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Der Kampf, der in der Lagerhalle ausbrach, war
eine blutige Angelegenheit, angezettelt von einem der aggressiveren
Schizophrenen, der sich einbildete, der Mann neben ihm wollte ihn
umbringen. Er zog ein Schnappmesser heraus und stieß es seinem
Nachbarn in den Magen. Die Schreie des Mannes wirkten auf die
anderen Bewohner wie schrille Alarmsirenen, die die einen
hochjagten, ihm zu Hilfe zu eilen, die anderen in angsterfüllte
Flucht trieben. Terry Dalton und der alte Tom packten herumliegende
Bleirohre und warfen sich ins Getümmel, um dem Kampf ein Ende zu
machen, aber wie ein tollwütiger Hund reagierte der Angreifer gar
nicht auf den Hagel von Schlägen, der auf seinen Rücken prasselte,
sondern konzentrierte all seine Energie auf sein Opfer. Die
Schlacht endete wie so viele dieser Kämpfe erst, als dem Mann der
Dampf ausging, und er sich blutend und zerschunden zurückzog, um
seine Wunden zu lecken.
Tom kniete neben der kläglichen kleinen Gestalt
nieder, die zusammengekrümmt auf dem Boden lag. »Es ist Walter, der
Arme«, sagte er. »Dieses Schwein, dieser Denning, hat ihn erledigt.
Wenn er noch nicht tot ist, wird er’s bald sein.«
Terry, der vor Erregung immer noch von Kopf bis Fuß
zitterte, schleuderte sein Rohr zu Boden und riß sich den Mantel
vom mageren Körper. »Leg ihm den über und halt ihn warm. Ich ruf’
einen Rettungswagen«, sagte er. »Und haltet euch bereit, wenn die
Bullen kommen. Diesmal lasse ich Denning abtransportieren. Der ist
einfach zu gefährlich.«
»Red keinen Quatsch, Junge«, sagte Tom, während er
dem Verletzten den Mantel überlegte. »Das dankt dir keiner hier,
wenn du uns die Bullen auf den Hals hetzt. Wir tragen Walter raus,
dann denken die, es wär’ auf der Straße passiert. Der arme Hund
blutet wie die Sau, da ist bald genug Blut auf der Straße, um die
davon zu überzeugen, daß der von’ner Bande überfallen worden
ist.«
»Nein!« fuhr Terry ihn an. »Wenn ihr ihn bewegt,
bringt ihr ihn noch schneller um.« Er ballte die Fäuste. »Wir haben
auch Rechte, Tom, genau wie jeder andere. Walt hat ein Recht auf
eine Chance, und wir haben das Recht, einen Irren
loszuwerden.«
»Für uns gibt’s keine Rechte, Kleiner«, sagte Tom
wegwerfend, »auch wenn dir Billy noch soviel Humbug über
Menschenwürde erzählt hat. Wenn du die Bullen hier reinholst, dann
springt nicht nur Denning über die Klinge. Überleg dir, was du in
deinen Taschen hast, bevor du die Bullen holst.« Er berührte mit
knorriger Hand das Gesicht des Verletzten. »Mit Walt ist’s sowieso
aus, da spielt’s auch keine Rolle, wo er stirbt. Denning schmeißen
wir selber raus, den schicken wir wieder auf die Straße. Da
erfriert er bestimmt über kurz oder lang. Der ist nach dem Kampf k.
o., da macht er keine Schwierigkeiten.«
Er sprach in dem Ton eines Mannes, der erwartet,
daß man ihm gehorcht; im Gegensatz zu Deacons Eindruck, daß Terry
dank seiner raschen Intelligenz die Männer beherrschte, war Tom
derjenige, der in der Lagerhalle das Regiment führte, und in Toms
Lebensanschauung war kein Platz für Sentimentalität. Er hatte zu
viele Obdachlose sterben sehen, um sich wegen dieses einen hier
Gedanken zu machen.
»Nein!« schrie Terry und rannte zur Tür. »Wenn du
Walt bewegst, kriegst du’s mit mir zu tun. Wir sind doch keine
beschissenen Wilden, und wir benehmen uns auch nicht so. Hast du
mich verstanden?« Wütend boxte er sich durch das Gedränge zur
Tür.
