4
Auch wenn Deacon überrascht war, daß Barry Grover verschwunden war, ohne ein Wort zu sagen, machte er sich doch weiter keine Gedanken darüber. Er war selbst schon zu oft mitten im schönsten Besäufnis gegangen, um es als ungewöhnlich zu betrachten. Außerdem war er froh, den Mann nicht nach Hause fahren zu müssen. Er war nicht so betrunken, wie Barry geglaubt hatte, aber er hatte sein Maß eindeutig überschritten und beschloß deshalb, seinen Wagen stehenzulassen und ein Taxi zu nehmen. Er lebte in einer gemieteten Mansardenwohnung, und je näher sie Islington kamen, desto tiefer drückte die Depression ihn in seinen Sitz. Er und Barry hatten etwas gemeinsam, dachte er, wenn Barrys lange Arbeitszeiten bedeuteten, daß er Deacons Abneigung gegen das Nachhausekommen teilte. Die Parallele machte ihn plötzlich neugierig. Was für Gründe hatte Barry? Fürchtete er wie Deacon die Leere einer Wohnung, die nichts Persönliches barg, weil es nichts aus seiner Vergangenheit gab, woran er sich gern erinnern wollte?
Er versank noch tiefer in wehleidiger Düsternis und ergab sich seinem vom Alkohol inspirierten Selbstekel. Er war an allem schuld. Am Tod seines Vaters. An seinen kaputten Ehen. An der Bitterkeit und Ablehnung seiner Familie. (Herrgott noch mal, er wünschte, er könnte die Erinnerung an die Augen dieser verdammten Frau loswerden. Die Erinnerung an seine Mutter hatte ihn den ganzen Abend gepeinigt.) Keine Kinder. Keine Freunde, weil sie alle die Partei seiner ersten Frau ergriffen hatten. Er mußte von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, die eine Frau zu betrügen, nur um dann zu erfahren, daß die zweite den Preis nicht wert war, den er für sie bezahlt hatte.
Von Zeit zu Zeit warf ihm der Taxifahrer durch den Rückspiegel einen teilnahmsvollen Blick zu. Er erkannte die Melancholie eines Menschen, der trank, um seinen Kummer zu ertränken. Diesen Leuten begegnete man in der Vorweihnachtszeit überall in London.
 
Deacon erwachte mit einem Gefühl zielbewußter Entschlossenheit, was bei ihm ungewöhnlich war. Er schrieb es der Tatsache zu, daß er im Unterbewußtsein das Gespräch mit Amanda Powell wieder und wieder durchgespielt hatte und dadurch seine Neugier weiter angefacht worden war. Wieso rief die Erwähnung Billy Blakes, eines Wildfremden, eine emotionale Reaktion hervor, die ihres Mannes, James Streeter, hingegen nicht? Nicht einmal Zorn.
In der Einsamkeit seiner Küche dachte er über die Frage nach, während er seinen Kaffee umrührte und mißmutig auf die kahlen weißen Wände und die kahlen weißen Einbauten starrte, die ihn umgaben. Wie vorauszusehen, wandten seine Gedanken sich nach innen. Zeigte wohl eine seiner beiden verflossenen Ehefrauen Gefühl, wenn sein Name erwähnt wurde? Oder war er für sie nichts weiter als eine vergessene Episode?
Er könnte sterben wie Billy Blake, dachte er, zusammengekauert in einer Ecke dieser elenden Wohnung, und wenn er Tage später gefunden würde, dann beinahe mit Sicherheit von einem Fremden. Wer würde ihn schon suchen? JP? Lisa? Seine Trinkbrüder?
Du meine Güte! War sein Leben tatsächlich so leer - so wertlos? - wie das Billy Blakes?
Er war früh in der Redaktion, schlug im Telefonbuch und im Londoner Adreßbuch nach, hinterließ am Empfang, daß er später zurücksein würde, holte seinen Wagen und fuhr den Fluß entlang nach Osten zum ehemals geschäftigen Hafen Londons. Wie in so vielen Häfen überall auf der Welt waren die Schiffsflotten und Piers längst Vergnügungsdampfern, teuren Wohnvierteln und Jachthäfen gewichen.
