8
Der Kampf, der in der Lagerhalle ausbrach, war eine blutige Angelegenheit, angezettelt von einem der aggressiveren Schizophrenen, der sich einbildete, der Mann neben ihm wollte ihn umbringen. Er zog ein Schnappmesser heraus und stieß es seinem Nachbarn in den Magen. Die Schreie des Mannes wirkten auf die anderen Bewohner wie schrille Alarmsirenen, die die einen hochjagten, ihm zu Hilfe zu eilen, die anderen in angsterfüllte Flucht trieben. Terry Dalton und der alte Tom packten herumliegende Bleirohre und warfen sich ins Getümmel, um dem Kampf ein Ende zu machen, aber wie ein tollwütiger Hund reagierte der Angreifer gar nicht auf den Hagel von Schlägen, der auf seinen Rücken prasselte, sondern konzentrierte all seine Energie auf sein Opfer. Die Schlacht endete wie so viele dieser Kämpfe erst, als dem Mann der Dampf ausging, und er sich blutend und zerschunden zurückzog, um seine Wunden zu lecken.
Tom kniete neben der kläglichen kleinen Gestalt nieder, die zusammengekrümmt auf dem Boden lag. »Es ist Walter, der Arme«, sagte er. »Dieses Schwein, dieser Denning, hat ihn erledigt. Wenn er noch nicht tot ist, wird er’s bald sein.«
Terry, der vor Erregung immer noch von Kopf bis Fuß zitterte, schleuderte sein Rohr zu Boden und riß sich den Mantel vom mageren Körper. »Leg ihm den über und halt ihn warm. Ich ruf’ einen Rettungswagen«, sagte er. »Und haltet euch bereit, wenn die Bullen kommen. Diesmal lasse ich Denning abtransportieren. Der ist einfach zu gefährlich.«
»Red keinen Quatsch, Junge«, sagte Tom, während er dem Verletzten den Mantel überlegte. »Das dankt dir keiner hier, wenn du uns die Bullen auf den Hals hetzt. Wir tragen Walter raus, dann denken die, es wär’ auf der Straße passiert. Der arme Hund blutet wie die Sau, da ist bald genug Blut auf der Straße, um die davon zu überzeugen, daß der von’ner Bande überfallen worden ist.«
»Nein!« fuhr Terry ihn an. »Wenn ihr ihn bewegt, bringt ihr ihn noch schneller um.« Er ballte die Fäuste. »Wir haben auch Rechte, Tom, genau wie jeder andere. Walt hat ein Recht auf eine Chance, und wir haben das Recht, einen Irren loszuwerden.«
»Für uns gibt’s keine Rechte, Kleiner«, sagte Tom wegwerfend, »auch wenn dir Billy noch soviel Humbug über Menschenwürde erzählt hat. Wenn du die Bullen hier reinholst, dann springt nicht nur Denning über die Klinge. Überleg dir, was du in deinen Taschen hast, bevor du die Bullen holst.« Er berührte mit knorriger Hand das Gesicht des Verletzten. »Mit Walt ist’s sowieso aus, da spielt’s auch keine Rolle, wo er stirbt. Denning schmeißen wir selber raus, den schicken wir wieder auf die Straße. Da erfriert er bestimmt über kurz oder lang. Der ist nach dem Kampf k. o., da macht er keine Schwierigkeiten.«
Er sprach in dem Ton eines Mannes, der erwartet, daß man ihm gehorcht; im Gegensatz zu Deacons Eindruck, daß Terry dank seiner raschen Intelligenz die Männer beherrschte, war Tom derjenige, der in der Lagerhalle das Regiment führte, und in Toms Lebensanschauung war kein Platz für Sentimentalität. Er hatte zu viele Obdachlose sterben sehen, um sich wegen dieses einen hier Gedanken zu machen.
»Nein!« schrie Terry und rannte zur Tür. »Wenn du Walt bewegst, kriegst du’s mit mir zu tun. Wir sind doch keine beschissenen Wilden, und wir benehmen uns auch nicht so. Hast du mich verstanden?« Wütend boxte er sich durch das Gedränge zur Tür.
