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Auch wenn Deacon überrascht war, daß Barry Grover
verschwunden war, ohne ein Wort zu sagen, machte er sich doch
weiter keine Gedanken darüber. Er war selbst schon zu oft mitten im
schönsten Besäufnis gegangen, um es als ungewöhnlich zu betrachten.
Außerdem war er froh, den Mann nicht nach Hause fahren zu müssen.
Er war nicht so betrunken, wie Barry geglaubt hatte, aber er hatte
sein Maß eindeutig überschritten und beschloß deshalb, seinen Wagen
stehenzulassen und ein Taxi zu nehmen. Er lebte in einer gemieteten
Mansardenwohnung, und je näher sie Islington kamen, desto tiefer
drückte die Depression ihn in seinen Sitz. Er und Barry hatten
etwas gemeinsam, dachte er, wenn Barrys lange Arbeitszeiten
bedeuteten, daß er Deacons Abneigung gegen das Nachhausekommen
teilte. Die Parallele machte ihn plötzlich neugierig. Was für
Gründe hatte Barry? Fürchtete er wie Deacon die Leere einer
Wohnung, die nichts Persönliches barg, weil es nichts aus seiner
Vergangenheit gab, woran er sich gern erinnern wollte?
Er versank noch tiefer in wehleidiger Düsternis und
ergab sich seinem vom Alkohol inspirierten Selbstekel. Er war an
allem schuld. Am Tod seines Vaters. An seinen kaputten Ehen. An der
Bitterkeit und Ablehnung seiner Familie. (Herrgott noch mal, er
wünschte, er könnte die Erinnerung an die Augen dieser verdammten
Frau loswerden. Die Erinnerung an seine Mutter hatte ihn den ganzen
Abend gepeinigt.) Keine Kinder. Keine Freunde, weil sie alle die
Partei seiner ersten Frau ergriffen hatten. Er mußte von allen
guten Geistern verlassen gewesen sein, die eine Frau zu betrügen,
nur um dann zu erfahren, daß die zweite den Preis nicht wert war,
den er für sie bezahlt hatte.
Von Zeit zu Zeit warf ihm der Taxifahrer durch den
Rückspiegel einen teilnahmsvollen Blick zu. Er erkannte die
Melancholie eines Menschen, der trank, um seinen Kummer zu
ertränken. Diesen Leuten begegnete man in der Vorweihnachtszeit
überall in London.
Deacon erwachte mit einem Gefühl zielbewußter
Entschlossenheit, was bei ihm ungewöhnlich war. Er schrieb es der
Tatsache zu, daß er im Unterbewußtsein das Gespräch mit Amanda
Powell wieder und wieder durchgespielt hatte und dadurch seine
Neugier weiter angefacht worden war. Wieso rief die Erwähnung Billy
Blakes, eines Wildfremden, eine emotionale Reaktion hervor, die
ihres Mannes, James Streeter, hingegen nicht? Nicht einmal
Zorn.
In der Einsamkeit seiner Küche dachte er über die
Frage nach, während er seinen Kaffee umrührte und mißmutig auf die
kahlen weißen Wände und die kahlen weißen Einbauten starrte, die
ihn umgaben. Wie vorauszusehen, wandten seine Gedanken sich nach
innen. Zeigte wohl eine seiner beiden verflossenen Ehefrauen
Gefühl, wenn sein Name erwähnt wurde? Oder war er für sie nichts
weiter als eine vergessene Episode?
Er könnte sterben wie Billy Blake, dachte er,
zusammengekauert in einer Ecke dieser elenden Wohnung, und wenn er
Tage später gefunden würde, dann beinahe mit Sicherheit von einem
Fremden. Wer würde ihn schon suchen? JP? Lisa? Seine
Trinkbrüder?
Du meine Güte! War sein Leben tatsächlich so leer -
so wertlos? - wie das Billy Blakes?
Er war früh in der Redaktion, schlug im Telefonbuch
und im Londoner Adreßbuch nach, hinterließ am Empfang, daß er
später zurücksein würde, holte seinen Wagen und fuhr den Fluß
entlang nach Osten zum ehemals geschäftigen Hafen Londons. Wie in
so vielen Häfen überall auf der Welt waren die Schiffsflotten und
Piers längst Vergnügungsdampfern, teuren Wohnvierteln und
Jachthäfen gewichen.
Er fuhr die Westseite der Isle of Dogs hinunter und
fand das renovierte Lagerhaus, in dem das Architekturbüro W. R.
