29. Kapitel
Willkommen, willkommen! Ich freue mich, euch wieder einmal alle hier begrüßen zu können!«
Sam grinste breit und fletschte dabei seine Fangzähne.
Er freute sich über die müden, eingeschüchterten Blicke, die er von den Anwesenden erhielt.
Die Gesichter der dreißig Männer und Frauen, die an den Tischen verteilt saßen, lagen im Schatten, denn sie trugen - nicht ganz freiwillig - dunkle Kapuzenumhänge.
Immer wieder huschten ihre Blicke zu der festgeketteten Frau, die am Boden in ihrer Mitte saß.
Lea hatte die Arme um ihre Knie geschlungen. Die tiefen Kratzer auf ihrer Wange brannten höllisch. Sie versuchte, langsam und tief zu atmen und sich auf die Stimmen der anwesenden Geister zu konzentrieren, aber das war nicht leicht. Sie hatten Mitleid mit ihr, waren aber natürlich ebenso hilflos wie sie selbst.
»Ich möchte noch einmal erklären, wie der heutige Abend ablaufen wird.« Sam schritt mit weit ausholenden Gesten auf und ab, wie der Direktor in einem Zirkus. Jetzt deutete er auf Jaqueline, die soeben die letzte der Kerzen angezündet hatte, welche die einzige Lichtquelle im Raum bildeten. »Meine Assistentin wird Ihnen nun zunächst demonstrieren, dass unsere Freiwillige hier nur allzu menschlich ist. Jaqueline, wenn ich bitten darf?«
Sam zauberte schwungvoll einen langen Dolch aus seinem zeremoniellen Umhang. Die scharfe Klinge blitzte im Licht der zahlreichen Kerzen. Lea stieß ein erschrockenes Keuchen aus. Sie musste an eine andere Nacht denken, an ein anderes Messer, an einem anderen Ort. Auf ihrer Stirn standen Schweißtröpfchen, und sie wimmerte leise auf.
»Lauf, Mädchen!«
»Wehr dich!«
»Wehr dich gegen sie, das ist deine einzige Chance!«
Aber die Stimmen der Geister verldangen, während Jaquelines Gesicht immer näher kam. Lea war wie gelähmt vor Angst. Nur das rasche Blinzeln ihrer Augen verriet, dass sie keine Statue war. Mit einem grausamen Lächeln auf den makellos geschminkten Lippen kam Jaqueline immer näher.
Keine Panik, Lea, keine Panik. Nicht mehr so wie damals.
Bleib ruhig. Diesmal wirst du nicht klein beigeben. Diesmal nicht. O Gott, bitte hilf mir.
»Seid ihr da?«, flüsterte Lea den Geistern zu. Keine Reaktion. »Geister, ich rede mit euch!«
»Ich bin da.«
»Ich auch!«
»Redet sie mit uns?«
»Ja, wir sind da!«
»Pass auf!«
Jaqueline hob den Dolch ... Doch dann schoss ihre freie Hand vor, und sie riss Lea das Kleid vom Leib. Lea, die damit nicht gerechnet hatte, versuchte verzweifelt den Stoff ihres Kleids festzuhalten und fiel nach hinten.
»Warum so schamhaft?«, lachte Jaqueline, »glaub mir, Menschenpüppchen, du hast ganz andere Sorgen!«
Lea presste keuchend ihr Kleid an sich, ohne Jaquelines Dolchhand aus den Augen zu lassen. Sobald Jaqueline Anstalten machte zuzustechen, warf sie der Frau ihr Kleid ins Gesicht und stürzte sich auf sie. Die Vampirin war von diesem Angriff so überrascht, dass sie den Dolch fallen ließ.
Ein Aufkeuchen ging durch den Raum. Lea warf sich auf den Dolch, konnte ihn jedoch nur mit den Fingerspitzen zu fassen kriegen.
»Hinter dir!«, rief einer der Geister.
Zu spät. Sam, den Fehler seiner Partnerin erkennend, hatte Lea bereits bei den Fußgelenken gepackt und zog sie mit einem Ruck zurück. Lea schrie auf, ihr nackter Bauch und ihre nackten Brüste schrammten über den rauen Steinboden. Aus den Kratzern sickerte Blut.
»Na, na, du kleine Wildkatze!« Sam warf Lea lachend auf den Rücken. Lea krabbelte rückwärts, so weit es die Kette zuließ. Verzweifelt bemerkte sie, dass Jaqueline den Dolch bereits wieder an sich gerissen hatte und sie nun außer sich vor Wut anfunkelte.
»Das wollen wir jetzt noch mal versuchen, ja?«, sagte Sam höflich. Dann holte er aus und schlug Lea so brutal mit dem Handrücken ins Gesicht, dass sie zur Seite geschleudert wurde. Benommen rappelte sie sich wieder auf.
