Cattrell zu erwähnen, der unter dem Titel Die Wahrheit über Verity Fenton in der Sunday Times vom 17. Juni 1990 erschien und darüber berichtete, was für entsetzliche Brutalitäten sich Verity von Geoffrey Standish, ihrem ersten Ehemann, gefallen lassen mußte, ehe dieser 1971 bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht passenderweise ums Leben kam. Wenn es sich hier, wie Anne Cattrell behauptet, nicht um einen Unfall handelte, und wenn Verity Peter Fenton in der Tat schon sechs Jahre vor dem Zeitpunkt, den die beiden angaben, kennenlernte, dann ist der Schlüssel zu ihrem Selbstmord und seinem Verschwinden in Geoffrey Standishs Sarg zu finden und nicht in Nathan Dribergs Gefängniszelle …
Interessehalber suchte Barry im Mikrofiche-Archiv die Sunday Times vom 17. Juni 1990 heraus. Es verschlug ihm fast den Atem, als er die En-face-Fotografie von Peter Fenton sah, die zusammen mit Anne Cattrells Feature auf dem Bildschirm erschien.
Er war absolut sicher, daß er Billy Blake vor sich hatte.
Die Wahrheit über Verity Fenton
Von Anne Cattrell
 
Selten hat jemand so effiziente Verschleierungstaktiken angewandt wie Peter Fenton, als er am 3. Juli 1988 spurlos verschwand und auf dem Ehebett in seinem Haus den Leichnam seiner Frau zurückließ. Es begann eine aufsehenerregende Mörderjagd im Stil des Lucan-Falls, bis festgestellt wurde, daß Verity Fenton Selbstmord verübt hatte. Im Verlauf hektischer Nachforschungen über Fentons Vorleben, bei denen nach Anhaltspunkten für außereheliche Affären und/ oder Verrat gesucht wurde, stellte sich heraus, daß der Verschwundene Zugang zu NATO-Geheimnissen gehabt hatte. Das Interesse konzentrierte sich daraufhin auf seine plötzliche Reise nach Washington, und rasch war man mit Mutmaßungen über Verbindungen zum Driberg-Syndikat bei der Hand.
Und welche Rolle wies man nun Verity Fentons Selbstmord in dieser ganzen Angelegenheit zu? Praktisch keine, weil alles Interesse auf Fentons unerklärliches Verschwinden gerichtet war und nicht darauf, warum sich eine »neurotische« Frau das Leben nahm. Der Coroner erkannte auf »Selbstmord im Zustand geistiger Verwirrung« und verließ sich dabei vor allem auf die Zeugenaussage ihrer Tochter, daß sie während der Abwesenheit ihres Mannes »ungewöhnlich deprimiert« gewesen sei. Nach einer plausiblen Erklärung für ihre Depression wurde jedoch nicht gesucht; man scheint angenommen zu haben, Fentons Verschwinden sei der Beweis dafür, daß die in ihrem Abschiedsbrief enthaltene Bemerkung über seine Treuebrüche zutreffend sei, und die Erschütterung über sie ausgereicht habe, um Verity Fenton in den Selbstmord zu treiben.
Zwei Jahre nach den verwirrenden Ereignissen vom Juli 1988 ist es an der Zeit, die über Peter und Verity bekannten Fakten neu zu bewerten. Vielleicht das erste, was jedem auffällt, der sich näher mit dieser Geschichte befaßt, ist der Mangel jeglicher Beweise dafür, daß Peter Fenton ein Verräter war. Es ist richtig, daß er von 1985-87 Zugang zu vertraulichen NATO-Informationen hatte, jedoch haben maßgebliche Personen innerhalb der Organisation zugegeben, daß trotz der drei voneinander unabhängigen Untersuchungen keinerlei Indizien dafür gefunden werden konnten, daß von ihm oder seinem Büro aus vertrauliche Informationen unbefugt weitergegeben wurden.