 
Das Telefon läutete, als Deacon aus der Dusche kam. »Ich muß Michael Deacon sprechen«, sagte jemand drängend.
»Ich bin selbst am Apparat«, antwortete er, während er sich das Haar mit einem Handtuch rubbelte.
»Erinnern Sie sich noch an die Lagerhalle, wo Sie vor ungefähr zwei Wochen waren?«
»Ja.« Er erkannte den Anrufer. »Sind Sie es, Terry?«
»Ja. Sind Sie immer noch an Informationen über Billy Blake interessiert?«
»Ja.«
»Dann kommen Sie in der nächsten halben Stunde hierher zur Lagerhalle und bringen Sie eine Kamera mit. Geht das?«
»Warum die Eile?«
»Weil die Bullen unterwegs sind und da drinnen allerhand Zeug ist, das Billy gehört hat. Ich schätze, wir haben höchstens’ne halbe Stunde Zeit, eh’ hier alles verrammelt wird. Also, kommen Sie?«
»Ich komme.«
 
Dick in eine alte Arbeitsjacke gemummt und mit einer schwarzen Bommelmütze auf dem kahlgeschorenen Kopf, lehnte Terry Dalton an der Ecke des Gebäudes und hielt nach Deacon Ausschau. Als dieser seinen Wagen vor einem leeren Polizeifahrzeug an den Bordstein fuhr, stieß er sich von der Mauer ab und lief ihm entgegen.
»Hier hat’s’ne Messerstecherei gegeben«, berichtete er hastig, als Deacon ausstieg, »und ich hab’ die Bullen geholt. Ich hab’ mir gedacht, es kann nicht schaden, wenn ein Journalist dabei ist. Tom sagt, die werden das als Vorwand benutzen, um uns rauszuschmeißen und vielleicht wegen anderer Geschichten zu belangen, aber wir haben auch unsere Rechte, und ich will, daß sie gewahrt werden. Dafür kriegen Sie von mir alles, was ich über Billy weiß. Abgemacht?« Er blickte die Straße hinunter, als ein weiterer Streifenwagen um die Ecke bog. »Los, machen Sie sich auf die Socken. Wir haben nicht viel Zeit. Haben Sie eine Kamera mitgebracht?«
Verwirrt von diesem hastigen Redeschwall, ließ sich Deacon hinter das Gebäude ziehen. »Ich habe sie in der Tasche.«
Terry wies mit dem Arm geradeaus. »Es gibt einen Einstieg durch ein Fenster, von dem die Bullen nichts wissen. Wenn ich Sie da reinbring’, glauben die, Sie wären die ganze Zeit drinnen gewesen.«
»Und was ist mit den Bullen, die schon drinnen sind?«
»Das sind nur zwei, und sie sind erst nach den Sanitätern gekommen. Die haben keinen Schimmer, wer drin war und wer draußen. Es ist viel zu finster, und denen war’s sowieso wichtiger, Walt am Leben zu erhalten. Sie haben erst vor fünf Minuten, als der Krankenwagen abgefahren ist, mit ihren Fragen angefangen.« Er schob ein Brett zur Seite. »Okay, denken Sie dran: Der, den sie abgestochen haben, heißt Walter, und der, der’s getan hat, heißt Denning. Er ist ein Irrer. Sie müssen das wissen, wenn Sie schon’ne Weile da waren.«
Deacon legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten, als er durch das Fenster einsteigen wollte. »Moment mal. Ich bin kein Rechtsanwalt. Was für Rechte sind denn das, die Sie gewahrt haben wollen? Und wie soll ich das anstellen?«
Terry fuhr zornig herum. »Machen Sie einfach Bilder oder was. Mann, ich weiß auch nicht. Versuchen Sie’s mal mit’nem bißchen Phantasie.« Sein Gesicht wurde bitter, als Deacon zweifelnd den Kopf schüttelte. »Jetzt passen Sie mal auf, Sie Mistkerl, Sie haben gesagt, Sie wollen beweisen, daß Billys Leben einen Wert gehabt hat. Na los, dann fangen Sie damit an, daß Sie beweisen, daß Walt, Tom, ich und jedes andere arme Schwein da drinnen einen Wert hat. Ich weiß, die Halle hier ist nichts weiter als ein beschissenes Loch, aber wir wohnen hier und haben unsere Rechte. Schließlich hab’ ich die Polizei geholt, und die sind nicht von selber hier aufgekreuzt, also haben sie auch kein Recht, uns wie den letzten Dreck zu behandeln.« Seine hellen Augen verengten sich in plötzlicher Verzweiflung. »Billy hat immer gesagt, die Pressefreiheit wär’ die stärkste Waffe des Volkes. Wollen Sie mir jetzt sagen, daß er sich getäuscht hat?«