Meredith seine Räume hatte, fuhr dann weiter zu einem
verwahrlosten, mit Brettern vernagelten Gebäude, das bis auf seine
rechteckigen Linien und das Giebeldach keinerlei Ähnlichkeit mit
seinen Nachbarn hatte. Er brauchte allerdings nicht viel Phantasie,
um sich vorzustellen, was man aus diesem traurigen Relikt des
viktorianischen London machen könnte. Er lebte lang genug in der
Hauptstadt, um die Verwandlung der alten Hafenbauten in edle
Wohnhäuser miterlebt zu haben, und er brauchte sich nur die
umgebauten Lagerhäuser rundherum anzusehen, um sich ins Gedächtnis
zu rufen, was machbar war.
Er stellte seinen Wagen ab, nahm eine Taschenlampe
und eine Flasche Bell’s Whisky aus dem Handschuhfach und suchte
sich durch ein Loch im Zaun seinen Weg zur Vorderseite des
Gebäudes. Er prüfte Türen und Fenster, die mit Brettern vernagelt
waren, ehe er um die Halle herumging. Ein fünf oder sechs Meter
breiter Streifen Gebüsch und Gestrüpp trennte die hintere Mauer vom
Fluß, und er zog seinen Mantel fest um sich, als ihm der
bitterkalte Wind, der über die Themse pfiff, ins Gesicht peitschte.
Wie man sich freiwillig solcher Unbill aussetzen konnte, war ihm
schleierhaft, dennoch hockte eine kleine Gruppe Männer, offenbar
unempfindlich für Kälte und Feuchtigkeit des Morgens,
zusammengedrängt um eine Tonne mit brennendem Holz vor einem
offenen Tor in der Mauer des Lagerhauses. Sie musterten ihn
argwöhnisch, als er näher kam.
»Hallo«, sagt er und ließ sich, die Flasche
zwischen den Füßen, in einer Lücke im Kreis nieder. »Mein Name ist
Michael Deacon.« Er zog seine Zigaretten heraus und reichte sie
herum. »Ich bin Reporter.«
Einer der Männer, weit jünger als die anderen,
lachte kurz und ahmte Deacons kultivierte Sprechweise nach. »Hallo.
Mein Name ist A. R. Schloch. Ich bin Penner.« Er nahm eine
Zigarette. »Danke. Die heb’ ich mir zum Cocktail vor dem Dinner
auf, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Keineswegs, Mr. Schloch. Aber es wäre schade, bis
zum Dinner zu warten.«
Der Junge hatte ein mageres, blasses Gesicht und
einen kahlgeschorenen Schädel. »Ich heiß’ Terry. Was wollen Sie,
Sie Mistkerl?«
Er war wirklich noch sehr jung, dachte Deacon, aber
in der aggressiven Haltung seines Kopfes drückte sich die
Durchtriebenheit des Straßenjungen aus und in den
zusammengekniffenen Augen ein schrecklicher Zynismus. Leicht
schockiert wurde ihm klar, daß Terry ihn für einen gutbürgerlichen
Homosexuellen hielt, der auf der Suche nach einem Strichjungen
war.
»Informationen«, antwortete er sachlich. »Über
einen Mann namens Billy Blake, der hier geschlafen hat, wenn er
nicht im Knast war.«
»Wer sagt, daß wir ihn gekannt haben?«
»Die Frau, die seine Beerdigung bezahlt hat. Sie
hat mir erzählt, daß sie hier war und auf einige ihrer Fragen
Antworten bekommen hat.«
»Ach, Amanda«, sagte einer der anderen. »An die
erinner’ ich mich. Ich hab’ sie vor kurzem drüben an der Ecke
getroffen, und sie hat mir’n Fünfer gegeben.«
Terry unterbrach ihn mit einer ungeduldigen
Handbewegung. »Wieso interessiert sich ein Reporter für Billy? Der
ist seit sechs Monaten tot.«
»Das weiß ich selbst noch nicht«, sagte Deacon
aufrichtig. »Vielleicht möchte ich nur beweisen, daß Billys Leben
einen Wert hatte.« Er legte seine Hände um die Flasche. »Wer mir
was Nützliches sagen kann, kriegt den Whisky.«
Die alten Männer fixierten die Flasche; Terry
fixierte Deacon. »Und was genau heißt nützlich?« fragte er
ironisch. »Ich weiß, daß er aufs Leben geschissen hat. Ist das
nützlich?«
»Das hätte ich mir denken können, Terry. Nach dem,
wie er gestorben ist. Nützlich ist alles, was ich nicht schon weiß
oder was mich zu jemandem führt, der mir mehr über ihn sagen kann.
Fangen wir mit seinem wahren Namen an. Wer war er, bevor er Billy
Blake wurde?«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Er hat Pflasterbilder gemalt«, sagte ein Alter.