Das Telefon läutete, als Deacon aus der Dusche
kam. »Ich muß Michael Deacon sprechen«, sagte jemand
drängend.
»Ich bin selbst am Apparat«, antwortete er, während
er sich das Haar mit einem Handtuch rubbelte.
»Erinnern Sie sich noch an die Lagerhalle, wo Sie
vor ungefähr zwei Wochen waren?«
»Ja.« Er erkannte den Anrufer. »Sind Sie es,
Terry?«
»Ja. Sind Sie immer noch an Informationen über
Billy Blake interessiert?«
»Ja.«
»Dann kommen Sie in der nächsten halben Stunde
hierher zur Lagerhalle und bringen Sie eine Kamera mit. Geht
das?«
»Warum die Eile?«
»Weil die Bullen unterwegs sind und da drinnen
allerhand Zeug ist, das Billy gehört hat. Ich schätze, wir haben
höchstens’ne halbe Stunde Zeit, eh’ hier alles verrammelt wird.
Also, kommen Sie?«
»Ich komme.«
Dick in eine alte Arbeitsjacke gemummt und mit
einer schwarzen Bommelmütze auf dem kahlgeschorenen Kopf, lehnte
Terry Dalton an der Ecke des Gebäudes und hielt nach Deacon
Ausschau. Als dieser seinen Wagen vor einem leeren Polizeifahrzeug
an den Bordstein fuhr, stieß er sich von der Mauer ab und lief ihm
entgegen.
»Hier hat’s’ne Messerstecherei gegeben«, berichtete
er hastig, als Deacon ausstieg, »und ich hab’ die Bullen geholt.
Ich hab’ mir gedacht, es kann nicht schaden, wenn ein Journalist
dabei ist. Tom sagt, die werden das als Vorwand benutzen, um uns
rauszuschmeißen und vielleicht wegen anderer Geschichten zu
belangen, aber wir haben auch unsere Rechte, und ich will, daß sie
gewahrt werden. Dafür kriegen Sie von mir alles, was ich über Billy
weiß. Abgemacht?« Er blickte die Straße hinunter, als ein weiterer
Streifenwagen um die Ecke bog. »Los, machen Sie sich auf die
Socken. Wir haben nicht viel Zeit. Haben Sie eine Kamera
mitgebracht?«
Verwirrt von diesem hastigen Redeschwall, ließ sich
Deacon hinter das Gebäude ziehen. »Ich habe sie in der
Tasche.«
Terry wies mit dem Arm geradeaus. »Es gibt einen
Einstieg durch ein Fenster, von dem die Bullen nichts wissen. Wenn
ich Sie da reinbring’, glauben die, Sie wären die ganze Zeit
drinnen gewesen.«
»Und was ist mit den Bullen, die schon drinnen
sind?«
»Das sind nur zwei, und sie sind erst nach den
Sanitätern gekommen. Die haben keinen Schimmer, wer drin war und
wer draußen. Es ist viel zu finster, und denen war’s sowieso
wichtiger, Walt am Leben zu erhalten. Sie haben erst vor fünf
Minuten, als der Krankenwagen abgefahren ist, mit ihren Fragen
angefangen.« Er schob ein Brett zur Seite. »Okay, denken Sie dran:
Der, den sie abgestochen haben, heißt Walter, und der, der’s getan
hat, heißt Denning. Er ist ein Irrer. Sie müssen das wissen, wenn
Sie schon’ne Weile da waren.«
Deacon legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter,
um ihn zurückzuhalten, als er durch das Fenster einsteigen wollte.
»Moment mal. Ich bin kein Rechtsanwalt. Was für Rechte sind denn
das, die Sie gewahrt haben wollen? Und wie soll ich das
anstellen?«
Terry fuhr zornig herum. »Machen Sie einfach Bilder
oder was. Mann, ich weiß auch nicht. Versuchen Sie’s mal mit’nem
bißchen Phantasie.« Sein Gesicht wurde bitter, als Deacon zweifelnd
den Kopf schüttelte. »Jetzt passen Sie mal auf, Sie Mistkerl, Sie
haben gesagt, Sie wollen beweisen, daß Billys Leben einen Wert
gehabt hat. Na los, dann fangen Sie damit an, daß Sie beweisen, daß
Walt, Tom, ich und jedes andere arme Schwein da drinnen einen Wert
hat. Ich weiß, die Halle hier ist nichts weiter als ein
beschissenes Loch, aber wir wohnen hier und haben unsere Rechte.