Er fuhr die Westseite der Isle of Dogs hinunter und fand das renovierte Lagerhaus, in dem das Architekturbüro W. R. Meredith seine Räume hatte, fuhr dann weiter zu einem verwahrlosten, mit Brettern vernagelten Gebäude, das bis auf seine rechteckigen Linien und das Giebeldach keinerlei Ähnlichkeit mit seinen Nachbarn hatte. Er brauchte allerdings nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was man aus diesem traurigen Relikt des viktorianischen London machen könnte. Er lebte lang genug in der Hauptstadt, um die Verwandlung der alten Hafenbauten in edle Wohnhäuser miterlebt zu haben, und er brauchte sich nur die umgebauten Lagerhäuser rundherum anzusehen, um sich ins Gedächtnis zu rufen, was machbar war.
Er stellte seinen Wagen ab, nahm eine Taschenlampe und eine Flasche Bell’s Whisky aus dem Handschuhfach und suchte sich durch ein Loch im Zaun seinen Weg zur Vorderseite des Gebäudes. Er prüfte Türen und Fenster, die mit Brettern vernagelt waren, ehe er um die Halle herumging. Ein fünf oder sechs Meter breiter Streifen Gebüsch und Gestrüpp trennte die hintere Mauer vom Fluß, und er zog seinen Mantel fest um sich, als ihm der bitterkalte Wind, der über die Themse pfiff, ins Gesicht peitschte. Wie man sich freiwillig solcher Unbill aussetzen konnte, war ihm schleierhaft, dennoch hockte eine kleine Gruppe Männer, offenbar unempfindlich für Kälte und Feuchtigkeit des Morgens, zusammengedrängt um eine Tonne mit brennendem Holz vor einem offenen Tor in der Mauer des Lagerhauses. Sie musterten ihn argwöhnisch, als er näher kam.
»Hallo«, sagt er und ließ sich, die Flasche zwischen den Füßen, in einer Lücke im Kreis nieder. »Mein Name ist Michael Deacon.« Er zog seine Zigaretten heraus und reichte sie herum. »Ich bin Reporter.«
Einer der Männer, weit jünger als die anderen, lachte kurz und ahmte Deacons kultivierte Sprechweise nach. »Hallo. Mein Name ist A. R. Schloch. Ich bin Penner.« Er nahm eine Zigarette. »Danke. Die heb’ ich mir zum Cocktail vor dem Dinner auf, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Keineswegs, Mr. Schloch. Aber es wäre schade, bis zum Dinner zu warten.«
Der Junge hatte ein mageres, blasses Gesicht und einen kahlgeschorenen Schädel. »Ich heiß’ Terry. Was wollen Sie, Sie Mistkerl?«
Er war wirklich noch sehr jung, dachte Deacon, aber in der aggressiven Haltung seines Kopfes drückte sich die Durchtriebenheit des Straßenjungen aus und in den zusammengekniffenen Augen ein schrecklicher Zynismus. Leicht schockiert wurde ihm klar, daß Terry ihn für einen gutbürgerlichen Homosexuellen hielt, der auf der Suche nach einem Strichjungen war.
»Informationen«, antwortete er sachlich. »Über einen Mann namens Billy Blake, der hier geschlafen hat, wenn er nicht im Knast war.«
»Wer sagt, daß wir ihn gekannt haben?«
»Die Frau, die seine Beerdigung bezahlt hat. Sie hat mir erzählt, daß sie hier war und auf einige ihrer Fragen Antworten bekommen hat.«
»Ach, Amanda«, sagte einer der anderen. »An die erinner’ ich mich. Ich hab’ sie vor kurzem drüben an der Ecke getroffen, und sie hat mir’n Fünfer gegeben.«
Terry unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Wieso interessiert sich ein Reporter für Billy? Der ist seit sechs Monaten tot.«
»Das weiß ich selbst noch nicht«, sagte Deacon aufrichtig. »Vielleicht möchte ich nur beweisen, daß Billys Leben einen Wert hatte.« Er legte seine Hände um die Flasche. »Wer mir was Nützliches sagen kann, kriegt den Whisky.«
Die alten Männer fixierten die Flasche; Terry fixierte Deacon. »Und was genau heißt nützlich?« fragte er ironisch. »Ich weiß, daß er aufs Leben geschissen hat. Ist das nützlich?«
»Das hätte ich mir denken können, Terry. Nach dem, wie er gestorben ist. Nützlich ist alles, was ich nicht schon weiß oder was mich zu jemandem führt, der mir mehr über ihn sagen kann. Fangen wir mit seinem wahren Namen an. Wer war er, bevor er Billy Blake wurde?«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Er hat Pflasterbilder gemalt«, sagte ein Alter. »Er hat seinen Platz unten bei den Vergnügungsdampfern gehabt.«
»Das weiß ich. Amanda hat mir erzählt, daß er immer dasselbe Bild gemalt hat, die Geburt Christi. Weiß einer von euch, warum?«
Wieder Kopfschütteln. Sie sahen aus wie Gestalten aus einem Krieg-der-Sterne-Film, dachte Deacon. Kleine verhutzelte Affenmenschen, in Mäntel vermummt, die ihnen zu groß waren, aber mit wachen Wieselaugen, die eine Schläue verrieten, die er niemals besitzen würde.