»Er hat seinen Platz unten bei den Vergnügungsdampfern
gehabt.«
»Das weiß ich. Amanda hat mir erzählt, daß er immer
dasselbe Bild gemalt hat, die Geburt Christi. Weiß einer von euch,
warum?«
Wieder Kopfschütteln. Sie sahen aus wie Gestalten
aus einem Krieg-der-Sterne-Film, dachte Deacon. Kleine
verhutzelte Affenmenschen, in Mäntel vermummt, die ihnen zu groß
waren, aber mit wachen Wieselaugen, die eine Schläue verrieten, die
er niemals besitzen würde.
»War so’ne Art Familienbild, das jeder gleich
erkannt hat«, sagte Terry. »Er war nicht blöd, und er hat Geld
gebraucht. Er hat ›Gesegnet seien die Armen‹ drunter geschrieben
und sich daneben gelegt. Die meiste Zeit hat er so beschissen
ausgesehen, daß die Leute gleich ein schlechtes Gewissen gekriegt
haben, wenn sie das Bild und die Unterschrift gesehen haben. Er hat
ganz gut gelebt davon, und er war nur aggressiv, wenn er richtig
was getankt hatte und angefangen hat, zu wettern. Das hat die Leute
abgeschreckt, und er ist dann immer blank nach Haus gekommen und
mußte erst mal wieder nüchtern werden.«
Die alten Männer rundherum grinsten bei der
Erinnerung.
»Er war’n guter Maler, wenn er nüchtern war«, sagte
der Alte, der sich schon vorher zu Wort gemeldet hatte.
»Sauschlecht, wenn er blau war.« Er kicherte leise, und das ledrige
Gesicht unter der verfilzten Wollmütze krauste sich. »Nüchtern hat
er den Himmel gemalt, besoffen die Hölle.«
»Er hat zwei verschiedene Bilder gemalt?«
»Hunderte hat er gemalt, solange er Papier hatte.«
Der Alte wies mit dem Kopf zu den Bürobauten. »Abends hat er oft
Berge alter Briefe aus den Mülltonnen gezogen und die ganze Nacht
gemalt. Dann hat er das Zeug einfach liegengelassen.«
»Was ist aus den Bildern geworden?«
»Wir haben sie am nächsten Tag verbrannt.«
»Und Billy hatte nichts dagegen?«
»Nee«, sagte ein anderer. »Der wollt’s auch warm
haben, genau wie wir. Der hat sogar noch gelacht dabei.« Er tippte
sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Der war total plemplem.
Dauernd hat er vom Höllenfeuer gefaselt und daß alle Sünder durch
die Teufelsflammen gereinigt werden müssen. Einmal hat er seine
Hand mitten in einen Haufen brennendes Papier geschoben und so lang
drin gelassen, bis wir sie rausgezogen haben.«
»Warum hat er das getan?«
Ein gleichgültiges Achselzucken pflanzte sich wie
eine Welle im Kreis fort. Die Handlungen eines Verrückten haben
keine Logik, schien der allgemeine Konsens zu sein.
»Er hat das dauernd getan«, bemerkte Terry.
»Manchmal hat er mit beiden Händen reingelangt, aber oft nur mit
der rechten. Mich hat das immer wütend gemacht. An manchen Tagen
konnte er seine Finger überhaupt nicht bewegen, weil er so schlimme
Blasen hatte, aber seine verdammten Bilder hat er trotzdem gemalt.
Er hat sich die Kreide einfach zwischen zwei Finger geklemmt und
die ganze Hand bewegt beim Malen. Er hat immer gesagt, er müßte den
Schmerz der Schöpfung spüren.«
»Terry hat gemeint, er wäre schizo«, erklärte der
ledergesichtige Alte in der Wollmütze. »Er hat ihm immer gesagt, er
soll sich’ne Medizin verschreiben lassen, aber das hat Billy gar
nicht interessiert. Er hat gesagt, mit seinem Kopf wäre alles in
Ordnung und er würde zu keinem Arzt gehen. Für seine Krankheit wär’
der Tod das einzige Heilmittel.«
»Hat er mal versucht, sich das Leben zu
nehmen?«
Terry lachte wieder und machte eine umfassende
Handbewegung. »Wie würden Sie das hier nennen? Leben oder
Sterben?«
Deacon nahm die Bemerkung mit einem Nicken zur
Kenntnis. »Ich meinte, ob er je einen Selbstmordversuch unternommen
hat.«
»Nein«, antwortete der Junge bestimmt. »Er hat
immer gesagt, er hätte nicht genug gelitten und müßte langsam
sterben.« Er kroch tiefer in seinen Mantel, als eine scharfe Bö
über das Wasser fegte und aus dem brennenden Holz Funken in die
Luft jagte. »Ich sag’ Ihnen was, Kumpel, der arme Hund hatte die
galoppierende Schizophrenie, genau wie Walt hier.« Er puffte den
vermummten Mann, der mit dem Kopf auf den Knien neben ihm hockte,
ganz ähnlich wie Billy in seiner Ecke gehockt haben mußte, als
Amanda Powell ihn gefunden hatte. »Walt kriegt Tabletten, aber die
meiste Zeit vergißt er, sie zu nehmen. Von Rechts wegen müßte er im
Krankenhaus sein, aber es gibt ja keine Krankenhäuser mehr. Eine
Zeitlang hat er bei seiner Mutter gewohnt, als die Ärzte gesagt
