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Einige Nachforschungen an einem ruhigen Nachmittag
förderten die Namen und Adressen von den Eltern und dem Bruder
James Streeters zutage sowie einige phantasievolle - und bewußt
verleumderische? - Presseerklärungen der Vereinigung der Freunde
James Streeters, die als Sitz die Adresse des Bruders in Edinburgh
angaben. Die letzte Erklärung war vom August 1991.
Trotz zwölfmonatiger intensiver Bemühungen seitens
der Vereinigung der Freunde James Streeters ist nicht eine einzige
Zeitung den Behauptungen der Vereinigung nachgegangen, daß James in
der Nacht zum Freitag, dem 27. April 1990, ermordet wurde, weil ein
Aufsichtsratsmitglied der Lowenstein-Bank gedeckt und die Bank vor
dem katastrophalen Zusammenbruch bewahrt werden sollte, der die
unvermeidliche Folge des Verlusts an Vertrauen in die
Unternehmensleitung gewesen wäre.
IM INTERESSE DER GERECHTIGKEIT MÜSSEN FOLGENDE
FAKTEN UNTERSUCHT WERDEN:
• James Streeter verfügte nicht über das
Fachwissen, um den Betrug zu bewerkstelligen, dessen er beschuldigt
wird. Es wird behauptet, er hätte sich seine Computerkenntnisse
während seiner Auslandsaufenthalte in Frankreich und Belgien
angeeignet. Die VFJS hat Zeugnisse seiner früheren Arbeitgeber und
seiner ersten Ehefrau gesammelt, aus denen hervorgeht, daß das
nicht zutrifft (siehe Anlagen).
• James Streeter hatte keine Möglichkeit, sich
vorzeitig über den Fortschritt der hausinternen Untersuchung der
Lowenstein-Bank oder über Aufsichtsratsbeschlüsse zu informieren;
er kann daher den »idealen« Tag, außer Landes zu gehen, gar nicht
gewußt haben. Die VFJS hat entsprechende Zeugenaussagen seiner
Sekretärin und Angehöriger seiner Abteilung (siehe Anlagen).
• James Streeter machte in den sechs Monaten vor
seinem Verschwinden Freunden und Kollegen gegenüber Andeutungen
über die Inkompetenz Nigel de Vriess’, seines Bereichsleiters, der
1990 Mitglied des Aufsichtsrats des Bankhauses Lowenstein war und
inzwischen das Unternehmen verlassen hat. Die VFJS hat drei
eidesstattliche Versicherungen des Inhalts, daß James im Januar
1990 sagte, Mr. de Vriess sei »bestenfalls inkompetent und
schlimmstenfalls kriminell motiviert« (siehe Anlagen).
• Viel Gewicht wurde den belastenden Behauptungen
beigemessen, die Amanda Streeter in einer schriftlichen Aussage vor
der Polizei gegen ihren Mann erhob: 1. James unterhalte eine
Beziehung zu einer Frau, die für ein Software-Unternehmen tätig sei
- Name Marianne Filbert, Aufenthaltsort unbekannt. 2. Er habe
einmal gesagt, »jeder Narr kann die Maschinen bedienen, wenn ihm
jemand zeigt, auf welche Knöpfe er drücken muß«. 3. Er sei besessen
gewesen von dem Gedanken, reich zu werden.
• Die VFJS weist alle drei Behauptungen als
falsch zurück. Nr. 1 und Nr. 3 beruhen einzig auf dem Wort Amanda
Streeters. Nr. 2 bezieht sich auf die Aussage eines Kollegen von
James, der inzwischen eingeräumt hat, daß er selbst 1990 nicht
sicher war, ob James die Person war, die diese Bemerkung
machte.
AUSSERDEM:
Die VFJS ist im Besitz von Beweisen, daß Amanda
Streeter ihrerseits eine Affäre hatte und ihr Liebhaber Nigel de
Vriess war. Wir haben Fotokopien von Rechnungen und die Aussagen
von Augenzeugen über zwei heimliche Rendezvous des Paares in den
Jahren 1986 und 1989 im George Hotel in Bath. Das erste fand nur
Wochen vor Amandas Heirat mit James statt, das zweite drei Jahre
später (siehe Anlagen).
WIR KLAGEN AMANDA STREETER UND NIGEL DE VRIESS
AN.
Der Mord an James Streeter ist ungestraft
geblieben. Wenn die Presse nicht ihre Apathie abschüttelt und jetzt
endlich handelt, wird der Schuldige weiterhin vom Tod eines
Unschuldigen profitieren. Die VFJS fordert eine ordnungsgemäße
Untersuchung der Aktivitäten Nigel de Vriess’ und seiner Geliebten,
Amanda Streeter. Bitte setzen Sie sich über Fax oder Telefon unter
den o. a. Nummern mit uns in Verbindung. Wir stehen Ihnen gern mit
weiteren Informationen zur Verfügung. John und Kenneth Streeter
sind jederzeit zu Interviews bereit.
Zwei Tage später rief Deacon, weil er gerade
nichts Besseres zu tun hatte, John Streeter abends in Edinburgh an.
Eine Frau meldete sich.
»Hallo«, sagte sie mit weichem schottischem
Akzent.
Deacon stellte sich als Londoner Journalist vor,
der daran interessiert sei, sich mit einem Sprecher der Vereinigung
der Freunde James Streeters zu unterhalten.
»Ach, du meine Güte!«
Er wartete einen Moment. »Gibt es
Schwierigkeiten?«
»Nein, es ist nur - also, um ehrlich zu sein, es
ist über ein Jahr her, daß - ach, warten Sie einen Moment, ja?«
Eine Hand legte sich über die Sprechmuschel. »John! Jo-ohn!« Die
Hand wurde entfernt. »Am besten sprechen Sie mit meinem
Mann.«
»Gern.«
»Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht
verstanden.«
»Michael Deacon.«
»Er kommt sofort.« Wieder legte sich die Hand auf
die Sprechmuschel, und diesmal klang ihre Stimme gedämpft.
»Schnell, beeil dich. Es ist ein Journalist. Er will über James
reden. Er heißt Michael Deacon. Nein, jetzt komm! Du hast deinem
Vater versprochen, du würdest nicht aufgeben.« Die Stimme wurde
wieder klar. »Ich gebe Ihnen jetzt meinen Mann.«
»Hallo?« Eine tiefe Männerstimme. »Ich bin John
Streeter. Was kann ich für Sie tun?«
Deacon zückte seinen Kugelschreiber und zog seinen
Block zu sich heran. »Bedeutet die Tatsache, daß Sie Ihre letzte
Presseerklärung vor dreieinhalb Jahren rausgeschickt haben, daß Sie
mittlerweile die Schuld Ihres Bruders akzeptiert haben?« fragte er
direkt.
»Sind Sie bei einer überregionalen Zeitung, Mr.