»War so’ne Art Familienbild, das jeder gleich erkannt hat«, sagte Terry. »Er war nicht blöd, und er hat Geld gebraucht. Er hat ›Gesegnet seien die Armen‹ drunter geschrieben und sich daneben gelegt. Die meiste Zeit hat er so beschissen ausgesehen, daß die Leute gleich ein schlechtes Gewissen gekriegt haben, wenn sie das Bild und die Unterschrift gesehen haben. Er hat ganz gut gelebt davon, und er war nur aggressiv, wenn er richtig was getankt hatte und angefangen hat, zu wettern. Das hat die Leute abgeschreckt, und er ist dann immer blank nach Haus gekommen und mußte erst mal wieder nüchtern werden.«
Die alten Männer rundherum grinsten bei der Erinnerung.
»Er war’n guter Maler, wenn er nüchtern war«, sagte der Alte, der sich schon vorher zu Wort gemeldet hatte. »Sauschlecht, wenn er blau war.« Er kicherte leise, und das ledrige Gesicht unter der verfilzten Wollmütze krauste sich. »Nüchtern hat er den Himmel gemalt, besoffen die Hölle.«
»Er hat zwei verschiedene Bilder gemalt?«
»Hunderte hat er gemalt, solange er Papier hatte.« Der Alte wies mit dem Kopf zu den Bürobauten. »Abends hat er oft Berge alter Briefe aus den Mülltonnen gezogen und die ganze Nacht gemalt. Dann hat er das Zeug einfach liegengelassen.«
»Was ist aus den Bildern geworden?«
»Wir haben sie am nächsten Tag verbrannt.«
»Und Billy hatte nichts dagegen?«
»Nee«, sagte ein anderer. »Der wollt’s auch warm haben, genau wie wir. Der hat sogar noch gelacht dabei.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Der war total plemplem. Dauernd hat er vom Höllenfeuer gefaselt und daß alle Sünder durch die Teufelsflammen gereinigt werden müssen. Einmal hat er seine Hand mitten in einen Haufen brennendes Papier geschoben und so lang drin gelassen, bis wir sie rausgezogen haben.«
»Warum hat er das getan?«
Ein gleichgültiges Achselzucken pflanzte sich wie eine Welle im Kreis fort. Die Handlungen eines Verrückten haben keine Logik, schien der allgemeine Konsens zu sein.
»Er hat das dauernd getan«, bemerkte Terry. »Manchmal hat er mit beiden Händen reingelangt, aber oft nur mit der rechten. Mich hat das immer wütend gemacht. An manchen Tagen konnte er seine Finger überhaupt nicht bewegen, weil er so schlimme Blasen hatte, aber seine verdammten Bilder hat er trotzdem gemalt. Er hat sich die Kreide einfach zwischen zwei Finger geklemmt und die ganze Hand bewegt beim Malen. Er hat immer gesagt, er müßte den Schmerz der Schöpfung spüren.«
»Terry hat gemeint, er wäre schizo«, erklärte der ledergesichtige Alte in der Wollmütze. »Er hat ihm immer gesagt, er soll sich’ne Medizin verschreiben lassen, aber das hat Billy gar nicht interessiert. Er hat gesagt, mit seinem Kopf wäre alles in Ordnung und er würde zu keinem Arzt gehen. Für seine Krankheit wär’ der Tod das einzige Heilmittel.«
»Hat er mal versucht, sich das Leben zu nehmen?«
Terry lachte wieder und machte eine umfassende Handbewegung. »Wie würden Sie das hier nennen? Leben oder Sterben?«
Deacon nahm die Bemerkung mit einem Nicken zur Kenntnis. »Ich meinte, ob er je einen Selbstmordversuch unternommen hat.«
»Nein«, antwortete der Junge bestimmt. »Er hat immer gesagt, er hätte nicht genug gelitten und müßte langsam sterben.« Er kroch tiefer in seinen Mantel, als eine scharfe Bö über das Wasser fegte und aus dem brennenden Holz Funken in die Luft jagte. »Ich sag’ Ihnen was, Kumpel, der arme Hund hatte die galoppierende Schizophrenie, genau wie Walt hier.« Er puffte den vermummten Mann, der mit dem Kopf auf den Knien neben ihm hockte, ganz ähnlich wie Billy in seiner Ecke gehockt haben mußte, als Amanda Powell ihn gefunden hatte. »Walt kriegt Tabletten, aber die meiste Zeit vergißt er, sie zu nehmen. Von Rechts wegen müßte er im Krankenhaus sein, aber es gibt ja keine Krankenhäuser mehr. Eine Zeitlang hat er bei seiner Mutter gewohnt, als die Ärzte gesagt haben, er könnte draußen leben, aber er hat der armen Alten eine Heidenangst gemacht, und am Ende hat sie ihn vor die Tür gesetzt.« Er drehte den Kopf, um in die Lagerhalle hineinzusehen. »Da drinnen sind noch zwanzig von seiner Sorte. Wir Gesunden kümmern uns um sie, und das ist ein echt beschissener Witz, wenn Sie mich fragen.«