»Okay, Leute«, sagte ein gereizter Constable, dabei, widerspenstige Männer zur Tür zu schieben. »Los, los, raus ins Licht, wo wir euch sehen können.« Er packte einen Mann beim Arm und riß ihn herum. »Raus! Raus!«
Das Blitzlicht von Deacons Fotoapparat überraschte ihn, und er fuhr mit offenem Mund herum, um von einem zweiten Blitz eingefangen zu werden. Plötzliche Stille breitete sich in der Lagerhalle aus, als der Blitz mehrmals in rascher Folge aufflammte.
»Die kommen in einer ganzen Serie auf der Titelseite!« rief Deacon und schwang seinen Apparat zu einem anderen Beamten, der mit dem Fuß gegen einen Schlafenden stieß. »Und dazu ein Titel wie ›Polizei geht mit KZ-Methoden gegen Obdachlose vor‹.« Er richtete den Apparat wieder auf den ersten Polizisten und holte ihn mit dem Zoom näher heran. »Wiederholen Sie doch noch mal Ihr ›Raus! Raus!‹. Das dürfte bei den Leuten einige beunruhigende Erinnerungen wecken.«
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Wer, zum Teufel, sind Sie, Sir?« gab Deacon zurück und senkte seinen Fotoapparat, um dem Mann seine Karte zu geben. »Michael Deacon. Ich bin Journalist. Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen und die Namen der anderen anwesenden Beamten?« Er zog seinen Notizblock heraus.
Ein Beamter in Zivil griff ein. »Ich bin Sergeant Harrison, Sir. Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.« Er war ein sympathisch aussehender Mann in den Dreißigern, stämmig, mit schütterem blondem Haar, das im Luftzug der offenen Tür in die Höhe stand. Seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen, als er liebenswürdig lächelte.
»Sie könnten mir erklären, was hier vorgeht.«
»Selbstverständlich, Sir. Wir haben diese Herrschaften gebeten, den Tatort eines Mordversuchs zu räumen. Da es freien Raum nur draußen gibt, haben wir sie gebeten, das Gebäude zu verlassen.«
Deacon hob wieder den Fotoapparat und machte eine Aufnahme vom Inneren der riesigen Lagerhalle. »Ist das Ihr Ernst, Sergeant? Ich habe den Eindruck, hier gibt’s massenhaft freien Raum. Nur mal interessehalber, seit wann ist denn diese Praxis bei der Polizei üblich?«
»Was für eine Praxis meinen Sie, Sir?«
»Die Leute aus ihren Häusern zu treiben, wenn drinnen ein Verbrechen verübt worden ist. Werden sie nicht normalerweise höflich aufgefordert, sich in einen anderen Teil des Hauses zu begeben, im allgemeinen die Küche, wo sie zur Beruhigung eine Tasse Tee trinken können?«
»Sie sehen doch selbst, Sir, daß das hier keine Alltäglichkeit ist. Wir untersuchen ein schweres Verbrechen. Es gibt keine Beleuchtung. Die Hälfte dieser Männer ist total hinüber von Alkohol und Drogen. Die einzige Möglichkeit, rauszubekommen, was hier los ist, ist, erst mal alle rauszubugsieren und für etwas Ordnung zu sorgen.«
»Ach was?« Deacon knipste immer weiter. »Ich dachte, im allgemeinen wäre der erste Schritt, nach Zeugen zu fragen und sie zu bitten, eine Aussage zu machen.«
Der Sergeant ließ einen Moment lang die Maske fallen, und Deacons Kamera fing seinen verächtlichen Blick ein. »Diese Kerle hier wissen doch nicht mal, was Kooperation heißt. Aber« - seine Stimme schwoll an - »hier ist in der letzten Stunde ein Mann niedergestochen worden. Ich bitte jeden, der den Vorfall beobachtet hat oder etwas darüber weiß, vorzutreten.« Er wartete ein, zwei Sekunden, dann sah er Deacon mit einem gutmütigen Lächeln an. »Zufrieden, Sir? So, und jetzt lassen Sie uns vielleicht weitermachen.«
»Ich hab’s gesehen!« rief Terry und schob sich hinter Deacon hervor. Sein Blick suchte in der Dunkelheit nach Tom. »Und ich war nicht der einzige, auch wenn man das glauben könnte, soviel Mumm wie die anderen hier zeigen.«
Schweigen folgte seinen Worten.