Schließlich hab’ ich die Polizei geholt, und die sind nicht
von selber hier aufgekreuzt, also haben sie auch kein Recht, uns
wie den letzten Dreck zu behandeln.« Seine hellen Augen verengten
sich in plötzlicher Verzweiflung. »Billy hat immer gesagt, die
Pressefreiheit wär’ die stärkste Waffe des Volkes. Wollen Sie mir
jetzt sagen, daß er sich getäuscht hat?«
»Okay, Leute«, sagte ein gereizter Constable,
dabei, widerspenstige Männer zur Tür zu schieben. »Los, los, raus
ins Licht, wo wir euch sehen können.« Er packte einen Mann beim Arm
und riß ihn herum. »Raus! Raus!«
Das Blitzlicht von Deacons Fotoapparat überraschte
ihn, und er fuhr mit offenem Mund herum, um von einem zweiten Blitz
eingefangen zu werden. Plötzliche Stille breitete sich in der
Lagerhalle aus, als der Blitz mehrmals in rascher Folge
aufflammte.
»Die kommen in einer ganzen Serie auf der
Titelseite!« rief Deacon und schwang seinen Apparat zu einem
anderen Beamten, der mit dem Fuß gegen einen Schlafenden stieß.
»Und dazu ein Titel wie ›Polizei geht mit KZ-Methoden gegen
Obdachlose vor‹.« Er richtete den Apparat wieder auf den ersten
Polizisten und holte ihn mit dem Zoom näher heran. »Wiederholen Sie
doch noch mal Ihr ›Raus! Raus!‹. Das dürfte bei den Leuten einige
beunruhigende Erinnerungen wecken.«
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Wer, zum Teufel, sind Sie, Sir?« gab Deacon
zurück und senkte seinen Fotoapparat, um dem Mann seine Karte zu
geben. »Michael Deacon. Ich bin Journalist. Würden Sie mir bitte
Ihren Namen nennen und die Namen der anderen anwesenden Beamten?«
Er zog seinen Notizblock heraus.
Ein Beamter in Zivil griff ein. »Ich bin Sergeant
Harrison, Sir. Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.« Er war
ein sympathisch aussehender Mann in den Dreißigern, stämmig, mit
schütterem blondem Haar, das im Luftzug der offenen Tür in die Höhe
stand. Seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen, als er
liebenswürdig lächelte.
»Sie könnten mir erklären, was hier vorgeht.«
»Selbstverständlich, Sir. Wir haben diese
Herrschaften gebeten, den Tatort eines Mordversuchs zu räumen. Da
es freien Raum nur draußen gibt, haben wir sie gebeten, das Gebäude
zu verlassen.«
Deacon hob wieder den Fotoapparat und machte eine
Aufnahme vom Inneren der riesigen Lagerhalle. »Ist das Ihr Ernst,
Sergeant? Ich habe den Eindruck, hier gibt’s massenhaft freien
Raum. Nur mal interessehalber, seit wann ist denn diese Praxis bei
der Polizei üblich?«
»Was für eine Praxis meinen Sie, Sir?«
»Die Leute aus ihren Häusern zu treiben, wenn
drinnen ein Verbrechen verübt worden ist. Werden sie nicht
normalerweise höflich aufgefordert, sich in einen anderen Teil des
Hauses zu begeben, im allgemeinen die Küche, wo sie zur Beruhigung
eine Tasse Tee trinken können?«
»Sie sehen doch selbst, Sir, daß das hier keine
Alltäglichkeit ist. Wir untersuchen ein schweres Verbrechen. Es
gibt keine Beleuchtung. Die Hälfte dieser Männer ist total hinüber
von Alkohol und Drogen. Die einzige Möglichkeit, rauszubekommen,
was hier los ist, ist, erst mal alle rauszubugsieren und für etwas
Ordnung zu sorgen.«
»Ach was?« Deacon knipste immer weiter. »Ich
dachte, im allgemeinen wäre der erste Schritt, nach Zeugen zu
fragen und sie zu bitten, eine Aussage zu machen.«
Der Sergeant ließ einen Moment lang die Maske
fallen, und Deacons Kamera fing seinen verächtlichen Blick ein.