Deacon?«
»Nein.«
»Dann sind Sie selbständiger Journalist?«
»Soweit es diese Fragen betrifft, ja.«
»Haben Sie eine Ahnung, mit wie vielen
selbständigen Journalisten ich im Lauf der Jahre gesprochen habe?«
Er machte eine Pause, aber Deacon biß nicht an. »Mit ungefähr
dreißig«, fuhr er fort, »und nicht eine Zeile ist dabei für uns
herausgesprungen, weil kein Redakteur die Story haben wollte. Ich
fürchte, ich würde nur unser beider Zeit verschwenden, wenn ich
Ihre Fragen beantworte.«
Deacon klemmte das Telefon fester unter sein Kinn
und zeichnete eine Spirale auf seinen Block. »Dreißig ist gar
nichts, Mr. Streeter. Ich weiß von ähnlichen Kampagnen wie der
Ihren, wo man an Hunderte von Journalisten herantrat, ehe man
Erfolg hatte. Aber mal ganz abgesehen davon, man könnte Sie wegen
fast allem, was Sie in Ihrer Presseerklärung behaupten, verklagen.
Sie können von Glück sagen, daß Sie bisher einer Verleumdungsklage
entgangen sind.«
»Was an sich schon etwas beweist, meinen Sie nicht?
Wenn unsere Behauptungen verleumderisch sind, warum belangt uns
dann niemand?«
»Weil Ihre Zielpersonen nicht so dumm sind. Warum
Ihrer Kampagne noch Auftrieb durch kostenlose Publicity geben, wenn
sie gerade im Begriff ist, ganz von selbst im Sand zu verlaufen? Es
wäre etwas anderes, wenn es Ihnen gelänge, einen Redakteur zu
bewegen, gegen sein besseres Urteil zu handeln. Wollen Sie sagen,
daß niemals ein Wort zur Verteidigung Ihres Bruders veröffentlicht
worden ist?«
»Nur ein abfälliger Artikel in einer Anthologie
ungelöster Kriminalfälle, die letztes Jahr herausgekommen ist. Ich
habe zwei Tage geopfert, um mit Roger Hyde, dem Autor, zu sprechen,
und dafür hat er nichts weiter als eine langweilige Zusammenfassung
geschrieben, die mit seiner eigenen unausgegorenen Schlußfolgerung,
daß James schuldig sei, endete.« Er wirkte zornig und frustriert.
»Ich bin es langsam müde, mit dem Kopf gegen Wände zu
rennen.«
»Dann sind Sie vielleicht nicht mehr so fest von
der Schuldlosigkeit Ihres Bruders überzeugt wie vor fünf
Jahren?«
Streeter fluchte unterdrückt. »Das ist doch das
einzige, was Sie und Ihresgleichen wollen - die Bestätigung, daß
James schuldig ist.«
»Ich gebe Ihnen hier eine Gelegenheit, ihn zu
verteidigen, aber Sie scheinen nicht sehr erpicht darauf, sie zu
ergreifen.«
John Streeter ignorierte die Bemerkung. »Mein
Bruder stammt aus einer ehrlichen, fleißigen Familie. Haben Sie
eine Ahnung, was es für meine Eltern bedeutet, daß man ihren Sohn
einen Dieb nennt? Sie sind anständige und achtbare Leute und können
nicht verstehen, warum Journalisten wie Sie ihnen nicht einmal
zuhören.« Er holte zornig Luft. »Die Fakten interessieren Sie gar
nicht. Sie sind einzig daran interessiert, den Ruf eines Menschen
noch weiter zu zerstören.«
»Spielen Sie denn nicht das gleiche Spiel?«
murmelte Deacon ohne besonderen Nachdruck. »Wenn ich Ihre
Erklärungen nicht mißverstanden habe, beruht Ihre Verteidigung
Ihres Bruders doch ausschließlich darauf, Nigel de Vriess und
Amanda Streeter anzuschwärzen.«
»Mit gutem Grund. Es gibt keinen Beweis für Amandas
Behauptung, daß James eine Affäre hatte, aber wir haben Beweise für
ihre Beziehung zu de Vriess gefunden. Er hat die Bank um zehn
Millionen betrogen, und sie hat ihm dabei geholfen, indem sie die
Schuld auf ihren Mann abwälzte.«
»Das ist eine schwere Beschuldigung. Können Sie die
beweisen?«
»Nicht ohne Zugang zu den Bank- und Anlagekonten
der beiden, aber man braucht sich ja nur die Adressen der beiden
anzusehen, um zu begreifen, daß da plötzlich irgendwo Geld herkam.
Amanda hat sich nur Monate nach James’ Verschwinden ein Haus im
Wert von 600 000 Pfund an der Themse gekauft, und de Vriess hat
sich kurz danach ein Herrenhaus in Hampshire zugelegt.«
»Sehen sich die beiden noch?«
»Wir glauben nicht. De Vriess hat in den letzten
drei Jahren mindestens drei Geliebte gehabt, während Amanda ein
wahres Nonnenleben führt.«
»Und warum, glauben Sie?«
Streeters Ton wurde hart. »Wahrscheinlich aus
demselben Grund, aus dem sie nie die Scheidung eingereicht hat. Sie
möchte den Eindruck erwecken, daß James irgendwo noch am Leben
ist.«
Deacon blätterte in einigen seiner Kopien. »Okay,
sprechen wir mal von James’ angeblicher Affäre mit« - er suchte die
entsprechende Passage - »Marianne Filbert. Wenn es keine Beweise
für diese Beziehung gibt, weshalb hat die Polizei sich dann allein
mit Amanda Streeters Wort zufriedengegeben? Wer ist Marianne
Filbert? Wo ist sie? Was sagt sie dazu?«
»Ich werde die Fragen der Reihe nach beantworten.
Die Polizei hat sich mit Amandas Wort zufriedengegeben, weil es ihr
in den Kram paßte. Sie brauchten einen Computerfachmann für ihre
Theorie, und Marianne Filbert erfüllt alle Voraussetzungen. Sie
gehörte einem Forschungs- und Entwicklungsteam an, das Mitte der
achtziger Jahre für Softworks Limited tätig war. Softworks wurde
1986 beauftragt, einen Bericht für das Bankhaus Lowenstein zu
erstellen; es weiß allerdings niemand, ob Marianne Filbert damit
überhaupt zu tun hatte. Sie ist 1989 nach Amerika gegangen.« Er
machte eine kurze Pause. »Sie arbeitete sechs Monate bei einer
Software-Firma in Virginia, bevor sie nach Australien
auswanderte.«
»Und?« hakte Deacon nach, als Streeter nicht
weitersprach.
»Danach gibt es keine Spur mehr von ihr. Wenn sie
wirklich nach Australien gegangen ist, was jetzt zweifelhaft
erscheint, dann unter einem anderen Namen.«
»Wann hat sie das Unternehmen in Virginia
verlassen?«
»Im April 1990«, antwortete Streeter
widerstrebend.
Er tat Deacon leid. John Streeter war kein
Dummkopf, und blindes Vertrauen war unverkennbar nicht seine Sache.