»Mann, ihr seid echt erbärmlich«, fuhr er beißend fort. »Kein Wunder, daß die Bullen euch wie den letzten Dreck behandeln. Was andres könnt ihr wohl nicht, was? Ihr könnt euch nur in den Dreck schmeißen und alle anderen auf euch rumtrampeln lassen.« Er spie aus. »Damit ihr wißt, was ich von Leuten halte, die lieber einen Irren frei rumlaufen lassen, als einmal in ihrem beschissenen Leben für was einzutreten.«
»Okay, okay«, ließ sich eine verdrossene Stimme aus der Mitte der Menge vernehmen. »Laß gut sein, Junge.« Tom drängte sich nach vorn und funkelte Terry ärgerlich an. »Man könnt’ ja meinen, du wärst der verdammte Erzbischof von Canterbury persönlich, so wie du dich aufführst.« Er nickte dem Sergeant zu. »Ich hab’s auch gesehen. Wie geht’s denn so, Mr. Harrison?«
Das Verhalten des Sergeant änderte sich schlagartig. Er grinste breit. »Du meine Güte! Tom Beale! Ich hab’ schon gedacht, Sie wären tot. Ihre Frau auch.«
Toms Gesicht verzog sich verächtlich. »Na, der wär’ das doch egal gewesen. Die hat sich nie was aus mir gemacht. Wie Sie mich das letztemal geschnappt haben, hat sie mich an die Luft gesetzt, und seitdem hab’ ich nie wieder was von ihr gesehen oder gehört.«
»Unsinn! Sie hat mir nach Ihrer Entlassung monatelang in den Ohren gelegen und mich gedrängt, Sie ausfindig zu machen. Warum sind Sie nicht nach Hause gegangen, wie’s vereinbart war?«
»Das hätt’ doch eh keinen Sinn gehabt«, antwortete Tom verbittert. »Sie hat mir ja klipp und klar gesagt, daß sie nichts von mir wissen will. Und dann ist sie sowieso gestorben. Vor ungefähr zwei Jahren wollt’ ich sie mal besuchen, und da waren lauter fremde Leute im Haus. Haben Sie’ne Ahnung, wie ich mich aufgeregt hab’!«
»Das heißt doch nicht, daß sie tot ist, Mann! Das Sozialamt hat ihr sechs Monate, nachdem Sie verschwunden waren, eine Wohnung besorgt, und sie ist umgezogen.«
Tom war sichtlich erfreut. »Ehrlich? Und Sie glauben, daß sie mich sehen will?«
»Da wette ich!« Der Sergeant lachte. »Wie wär’s, wenn wir Sie zu Weihnachten heimbringen? Weiß der Himmel, warum, aber Sie sind wahrscheinlich das Geschenk, auf das Ihre Frau wartet.« Er drehte seine Armbanduhr zum Licht. »Oder noch besser - wenn wir die Sauerei hier jetzt gleich klären, können Sie schon zum Abendessen zu Hause sein. Was meinen Sie dazu?«
»Einverstanden, Mr. Harrison.«
»Okay, fangen wir mit Namen und Personalbeschreibungen von allen an, die an der Sache beteiligt waren.«
»Es war nur der eine.« Tom wies zu dem Schlafenden hinunter, neben dem der Polizeibeamte stand. »Das ist der Kerl, den Sie suchen. Denning heißt er. Im Moment ist er erledigt, weil er sich immer ganz fertigmacht, wenn er seine Tobsuchtsanfälle kriegt, aber seien Sie lieber vorsichtig, wenn Sie ihn anpacken. Das ist ein echter Irrer, genau wie Terry gesagt hat, und er hat das Messer noch.« Er lachte leise und zog eine Zigarre aus einer seiner Taschen. »Wir wollen doch keinen Unfall, wo wir jetzt gerade alle so gut miteinander auskommen. Ich sag’s Ihnen, Mr. Harrison, nie in meinem Leben hab’ ich mich so gefreut, die Bullen zu sehen. Hier, rauchen Sie’ne Zigarre auf mein Wohl.«