»Diese Kerle hier wissen doch nicht mal, was Kooperation heißt.
Aber« - seine Stimme schwoll an - »hier ist in der letzten Stunde
ein Mann niedergestochen worden. Ich bitte jeden, der den Vorfall
beobachtet hat oder etwas darüber weiß, vorzutreten.« Er wartete
ein, zwei Sekunden, dann sah er Deacon mit einem gutmütigen Lächeln
an. »Zufrieden, Sir? So, und jetzt lassen Sie uns vielleicht
weitermachen.«
»Ich hab’s gesehen!« rief Terry und schob
sich hinter Deacon hervor. Sein Blick suchte in der Dunkelheit nach
Tom. »Und ich war nicht der einzige, auch wenn man das glauben
könnte, soviel Mumm wie die anderen hier zeigen.«
Schweigen folgte seinen Worten.
»Mann, ihr seid echt erbärmlich«, fuhr er beißend
fort. »Kein Wunder, daß die Bullen euch wie den letzten Dreck
behandeln. Was andres könnt ihr wohl nicht, was? Ihr könnt euch nur
in den Dreck schmeißen und alle anderen auf euch rumtrampeln
lassen.« Er spie aus. »Damit ihr wißt, was ich von Leuten halte,
die lieber einen Irren frei rumlaufen lassen, als einmal in ihrem
beschissenen Leben für was einzutreten.«
»Okay, okay«, ließ sich eine verdrossene Stimme aus
der Mitte der Menge vernehmen. »Laß gut sein, Junge.« Tom drängte
sich nach vorn und funkelte Terry ärgerlich an. »Man könnt’ ja
meinen, du wärst der verdammte Erzbischof von Canterbury
persönlich, so wie du dich aufführst.« Er nickte dem Sergeant zu.
»Ich hab’s auch gesehen. Wie geht’s denn so, Mr. Harrison?«
Das Verhalten des Sergeant änderte sich
schlagartig. Er grinste breit. »Du meine Güte! Tom Beale! Ich hab’
schon gedacht, Sie wären tot. Ihre Frau auch.«
Toms Gesicht verzog sich verächtlich. »Na, der wär’
das doch egal gewesen. Die hat sich nie was aus mir gemacht. Wie
Sie mich das letztemal geschnappt haben, hat sie mich an die Luft
gesetzt, und seitdem hab’ ich nie wieder was von ihr gesehen oder
gehört.«
»Unsinn! Sie hat mir nach Ihrer Entlassung
monatelang in den Ohren gelegen und mich gedrängt, Sie ausfindig zu
machen. Warum sind Sie nicht nach Hause gegangen, wie’s vereinbart
war?«
»Das hätt’ doch eh keinen Sinn gehabt«, antwortete
Tom verbittert. »Sie hat mir ja klipp und klar gesagt, daß sie
nichts von mir wissen will. Und dann ist sie sowieso gestorben. Vor
ungefähr zwei Jahren wollt’ ich sie mal besuchen, und da waren
lauter fremde Leute im Haus. Haben Sie’ne Ahnung, wie ich mich
aufgeregt hab’!«
»Das heißt doch nicht, daß sie tot ist, Mann! Das
Sozialamt hat ihr sechs Monate, nachdem Sie verschwunden waren,
eine Wohnung besorgt, und sie ist umgezogen.«
Tom war sichtlich erfreut. »Ehrlich? Und Sie
glauben, daß sie mich sehen will?«
»Da wette ich!« Der Sergeant lachte. »Wie wär’s,
wenn wir Sie zu Weihnachten heimbringen? Weiß der Himmel, warum,
aber Sie sind wahrscheinlich das Geschenk, auf das Ihre Frau
wartet.« Er drehte seine Armbanduhr zum Licht. »Oder noch besser -
wenn wir die Sauerei hier jetzt gleich klären, können Sie schon zum
Abendessen zu Hause sein. Was meinen Sie dazu?«