»Die Polizei sieht also einen Zusammenhang zwischen dem
Verschwinden Ihres Bruders und dem Marianne Filberts? Mit anderen
Worten, er hat ihr das Signal zur Flucht gegeben.«
»Nur haben sie nie nachgewiesen, daß James und
Marianne Filbert einander überhaupt kannten. Wir sind überzeugt,
daß de Vriess und Amanda ihr grünes Licht gaben, zu
verschwinden.«
»Also eine Dreier-Verschwörung?«
»Warum nicht? Das ist genauso plausibel wie die
Theorie der Polizei. Überlegen Sie doch mal, Amanda war diejenige,
die der Polizei Marianne Filberts Namen genannt und ihnen erzählt
hat, die Frau sei nach Amerika gegangen. Ohne diese Aussage gäbe es
keine Verbindung zu einer Computerspezialistin und keine
Möglichkeit zu behaupten, James habe den Betrug eingefädelt. Die
gesamte Beweisführung der Polizei beruht auf der Voraussetzung, daß
James fachliche Hilfe hatte, aber Amandas Aussage über seine
angebliche Affäre mit Marianne Filbert ist niemals von dritter
Seite bestätigt worden.«
»Es fällt mir schwer, das zu glauben, Mr. Streeter.
Den Zeitungen zufolge wurde Amanda Streeter zwei Tage lang von der
Polizei vernommen, das heißt, daß sie auf der Liste der
Verdächtigen ganz oben rangierte. Es heißt außerdem, daß sie
Überzeugenderes als bloß einen Namen zu bieten gehabt haben muß.
Was war es?«
»Es war kein Beweis«, erklärte Streeter
störrisch.
Deacon zündete sich eine Zigarette an, während er
wartete.
»Sind Sie noch da?« fragte Streeter.
»Ja.«
»Sie konnte eine Beziehung zwischen den beiden
nicht beweisen. Sie konnte nicht einmal beweisen, daß sie sich
kannten.«
»Ich höre.«
»Sie hat der Polizei eine Serie Fotos vorgelegt.
Die meisten zeigten James’ Wagen vor der Wohnanlage in Kensington,
in der Marianne Filbert wohnte, bevor sie in die Staaten ging.
Außerdem waren drei unscharfe Aufnahmen von einem Pärchen dabei,
das sich küßte. Sie behauptete, es wären Marianne Filbert und
James, aber wenn Sie mich fragen, hätten es x-beliebige Personen
sein können. Und dann gab es noch eine Rückenansicht von einem Mann
in einem Mantel, der so ähnlich aussah wie der von James, beim
Betreten des Wohnhauses. Wie ich schon sagte, das alles beweist
überhaupt nichts.«
»Wer hat die Aufnahmen gemacht?«
»Ein Privatdetektiv, den Amanda beauftragt
hat.«
Derselbe, bei dem sie Billy Blakes wegen gewesen
war? »Waren sie datiert?«
»Ja.«
»Von wann waren sie?«
»Von Januar bis August’89.«
»Sie sagen, die meisten Bilder zeigten James’
Wagen. Saß er drin, als sie aufgenommen wurden?«
»Ja, es saß jemand drin, aber die Qualität der
Bilder ist nicht so gut, daß man sagen könnte, ob es James war oder
nicht.«
»Vielleicht war es Nigel de Vriess«, murmelte
Deacon mit einer Ironie, die bei dem anderen nicht ankam. Er bekam
langsam den Eindruck, daß John Streeter noch besessener davon war,
die Unschuld seines Bruders zu beweisen, als Amanda von ihrem
Bemühen, Billy Blakes wahre Identität herauszubekommen. Fixe Ideen
schienen ja in den Nachwehen des Verrats üppige Blüten zu
treiben.
»Wir sind überzeugt, daß der Mann de Vriess war«,
sagte Streeter.
»Die beiden wollten also Ihren Bruder absichtlich
zum Sündenbock machen?«
»Ja.«
»Na, das ist ja wirklich eine tolle
Verschwörungstheorie.« Diesmal troff Deacons Stimme von Sarkasmus.
»Sie behaupten, daß diese Leute bereits ein Jahr vor dem Ereignis
planten, wie sie einen völlig Unschuldigen ermorden wollten, ohne
Rücksicht darauf zu nehmen, was sich alles in der Zwischenzeit
ereignen könnte. Und mit dieser Theorie sind Sie zufrieden?« Asche
rieselte von seiner Zigarette auf das Revers seines Jacketts. »Ist
Ihre Schwägerin ein Ungeheuer, Mr. Streeter? Das müßte sie ja wohl
sein, wenn sie imstande wäre, das Haus mit einem Mann zu teilen,
dessen Ermordung sie längst geplant hatte. Also? Mit wem haben
wir’s hier zu tun? Mit Medusa?«
Schweigen.
»Und wer wäre so dumm, sich darauf zu verlassen,
daß der Status quo ewig bestehen bleibt? James war ein freier
Mensch. Er hätte jederzeit seine Frau verlassen oder seine Stellung
aufgeben können, und was wäre dann aus der schönen Verschwörung
geworden?« Er hielt inne, um den anderen antworten zu lassen, aber
Streeter sagte nichts. »Die naheliegende Erklärung«, fuhr er
deshalb fort, »ist die, von der sich die Polizei hat überzeugen
lassen. James hatte eine Affäre mit Marianne Filbert, und Amanda
bereitete ihr ein Ende, indem sie ihn beobachten und fotografieren
ließ. Danach setzte sie ihn unter Druck und erreichte, daß Marianne
Filbert in die Staaten ging.«
»Und wieso konnte sie der Polizei sagen, wo
Marianne Filbert zu erreichen ist?«
»Weil sie nicht dumm ist. Sie hätte in dem Bemühen,
ihre Ehe zu retten, garantiert einen Beweis verlangt, daß Marianne
Filbert weit ab vom Schuß ist. Und da wäre nur etwas Überprüfbares
akzeptabel gewesen, wie zum Beispiel eine Adresse oder ein gültiger
Vertrag mit dem Namen einer Firma drauf.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Mit wem?«
»Mit Amanda.«
»Nein«, log Deacon. »Sie sind der erste, mit dem
ich in dieser Sache spreche, Mr. Streeter. Ich bin zufällig auf
Ihre Presseerklärung gestoßen, und sie interessierte mich
ausreichend, um diesen Anruf zu machen. Sagen Sie«, fuhr er mit der
Geschmeidigkeit des routinierten Lügners fort, »was hat Sie
überhaupt veranlaßt, nach einer Verbindung zwischen Amanda und de
Vriess zu suchen?«
»Sie hat James durch de Vriess kennengelernt, bei
irgendeinem offiziellen Anlaß. De Vriess war damals verheiratet,
aber es war ein offenes Geheimnis, daß er vorhatte, seine Frau
Amandas wegen zu verlassen. Er hat sich immer mit ihr gezeigt, wenn
seine Frau nicht dabei war. Nachdem uns klargeworden war, daß de
Vriess hinter dem Schwindel steckte, erschien es uns logisch, daß
auch Amanda in die Sache verwickelt sein mußte, und wir haben uns
bemüht, Beweise dafür zu finden, daß die Affäre nicht zu Ende
war.«
»Nur scheinen Ihre Beweise ebenso dürftig zu sein
wie Ihre Logik.« Er zog die relevanten Fotokopien zu sich heran.