haben, er könnte draußen leben, aber er hat der armen Alten eine
Heidenangst gemacht, und am Ende hat sie ihn vor die Tür gesetzt.«
Er drehte den Kopf, um in die Lagerhalle hineinzusehen. »Da drinnen
sind noch zwanzig von seiner Sorte. Wir Gesunden kümmern uns um
sie, und das ist ein echt beschissener Witz, wenn Sie mich
fragen.«
Deacon stimmte ihm zu. Was war das für eine
Gesellschaft, in der die Ausgestoßenen sich um die geistig Kranken
kümmern mußten? »Hat Billy mal was davon gesagt, daß er im
Krankenhaus war?«
Terry schüttelte den Kopf. »Er hat fast nie von der
Vergangenheit geredet.«
»Okay. Und im Gefängnis? Wissen Sie, in welchem er
gesessen hat?«
Terry wies auf den ledergesichtigen alten Mann.
»Tom und er haben mal einen Monat lang zusammen in Brixton
gesessen.«
»Wo war er untergebracht?« wandte Deacon sich an
Tom. »In der Krankenabteilung oder in einer Zelle?«
»In’ner Zelle. Genau wie ich.«
»Hat er Medikamente bekommen?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Im Gefängnis haben sie also keine Schizophrenie
festgestellt?«
Tom schüttelte den Kopf. »Die Wärter da haben doch
gar nicht die Zeit oder die Lust, sich wegen eines Penners den Kopf
zu zerbrechen, der vier Wochen absitzen muß. Solange braucht der ja
schon zum Trockenwerden, und wenn er regelmäßig herumschreit, sagen
die einfach, das ist das Delirium oder was ihnen sonst in den Kram
paßt.«
»Hat er sich so verrückt verhalten wie
draußen?«
Tom bewegte eine Hand hin und her. »Er ist immer so
rauf und runter gegangen, hin und wieder war er total fertig, aber
sonst war er okay. Ist brav zum Gottesdienst gegangen und hat sich
gut geführt. Ich glaub’, den hat der Alkohol verrückt gemacht. Der
ist nur ausgerastet, wenn er voll war. Nüchtern war der so klar wie
Sie und ich.«
Deacon reichte ein zweitesmal seine Zigaretten
herum und klappte dann den Kragen seines Mantels gegen den Wind
hoch, um sich selbst eine anzuzünden. »Und keiner von euch weiß,
woher er kam oder wer er gewesen sein könnte oder warum er sich
Billy Blake genannt hat?«
»Wieso glauben Sie, daß das nicht sein richtiger
Name war?« fragte Terry. Diesmal entschied er sich, seine Zigarette
gleich zu rauchen, und zog ein brennendes Stück Holz aus dem Feuer,
um sie anzuzünden.
Deacon zuckte die Achseln. »Es ist nur eine
Vermutung.« Er zog kräftig an seiner Zigarette, um sie am Brennen
zu halten. »Wie hat er gesprochen? Hatte er einen Akzent?«
»Nicht daß man’s gemerkt hätte. Ich hab’ ihn mal
gefragt, ob er früher Schauspieler war, weil er ganz schön
hochtrabend geredet hat, wenn er ausgerastet ist. Aber er hat nein
gesagt.«
»Was hat er denn getan, wenn er ausgerastet
ist?«
»Ach, da hat er alles rausgebrüllt, was ihm gerade
in den Kopf gekommen ist. Manchmal hat sich’s gereimt, aber ich
weiß nicht, ob er sich die Verse selbst ausgedacht hat oder ob sie
von jemand anderem waren. An manches kann ich mich noch erinnern -
an eins ganz besonders, weil er’s so oft gesagt hat. Ziemlich
verrückt, da hat der Vater geweint und die Mutter geschrien und der
böse Feind ist in Wolken gehüllt in die Welt gesprungen.«
»Wissen Sie den Text noch?«
Terry sah die anderen hilfesuchend an. »Nicht
richtig«, antwortete er, als er nirgends Hilfe fand. »Er hat immer
mit ›Der Vater weinte, Mutter gellt‹ angefangen, aber was danach
kam, weiß ich nicht mehr.«
Deacon legte schützend die Hände um seine Zigarette
und grub tief in seiner Erinnerung. »›Der Vater weinte, Mutter
gellt!‹« murmelte er. »›So sprang ich in die rauhe Welt: Hilflos,
nackt und lauthals schrei’nd: In Wolken gehüllt wie der böse
Feind.‹«
»Genau«, sagte der junge Mann überrascht und
beeindruckt. »Mann, woher kennen Sie’n das?«
»Es ist ein Gedicht mit dem Titel ›Kindliches Lied‹
von einem Mann namens William Blake. Ich habe vor Jahren eine
Arbeit über ihn geschrieben. Er war ein Dichter und Kupferstecher
des achtzehnten Jahrhunderts, den seine Zeitgenossen für verrückt
hielten, weil er behauptete, Visionen zu haben.« Deacon lächelte
schwach. »William hat ein paar wunderbare Gedichte geschrieben,
aber er hat in Armut gelebt und ist in Armut gestorben, weil man
sein Genie erst nach seinem Tod erkannte. Ich vermute, Ihr Freund
kannte William und sein Werk ziemlich genau.«
»Garantiert«, meinte Terry, der sofort begriff.