Profi, der er war, fing Deacon die Überreichung auf Film ein und verdiente ein paar Pfund an dem Bild, das er einer Fotoagentur verkaufte. Es erschien nach Weihnachten in einem der Boulevardblätter mit dem Untertitel Eine schöne Havanna und einem rührseligen Bericht über Toms Wiedervereinigung mit seiner Frau und die Rolle, die Sergeant Harrison in dem kleinen Drama gespielt hatte. Es war eine Parodie der Wahrheit, die der Reporter aufpoliert hatte, um dem Jahresbeginn angemessene Wohlgefühle zu erzeugen. Tatsache war, daß Tom die Gesellschaft von Männern bevorzugte, seine Frau die ihrer Katze und Sergeant Harrison fuchsteufelswild geworden war, als er erfahren hatte, daß die Zigarre aus einer gestohlenen Lieferung aus einem entführten LKW stammte.
Die ganze Episode hinterließ bei Deacon einen bitteren Nachgeschmack. Er fand es empörend, daß die sogenannte Gleichbehandlung durch die Polizei von dem Wohlwollen abhing, das ein einzelner Beamter einem einzelnen Penner entgegenbrachte. Das war nicht die Realität. Die Realität war Terrys Lagerhalle, wo die Verwahrlosung regierte und die Art, wie ein Mann zu Tode kam, das Interessanteste an ihm war.
 
Terry fing ihn ab, als er gerade seinen Wagen aufsperrte. »Die sagen, ich muß mit aufs Revier und’ne Aussage machen.«
»Ist das ein Problem?«
»Ja. Ich will da nicht hin.«
Deacon sah an Terry vorbei zu dem Polizeibeamten, der ihm gefolgt war. »Sie können nicht beides haben. Wenn Sie möchten, daß man Ihre Rechte achtet, dann müssen Sie Ihrerseits Hilfsbereitschaft zeigen.«
»Ich fahr’ nur, wenn Sie mitkommen.«
»Das hätte gar keinen Sinn. Bei Vernehmungen sind nur Anwälte zugelassen.« Er sah dem Jungen forschend in das ängstliche Gesicht. »Warum plötzlich diese Sinnesänderung? Vor zwanzig Minuten waren Sie doch noch ganz scharf darauf, eine Aussage zu machen.«
»Schon, aber nicht ganz allein auf dem Revier.«
»Tom fährt ja auch mit.«
Ein Zug schrecklicher Ernüchterung breitete sich auf dem Gesicht des Jungen aus. »Der interessiert sich doch’n Dreck für mich und Walt. Dem geht’s nur darum, dem Sergeant in den Arsch zu kriechen, damit er möglichst schnell heim zu seiner Alten kommt. Der haut mich in die Pfanne, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn’s ihm in den Kram paßt.«
»Was weiß er denn, was wir anderen nicht wissen?«
»Daß ich erst vierzehn bin und gar nicht Terry Dalton heiß’. Ich bin mit zwölf aus dem Heim abgehauen, und ich geh’ nie wieder dahin zurück.«
»Lieber Gott. Warum nicht? Was ist dort so schlimm?«
»Der Leiter war so’n beschissener Grabscher.« Terry ballte die Fäuste. »Ich hab’ mir geschworen, ich bring’ ihn um, wenn er mir noch mal über den Weg läuft, und wenn sie mich jetzt zurückschieben, tue ich das auch. Das können Sie mir glauben.« Seine Stimme zitterte vor Aggressivität. »Billy hat’s geglaubt. Darum hat er auf mich aufgepaßt. Er hat gesagt, er möcht’ nicht noch’n Mord auf dem Gewissen haben.«
Deacon sperrte die Wagentür wieder ab. »Wie kommt es, daß ich das Gefühl habe, daß mein Schicksal unentwirrbar mit dem Billys verstrickt ist?«
»Ich versteh’ kein Wort.«