»Einverstanden, Mr. Harrison.«
»Okay, fangen wir mit Namen und
Personalbeschreibungen von allen an, die an der Sache beteiligt
waren.«
»Es war nur der eine.« Tom wies zu dem Schlafenden
hinunter, neben dem der Polizeibeamte stand. »Das ist der Kerl, den
Sie suchen. Denning heißt er. Im Moment ist er erledigt, weil er
sich immer ganz fertigmacht, wenn er seine Tobsuchtsanfälle kriegt,
aber seien Sie lieber vorsichtig, wenn Sie ihn anpacken. Das ist
ein echter Irrer, genau wie Terry gesagt hat, und er hat das Messer
noch.« Er lachte leise und zog eine Zigarre aus einer seiner
Taschen. »Wir wollen doch keinen Unfall, wo wir jetzt gerade alle
so gut miteinander auskommen. Ich sag’s Ihnen, Mr. Harrison, nie in
meinem Leben hab’ ich mich so gefreut, die Bullen zu sehen. Hier,
rauchen Sie’ne Zigarre auf mein Wohl.«
Profi, der er war, fing Deacon die Überreichung auf
Film ein und verdiente ein paar Pfund an dem Bild, das er einer
Fotoagentur verkaufte. Es erschien nach Weihnachten in einem der
Boulevardblätter mit dem Untertitel Eine schöne Havanna und
einem rührseligen Bericht über Toms Wiedervereinigung mit seiner
Frau und die Rolle, die Sergeant Harrison in dem kleinen Drama
gespielt hatte. Es war eine Parodie der Wahrheit, die der Reporter
aufpoliert hatte, um dem Jahresbeginn angemessene Wohlgefühle zu
erzeugen. Tatsache war, daß Tom die Gesellschaft von Männern
bevorzugte, seine Frau die ihrer Katze und Sergeant Harrison
fuchsteufelswild geworden war, als er erfahren hatte, daß die
Zigarre aus einer gestohlenen Lieferung aus einem entführten LKW
stammte.
Die ganze Episode hinterließ bei Deacon einen
bitteren Nachgeschmack. Er fand es empörend, daß die sogenannte
Gleichbehandlung durch die Polizei von dem Wohlwollen abhing, das
ein einzelner Beamter einem einzelnen Penner entgegenbrachte. Das
war nicht die Realität. Die Realität war Terrys Lagerhalle, wo die
Verwahrlosung regierte und die Art, wie ein Mann zu Tode kam, das
Interessanteste an ihm war.
Terry fing ihn ab, als er gerade seinen Wagen
aufsperrte. »Die sagen, ich muß mit aufs Revier und’ne Aussage
machen.«
»Ist das ein Problem?«
»Ja. Ich will da nicht hin.«
Deacon sah an Terry vorbei zu dem Polizeibeamten,
der ihm gefolgt war. »Sie können nicht beides haben. Wenn Sie
möchten, daß man Ihre Rechte achtet, dann müssen Sie Ihrerseits
Hilfsbereitschaft zeigen.«
»Ich fahr’ nur, wenn Sie mitkommen.«
»Das hätte gar keinen Sinn. Bei Vernehmungen sind
nur Anwälte zugelassen.« Er sah dem Jungen forschend in das
ängstliche Gesicht. »Warum plötzlich diese Sinnesänderung? Vor
zwanzig Minuten waren Sie doch noch ganz scharf darauf, eine
Aussage zu machen.«
»Schon, aber nicht ganz allein auf dem
Revier.«
»Tom fährt ja auch mit.«
Ein Zug schrecklicher Ernüchterung breitete sich
auf dem Gesicht des Jungen aus. »Der interessiert sich doch’n Dreck
für mich und Walt. Dem geht’s nur darum, dem Sergeant in den Arsch
zu kriechen, damit er möglichst schnell heim zu seiner Alten kommt.