Deacon stimmte ihm zu. Was war das für eine Gesellschaft, in der die Ausgestoßenen sich um die geistig Kranken kümmern mußten? »Hat Billy mal was davon gesagt, daß er im Krankenhaus war?«
Terry schüttelte den Kopf. »Er hat fast nie von der Vergangenheit geredet.«
»Okay. Und im Gefängnis? Wissen Sie, in welchem er gesessen hat?«
Terry wies auf den ledergesichtigen alten Mann. »Tom und er haben mal einen Monat lang zusammen in Brixton gesessen.«
»Wo war er untergebracht?« wandte Deacon sich an Tom. »In der Krankenabteilung oder in einer Zelle?«
»In’ner Zelle. Genau wie ich.«
»Hat er Medikamente bekommen?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Im Gefängnis haben sie also keine Schizophrenie festgestellt?«
Tom schüttelte den Kopf. »Die Wärter da haben doch gar nicht die Zeit oder die Lust, sich wegen eines Penners den Kopf zu zerbrechen, der vier Wochen absitzen muß. Solange braucht der ja schon zum Trockenwerden, und wenn er regelmäßig herumschreit, sagen die einfach, das ist das Delirium oder was ihnen sonst in den Kram paßt.«
»Hat er sich so verrückt verhalten wie draußen?«
Tom bewegte eine Hand hin und her. »Er ist immer so rauf und runter gegangen, hin und wieder war er total fertig, aber sonst war er okay. Ist brav zum Gottesdienst gegangen und hat sich gut geführt. Ich glaub’, den hat der Alkohol verrückt gemacht. Der ist nur ausgerastet, wenn er voll war. Nüchtern war der so klar wie Sie und ich.«
Deacon reichte ein zweitesmal seine Zigaretten herum und klappte dann den Kragen seines Mantels gegen den Wind hoch, um sich selbst eine anzuzünden. »Und keiner von euch weiß, woher er kam oder wer er gewesen sein könnte oder warum er sich Billy Blake genannt hat?«
»Wieso glauben Sie, daß das nicht sein richtiger Name war?« fragte Terry. Diesmal entschied er sich, seine Zigarette gleich zu rauchen, und zog ein brennendes Stück Holz aus dem Feuer, um sie anzuzünden.
Deacon zuckte die Achseln. »Es ist nur eine Vermutung.« Er zog kräftig an seiner Zigarette, um sie am Brennen zu halten. »Wie hat er gesprochen? Hatte er einen Akzent?«
»Nicht daß man’s gemerkt hätte. Ich hab’ ihn mal gefragt, ob er früher Schauspieler war, weil er ganz schön hochtrabend geredet hat, wenn er ausgerastet ist. Aber er hat nein gesagt.«
»Was hat er denn getan, wenn er ausgerastet ist?«
»Ach, da hat er alles rausgebrüllt, was ihm gerade in den Kopf gekommen ist. Manchmal hat sich’s gereimt, aber ich weiß nicht, ob er sich die Verse selbst ausgedacht hat oder ob sie von jemand anderem waren. An manches kann ich mich noch erinnern - an eins ganz besonders, weil er’s so oft gesagt hat. Ziemlich verrückt, da hat der Vater geweint und die Mutter geschrien und der böse Feind ist in Wolken gehüllt in die Welt gesprungen.«
»Wissen Sie den Text noch?«
Terry sah die anderen hilfesuchend an. »Nicht richtig«, antwortete er, als er nirgends Hilfe fand. »Er hat immer mit ›Der Vater weinte, Mutter gellt‹ angefangen, aber was danach kam, weiß ich nicht mehr.«
Deacon legte schützend die Hände um seine Zigarette und grub tief in seiner Erinnerung. »›Der Vater weinte, Mutter gellt!‹« murmelte er. »›So sprang ich in die rauhe Welt: Hilflos, nackt und lauthals schrei’nd: In Wolken gehüllt wie der böse Feind.‹«
»Genau«, sagte der junge Mann überrascht und beeindruckt. »Mann, woher kennen Sie’n das?«
»Es ist ein Gedicht mit dem Titel ›Kindliches Lied‹ von einem Mann namens William Blake. Ich habe vor Jahren eine Arbeit über ihn geschrieben. Er war ein Dichter und Kupferstecher des achtzehnten Jahrhunderts, den seine Zeitgenossen für verrückt hielten, weil er behauptete, Visionen zu haben.« Deacon lächelte schwach. »William hat ein paar wunderbare Gedichte geschrieben, aber er hat in Armut gelebt und ist in Armut gestorben, weil man sein Genie erst nach seinem Tod erkannte. Ich vermute, Ihr Freund kannte William und sein Werk ziemlich genau.«
»Garantiert«, meinte Terry, der sofort begriff. »William Blake, Billy Blake. Was hat der Kerl sonst noch geschrieben?«
»›Tiger, Tiger! Brand, entfacht / In den Wäldern tiefer Nacht...‹« Deacon hielt inne, um den Jungen den Vers vollenden zu lassen.