»Sie haben eine Hotelrechnung, die von de Vriess unterschrieben und
im Jahr 1986 datiert ist, dazu die Beschreibung einer Frau, die
Amanda Streeter gewesen sein könnte. Ihre Beweise für das
Jahr 1989 sind sogar noch fadenscheiniger.« Er schob die oberste
Kopie auf die Seite und suchte auf der darunterliegenden. »Ein
Kellner behauptet, einem Paar in Zimmer 306 Champagner gebracht zu
haben. Es habe sich um dieselben beiden Personen gehandelt, sagt
er, aber es gibt keine unterzeichnete Rechnung, die diese Aussage
bestätigt. Sie können nicht einmal beweisen, daß der Mann de Vriess
war, geschweige denn, daß es sich bei der Frau um Amanda
handelte.«
»Das zweitemal hat er bar bezahlt.«
»Was für ein Name stand auf der Rechnung.«
»Smith.«
Deacon drückte seine Zigarette aus. »Und da wundert
es Sie, daß niemand zu einer Veröffentlichung bereit ist? Keine
Ihrer Behauptungen ist haltbar.«
»Wir verfügen nur über begrenzte Mittel und
begrenzten Einfluß. Wir brauchen einen Reporter bei einer
überregionalen Zeitung, der ein bißchen Druck machen kann. Man hat
uns gesagt, daß in den Hotelunterlagen noch mehr zu finden ist,
wenn wir bereit sind, dafür zu bezahlen.«
»Das wird eine teure Angelegenheit werden, und am
Ende stehen Sie mit leeren Händen da.«
»Ich würde für die Ehrlichkeit meines Bruders die
Hand ins Feuer legen.«
»Dann machen Sie sich was vor«, entgegnete Deacon
grob. »An seiner Unehrlichkeit gibt es keinen Zweifel. Er
hat seine Frau betrogen, und sie konnte es beweisen, und Ihr Zorn
darüber hat Ihr Urteil getrübt. Ihr Ausgangspunkt hätte die
Anerkennung der Tatsache sein müssen, daß James an seinem eigenen
Untergang mitgewirkt hat.«
»Ich hab’ ja gewußt, daß es nur Zeitverschwendung
sein würde«, sagte John Streeter aufgebracht.
»Sie schießen dauernd auf die falschen Ziele, Mr.
Streeter. Damit verschwenden Sie Ihre Zeit.«
Der andere legte auf.
Deacons Nachfragen über Billy Blake bei der
Polizei der Isle of Dogs hatte wenig Nützliches erbracht, obwohl er
darauf hingewiesen hatte, daß Billy möglicherweise ein Mörder
gewesen war. Er hatte darauf die überraschende Antwort erhalten,
daß die Polizei zum Zeitpunkt von Billys erstmaliger Festnahme
genau diese Möglichkeit untersucht hätte.
»Ich hab’ für den Coroner seine Akte durchgesehen«,
berichtete der uniformierte Constable, der den Abtransport von
Billys Leiche beaufsichtigt hatte. »Er wurde das erstemal 1991
festgenommen, weil er mehrfach Nahrungsmittel in Supermärkten
gestohlen hatte. Er hat schon damals gehungert, und es wurde kurz
überlegt, ob man ihn unter Anklage stellen oder in ein Heim
einweisen sollte. Schließlich hat man sich dafür entschieden, ihn
psychiatrisch untersuchen zu lassen, weil er sich die Fingerkuppen
verbrannt hatte. Irgendein heller Kopf meinte, er hätte es mit
Absicht getan, um einer Mordanklage zu entkommen, und plötzlich
hatten alle Sorge, er könnte gemeingefährlich sein.«
»Und?«
Der Constable zuckte die Achseln. »Er hatte in
Brixton ein paar Gespräche und wurde für gesund erklärt. Der
Psychiater war der Ansicht, er wäre eher eine Gefahr für sich
selbst als für andere.«
»Wie erklärte er die verbrannten
Fingerkuppen?«
»Soweit ich mich erinnere, sprach er von einem
krankhaften Interesse an Selbstkasteiung. Er beschrieb Billy als
einen Büßer.«
»Was heißt das?«
Neuerliches Achselzucken. »Vielleicht sollten Sie
das den Psychiater selbst fragen.«
Deacon nahm seinen Block heraus. »Wissen Sie seinen
Namen?«
»Den kann ich feststellen.« Zehn Minuten später kam
er zurück und reichte Deacon einen Zettel mit Namen und Adresse
darauf. »Gibt’s sonst noch was?« erkundigte er sich, begierig, sich
endlich wieder mit wichtigeren Dingen beschäftigen zu können als
einem toten Penner.
Widerstrebend stand Deacon auf. »Die Information,
die ich bekommen habe, war ziemlich präzise.« Er steckte den
Notizblock wieder ein. »Mir wurde gesagt, Billy Blake hätte
jemanden erdrosselt.«
Der Constable zeigte mildes Interesse, bis Deacon
gestand, daß sein Informant nichts weiter wußte als das, was Billy
eines Abends in volltrunkenem Zustand herumgebrüllt hatte.
»Wen soll er denn erdrosselt haben, Sir? Einen Mann
oder eine Frau?«
»Das weiß ich nicht.«
»Können Sie mir einen Namen nennen?«
»Nein.«
»Wo ist dieser Mord verübt worden?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wann?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Dann tut es mir leid, Sir, aber unter diesen
Umständen kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«
Deacon hatte den Westminster Pier aufgesucht, wo
die Vergnügungsdampfer lagen, hatte aber vergeblich nach jemandem
gesucht, den er über einen Pflastermaler, der früher einmal hier
Almosen gesammelt hatte, befragen konnte. Es frappierte ihn, wie
feindselig der Fluß im Winter erschien, wie verstohlen sein Wasser
gegen die überwinternden Vergnügungsdampfer schlug, wie schwarz und
geheimnisvoll seine Tiefen waren. Er erinnerte sich an etwas, das
Amanda Powell gesagt hatte:... er wollte so nahe wie möglich an der
Themse sein. Aber warum? Welcher Art war das Band, das Billy mit
dieser großen Schlagader im Herzen Londons verknüpfte? Er beugte
sich vor und starrte ins Wasser.