Der haut mich in die Pfanne, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn’s
ihm in den Kram paßt.«
»Was weiß er denn, was wir anderen nicht
wissen?«
»Daß ich erst vierzehn bin und gar nicht Terry
Dalton heiß’. Ich bin mit zwölf aus dem Heim abgehauen, und ich
geh’ nie wieder dahin zurück.«
»Lieber Gott. Warum nicht? Was ist dort so
schlimm?«
»Der Leiter war so’n beschissener Grabscher.« Terry
ballte die Fäuste. »Ich hab’ mir geschworen, ich bring’ ihn um,
wenn er mir noch mal über den Weg läuft, und wenn sie mich jetzt
zurückschieben, tue ich das auch. Das können Sie mir glauben.«
Seine Stimme zitterte vor Aggressivität. »Billy hat’s geglaubt.
Darum hat er auf mich aufgepaßt. Er hat gesagt, er möcht’ nicht
noch’n Mord auf dem Gewissen haben.«
Deacon sperrte die Wagentür wieder ab. »Wie kommt
es, daß ich das Gefühl habe, daß mein Schicksal unentwirrbar mit
dem Billys verstrickt ist?«
»Ich versteh’ kein Wort.«
»Sagt dir Tod durch Verhungern was?« Er gab dem
Jungen einen leichten Klaps. »Ich hab’ nichts zu essen in meiner
Wohnung«, brummte er, »und wollte eigentlich heute nachmittag meine
Einkäufe erledigen. Morgen ist bestimmt überall die Hölle los.« Er
führte Terry zu dem Polizeibeamten. »Keine Panik«, sagte er
begütigend, als er fühlte, wie der Junge sich verkrampfte. »Ich
lasse dich nicht im Stich. Im Gegensatz zu Tom bin ich überhaupt
nicht scharf darauf, meine Ehefrauen wiederzusehen.«
»Sind Sie das, Lawrence? Michael hier - Michael
Deacon... Ja, ganz recht, ich habe ein Problem. Ich brauche einen
seriösen Anwalt, der mir mit ein paar kleinen Notlügen aushilft …
Nur gegenüber der Polizei.« Er hielt sein Handy von seinem Ohr ab.
»Hören Sie mal, Sie haben mir doch geraten, mir ein Haustier
anzuschaffen. Ich finde, da schulden Sie mir jetzt auch ein bißchen
Unterstützung … Nein, es ist kein bissiger Hund, es ist ein
harmloser kleiner Streuner... Ich kann nicht beweisen, daß ich der
Eigentümer bin, und es sieht so aus, als wollten sie ihn über
Weihnachten ins Heim stecken … Ja, finde ich auch. Es ist ein
Jammer … Richtig. Ich brauche lediglich einen Bürgen … Sie kommen?
Na, wunderbar. Es ist das Revier auf der Isle of Dogs. Ich geb’
Ihnen das Taxigeld zurück, wenn Sie hier sind.«
Terry lümmelte neben Deacon im Auto, das in einer
Straße im East End geparkt stand. »Sie hätten ihm die Wahrheit
sagen sollen. Der rastet doch aus, wenn er kommt und sieht, daß ich
gar kein Hund bin. Nie im Leben lügt der für einen, den er nicht
kennt.« Er legte seine Hand auf den Türgriff. »Am besten hau’ ich
gleich ab.«
»Daran brauchst du nicht mal zu denken«, entgegnete
Deacon ruhig. »Ich habe Sergeant Harrison versprochen, daß du Punkt
fünf auf dem Revier bist, und da wirst du auch erscheinen.« Er bot
dem Jungen eine Zigarette an und nahm sich selbst auch eine. »Schau
mal, keiner zwingt dich, diese Aussage zu machen. Du machst sie
freiwillig, da werden die dich nicht durch die Mangel drehen, außer
wenn Tom dich verrät. Und selbst dann werden sie dich mit
Glacéhandschuhen anfassen, weil Kinder nicht vernommen werden
dürfen, ohne daß eine erwachsene Begleitperson anwesend ist. Ich
garantiere dir, daß es dazu gar nicht kommen wird, aber wenn doch,
haut Lawrence dich raus.«
»Ja, aber -«
»Verlaß dich auf mich. Wenn Lawrence denen erklärt,
daß du Terry Dalton heißt und achtzehn Jahre alt bist, dann glauben
sie es ihm. Er ist sehr überzeugend. Er sieht aus wie eine Kreuzung
zwischen dem Papst und Albert Einstein.«
»Er ist ein Scheißanwalt. Wenn Sie ihm die Wahrheit
sagen, muß er’s den Bullen weitergeben. Das ist so mit den
Anwälten.«
»Nein, so ist es nicht«, widersprach Deacon im
Brustton der Überzeugung, obwohl er gar nicht so sicher war. »Sie
vertreten die Interessen ihrer Mandanten. Aber ich werde Lawrence
sowieso nichts sagen, wenn es nicht unbedingt sein muß.«
Terry grinste über das ganze Gesicht, als er aus
dem Vernehmungszimmer kam. »Gehen wir?« sagte er zu Deacon und
Lawrence Greenhill, als er auf dem Weg nach draußen im Warteraum an
ihnen vorbeiging.