»Sagt dir Tod durch Verhungern was?« Er gab dem Jungen einen leichten Klaps. »Ich hab’ nichts zu essen in meiner Wohnung«, brummte er, »und wollte eigentlich heute nachmittag meine Einkäufe erledigen. Morgen ist bestimmt überall die Hölle los.« Er führte Terry zu dem Polizeibeamten. »Keine Panik«, sagte er begütigend, als er fühlte, wie der Junge sich verkrampfte. »Ich lasse dich nicht im Stich. Im Gegensatz zu Tom bin ich überhaupt nicht scharf darauf, meine Ehefrauen wiederzusehen.«
 
»Sind Sie das, Lawrence? Michael hier - Michael Deacon... Ja, ganz recht, ich habe ein Problem. Ich brauche einen seriösen Anwalt, der mir mit ein paar kleinen Notlügen aushilft … Nur gegenüber der Polizei.« Er hielt sein Handy von seinem Ohr ab. »Hören Sie mal, Sie haben mir doch geraten, mir ein Haustier anzuschaffen. Ich finde, da schulden Sie mir jetzt auch ein bißchen Unterstützung … Nein, es ist kein bissiger Hund, es ist ein harmloser kleiner Streuner... Ich kann nicht beweisen, daß ich der Eigentümer bin, und es sieht so aus, als wollten sie ihn über Weihnachten ins Heim stecken … Ja, finde ich auch. Es ist ein Jammer … Richtig. Ich brauche lediglich einen Bürgen … Sie kommen? Na, wunderbar. Es ist das Revier auf der Isle of Dogs. Ich geb’ Ihnen das Taxigeld zurück, wenn Sie hier sind.«
Terry lümmelte neben Deacon im Auto, das in einer Straße im East End geparkt stand. »Sie hätten ihm die Wahrheit sagen sollen. Der rastet doch aus, wenn er kommt und sieht, daß ich gar kein Hund bin. Nie im Leben lügt der für einen, den er nicht kennt.« Er legte seine Hand auf den Türgriff. »Am besten hau’ ich gleich ab.«
»Daran brauchst du nicht mal zu denken«, entgegnete Deacon ruhig. »Ich habe Sergeant Harrison versprochen, daß du Punkt fünf auf dem Revier bist, und da wirst du auch erscheinen.« Er bot dem Jungen eine Zigarette an und nahm sich selbst auch eine. »Schau mal, keiner zwingt dich, diese Aussage zu machen. Du machst sie freiwillig, da werden die dich nicht durch die Mangel drehen, außer wenn Tom dich verrät. Und selbst dann werden sie dich mit Glacéhandschuhen anfassen, weil Kinder nicht vernommen werden dürfen, ohne daß eine erwachsene Begleitperson anwesend ist. Ich garantiere dir, daß es dazu gar nicht kommen wird, aber wenn doch, haut Lawrence dich raus.«
»Ja, aber -«
»Verlaß dich auf mich. Wenn Lawrence denen erklärt, daß du Terry Dalton heißt und achtzehn Jahre alt bist, dann glauben sie es ihm. Er ist sehr überzeugend. Er sieht aus wie eine Kreuzung zwischen dem Papst und Albert Einstein.«
»Er ist ein Scheißanwalt. Wenn Sie ihm die Wahrheit sagen, muß er’s den Bullen weitergeben. Das ist so mit den Anwälten.«
»Nein, so ist es nicht«, widersprach Deacon im Brustton der Überzeugung, obwohl er gar nicht so sicher war. »Sie vertreten die Interessen ihrer Mandanten. Aber ich werde Lawrence sowieso nichts sagen, wenn es nicht unbedingt sein muß.«
Terry grinste über das ganze Gesicht, als er aus dem Vernehmungszimmer kam. »Gehen wir?« sagte er zu Deacon und Lawrence Greenhill, als er auf dem Weg nach draußen im Warteraum an ihnen vorbeiging.