»›Welch unersterblich Aug’ und Hand / Hat dich in dein Maß gebannt?‹« deklamierte der Junge triumphierend. »Ja, das hat Billy dauernd runtergeleiert.«
Deacon nickte und fragte sich flüchtig, ob Billy Blake vielleicht Lehrer gewesen war. »Im nächsten Vers hieß es in einer Zeile: ›Wessen Hand die Funken schlug?‹ Was meinen Sie, hatte er das im Kopf, als er seine Hand ins Feuer hielt?«
»Keine Ahnung. Kommt drauf an, was es heißt.«
»Der Tiger verkörpert Macht, Energie und Grausamkeit. In dem Gedicht wird er als ein schönes, aber unbezähmbares Geschöpf beschrieben, das im Feuer geschmiedet wurde, und dann wird die Frage gestellt, woher sein Schöpfer den Mut nahm, etwas so Gefährliches zu schaffen.« Deacon sah, daß die anderen ihm nicht mehr folgten, doch in Terrys Gesicht blitzte noch waches Interesse. »Es ist die Hand des Schöpfers, die die Funken schlug; vielleicht hat Billy geglaubt, er hätte etwas angefangen, das er nicht beherrschen konnte.«
»Vielleicht.« Ein geistesabwesender Ausdruck trat in die Augen des jungen Mannes, als er über den Fluß starrte. »Ist der Schöpfer Gott?«
»Ein Gott. Blake sagt nicht, welcher.«
»Billy hat gemeint, es gäbe massenhaft Götter. Kriegsgötter. Liebesgötter. Flußgötter. Götter für alles und jedes. Er hat sie immer beschimpft. ›Es ist eure Schuld, ihr Pack‹, hat er oft geschrien, ›laßt mich in Ruhe und laßt mich sterben.‹ Ich hab’ gesagt, er solle doch einfach nicht mehr daran glauben, daß es die Götter gibt, dann müßte er sie auch nicht hassen. Ist doch logisch, oder?« Das magere Gesicht wandte sich wieder dem Feuer zu.
»Was glaubte er denn, woran die Götter schuld seien?«
»Er hat es nicht geglaubt«, verbesserte Terry mit Nachdruck, »er hat es gewußt.« Er hob den Arm und griff mit der Hand in die Luft. »Er hat jemanden erdrosselt, weil die Götter es ihm zum Schicksal bestimmt hatten. Drum hat er die Hand ins Feuer gehalten. Er hat sie das ›sündige Werkzeug‹ genannt und gesagt, ›solche Opfer sind notwendig, wenn der Zorn der Götter abgelenkt werden soll‹. Der arme Hund. Die meiste Zeit hat er nicht mal gewußt, wo rechts und links ist.«
 
Auf Terrys Rat gab Deacon die Flasche Whisky in die Obhut des Alten mit der Wollmütze, ehe er Terry in die Lagerhalle folgte, um sich anzusehen, wo Billy seinen Schlafplatz gehabt hatte.