Eine alte Frau, die vorbeikam, blieb stehen. »Ein
vorzeitiger Tod ist nie die Lösung, junger Mann. Er wirft weit mehr
Fragen auf, als er klärt. Haben Sie bedacht, daß auf der anderen
Seite vielleicht jemand auf Sie wartet, und Sie noch gar nicht
bereit sind, ihm gegenüberzutreten?«
Er drehte sich herum, wußte nicht, ob er pikiert
oder gerührt sein sollte. »Keine Sorge, Madam. Ich hab’ nicht vor,
mir das Leben zu nehmen.«
»Vielleicht heute nicht«, entgegnete sie, »aber Sie
haben schon daran gedacht.« Sie hatte einen kleinen weißen Pudel an
der Leine, der Deacon mit wedelndem Stummelschwanz begrüßte. »Ich
erkenn’ die Leute sofort, die schon mal dran gedacht haben. Sie
suchen Antworten, die es nicht gibt, weil Gott sie noch nicht
offenbart hat.«
Er kauerte nieder, um dem kleinen Hund die Ohren zu
kraulen. »Ich habe gerade an einen Freund von mir gedacht, der sich
vor sechs Monaten das Leben genommen hat. Ich habe mich gefragt,
warum er nicht in den Fluß gegangen ist. Es wäre ein weniger
schmerzhafter Tod gewesen als der, den er gewählt hat.«
»Aber würden Sie über ihn nachdenken, wenn er nicht
unter Schmerzen gestorben wäre?«
Deacon richtete sich auf. »Wahrscheinlich
nicht.«
»Dann hat er vielleicht darum diesen Weg
gewählt.«
Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr das
erste Foto Billys. »Vielleicht haben Sie ihn einmal gesehen. Er hat
im Sommer hier Pflasterbilder gemalt. Er hat Christi Geburt gemalt
und darunter ›Gesegnet seien die Armen‹ geschrieben. Erkennen Sie
ihn?«
Sie studierte das Gesicht einige Sekunden lang.
»Ja, ich glaube«, sagte sie bedächtig. »Auf jeden Fall erinnere ich
mich an einen Pflastermaler, der Bilder der Heiligen Familie gemalt
hat, und ich glaube, das war der Mann.«
»Haben Sie einmal mit ihm gesprochen?«
»Nein.« Sie gab die Fotografie zurück. »Ich konnte
ihm nichts sagen.«
»Aber Sie haben doch mit mir gesprochen«, sagte
Deacon.
»Weil ich dachte, Sie würden auf mich hören.«
»Und bei ihm dachten Sie das nicht?«
»Ich wußte es. Ihr Freund wollte
leiden.«
Auf die wenn auch entfernte Möglichkeit hin, daß
Billy Blake Lehrer gewesen war, und da es ein landesweites
Verzeichnis aller Lehrer, wie er festgestellt hatte, nicht gab, lud
Deacon einen Bekannten, der ein hoher Funktionär in der
Lehrergewerkschaft war, zum Essen ein, berichtete ihm, was er
wußte, und bat ihn, auf der Säumnisliste der Gewerkschaft nach
Englischlehrern zu suchen, deren Beitragszahlungen in den letzten
zehn Jahren ohne triftigen Grund ausgeblieben waren.
»Das soll doch hoffentlich ein Witz sein«, sagte
sein Bekannter mit einiger Erheiterung. »Haben Sie eine Ahnung, wie
viele Lehrer es in diesem Land gibt und wie hoch der Wechsel ist?
Bei der letzten Zählung waren es mehr als vierhunderttausend
Vollzeitkräfte ohne die Universitäten.« Er schob seinen Teller zur
Seite. »Und was soll das heißen, ›ohne triftigen Grund‹?
Depressionen? Das ist beinahe gang und gäbe. Invalidität infolge
von Gewaltanwendung fünfzehnjähriger Schläger? Das kommt weit
häufiger vor, als zugegeben wird. Im Augenblick gibt es meiner
Schätzung nach mehr inaktive Lehrer als aktive. Wer will schon die
Hölle im Klassenzimmer, wenn sich etwas Zivilisierteres bietet? Sie
verlangen von mir, daß ich die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen
suche. Sie haben außerdem bequemerweise das Datenschutzgesetz
vergessen, das mir verbietet, Ihnen die Information zu geben,
selbst wenn ich sie hätte.«
»Der Mann ist seit sechs Monaten tot«, entgegnete
Deacon. »Sie würden also keinen Vertrauensbruch begehen, und seine
Beitragszahlungen wurden wahrscheinlich schon vor mindestens vier
Jahren eingestellt. Sie müßten sich die Säumnislisten zwischen 1984
und 1990 ansehen.« Er lächelte plötzlich. »Na schön, es war ein
Versuch.«
»Einen Versuch nennen Sie das? Es war von Anfang an
eine Niete, mein Lieber. Sie wissen seinen Namen nicht und haben
keine Ahnung, woher er kommt oder ob er überhaupt
Gewerkschaftsmitglied war.«
»Ja, sicher...«
»Sie wissen nicht einmal, ob er überhaupt Lehrer
war. Sie vermuten es nur, weil er Gedichte von William Blake
auswendig konnte.« Der Mann lächelte liebenswürdig. »Tun Sie mir
einen Gefallen, Deacon, lassen Sie sich mal gründlich den Kopf
waschen. Ich bin ein überarbeiteter, unterbezahlter
Gewerkschaftsmensch, kein gottverdammter Hellseher.«
Deacon lachte. »Okay. Ich hab’ schon kapiert. Es
war kein guter Einfall.«
»Was ist an dem Burschen überhaupt so wichtig? Das
haben Sie mir gar nicht erklärt.«
»Vielleicht nichts.«
»Warum dann dieser Drang herauszubekommen, wer er
war?«
»Ich möchte gern wissen, was einen gebildeten Mann
zur Selbstzerstörung treibt.«
»Ach so«, sagte der andere verständnisvoll. »Es ist
was Persönliches.«
The Street, Fleet Street, London EC 4
Dr. Henry Irvine
St. Peter’s Hospital
London SW 10
St. Peter’s Hospital
London SW 10
10. Dezember 1995
Sehr geehrter Dr. Irvine,
Ihr Name wurde mir in Verbindung mit einem Häftling
genannt, über den Sie 1991 im Gefängnis
Brixton ein Gutachten angefertigt haben. Sein
Name war Billy Blake. Sie haben vielleicht von
seinem Hungertod in einer Garage im Londoner Hafenviertel
im Juni dieses Jahres gelesen. Seine
Geschichte, eine tragische, wie mir scheint, hat
mein Interesse geweckt, und ich erlaube mir die
Frage, ob Sie vielleicht Informationen besitzen,
die mir helfen würden festzustellen, wer er war
und woher er kam.
Ihr Name wurde mir in Verbindung mit einem Häftling
genannt, über den Sie 1991 im Gefängnis
Brixton ein Gutachten angefertigt haben. Sein
Name war Billy Blake. Sie haben vielleicht von
seinem Hungertod in einer Garage im Londoner Hafenviertel
im Juni dieses Jahres gelesen. Seine
Geschichte, eine tragische, wie mir scheint, hat
mein Interesse geweckt, und ich erlaube mir die
Frage, ob Sie vielleicht Informationen besitzen,
die mir helfen würden festzustellen, wer er war
und woher er kam.