Im Gegensatz dazu gibt es eine Fülle von Informationen über seine »plötzliche« Reise nach Washington Ende Juni, bei der er offensichtlich herausfinden wollte, ob Driberg die Absicht hatte, seine Komplicen zu nennen. Alle Einzelheiten zu der Reise wurden damals von seinem direkten Vorgesetzten im Auswärtigen Amt bekanntgegeben, doch im allgemeinen Eifer, Fenton als Verräter zu überführen, wurden sie ignoriert. Tatsache ist, daß er am 6. Juni den Auftrag erhielt, vom 29. Juni bis zum 2. Juli an Gesprächen auf höherer Ebene teilzunehmen. Es ist heute schwer zu verstehen, wie unter diesen Umständen von einer »plötzlichen« Reise gesprochen werden konnte, und man fragt sich, warum er, wenn er wirklich dem Driberg-Syndikat angehörte, bis acht Wochen nach Dribergs Verhaftung wartete, um auszukundschaften, was dieser vorhatte.
Der Fall Fenton bekommt ein ganz anderes Gesicht, wenn man die Vermutung, daß Fenton ein Verräter war, einmal beiseite läßt. Die Frage, die man stellen muß, lautet dann: Was waren das für Treuebrüche, von denen Verity in ihrem Abschiedsbrief sprach? Sie hatte geschrieben: »Verzeih mir, ich kann es nicht länger ertragen, Darling. Bitte mach Dir keine Vorwürfe. Deine Treuebrüche sind nichts im Vergleich zu meinen.«
Weshalb aber hat man es so beharrlich unterlassen, sich mit Veritys Treuebrüchen zu befassen? Ganz einfach, als Ehefrau war sie von Anfang an weniger interessant als ihr Mann, der Diplomat. Hätte denn eine »neurotische« Frau einen Verrat begehen können, der es mit dem Verrat von Staatsgeheimnissen hätte aufnehmen können? Dennoch hätten die von ihr angesprochenen Treuebrüche schon 1988 unbedingt untersucht werden müssen, da sie doch behauptete, sie wären schwerwiegender gewesen als die ihres Mannes, der immerhin als Spion gebrandmarkt wurde.
Verity, geborene Parnell, wurde am 28. September 1937 in London geboren und von ihrer Mutter allein aufgezogen, nachdem ihr Vater, Colonel Parnell, 1940 bei Dünkirchen gefallen war. Man vermutet, daß sie die Kriegsjahre mit ihrer Mutter zusammen in Suffolk verbrachte, jedoch 1945 nach London zurückkehrte. Dort kam sie in eine Privatschule, ehe sie im Mai 1950 an die Mary-Bartholomew-Mädchenschule in Barnes überwechselte. Obwohl sie das Zeug zu einem Universitätsstudium besessen hätte, heiratete sie im August 1955 Geoffrey Standish, einen gutaussehenden Börsenmakler, der vierzehn Jahre älter war als sie. Die Heirat rief eine tiefe Entfremdung zwischen ihr und ihrer Mutter hervor, und es ist unklar, ob sie ihre Mutter noch einmal wiedergesehen hat, bevor diese Ende der fünfziger Jahre starb. Verity brachte 1960 eine Tochter, Marilyn, und 1966 einen Sohn, Anthony, zur Welt.
Die Ehe war ein Desaster. Geoffrey Standish wurde selbst von engen Freunden als »unberechenbar« beschrieben. Er war ein Spieler, ein Trinker und ein Schürzenjäger. Denen, die ihn kannten, wurde bald klar, daß er seine Frustrationen an seiner jungen Frau abreagierte. Die Geschichte dieser Ehe ist gekennzeichnet von »Unfällen« und Tagen des Unwohlseins, von Veritys ständiger Angst, etwas zu tun, was ihren Mann verärgern könnte, und von ihrer nahezu krankhaften Sorge um ihre Kinder. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, daß Verity einer ihrer Nachbarinnen zufolge den Tod ihres Mannes im März 1971 als »Erlösung« bezeichnete.
So mysteriös wie vieles an dieser Geschichte sind auch die Umstände von Geoffrey Standishs Tod. Die einzigen verifizierbaren Fakten sind folgende: Er hatte mit Freunden in Huntingdon verabredet, das Wochenende bei ihnen zu verbringen; am Freitag abend um 17 Uhr rief er sie an, um mitzuteilen, daß er erst am folgenden Tag kommen würde; am Samstag morgen um 6 Uhr 30 fiel einer Polizeistreife sein Wagen auf, der verlassen und mit leerem Tank an der A 11 in der Nähe von Newmarket stand; um 10 Uhr 30 wurde Standish in einem Graben etwa drei Kilometer entfernt tot aufgefunden; aus den Verletzungen, die er erlitten hatte, ging eindeutig hervor, daß er überfahren worden war.