Sie holten ihn auf der Straße ein. »Und?« fragte Deacon.
»Alles bestens. Die sind überhaupt nicht auf die Idee gekommen, daß ich nicht der sein könnte, für den ich mich ausgegeben hab’.« Er begann zu lachen.
»Was ist so komisch?«
»Sie haben mich vor Ihnen und Lawrence gewarnt, weil sie gedacht haben, Sie wären zwei Tunten, die hinter meinem Arsch her sind. Warum hätten Sie sonst da draußen rumhängen sollen, wo ich doch nur’ne Aussage gemacht hab’.«
»Heiliger Strohsack«, schimpfte Deacon. »Und was hast du gesagt?«
»Ich hab’ gesagt, sie brauchen keine Angst haben, weil ich so was eh nicht mach’.«
»Na wunderbar! Jetzt stehen wir als die beiden Bösewichter da, und du bist der Strahlemann.«
»So könnt’ man’s sehen«, bestätigte Terry und versteckte sich hinter Lawrence.
Lawrence lachte vergnügt. »Ehrlich gesagt, ich fühle mich direkt geschmeichelt, daß man mir noch soviel Tatendrang zutraut.« Er faßte Terry unter und zog ihn den Bürgersteig entlang zu einem Pub an der Ecke. »Soso, sie haben uns also für Schwule gehalten.« Vor der Tür des Pubs blieb er stehen und wartete, bis Terry sie ihm öffnete. »Danke«, sagte er und ergriff haltsuchend die Hand des Jungen, als er vorsichtig die Stufe hinaufstieg.
Terry warf Deacon über die Schulter hinweg einen gequälten Blick zu, der klar sagte, der Alte hält mich an der Hand, ich glaub’, das ist ein beschissener Schwuler, aber Deacon bleckte nur grimmig lächelnd die Zähne. »Geschieht dir recht«, sagte er lautlos und folgte den beiden.
Barry Grover blickte beinahe schuldbewußt auf, als der Wachmann die Tür zur Bibliothek öffnete und eintrat. »Okay, junger Mann, ab mit Ihnen, aber schnell«, sagte Glen Hopkins energisch. »Die Redaktion ist geschlossen, und Sie sollten Weihnachten feiern.«
Er war ein pensionierter Oberbootsmann, der kein Blatt vor den Mund nahm, und nachdem er sich lange genug die boshaften Klatschgeschichten der Frauen über Barry angehört hatte, hatte er nach eingehender Überlegung beschlossen, den jungen Mann an die Hand zu nehmen. Er wußte genau, was für ein Problem er hatte, und es war nichts, was sich nicht mit praktischen Ratschlägen und ein paar offenen Worten richten ließ. Er kannte Typen wie Barry aus der Marine, obwohl sie da zugegebenermaßen jünger gewesen waren.
Barry deckte die Papiere zu, die vor ihm lagen. »Ich arbeite an einer dringenden Sache«, erklärte er wichtigtuerisch.