Meiner Meinung nach wählte er das Alias William
Blake, weil er in seinem eigenen Leben Parallelen zum Leben des
Dichters sah. Wie William war auch Billy von Gott (und/oder
Göttern) besessen und predigte jedem, der es hören wollte, seine
(oder ihre) Bedeutung. Doch seine Botschaft war zu esoterisch, um
verstanden zu werden. Beide Männer waren Maler und Visionäre, beide
starben in Not und Armut. Es wird Sie vielleicht interessieren, daß
ich meine Magisterarbeit über William Blake geschrieben habe und
daher diese Parallelen besonders faszinierend finde.
Nach dem wenigen, was ich bisher über Billy weiß,
scheint er ein gequälter Mensch gewesen zu sein, der möglicherweise
an Schizophrenie gelitten hat. Ferner behauptet einer meiner
Informanten (nicht sehr zuverlässig), Billy habe gestanden,
irgendwann in der Vergangenheit einen Menschen erdrosselt zu haben.
Können Sie mir irgend etwas berichten, was diese Behauptung
bestätigen oder widerlegen würde?
Ich bin mir natürlich völlig im klaren darüber, daß
Ihre Gespräche mit Billy vertraulich waren, dennoch finde ich, daß
sein Tod eine Untersuchung fordert, und wäre Ihnen daher für jede
Information dankbar. Es liegt mir fern, Ihr berufliches Renommee in
irgendeiner Weise gefährden zu wollen, und alles, was Sie mir an
Unterlagen überlassen, werde ich ausschließlich im Rahmen meiner
Recherchen über Billys Geschichte verwenden.
Vielleicht ist Ihnen meine Arbeit bekannt; wenn
nicht, sollten die beigelegten Beispiele Ihrer Orientierung dienen.
Ich hoffe, sie werden Sie davon überzeugen, daß Sie sich auf meine
Diskretion verlassen können.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Deacon
Dr. Henry Irvine, MB, FRCP
St. Peter’s Hospital
London
St. Peter’s Hospital
London
17. Dezember 1995
Sehr geehrter Mr. Deacon,
besten Dank für Ihr Schreiben vom 10. Dezember.
Mein Befund über Billy Blake ist seit 1991 öffentlich
bekannt, ich kann daher keinen Vertrauensbruch
darin sehen, wenn ich Ihnen die Informationen
liefere, die Sie wünschen. Auch ich bin
der Meinung, daß sein Tod untersucht werden
sollte. Es hat mich sehr geärgert, als man mir
weitere Gespräche mit ihm verwehrte, nachdem ich
darauf hingewiesen hatte, daß Billys Selbstverstümmelung
eher die Folge eines persönlichen
Traumas als einer Straftat sei: Ich war der
festen Überzeugung, daß weitere Sitzungen mir
ermöglicht hätten, ihm zu helfen. Ich bot ihm
zwar kostenlose Behandlung nach Abbüßung seiner
Gefängnisstrafe an, doch ich konnte ihn natürlich
nicht zwingen, von dem Angebot Gebrauch zu
machen, und so verlor ich, wie es unvermeidlich
war, den Kontakt zu ihm. Ihr Brief ist die einzige
Rückmeldung, die ich je zu diesem Fall erhalten
habe.
besten Dank für Ihr Schreiben vom 10. Dezember.
Mein Befund über Billy Blake ist seit 1991 öffentlich
bekannt, ich kann daher keinen Vertrauensbruch
darin sehen, wenn ich Ihnen die Informationen
liefere, die Sie wünschen. Auch ich bin
der Meinung, daß sein Tod untersucht werden
sollte. Es hat mich sehr geärgert, als man mir
weitere Gespräche mit ihm verwehrte, nachdem ich
darauf hingewiesen hatte, daß Billys Selbstverstümmelung
eher die Folge eines persönlichen
Traumas als einer Straftat sei: Ich war der
festen Überzeugung, daß weitere Sitzungen mir
ermöglicht hätten, ihm zu helfen. Ich bot ihm
zwar kostenlose Behandlung nach Abbüßung seiner
Gefängnisstrafe an, doch ich konnte ihn natürlich
nicht zwingen, von dem Angebot Gebrauch zu
machen, und so verlor ich, wie es unvermeidlich
war, den Kontakt zu ihm. Ihr Brief ist die einzige
Rückmeldung, die ich je zu diesem Fall erhalten
habe.
Zur Erläuterung meiner Rolle in diesem Fall muß ich
vorausschicken, daß die Polizei nicht davon überzeugt war, daß der
Diebstahl von Brot und Schinken aus einem Supermarkt Billy Blakes
erste Straftat war. Sie fanden heraus, daß er einen falschen Namen
benutzte, und wurden mißtrauisch angesichts seiner verstümmelten
Hände, die eine Prüfung seiner Fingerabdrücke unmöglich machten. Es
gelang ihnen jedoch trotz langer Vernehmungen nicht, ihn zu
»knacken«, und sie erhoben schließlich Anklage wegen
Ladendiebstahls, den er bereits gestanden hatte. Ich wurde im
Hinblick auf die ungewöhnliche Natur des Mannes beauftragt, ein
psychologisches Gutachten zu erstellen. Einfach gesagt, übertrug
man mir die Aufgabe festzustellen, ob Billy eine Gefahr für die
Gemeinschaft sei, und begründete dies mit dem Argument, daß er sich
die Finger nicht auf so fürchterliche Weise verbrannt hätte, wenn
er nicht fürchtete, eines früheren Gewaltverbrechens überführt zu
werden.
Obwohl ich Billy nur dreimal gesehen habe, hat er
mich außerordentlich beeindruckt. Er war unglaublich abgemagert,
sein Haar war schlohweiß, und er war, obwohl er unverkennbar an
akuten Symptomen des Alkoholentzugs litt, stets Herr seiner selbst.
Er besaß eine starke Präsenz und beträchtlichen Charme, und am
ehesten würde ich ihn als »Fanatiker« oder »Heiligen« beschreiben.
Diese Bezeichnungen mögen im London der neunziger Jahre seltsam
anmuten, doch sein leidenschaftliches Bemühen, andere zu retten,
während er selbst Qualen litt, läßt, nachdem einmal die
naheliegenden geistigen Störungen ausgeschlossen waren, eine andere
Beschreibung nicht zu. Er war ein ziemlich besonderer Mensch.
Ich lege den Schlußteil des psychiatrischen
Gutachtens bei sowie die Aufzeichnung eines Teils eines Gesprächs,
das ich mit Billy geführt habe und das Sie vielleicht interessieren
wird. Ich gestehe, daß mir der Bezug zu William Blake entgangen
ist, aber Billys Reden waren in der Tat visionär. Wenn ich Ihnen
sonst noch irgendwie behilflich sein kann, stehe ich Ihnen
jederzeit zur Verfügung
Mit den besten Wünschen
Henry Irvine
PS: Zu den Aufzeichnungen: Es sind natürlich die
Antworten, die Billy verweigerte, die uns am meisten über ihn
sagen.