»William Blake, Billy Blake. Was hat der Kerl sonst noch
geschrieben?«
»›Tiger, Tiger! Brand, entfacht / In den Wäldern
tiefer Nacht...‹« Deacon hielt inne, um den Jungen den Vers
vollenden zu lassen.
»›Welch unersterblich Aug’ und Hand / Hat dich in
dein Maß gebannt?‹« deklamierte der Junge triumphierend. »Ja, das
hat Billy dauernd runtergeleiert.«
Deacon nickte und fragte sich flüchtig, ob Billy
Blake vielleicht Lehrer gewesen war. »Im nächsten Vers hieß es in
einer Zeile: ›Wessen Hand die Funken schlug?‹ Was meinen Sie, hatte
er das im Kopf, als er seine Hand ins Feuer hielt?«
»Keine Ahnung. Kommt drauf an, was es heißt.«
»Der Tiger verkörpert Macht, Energie und
Grausamkeit. In dem Gedicht wird er als ein schönes, aber
unbezähmbares Geschöpf beschrieben, das im Feuer geschmiedet wurde,
und dann wird die Frage gestellt, woher sein Schöpfer den Mut nahm,
etwas so Gefährliches zu schaffen.« Deacon sah, daß die anderen ihm
nicht mehr folgten, doch in Terrys Gesicht blitzte noch waches
Interesse. »Es ist die Hand des Schöpfers, die die Funken schlug;
vielleicht hat Billy geglaubt, er hätte etwas angefangen, das er
nicht beherrschen konnte.«
»Vielleicht.« Ein geistesabwesender Ausdruck trat
in die Augen des jungen Mannes, als er über den Fluß starrte. »Ist
der Schöpfer Gott?«
»Ein Gott. Blake sagt nicht, welcher.«
»Billy hat gemeint, es gäbe massenhaft Götter.
Kriegsgötter. Liebesgötter. Flußgötter. Götter für alles und jedes.
Er hat sie immer beschimpft. ›Es ist eure Schuld, ihr Pack‹, hat er
oft geschrien, ›laßt mich in Ruhe und laßt mich sterben.‹ Ich hab’
gesagt, er solle doch einfach nicht mehr daran glauben, daß es die
Götter gibt, dann müßte er sie auch nicht hassen. Ist doch logisch,
oder?« Das magere Gesicht wandte sich wieder dem Feuer zu.
»Was glaubte er denn, woran die Götter schuld
seien?«
»Er hat es nicht geglaubt«, verbesserte
Terry mit Nachdruck, »er hat es gewußt.« Er hob den Arm und
griff mit der Hand in die Luft. »Er hat jemanden erdrosselt, weil
die Götter es ihm zum Schicksal bestimmt hatten. Drum hat er die
Hand ins Feuer gehalten. Er hat sie das ›sündige Werkzeug‹ genannt
und gesagt, ›solche Opfer sind notwendig, wenn der Zorn der Götter
abgelenkt werden soll‹. Der arme Hund. Die meiste Zeit hat er nicht
mal gewußt, wo rechts und links ist.«
Auf Terrys Rat gab Deacon die Flasche Whisky in
die Obhut des Alten mit der Wollmütze, ehe er Terry in die
Lagerhalle folgte, um sich anzusehen, wo Billy seinen Schlafplatz
gehabt hatte.
»Nichts als Zeitverschwendung«, murrte der Junge.