»Nichts als Zeitverschwendung«, murrte der Junge. »Er ist seit sechs Monaten tot. Was erwarten Sie denn, da zu finden?«
»Irgendwas.«
»Mensch, seit er krepiert ist, haben hundert Kerle an seinem Platz gepennt. Da finden Sie bestimmt nichts.« Dennoch führte er Deacon in die Finsternis. »Hey, spinnen Sie?« fragte er belustigt, als Deacon seine Taschenlampe anmachte. »Das bißchen Licht hilft Ihnen gar nichts. Warten Sie einfach ab, okay. Ihre Augen gewöhnen sich schon an die Dunkelheit. Durch die Tür kommt genug Licht.«
Langsam erkannte Deacon eine graue Mondlandschaft, eine Ödnis aus verbogenem Metall, Backsteinhaufen und ausrangiertem Lagerhallenmobiliar. Es war eine Trümmerlandschaft wie nach dem Krieg, wo nichts Wiedererkennbares mehr existierte und nur der beißende Geruch nach Urin auf menschliches Dasein schließen ließ. »Wie lange sind Sie schon hier?« fragte er Terry, als er inmitten des Chaos die ersten Schlafenden ausmachte.
»Zwei Jahre mit Unterbrechungen.«
»Warum hier? Warum haben Sie sich nicht ein besetztes Haus oder ein Wohnheim gesucht?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Das hab’ ich schon hinter mir. So übel ist das hier nicht.« Er ging voraus an einem Backsteinhaufen vorbei und wies auf eine notdürftig gebaute Höhle aus Kunststoffplatten und alten Decken. Er zog eine der Decken zur Seite und griff in die Öffnung, um eine batteriebetriebene Sturmlaterne einzuschalten. »Schauen Sie sich’s an«, lud er ein. »Das ist mein Lager.«
Deacon war auf eine merkwürdige Art neidisch. Es war ein zusammengeschustertes Zelt mitten in einem nach Urin stinkenden Trümmergrundstück, aber es besaß persönlichen Charakter, der seiner eigenen Wohnung fehlte. An die Kunststoffwände waren Poster von halbnackten Frauen gepinnt, auf dem Boden lag eine Matratze mit einer handgemachten Patchworkdecke, auf einem Büroschrank aus Metall standen verschiedene Ziergegenstände, über einem Korbstuhl lag ein Morgenrock, und auf einem kleinen gestrichenen Tisch stand ein Marmeladenglas mit roten Plastikrosen. Deacon ging hinein und setzte sich auf den Stuhl, wobei er den Morgenrock sorgsam auf seinem Schoß faltete. »Nett hier. Sie haben es schön eingerichtet.«
»Mir gefällt’s. Das meiste Zeug hab’ ich vom Sperrmüll. Es ist total irre, was die Leute alles wegschmeißen.« Terry drängte sich nach ihm in das Zelt und legte sich auf das Bett. Entspannt sah er jünger aus als vorher in der angespannten Konzentration gegen den Wind. »Man hat hier mehr Freiheit als in einem Wohnheim, und es ist nicht so eng wie in einem besetzten Haus. Da gehen einem die anderen schnell auf die Nerven.«
»Haben Sie keine Familie?«
»Nee. Bin mein Leben lang nur rein in die Heime, raus aus den Heimen. Ein Mann hat mir mal erzählt, daß meine Mutter ins Gefängnis gekommen und ich deshalb in Pflege gekommen sei, aber ich hab’ nie versucht, sie zu finden. Die hat’s eh nicht geschafft, da wär’s nur Zeitverschwendung gewesen, sie zu suchen. Ich komm’ ganz gut über die Runden.«
Deacon prägte sich bewußt das junge Gesicht ein, um sich später daran erinnern zu können. Aber es war nichts Bemerkenswertes an dem Jungen. Er war nicht anders als Hunderte kahlgeschorener junger Burschen im gleichen Alter, alle gleich farblos, alle gleich unattraktiv. Er überlegte kurz, warum Terry keinen Vater erwähnt hatte, und vermutete, daß der Vater unbekannt und daher belanglos war. Er dachte an die vielen Frauen, mit denen er selbst im Lauf der Jahre geschlafen hatte. War eine von ihnen von ihm schwanger geworden und hatte einen Terry geboren, den sie dann verlassen hatte?