Psychiatrisches Gutachten
Patient: Billy Blake **/5387
Interviewer: Dr. Henry Irvine
Interviewer: Dr. Henry Irvine
Beurteilung:
Billy Blake verfügt über ein vollentwickeltes
Verständnis moralischer und ethischer Gesetze, bezeichnet sie
jedoch als »rituelle Werkzeuge zur Unterwerfung des Einzelwillens
unter den Stammeswillen«, woraus ich entnehme, daß seine eigenen
moralischen Anschauungen in Konflikt mit den sozialen und
rechtlichen Definitionen von Recht und Unrecht stehen. Er zeigt
außergewöhnliche Selbstkontrolle und gewährt keinen Einblick in
seine Herkunft und seine Geschichte. Der Name Billy Blake ist
beinahe mit Sicherheit ein angenommener Name, auch wenn Fragen nach
bestimmten Straftaten keine Reaktion bei ihm hervorrufen. Er hat
einen hohen IQ, und es ist schwierig einzuschätzen, welches die
Gründe für seine Weigerung sind, über seine Vergangenheit zu
sprechen. Er hat ein krankhaftes Interesse an Hölle und Kasteiung,
stellt aber eher eine Bedrohung für sich selbst als seine
Mitmenschen dar. Ich kann keine Anzeichen einer gefährlichen
geistigen Störung entdecken. Er scheint klare vernunftgemäße Gründe
für die Wahl seines Lebensstils zu haben - ich würde es als
Büßerleben beschreiben -, und ich halte es für weit
wahrscheinlicher, daß ein Trauma persönlicher Art, das mit einem
Verbrechen nichts zu tun hat, ihn motiviert.
Er präsentiert sich als passiver Mensch, mir sind
jedoch Zeichen von Erregung aufgefallen, sobald man ihm Fragen
darüber stellt, wo er sich aufgehalten und was er getan hat, bevor
er das erstemal amtsbekannt wurde. Ich gebe zu, es könnte in seiner
Vergangenheit ein Verbrechen gegeben haben - er war ja durchaus
zielstrebig genug, sich selbst zu verstümmeln, um einen bestimmten
Zweck zu erreichen -, aber ich halte es für unwahrscheinlich. Er
entwickelte rasch einen starken Widerstand gegen meine Fragen zu
diesem Thema, und es ist zu bezweifeln, daß weitere Sitzungen ihn
zu mehr Aufgeschlossenheit bewegen könnten. Ich bin jedoch der
wohlüberlegten Meinung, daß eine Therapie für ihn gewinnbringend
wäre, denn ich fürchte, daß sein gesellschaftliches ›Exil‹, das von
einem beinahe fanatischen Bestreben, Hunger und Entbehrung zu
leiden, begleitet ist, sonst unnötig zu seinem vorzeitigen Tod
führen wird.
Henry Irvine
PROTOKOLL EINES AUFGEZEICHNETEN GESPRÄCHS MIT
BILLY BLAKE VOM 12. 7. 91 (NUR AUSZUGSWEISE)
IRVINE: Wollen Sie damit sagen, daß Ihre
persönlichen ethischen Grundsätze von höherem Rang sind als die
religiösen Gesetze?
BLAKE: Ich will sagen, daß sie anders sind.
IRVINE: In welcher Hinsicht?
BLAKE: Absolute Werte gibt es in meinem Moralsystem
nicht.
IRVINE: Können Sie das erklären?
BLAKE: Unterschiedliche Umstände verlangen
unterschiedliche ethische Gebote. Zum Beispiel ist es nicht immer
eine Sünde zu stehlen. Wäre ich eine Mutter mit hungernden Kindern,
würde ich es für eine schwerere Sünde halten, sie verhungern zu
lassen.
IRVINE: Mit diesem Beispiel machen Sie es sich zu
einfach, Billy. Die meisten Menschen würden Ihnen zustimmen. Wie
sieht es mit Mord aus?
BLAKE: Nicht anders. Ich bin der Meinung, es gibt
Zeiten und Anlässe, wo ein Mord, ob nun vorsätzlich oder nicht,
angemessen ist. (Pause) Aber ich halte es für unmöglich, mit den
Konsequenzen eines solchen Verbrechens zu leben. Das Tabu, ein
Mitglied der eigenen Gattung zu töten, ist sehr stark, und es ist
schwer, Tabus zu rationalisieren.
IRVINE: Sprechen Sie aus persönlicher
Erfahrung?
BLAKE: (Gibt keine Antwort)
IRVINE: Sie haben sich, wie mir scheint, selbst
schwer bestraft, besonders mit der Verbrennung Ihrer Hände. Wie Sie
zweifellos bereits wissen, vermutet die Polizei dahinter einen
bewußten Versuch von Ihnen, Ihre Fingerabdrücke unkenntlich zu
machen.
BLAKE: Nur weil sie sich einen anderen Grund nicht
vorstellen können, weshalb ein Mensch den Wunsch haben sollte, sich
über den einzigen Gegenstand auszudrücken, der ihm wahrhaft gehört
- seinen Körper.
IRVINE: Selbstverstümmelung ist im allgemeinen ein
Hinweis auf einen verwirrten Geist.
BLAKE: Würden Sie das auch sagen, wenn ich meinen
Körper mit Tätowierungen entstellt hätte? Die Haut ist eine
Leinwand, auf der jeder mit seiner eigenen Kreativität spielen
kann. Ich sehe in meinen Händen die gleiche Schönheit, wie eine
Frau sie in ihrem Gesicht sieht, wenn sie sich vor einem Spiegel
schminkt. (Pause) Wir glauben, unseren Geist zu beherrschen, aber
so ist es nicht. Er läßt sich so leicht manipulieren. Machen Sie
ihn reich, und Sie machen ihn hochmütig. Heilige und Sünder sind
die einzigen Freidenker in einer beherrschten Gesellschaft.
IRVINE: Was sind Sie?
BLAKE: Keines von beiden. Ich bin unfähig, frei zu
denken. Mein Geist ist gefesselt.
IRVINE: Womit?
BLAKE: Mit den gleichen Fesseln wie Ihrer, Doktor.
Durch den Intellekt. Sie sind zu vernünftig, um gegen Ihre eigenen
Interessen zu handeln, darum mangelt es Ihrem Leben an
Spontaneität. Sie werden in den Ketten sterben, die Sie sich selbst
geschmiedet haben.
IRVINE: Sie wurden wegen Diebstahls verhaftet.
Haben Sie damit nicht gegen Ihre eigenen Interessen
gehandelt?
BLAKE: Ich war hungrig.
IRVINE: Sie finden es vernünftig, im Gefängnis zu
sitzen?