Sie holten ihn auf der Straße ein. »Und?« fragte
Deacon.
»Alles bestens. Die sind überhaupt nicht auf die
Idee gekommen, daß ich nicht der sein könnte, für den ich mich
ausgegeben hab’.« Er begann zu lachen.
»Was ist so komisch?«
»Sie haben mich vor Ihnen und Lawrence gewarnt,
weil sie gedacht haben, Sie wären zwei Tunten, die hinter meinem
Arsch her sind. Warum hätten Sie sonst da draußen rumhängen sollen,
wo ich doch nur’ne Aussage gemacht hab’.«
»Heiliger Strohsack«, schimpfte Deacon. »Und was
hast du gesagt?«
»Ich hab’ gesagt, sie brauchen keine Angst haben,
weil ich so was eh nicht mach’.«
»Na wunderbar! Jetzt stehen wir als die beiden
Bösewichter da, und du bist der Strahlemann.«
»So könnt’ man’s sehen«, bestätigte Terry und
versteckte sich hinter Lawrence.
Lawrence lachte vergnügt. »Ehrlich gesagt, ich
fühle mich direkt geschmeichelt, daß man mir noch soviel Tatendrang
zutraut.« Er faßte Terry unter und zog ihn den Bürgersteig entlang
zu einem Pub an der Ecke. »Soso, sie haben uns also für Schwule
gehalten.« Vor der Tür des Pubs blieb er stehen und wartete, bis
Terry sie ihm öffnete. »Danke«, sagte er und ergriff haltsuchend
die Hand des Jungen, als er vorsichtig die Stufe hinaufstieg.
Terry warf Deacon über die Schulter hinweg einen
gequälten Blick zu, der klar sagte, der Alte hält mich an der Hand,
ich glaub’, das ist ein beschissener Schwuler, aber Deacon bleckte
nur grimmig lächelnd die Zähne. »Geschieht dir recht«, sagte er
lautlos und folgte den beiden.
Barry Grover blickte beinahe schuldbewußt auf, als
der Wachmann die Tür zur Bibliothek öffnete und eintrat. »Okay,
junger Mann, ab mit Ihnen, aber schnell«, sagte Glen Hopkins
energisch. »Die Redaktion ist geschlossen, und Sie sollten
Weihnachten feiern.«
Er war ein pensionierter Oberbootsmann, der kein
Blatt vor den Mund nahm, und nachdem er sich lange genug die
boshaften Klatschgeschichten der Frauen über Barry angehört hatte,
hatte er nach eingehender Überlegung beschlossen, den jungen Mann
an die Hand zu nehmen. Er wußte genau, was für ein Problem er
hatte, und es war nichts, was sich nicht mit praktischen
Ratschlägen und ein paar offenen Worten richten ließ. Er kannte
Typen wie Barry aus der Marine, obwohl sie da zugegebenermaßen
jünger gewesen waren.
Barry deckte die Papiere zu, die vor ihm lagen.
»Ich arbeite an einer dringenden Sache«, erklärte er
wichtigtuerisch.