»Trotzdem kann’s doch nicht sehr lustig sein, so primitiv zu leben.«
»Na ja, ich bin nicht der erste, der’s tut, und ich werd’ bestimmt auch nicht der letzte sein. Wie ich schon gesagt hab’, ich komme zurecht. Alles was der Mensch getan hat, kann der Mensch tun.«
Der Ausdruck schien ungewöhnlich von einem Jungen wie Terry. »Hat Billy das gesagt?«
Der Junge zuckte gleichgültig die Achseln. »Kann schon sein. Der hat mir ja dauernd Predigten gehalten.« Er versuchte, einen kultivierten Ton anzuschlagen. »›Es gibt keine Rechte ohne Verantwortung, Terry. Die schwerste Sünde des Menschen ist der Stolz, weil er Gott auf eigene Gefahr entthront. Sei bereit - der Tag des Jüngsten Gerichts ist näher, als du glaubst.‹« Er kehrte zu seiner eigenen ungehobelteren Sprache zurück. »Ich sag’ Ihnen, man ist ganz blöd im Kopf geworden, wenn man ihm zugehört hat. Die meiste Zeit war er echt verrückt, aber er hat’s gut gemeint, und ich glaub’, ich hab’ einiges von ihm gelernt.«
»Zum Beispiel?«
Terry lachte. »Zum Beispiel: Narren stellen Fragen, die Weise nicht beantworten können.«
Deacon lächelte. »Wie alt sind Sie?«
»Achtzehn.«
Deacon bezweifelte das. Bei all seiner geistigen und sprachlichen Schlagfertigkeit, die es ihm ermöglichte, die verwahrlosten Alten, mit denen er zusammenlebte, zu beherrschen, war Terry doch noch ein grüner Junge mit flaumigem Kinn, der zu schnell wuchs. Seine großen knochigen Hände hingen ihm wie Bootspaddel aus den Ärmeln, und es würde noch eine Weile dauern, ehe männliche Reife seine Brust und Schultern kräftigte. Gerade das aber reizte Deacons Neugier über den Prediger - und Lehrer? -, der Terry zu seinem Freund gemacht hatte, um so mehr.
»Wie lange haben Sie Billy gekannt?« fragte er.
»Zwei Jahre.«
Also seit er in der Lagerhalle hauste. »War sein Schlafplatz auch so gut wie der hier?«
Terry schüttelte den Kopf. »Der wollte leiden. Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt, das war ein echter Irrer. Letztes Jahr um diese Zeit hab’ ich ihn splitternackt hier rumgeistern sehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie kalt es war. Er war von oben bis unten blau angelaufen. Ich hab’ gesagt, was machst du da für’n Scheiß, du blöder Kerl, und er hat gesagt, er kasteit das Fleisch...« - er hielt inne, unsicher, ob er das richtige Wort gebraucht hatte -, »oder so was Ähnliches. Er hat sich nie ein Lager gebaut. Er hat sich immer nur in eine alte Decke eingewickelt und am Feuer gepennt. Er hat nichts gehabt, wissen Sie, und er wollte auch nichts haben, er fand’s sinnlos, sich’s irgendwie gemütlich zu machen. Er hat gewußt, daß die Götter ihn am Ende doch kriegen würden, und er wollt’s den verdammten Mistkerlen so leicht wie möglich machen.«
»Weil er ein Mörder war?«
»Kann sein.«
»Hat er gesagt, wen er getötet hat? Ob Mann oder Frau?«
Terry verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. »Ich weiß nicht mehr.«
»Warum hat er es Ihnen erzählt und nicht den anderen?«
»Woher wissen Sie, daß er’s denen nicht erzählt hat?«
»Ich habe ihre Gesichter beobachtet.«
»Die sind die meiste Zeit so besoffen, daß sie sich an nichts erinnern.« Terry schloß die Augen. »Für einen Zehner kommt’s vielleicht wieder.«
Deacons prustendes Gelächter fächelte die Ecke eines der Poster auf. »Ich bin nicht von gestern, Sie Goldstück.« Er nahm eine Karte aus seiner Brieftasche und schnippte sie Terry auf die Brust. »Rufen Sie mich an, wenn Sie mir was zu bieten haben, was ich überprüfen kann, aber kommen Sie mir nicht mit irgendwelchem Quatsch. Die Informationen müssen Hand und Fuß haben, wenn Sie Geld dafür wollen.« Er stand auf und blickte in das junge Gesicht hinunter. »Wie alt sind Sie wirklich, Terry?« Er schätzte ihn auf sechzehn.