»So sollte es leichter für dich sein«, sagte er, als habe er ihr einen Gefallen getan. »Jaqueline, mach schon!«
»O nein!«
»Das arme Ding!«
»Nicht hinschauen, Mädchen!«
Der Dolch sauste auf Lea hernieder und durchbohrte ihre linke Schulter. Lea biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzuschreien. Blut strömte aus der Wunde und floss über Brust und Arm.
»Wie kann man nur so grausam sein!«
»Kann ihr denn keiner helfen?«
»Das arme Ding!«
So sollte sie sterben? Zu Füßen eines sadistischen Vampirs? Nein! Nein, verdammt noch mal!
Lea zog die Beine an und sprang trotz der rasenden Schmerzen in ihrer Schulter auf die Füße. Sie wankte, empfand aber eine bittere Genugtuung, als sie sah, dass Jaqueline das Grinsen verging.
Sam lachte. »Wolltest du was sagen, meine Liebe?«
Lea schwankte. Das Blut strömte nur so aus ihrer Schulter, rann ihr bis zu den Knien hinab und auch über den Rücken, wie sie spürte. Aber es gelang ihr, sich auf den Beinen zu halten. Sie verzog ihre Lippen trotz ihrer schmerzenden Wange zu einem wilden Grinsen.
»Was gibt's da zu grinsen?«, fragte Jaqueline erbost.
Lea schluckte. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. »Ich grinse, weil ...«, krächzte sie mit einer Stimme, die fremd in ihren Ohren klang.
»Weil?«, knurrte Jaqueline.
»Weil ich dir keine Ruhe mehr lassen werde, du Miststück! Mein Geist wird dich verfolgen bis in den Tod.«
Eine verblüffte Stille folgte. Dann sprang Jaqueline vor wie ein Panther und stieß Lea den Dolch in den Bauch.
Grausam umklammerte sie ihre blutende Schulter und trieb Leas Körper noch tiefer in die Klinge.
»Jetzt ist dir das Grinsen vergangen, du Biest!«, lachte sie.
»Verdammt, Jaqueline, ich hab doch gesagt, du sollst sie nicht umbringen!«, rief Sam zornig. »Nun gut, Ladies und Gentlemen, ich denke, wir haben unseren Punkt ausreichend klargemacht: Diese Frau ist nur ein schwacher Mensch. Und jetzt wollen wir uns ansehen, welche Wunder die Formel wirkt, ja?«
Sams Stimme drang nur noch wie von Ferne an Leas Ohr. Sie blinzelte, konnte nicht mehr klar sehen. Alles verschwamm, begann sich aufzulösen, die Schmerzen, ihr Wille ...
»Lea, mein Gott, Lea!«
War das Liam, oder träumte sie? Kam jetzt der Tod?
Hörte man kurz vor dem Tod noch einmal die Stimmen jener, die man am meisten liebte? Aber warum dann nicht Adams Stimme?
»Nein, du Bastard. Weg von ihr! Weg!«
»Liam?«
Ein Schatten fiel auf Leas Gesicht, dann drang Sams Stimme an ihr Ohr. »Mund auf, Schätzchen, das tut jetzt richtig weh.«
Etwas Kaltes wurde an ihre Lippen gepresst. Keuchend und hustend schluckte sie eine zähe Flüssigkeit herunter.
»Jetzt nur noch ein bisschen Spezialblut, und die Magie kann beginnen!«, verkündete Sam.
»Nein, Lea, trink das nicht! Wehr dich!«, rief Liam.
Lea versuchte stöhnend den Kopf wegzudrehen, aber der Vampir packte sie am Kinn und drückte ihr eine zweite Phiole an die Lippen. »Trink!«, befahl er barsch.
Als sie sich weigerte, hielt er ihr so lange die Nase zu, bis sie nach Luft schnappen musste. Dann goss er ihr das salzig schmeckende Blut in den Mund. Sie weigerte sich zu schlucken, behielt das meiste im Mund und spuckte es wieder aus - in sein Gesicht, wie sie hoffte, aber ihr war so schwindelig, dass sie kaum noch sehen konnte.
Dann wurde sie jäh von fürchterlichen Schmerzen gepackt, viel schlimmer als alles, was sie sich je hätte vorstellen können. Ihre Stichwunden waren wie Insektenstiche dagegen.
»Aaaaahhh!« Leas Schrei zerriss die Stille.
»Du kümmerst dich um Lea, die anderen überlässt du uns«, befahl William. Sie rannten die glatten, ausgetretenen Stufen zu der unterirdischen Vampirkneipe hinab.
»Hast du gehört, Adam? Das ist ein Befehl!«
Aber Adam hörte nicht mehr auf Befehle. Er hatte nur noch einen Gedanken: Lea zu retten. Und wenn er das nicht mehr konnte, würde er alle, die dafür verantwortlich waren, töten. Einschließlich sich selbst.