»Tun Sie nicht. Wir wissen doch beide, was Sie da treiben, und Arbeit ist es nicht.«
Barry nahm seine Brille ab und spähte blind durch den Raum. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Aber klar wissen Sie das, und es ist nicht gesund, mein Junge.« Gewichtigen Schrittes kam Glen näher. »Ein junger Kerl wie Sie gehört unter Leute, er sollte seinen Spaß haben, anstatt hier im Finstern rumzusitzen und sich Bilder anzuschauen. Ich hab’ hier ein paar Karten mit Adressen und Telefonnummern, und ich schlag’ vor, Sie suchen sich die aus, die Ihnen am besten gefällt, und rufen sie an. Kostet natürlich eine Kleinigkeit, und ein Kondom brauchen Sie auch, aber die wird Sie im Nu auf die Höhe bringen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es ist doch nichts dabei, sich am Anfang ein bißchen Hilfe geben zu lassen.« Er legte die Karten einiger Prostituierter auf den Schreibtisch und gab Barry einen väterlichen Klaps auf die Schulter. »Sie werden sehen, das Richtige macht tausendmal mehr Spaß als eine Schachtel voll Fotos.«
Barry lief feuerrot an. »Sie verstehen nicht, Mr. Hopkins. Ich arbeite an einer Sache für Mike Deacon.« Er deckte die Bilder von Billy Blake und James Streeter auf. »Es ist ein Riesenknüller.«
»Klar, drum sitzt Mike auch am anderen Schreibtisch und hilft Ihnen«, sagte Glen ironisch, »anstatt wie sonst die Kneipen unsicher zu machen. Nun kommen Sie schon, mein Junge, keine Story ist so wichtig, daß sie nicht bis nach Weihnachten Zeit hat. Sie können sagen, es geht mich nichts an, aber ich hab’ einen guten Blick für die Probleme von anderen, und damit, daß Sie hier rumhängen, lösen Sie Ihres bestimmt nicht.«
Barry wich vor ihm zurück. »Sie sind völlig auf dem Holzweg«, murmelte er.
»Sie sind einsam, mein Junge, und wissen nicht, was Sie dagegen tun sollen. Ihre Mutter ist eine, die sich gern einmischt - vergessen Sie nicht, daß ich immer ans Telefon geh’, wenn sie abends hier anruft -, und, nehmen Sie’s mir nicht übel, wenn ich’s geradeheraus sage, für Sie wär’s besser gewesen, Sie hätten sich schon längst abgesetzt. Sie brauchen nur ein bißchen Selbstvertrauen, um loszulegen, und es ist doch nicht verboten, wenn man dafür erst mal zahlt.« Er lächelte aufmunternd. »Na los, zischen Sie ab und machen Sie sich ein Weihnachtsgeschenk, das Sie nie vergessen werden.«
Tief gedemütigt, blieb Barry nichts anderes übrig, als die Karten an sich zu nehmen und zu gehen, doch die Beschämung trieb ihm die Tränen in die Augen, und er blieb zwinkernd, wie ein verirrtes Kind, auf der Straße stehen, als die Tür hinter ihm geschlossen wurde. Er fürchtete so sehr, daß Glen ihn darüber ausfragen würde, wie alles gelaufen sei, daß er schließlich in eine Telefonzelle trat und die erste Nummer aus dem Kartenstapel wählte, die der Mann für ihn ausgesucht hatte. Hätte er gewußt, daß Glen, der der schlichten Überzeugung war, Sex könne jedes Übel heilen, diese Karten jedem Mitarbeiter zu verpassen pflegte, von dem er glaubte, er mache gerade eine schwere Zeit durch, so hätte er sich vielleicht zweimal überlegt, was er tat. So aber fürchtete er, seine Jungfräulichkeit würde zum allgemeinen Gespött werden, wenn er Glens Vorschlag nicht nachkam, und erklärte sich deshalb, mehr aus Angst, zur Zielscheibe des allgemeinen Spotts zu werden, als aus erwartungsfroher Begierde, bereit, die 100 Pfund zu bezahlen, die Fatima, das türkische Wunder, als Preis nannte.