»Auf jeden Fall alt genug, um einen Knicker zu erkennen.«
 
Bei der Rückkehr in sein Büro fand Deacon auf seinem Schreibtisch einen Zettel von Barry Grover und dazu die Originalfotos von Billy Blake in einer Klarsichthülle. »Ich kann diesen Mann in meinen Unterlagen nicht finden«, hatte er geschrieben, »aber ich habe die Negative und die neuen Abzüge an Paul Garrety weitergegeben. Er will sehen, was er auf dem Computer damit anfangen kann. B. G.«
Paul Garrety, Leiter der Grafik, schüttelte den Kopf, als Deacon zu ihm kam und fragte, wie er mit Billy Blakes Fotos vorankäme. JP hatte sich überreden lassen, massiv in die EDV für die Grafikabteilung zu investieren, nachdem man ihm versichert hatte, daß die moderne Technologie für Image und Design des Street - und somit höhere Auflagenzahlen - das leisten könne, was ein Heer von Grafikern vorher nicht geschafft hatte. Aber JP hing zu sehr am althergebrachten Bild der Zeitschrift, um Paul mit den Apparaten freie Hand zu lassen, und Garrety lag ebenso wie Deacon in fast ständigem Kampf mit seinem Chef.
»Da brauchen Sie einen Fachmann, Mike«, sagte er jetzt. »Ich kann Ihnen hundert verschiedene Versionen des Mannes erstellen, aber nur jemand, der was von Physiognomie versteht, kann Ihnen sagen, welche der Wahrscheinlichkeit am nächsten kommt.« Er wies auf seinen Bildschirm. »Schauen Sie hin. Man kann das Gesicht voller machen, das heißt, man polstert das Ganze einfach aus. Man kann nur die Wangen voller machen, indem man lediglich die untere Gesichtshälfte auspolstert. Man kann ihm ein Doppelkinn verpassen, die Augenpartie aufschwemmen, das Haar voller machen. Es gibt unbegrenzte Möglichkeiten, und jede sieht anders aus.«
Deacon beobachtete, wie die verschiedenen Gesichter eins nach dem anderen auf dem Bildschirm erschienen. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Es ist eine Wissenschaft. Am besten wäre es, Sie suchen sich einen Pathologen oder einen Fachmann auf diesem Gebiet, der sich auf Gesichter spezialisiert hat. Wir könnten jede beliebige dieser Variationen wählen, aber die Frage ist, ob sie auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Ihrem Toten hätte.«
»Es gibt wohl keine Hoffnung, daß JP zu meinem Text das Original bringt?«
Garrety lachte. »Überhaupt keine, und ausnahmsweise muß ich ihm da recht geben. Das würde dem wohlgesonnenen Leser gründlich das Frühstück verderben. Überlegen Sie doch mal. Wer will sich schon zu seinen Corn-flakes einen verschrumpelten alten Säufer angucken, der an Hunger gestorben ist?«
»Er war erst fünfundvierzig«, sagte Deacon milde. »Drei Jahre älter als ich und zehn Jahre jünger als Sie. So besehen ist die Sache gar nicht so komisch, oder?«
 
Michael Deacons Feature über Armut und Obdachlosigkeit erschien im Street dieser Woche ohne ein Wort über Amanda Powell oder Billy Blake. In der Tat sah das Endprodukt genauso aus, wie es ihm zu Beginn vorgeschwebt hatte: eine nachdenkliche Analyse sich wandelnder sozialer Trends, die sich auf Fragen nach Ursachen und langfristigen Lösungen konzentrierte. JP zweifelte, daß der Artikel die Leser fesseln würde (»Er ist verdammt langweilig, Mike. Wo bleibt der menschliche Aspekt, der die Leute anrührt, Herrgott noch mal?«), aber ohne ein annehmbares Foto von Billy oder Amanda Powell hatte es kaum einen Sinn, die wenig originellen Aussagen von Mrs. Powell über die Obdachlosigkeit im allgemeinen zu bringen. JP wiederholte seine Drohungen, daß er Deacons Vertrag nicht verlängern werde, wenn er nicht endlich einsehe, daß politische Schlammschlachten zum bewährten Repertoire der Zeitschrift gehörten, und Deacon antwortete sarkastisch, nach den Auflagenzahlen zu urteilen ließen die Street-Leser ihre Intelligenz ebensogern beleidigen wie der Rest der Bevölkerung.
 
Amanda Powell, die ihre Garagenschlüssel und die beiden Fotos von Billy zusammen mit einem anonymen »Überreicht von«-Zettel des Street mit der Post erhalten hatte, war enttäuscht, aber nicht überrascht, als sie feststellte, daß sie und Billy in Deacons Artikel nicht erwähnt wurden. Doch sie las ihn mit Interesse, besonders die Passage mit der Beschreibung eines ausrangierten alten Lagerhauses und seiner Gemeinschaft geistesgestörter Bewohner, die von einer Handvoll alter Männer und einem Jugendlichen betreut wurden. In ihrem Blick stand Erleichterung, als sie die Zeitschrift aus der Hand legte.