»Cem, du und McLeod, ihr übernehmt Sam«, befahl William, während sie durch den Tunnel liefen, der zum Eingang der Kneipe führte. »Der Rest nach Belieben! Jeder wird überwältigt. Fragen werden später gestellt.«
Die Türe zum Club V war so konstruiert, dass sie sich nur von innen öffnen ließ. Adams erster Tritt ließ sie in ihren Angeln erzittern. Mit dem zweiten Tritt flog sie auch schon auf. Sie hörten den Schrei, unmittelbar bevor der Geruch nach Blut zu ihnen drang.
Williams Männer strömten in den Raum, über den das Chaos hereingebrochen war, doch Adam hatte nur Augen für Lea. Er bewegte sich wie in Trance. Menschen rannten, schrien, doch keiner so laut wie Lea.
Da lag sie, nackt und in ihrem eigenen Blut. Sie schrie und schien sich in Krämpfen zu winden. Er stürzte zu ihr und nahm sie in seine Arme. Blut quoll aus einer Stichwunde in ihrem Bauch und strömte aus ihrer Schulter.
»Lea!«, sagte er leise. »Lea«
Er wusste nicht, was er tun sollte, wusste, dass sie ihn nicht hören konnte. »Lea, schau mich an!«
Hilflos presste er eine Hand auf ihre Bauchwunde, versuchte die Blutung zum Stillstand zu bringen. Aber er sah selbst, dass es zu spät war, sie hatte schon zu viel Blut verloren. Er weinte, ohne es zu merken. Dicke Tränen tropften aus seinen schwarzen Augen auf Lea herab.
»Es tut mir so leid, Lea, es tut mir so unendlich leid.«
Es wurde still, und nur noch Leas Schreie erfüllten die unterirdische Kammer.
»Adam, sie haben ihr die Lösung gegeben.«
Cem war neben ihm in die Knie gegangen. Wo kam der plötzlich her? Adam nahm kaum mehr etwas um sich herum wahr.
»Adam, hörst du mich? Sie haben ihr das Mittel eingeflößt, aber sie braucht mehr Blut, um die Transformation vollziehen zu können«
Transformation? Nein. Das wollte Lea nicht. Lea wollte so weiterleben wie bisher. Als Mensch.
»Adam, verdammt noch mal! Wenn wir ihr kein Blut geben, stirbt sie!«
Adam erwachte schlagartig aus seiner Starre. Lea liebte das Leben, hatte nie aufgegeben, hatte sich immer wieder aufgerappelt und von vorne angefangen. Sie durfte nicht sterben. Sie würde nicht sterben. Nicht heute Nacht.
Adam ließ seine Fangzähne hervorwachsen und biss sich ins Handgelenk. Über die Schmerzen war er fast dankbär.
Er wollte Schmerzen haben, wollte genauso leiden, wie sie litt. Das war das Mindeste, was er verdiente.
Lea in seinen Armen, hielt er ihr sein blutendes Handgelenk an den Mund. Sie schrie, und die rote Flüssigkeit tropfte in ihren weit aufgerissenen Mund.
»Nein!« Lea bäumte sich auf, wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt, schlug mit Armen und Beinen um sich. Mit Cems Hilfe hielt Adam sie fest und flößte ihr sein Blut ein.
Lea hörte auf zu schreien. Stille kehrte ein.
Dann öffnete sie ihre Augen und schaute zu ihm auf.
»Adam.«
Er beugte sich liebevoll über sie und strich ihr das blutverkrustete Haar aus dem Gesicht. »Ich bin da, Liebling, ich bin da. Verzeih mir, Lea. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass dir ein Leid geschieht.«
»Adam.« Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, dehnte die tiefen Kratzer in ihrer Wange, die vor Adams Augen bereits zu heilen begannen. Auch er lächelte.
»Ja, Liebes?«
Sie packte seine Hand, schaute flehend zu ihm auf.
»Töte mich.«
Bevor er darauf reagieren konnte, begann sie wieder um sich zu schlagen, schreiend vor Schmerzen. Die anwesenden Vampire wichen erschrocken zurück.
»Hilf mir sie festzuhalten!«, brüllte Cem.
Also tat es Adam. Er hielt sie fest, die Frau, die er liebte.
Hielt sie fest, während sie von Krämpfen geschüttelt wurde, hielt sie fest, wenn sie zwischendurch einmal Luft bekam und ihn anflehte, sie zu töten, ihrer Qual ein Ende zu machen. Die ganze Nacht lang hielt er sie fest, bis sich all ihre Wunden geschlossen hatten und die Transformation abgeschlossen war.
Erst dann erlaubte er sich wieder, etwas zu fühlen.