Allem Anschein nach handelte es sich um einen simplen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Geoffrey Standish war auf der Suche nach einer Tankstelle in der Dunkelheit überfahren worden. Doch die Tatsache, daß er seine ursprünglichen Pläne so kurzfristig geändert hatte, veranlaßte die Polizei nachzuforschen, warum er sich in der Gegend von Newmarket aufhielt. Diese Bemühungen brachten keinen Erfolg, jedoch machten die Beamten im Verlauf der Ermittlungen mit den unerquicklichen Details der Persönlichkeit und des Lebenswandels dieses Mannes Bekanntschaft. Obwohl der Nachweis nie gelang, geht aus den Berichten klar hervor, daß die Polizei von Cambridgeshire der Überzeugung war, Geoffrey Standish sei ermordet worden.
Verity selbst hatte ein unwiderlegbares Alibi. Sie wurde am Mittwoch vor dem Tod ihres Mannes mit gebrochenem Schlüsselbein, Rippenbrüchen und perforierter Lunge in das St.-Thomas-Krankenhaus eingeliefert und ist erst am Sonntag wieder entlassen worden. Ihre Kinder wurden von einer Nachbarin betreut, wo Geoffrey Standish sich am Freitag aufhielt, ist ungewiß. Er erschien an diesem Tag jedenfalls nicht an seinem Arbeitsplatz, und dies veranlaßte die Polizei zu Spekulationen, daß jemand, dessen Sympathien auf Veritys Seite waren, ihn in der Nacht vom Donnerstag aus seinem Haus entfernte und im Lauf des Freitags kaltblütig seine Ermordung plante.
Doch es wurde keine Spur eines solchen Sympathisanten gefunden, und die Polizei mußte die Akte mangels Beweisen schließen. Der Coroner erkannte auf »fahrlässige Tötung durch Unbekannt«, und Geoffrey Standishs vorzeitiger Tod ist bis heute ungesühnt.
Jetzt jedoch, im Licht unserer Kenntnisse über die Ereignisse vom 3. Juli 1988, verlangt die Logik, den Blick vom Selbstmord einer verzweifelten Frau und vom Verschwinden ihres zweiten Ehemanns abzuwenden und auf den Tod Geoffrey Standishs 1971 zu richten, und man muß sich die Frage stellen, ob die Person, deren Sympathien Verity galten, nicht vielleicht ein junger, leicht zu beeinflussender Student aus Cambridge namens Peter Fenton war. Newmarket ist nur knapp dreißig Kilometer von Cambridge entfernt, und es war bekannt, daß Peter Fenton häufig zu Besuch bei der Familie eines alten Schulfreunds weilte, die nur zehn Häuser von Geoffrey und Verity Standish entfernt und ebenfalls am Cadogan Square wohnte. Die Behauptung Peter und Verity Fentons, daß sie einander zum erstenmal 1978 auf einer Party bei Fentons Freunden begegnet wären, läßt sich durch nichts widerlegen, doch es wäre sehr seltsam, wenn ihre Wege sich nicht schon früher gekreuzt hätten. Der Schulfreund Fentons, Harry Grisham, erinnert sich jedenfalls, daß die Standishs regelmäßig bei den abendlichen Festen seiner Eltern zu Gast waren.
Aber was könnte, Peter Fentons Beteiligung einmal vorausgesetzt, siebzehn Jahre nach Geoffrey Standishs Ermordung geschehen sein, um Verity zum Selbstmord zu treiben und Peter zur Flucht? Hatte Verity von Peters Tat nichts gewußt und durch Zufall erfahren, daß sie den Mörder ihres ersten Mannes geheiratet hatte? Wir werden es vielleicht nie mit Sicherheit wissen, aber es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß zwei Tage vor Peter Fentons Abreise nach Washington in der Times unter der Rubrik »Verschiedenes« die folgende Chiffreanzeige erschien:
»Geoffrey Standish - Wer etwas über den Mord an Geoffrey Standish am 10. 3. 71 auf der A 11 in der Nähe von Newmarket weiß, wird gebeten, sich zu melden.«