»Er ist seit sechs Monaten tot. Was erwarten Sie denn, da zu
finden?«
»Irgendwas.«
»Mensch, seit er krepiert ist, haben hundert Kerle
an seinem Platz gepennt. Da finden Sie bestimmt nichts.« Dennoch
führte er Deacon in die Finsternis. »Hey, spinnen Sie?« fragte er
belustigt, als Deacon seine Taschenlampe anmachte. »Das bißchen
Licht hilft Ihnen gar nichts. Warten Sie einfach ab, okay. Ihre
Augen gewöhnen sich schon an die Dunkelheit. Durch die Tür kommt
genug Licht.«
Langsam erkannte Deacon eine graue Mondlandschaft,
eine Ödnis aus verbogenem Metall, Backsteinhaufen und ausrangiertem
Lagerhallenmobiliar. Es war eine Trümmerlandschaft wie nach dem
Krieg, wo nichts Wiedererkennbares mehr existierte und nur der
beißende Geruch nach Urin auf menschliches Dasein schließen ließ.
»Wie lange sind Sie schon hier?« fragte er Terry, als er inmitten
des Chaos die ersten Schlafenden ausmachte.
»Zwei Jahre mit Unterbrechungen.«
»Warum hier? Warum haben Sie sich nicht ein
besetztes Haus oder ein Wohnheim gesucht?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Das hab’ ich schon
hinter mir. So übel ist das hier nicht.« Er ging voraus an einem
Backsteinhaufen vorbei und wies auf eine notdürftig gebaute Höhle
aus Kunststoffplatten und alten Decken. Er zog eine der Decken zur
Seite und griff in die Öffnung, um eine batteriebetriebene
Sturmlaterne einzuschalten. »Schauen Sie sich’s an«, lud er ein.
»Das ist mein Lager.«
Deacon war auf eine merkwürdige Art neidisch. Es
war ein zusammengeschustertes Zelt mitten in einem nach Urin
stinkenden Trümmergrundstück, aber es besaß persönlichen Charakter,
der seiner eigenen Wohnung fehlte. An die Kunststoffwände waren
Poster von halbnackten Frauen gepinnt, auf dem Boden lag eine
Matratze mit einer handgemachten Patchworkdecke, auf einem
Büroschrank aus Metall standen verschiedene Ziergegenstände, über
einem Korbstuhl lag ein Morgenrock, und auf einem kleinen
gestrichenen Tisch stand ein Marmeladenglas mit roten Plastikrosen.
Deacon ging hinein und setzte sich auf den Stuhl, wobei er den
Morgenrock sorgsam auf seinem Schoß faltete. »Nett hier. Sie haben
es schön eingerichtet.«
»Mir gefällt’s. Das meiste Zeug hab’ ich vom
Sperrmüll. Es ist total irre, was die Leute alles wegschmeißen.«
Terry drängte sich nach ihm in das Zelt und legte sich auf das
Bett. Entspannt sah er jünger aus als vorher in der angespannten
Konzentration gegen den Wind. »Man hat hier mehr Freiheit als in
einem Wohnheim, und es ist nicht so eng wie in einem besetzten
Haus. Da gehen einem die anderen schnell auf die Nerven.«
»Haben Sie keine Familie?«
»Nee. Bin mein Leben lang nur rein in die Heime,
raus aus den Heimen. Ein Mann hat mir mal erzählt, daß meine Mutter
ins Gefängnis gekommen und ich deshalb in Pflege gekommen sei, aber
ich hab’ nie versucht, sie zu finden. Die hat’s eh nicht geschafft,
da wär’s nur Zeitverschwendung gewesen, sie zu suchen. Ich komm’
ganz gut über die Runden.«
Deacon prägte sich bewußt das junge Gesicht ein, um
sich später daran erinnern zu können. Aber es war nichts
Bemerkenswertes an dem Jungen. Er war nicht anders als Hunderte
kahlgeschorener junger Burschen im gleichen Alter, alle gleich
farblos, alle gleich unattraktiv. Er überlegte kurz, warum Terry
keinen Vater erwähnt hatte, und vermutete, daß der Vater unbekannt
und daher belanglos war. Er dachte an die vielen Frauen, mit denen
er selbst im Lauf der Jahre geschlafen hatte. War eine von ihnen
von ihm schwanger geworden und hatte einen Terry geboren, den sie
dann verlassen hatte?