»Tun Sie nicht. Wir wissen doch beide, was Sie da
treiben, und Arbeit ist es nicht.«
Barry nahm seine Brille ab und spähte blind durch
den Raum. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Aber klar wissen Sie das, und es ist nicht gesund,
mein Junge.« Gewichtigen Schrittes kam Glen näher. »Ein junger Kerl
wie Sie gehört unter Leute, er sollte seinen Spaß haben, anstatt
hier im Finstern rumzusitzen und sich Bilder anzuschauen. Ich hab’
hier ein paar Karten mit Adressen und Telefonnummern, und ich
schlag’ vor, Sie suchen sich die aus, die Ihnen am besten gefällt,
und rufen sie an. Kostet natürlich eine Kleinigkeit, und ein Kondom
brauchen Sie auch, aber die wird Sie im Nu auf die Höhe bringen,
wenn Sie verstehen, was ich meine. Es ist doch nichts dabei, sich
am Anfang ein bißchen Hilfe geben zu lassen.« Er legte die Karten
einiger Prostituierter auf den Schreibtisch und gab Barry einen
väterlichen Klaps auf die Schulter. »Sie werden sehen, das Richtige
macht tausendmal mehr Spaß als eine Schachtel voll Fotos.«
Barry lief feuerrot an. »Sie verstehen nicht, Mr.
Hopkins. Ich arbeite an einer Sache für Mike Deacon.« Er deckte die
Bilder von Billy Blake und James Streeter auf. »Es ist ein
Riesenknüller.«
»Klar, drum sitzt Mike auch am anderen Schreibtisch
und hilft Ihnen«, sagte Glen ironisch, »anstatt wie sonst die
Kneipen unsicher zu machen. Nun kommen Sie schon, mein Junge, keine
Story ist so wichtig, daß sie nicht bis nach Weihnachten Zeit hat.
Sie können sagen, es geht mich nichts an, aber ich hab’ einen guten
Blick für die Probleme von anderen, und damit, daß Sie hier
rumhängen, lösen Sie Ihres bestimmt nicht.«
Barry wich vor ihm zurück. »Sie sind völlig auf dem
Holzweg«, murmelte er.
»Sie sind einsam, mein Junge, und wissen nicht, was
Sie dagegen tun sollen. Ihre Mutter ist eine, die sich gern
einmischt - vergessen Sie nicht, daß ich immer ans Telefon geh’,
wenn sie abends hier anruft -, und, nehmen Sie’s mir nicht übel,
wenn ich’s geradeheraus sage, für Sie wär’s besser gewesen, Sie
hätten sich schon längst abgesetzt. Sie brauchen nur ein bißchen
Selbstvertrauen, um loszulegen, und es ist doch nicht verboten,
wenn man dafür erst mal zahlt.« Er lächelte aufmunternd. »Na los,
zischen Sie ab und machen Sie sich ein Weihnachtsgeschenk, das Sie
nie vergessen werden.«
Tief gedemütigt, blieb Barry nichts anderes übrig,
als die Karten an sich zu nehmen und zu gehen, doch die Beschämung
trieb ihm die Tränen in die Augen, und er blieb zwinkernd, wie ein
verirrtes Kind, auf der Straße stehen, als die Tür hinter ihm
geschlossen wurde. Er fürchtete so sehr, daß Glen ihn darüber
ausfragen würde, wie alles gelaufen sei, daß er schließlich in eine
Telefonzelle trat und die erste Nummer aus dem Kartenstapel wählte,
die der Mann für ihn ausgesucht hatte. Hätte er gewußt, daß Glen,
der der schlichten Überzeugung war, Sex könne jedes Übel heilen,
diese Karten jedem Mitarbeiter zu verpassen pflegte, von dem er
glaubte, er mache gerade eine schwere Zeit durch, so hätte er sich
vielleicht zweimal überlegt, was er tat. So aber fürchtete er,
seine Jungfräulichkeit würde zum allgemeinen Gespött werden, wenn
er Glens Vorschlag nicht nachkam, und erklärte sich deshalb, mehr
aus Angst, zur Zielscheibe des allgemeinen Spotts zu werden, als
aus erwartungsfroher Begierde, bereit, die 100 Pfund zu bezahlen,
die Fatima, das türkische Wunder, als Preis nannte.