BLAKE: Es ist kalt draußen.
IRVINE: Sagen Sie mir mehr über die Ketten, die ich
mir selbst geschmiedet habe.
BLAKE: Es sind geistige Ketten. Sie passen sich den
Verhaltensmustern an, die andere Ihnen vorschreiben. Sie werden
niemals das tun, was Sie tun wollen, weil der Wille des Stammes
stärker ist als Ihr eigener.
IRVINE: Aber Sie sagten eben, Ihr Geist sei ebenso
eingeschränkt wie meiner, Billy, und Sie sind kein Konformist. Wenn
Sie einer wären, säßen Sie nicht im Gefängnis.
BLAKE: Gefängnishäftlinge sind die
allergewissenhaftesten Konformisten, sonst würden in Einrichtungen
wie dieser ständig Rebellion und Aufruhr toben.
IRVINE: Das meine ich nicht. Sie scheinen mir ein
gebildeter Mann zu sein, dennoch führen Sie das Leben eines
Ausgestoßenen. Ist die Einsamkeit der Straße der konventionelleren
Existenz mit Heim und Familie vorzuziehen?
BLAKE: (Lange Pause) Ich muß den Begriff verstehen,
ehe ich die Frage beantworten kann. Wie definieren Sie Heim und
Familie, Doktor?
IRVINE: Das Heim sind die Ziegel und der Mörtel,
die Ihrer Familie - Frau und Kindern - Geborgenheit bieten. Es ist
ein Ort, den die meisten von uns lieben, weil dort die Menschen
leben, die wir lieben.
BLAKE: Dann habe ich einen solchen Ort nicht
zurückgelassen, als ich wegging.
IRVINE: Was haben Sie zurückgelassen?
BLAKE: Nichts. Ich trage alles bei mir.
IRVINE: Erinnerungen, meinen Sie?
BLAKE: Mich interessiert nur die Gegenwart. Die
Art, wie wir unsere Gegenwart leben, bestimmt unsere Vergangenheit
und unsere Zukunft.
IRVINE: Mit anderen Worten, Freude an der Gegenwart
erzeugt erfreuliche Erinnerungen und eine optimistische Sicht in
die Zukunft.
BLAKE: Ja. Wenn es das ist, was man wünscht.
IRVINE: Wünschen Sie das denn nicht?
BLAKE: Freude ist auch so ein Begriff, der mir
unverständlich ist. Ein Mittelloser freut sich über eine Kippe im
Rinnstein, ein Reicher findet sie eklig. Mir genügt es, in Frieden
zu leben.
IRVINE: Hilft Ihnen das Trinken dabei, diesen
Frieden zu erreichen?
BLAKE: Es ist ein schneller Weg ins Vergessen, und
ich würde Vergessen als Frieden bezeichnen.
IRVINE: Sie mögen Ihre Erinnerungen nicht?
BLAKE: (Gibt keine Antwort)
IRVINE: Können Sie sich für mich eine böse
Erinnerung ins Gedächtnis rufen?
BLAKE: Ich habe Erfrorene in der Gosse gefunden,
und ich habe zugesehen, wie Menschen eines gewaltsamen Todes
starben, weil der Zorn andere zum Wahnsinn getrieben hatte. Der
menschliche Geist ist so zerbrechlich, daß jede mächtige Emotion
seine inneren Gebote umstürzen kann.
IRVINE: Ich bin mehr an Erinnerungen von Ihnen aus
der Zeit interessiert, bevor Sie zum Vagabunden wurden.
BLAKE: (Gibt keine Antwort)
IRVINE: Halten Sie es für möglich, daß man von der
Art Wahnsinn gesundet, die Sie eben beschrieben haben?
BLAKE: Sprechen Sie von Rehabilitation oder
Erlösung?
IRVINE: Von beidem. Glauben Sie an die
Erlösung?
BLAKE: Ich glaube an die Hölle. Nicht an das
Höllenfeuer und die Folter der Inquisition, sondern an die eisige
Hölle ewiger Verzweiflung, in der es keine Liebe gibt. Es ist
schwer vorstellbar, wie Erlösung bis zu einem solchen Ort
vordringen soll, wenn Gott nicht existiert. Nur eine göttliche Hand
kann eine Seele retten, die dazu verdammt ist, auf ewig in der
Einsamkeit des Abgrunds der Hölle zu existieren.
IRVINE: Glauben Sie an Gott?
BLAKE: Ich glaube, daß in jedem von uns die
Möglichkeit des Göttlichen steckt. Wenn Erlösung möglich ist, dann
kann sie nur im Hier und Jetzt erfolgen. Sie und ich werden nach
den Bemühungen gerichtet werden, die wir unternehmen, die Seele
eines anderen vor der ewigen Verzweiflung zu retten.
IRVINE: Liegt in der Rettung einer anderen Seele
der Schlüssel zum Himmel?
BLAKE: (Gibt keine Antwort)
IRVINE: Können wir uns die Erlösung selbst
verdienen?
BLAKE: Nicht, wenn wir andere im Stich
lassen.
IRVINE: Wer wird uns richten?
BLAKE: Wir richten uns selbst. Unsere Zukunft, ob
jetzt oder im Jenseits, wird durch unsere Gegenwart bestimmt.
IRVINE: Haben Sie jemanden im Stich gelassen,
Billy?
BLAKE: (Gibt keine Antwort)
IRVINE: Ich kann mich täuschen, aber mir scheint,
Sie haben sich selbst bereits gerichtet und verdammt. Wie kommt
das, wenn Sie doch an die Erlösung für andere glauben?
BLAKE: Ich suche noch nach der Wahrheit.
IRVINE: Das ist eine sehr düstere Philosophie,
Billy. Gibt es denn in Ihrem Leben keinen Raum für Glück?
BLAKE: Ich betrinke mich, sooft ich kann.
IRVINE: Macht Sie das glücklich?
BLAKE: Natürlich, aber ich definiere ja Glück auch
als Abwesenheit des Intellekts. Sie haben wahrscheinlich eine
andere Definition.
IRVINE: Möchten Sie darüber sprechen, was Sie getan
haben, das es Ihnen unmöglich macht, anders als auf dem Weg des
Vergessens durch geistige Benebelung mit Ihren Erinnerungen fertig
zu werden?
BLAKE: Ich leide in der Gegenwart, Doktor, nicht in
der Vergangenheit.
IRVINE: Genießen Sie es zu leiden?
BLAKE: Ja, wenn es Mitleiden hervorruft. Es gibt
keinen Weg aus der Hölle außer durch Gottes Erbarmen.
IRVINE: Warum überhaupt in die Hölle gehen? Können
Sie sich nicht schon jetzt erlösen?
BLAKE: Meine eigene Erlösung interessiert mich
nicht. (Billy weigerte sich, mehr zu dem Thema zu sagen, und wir
sprachen einige Minuten über allgemeine Dinge, bis die Sitzung zu
Ende war.)