»Trotzdem kann’s doch nicht sehr lustig sein, so
primitiv zu leben.«
»Na ja, ich bin nicht der erste, der’s tut, und ich
werd’ bestimmt auch nicht der letzte sein. Wie ich schon gesagt
hab’, ich komme zurecht. Alles was der Mensch getan hat, kann der
Mensch tun.«
Der Ausdruck schien ungewöhnlich von einem Jungen
wie Terry. »Hat Billy das gesagt?«
Der Junge zuckte gleichgültig die Achseln. »Kann
schon sein. Der hat mir ja dauernd Predigten gehalten.« Er
versuchte, einen kultivierten Ton anzuschlagen. »›Es gibt keine
Rechte ohne Verantwortung, Terry. Die schwerste Sünde des Menschen
ist der Stolz, weil er Gott auf eigene Gefahr entthront. Sei bereit
- der Tag des Jüngsten Gerichts ist näher, als du glaubst.‹« Er
kehrte zu seiner eigenen ungehobelteren Sprache zurück. »Ich sag’
Ihnen, man ist ganz blöd im Kopf geworden, wenn man ihm zugehört
hat. Die meiste Zeit war er echt verrückt, aber er hat’s gut
gemeint, und ich glaub’, ich hab’ einiges von ihm gelernt.«
»Zum Beispiel?«
Terry lachte. »Zum Beispiel: Narren stellen Fragen,
die Weise nicht beantworten können.«
Deacon lächelte. »Wie alt sind Sie?«
»Achtzehn.«
Deacon bezweifelte das. Bei all seiner geistigen
und sprachlichen Schlagfertigkeit, die es ihm ermöglichte, die
verwahrlosten Alten, mit denen er zusammenlebte, zu beherrschen,
war Terry doch noch ein grüner Junge mit flaumigem Kinn, der zu
schnell wuchs. Seine großen knochigen Hände hingen ihm wie
Bootspaddel aus den Ärmeln, und es würde noch eine Weile dauern,
ehe männliche Reife seine Brust und Schultern kräftigte. Gerade das
aber reizte Deacons Neugier über den Prediger - und Lehrer? -, der
Terry zu seinem Freund gemacht hatte, um so mehr.
»Wie lange haben Sie Billy gekannt?« fragte
er.
»Zwei Jahre.«
Also seit er in der Lagerhalle hauste. »War sein
Schlafplatz auch so gut wie der hier?«
Terry schüttelte den Kopf. »Der wollte leiden. Ich
hab’s Ihnen doch schon gesagt, das war ein echter Irrer. Letztes
Jahr um diese Zeit hab’ ich ihn splitternackt hier rumgeistern
sehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie kalt es war. Er war
von oben bis unten blau angelaufen. Ich hab’ gesagt, was machst du
da für’n Scheiß, du blöder Kerl, und er hat gesagt, er kasteit das
Fleisch...« - er hielt inne, unsicher, ob er das richtige Wort
gebraucht hatte -, »oder so was Ähnliches. Er hat sich nie ein
Lager gebaut. Er hat sich immer nur in eine alte Decke eingewickelt
und am Feuer gepennt. Er hat nichts gehabt, wissen Sie, und er
wollte auch nichts haben, er fand’s sinnlos, sich’s irgendwie
gemütlich zu machen. Er hat gewußt, daß die Götter ihn am Ende doch
kriegen würden, und er wollt’s den verdammten Mistkerlen so leicht
wie möglich machen.«
»Weil er ein Mörder war?«
»Kann sein.«
»Hat er gesagt, wen er getötet hat? Ob Mann oder
Frau?«
Terry verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. »Ich
weiß nicht mehr.«
»Warum hat er es Ihnen erzählt und nicht den
anderen?«
»Woher wissen Sie, daß er’s denen nicht erzählt
hat?«
»Ich habe ihre Gesichter beobachtet.«
»Die sind die meiste Zeit so besoffen, daß sie sich
an nichts erinnern.« Terry schloß die Augen. »Für einen Zehner
kommt’s vielleicht wieder.«
Deacons prustendes Gelächter fächelte die Ecke
eines der Poster auf. »Ich bin nicht von gestern, Sie Goldstück.«
Er nahm eine Karte aus seiner Brieftasche und schnippte sie Terry
auf die Brust. »Rufen Sie mich an, wenn Sie mir was zu bieten
haben, was ich überprüfen kann, aber kommen Sie mir nicht mit
irgendwelchem Quatsch. Die Informationen müssen Hand und Fuß haben,
wenn Sie Geld dafür wollen.« Er stand auf und blickte in das junge
Gesicht hinunter. »Wie alt sind Sie wirklich, Terry?« Er schätzte
ihn auf sechzehn.
»Auf jeden Fall alt genug, um einen Knicker zu
erkennen.«
Bei der Rückkehr in sein Büro fand Deacon auf
seinem Schreibtisch einen Zettel von Barry Grover und dazu die
Originalfotos von Billy Blake in einer Klarsichthülle. »Ich kann
diesen Mann in meinen Unterlagen nicht finden«, hatte er
geschrieben, »aber ich habe die Negative und die neuen Abzüge an
Paul Garrety weitergegeben. Er will sehen, was er auf dem Computer
damit anfangen kann. B. G.«
Paul Garrety, Leiter der Grafik, schüttelte den
Kopf, als Deacon zu ihm kam und fragte, wie er mit Billy Blakes
Fotos vorankäme. JP hatte sich überreden lassen, massiv in die EDV
für die Grafikabteilung zu investieren, nachdem man ihm versichert
hatte, daß die moderne Technologie für Image und Design des
Street - und somit höhere Auflagenzahlen - das leisten
könne, was ein Heer von Grafikern vorher nicht geschafft hatte.
Aber JP hing zu sehr am althergebrachten Bild der Zeitschrift, um
Paul mit den Apparaten freie Hand zu lassen, und Garrety lag ebenso
wie Deacon in fast ständigem Kampf mit seinem Chef.
»Da brauchen Sie einen Fachmann, Mike«, sagte er
jetzt. »Ich kann Ihnen hundert verschiedene Versionen des Mannes
erstellen, aber nur jemand, der was von Physiognomie versteht, kann
Ihnen sagen, welche der Wahrscheinlichkeit am nächsten kommt.« Er
wies auf seinen Bildschirm. »Schauen Sie hin. Man kann das Gesicht
voller machen, das heißt, man polstert das Ganze einfach aus. Man
kann nur die Wangen voller machen, indem man lediglich die untere
Gesichtshälfte auspolstert. Man kann ihm ein Doppelkinn verpassen,
die Augenpartie aufschwemmen, das Haar voller machen. Es gibt
unbegrenzte Möglichkeiten, und jede sieht anders aus.«
Deacon beobachtete, wie die verschiedenen Gesichter
eins nach dem anderen auf dem Bildschirm erschienen. »Ich verstehe,
was Sie meinen.«
»Es ist eine Wissenschaft. Am besten wäre es, Sie
suchen sich einen Pathologen oder einen Fachmann auf diesem Gebiet,
der sich auf Gesichter spezialisiert hat. Wir könnten jede
beliebige dieser Variationen wählen, aber die Frage ist, ob sie
auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Ihrem Toten hätte.«
»Es gibt wohl keine Hoffnung, daß JP zu meinem Text
das Original bringt?«
Garrety lachte. Ȇberhaupt keine, und ausnahmsweise
muß ich ihm da recht geben. Das würde dem wohlgesonnenen Leser
gründlich das Frühstück verderben. Überlegen Sie doch mal. Wer will
sich schon zu seinen Corn-flakes einen verschrumpelten alten Säufer
angucken, der an Hunger gestorben ist?«
»Er war erst fünfundvierzig«, sagte Deacon milde.
»Drei Jahre älter als ich und zehn Jahre jünger als Sie. So besehen
ist die Sache gar nicht so komisch, oder?«
Michael Deacons Feature über Armut und
Obdachlosigkeit erschien im Street dieser Woche ohne ein
Wort über Amanda Powell oder Billy Blake. In der Tat sah das
Endprodukt genauso aus, wie es ihm zu Beginn vorgeschwebt hatte:
eine nachdenkliche Analyse sich wandelnder sozialer Trends, die
sich auf Fragen nach Ursachen und langfristigen Lösungen
konzentrierte. JP zweifelte, daß der Artikel die Leser fesseln
würde (»Er ist verdammt langweilig, Mike. Wo bleibt der menschliche
Aspekt, der die Leute anrührt, Herrgott noch mal?«), aber ohne ein
annehmbares Foto von Billy oder Amanda Powell hatte es kaum einen
Sinn, die wenig originellen Aussagen von Mrs. Powell über die
Obdachlosigkeit im allgemeinen zu bringen. JP wiederholte seine
Drohungen, daß er Deacons Vertrag nicht verlängern werde, wenn er
nicht endlich einsehe, daß politische Schlammschlachten zum
bewährten Repertoire der Zeitschrift gehörten, und Deacon
antwortete sarkastisch, nach den Auflagenzahlen zu urteilen ließen
die Street-Leser ihre Intelligenz ebensogern beleidigen wie
der Rest der Bevölkerung.
Amanda Powell, die ihre Garagenschlüssel und die
beiden Fotos von Billy zusammen mit einem anonymen Ȇberreicht
von«-Zettel des Street mit der Post erhalten hatte, war
enttäuscht, aber nicht überrascht, als sie feststellte, daß sie und
Billy in Deacons Artikel nicht erwähnt wurden. Doch sie las ihn mit
Interesse, besonders die Passage mit der Beschreibung eines
ausrangierten alten Lagerhauses und seiner Gemeinschaft
geistesgestörter Bewohner, die von einer Handvoll alter Männer und
einem Jugendlichen betreut wurden. In ihrem Blick stand
Erleichterung, als sie die Zeitschrift aus der Hand legte.