18. Kapitel
Der ScotRail-Zug verließ den Bahnhof Waverley zwei Minuten vor Fahrplan mit einem schrillen Quietschen und einem enormen Dampfausstoß. Lea beobachtete, wie die Wartenden am Bahnsteig zuerst langsam, dann immer schneller an ihr vorbeizogen.
»Du bist ja so still.«
Lea wandte das Gesicht vom Fenster ab und schaute Adam an. Natürlich war dessen Blick nicht auf sie gerichtet, sondern klebte an seinem Blackberry.
Sie wünschte, sie wären nicht die Einzigen gewesen, die dieses kleine Erster-Klasse-Abteil besetzten. Etwas Publikum wäre schön gewesen. Dann hätte sie vielleicht ein passendes Shakespearezitat loswerden können, aus Viel Lärm um Nichts, zum Beispiel. Wie hatte es Beatrice so schön ausgedrückt: ›Spricht da jemand? Mir dünkt, ich hört' 'nen Esel schrei'n!‹
Selbst Liam hätte ihr schon genügt, aber der war in Edinburgh geblieben. Er wolle sich um die anderen in der Galerie kümmern und ihnen versichern, dass Lea sie nicht etwa verlassen habe, was natürlich nett von ihm war. Aber Lea vermutete, der wahre Grund war eher der, dass er sich nicht zu weit von seinem Grab entfernen wollte. Die meisten Geister, die sie kannte, hingen sehr an ihren Gräbern, oder an dem Ort, an dem sie den Tod fanden. Ob sie an ihren früheren Körpern hingen oder an den Erinnerungen, oder am Grabstein mit ihrem Namen, wusste sie nicht.
Und ohne Publikum machte es keinen Spaß, etwas Cleveres von sich zu geben. Also gab sie sich mit mürrischem Schweigen zufrieden.
Einige Momente vergingen.
»Du bist doch nicht etwa noch sauer, weil wir nicht bei deiner Wohnung vorbeischauen konnten? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Lea, wir haben's eilig.«
»Ich hab doch gesagt, meine Wohnung liegt auf dem Weg! Ich wollte mir nur andere Klamotten anziehen.«
Was nicht ganz stimmte, wenn Lea ehrlich war. Es machte ihr nichts aus, in diesen Kleidern herumzulaufen, und auch deren zweifelhafte Herkunft störte sie nicht; es war ihre Kamera, die ihr fehlte. Sie hatte schon oft tage-, ja wochenlang nicht fotografiert, aber diese Situation, der Stress, die Aufregung - Lea hätte alles darum gegeben, sich ein wenig in ihre Fotografie versenken zu können.
»Ich habe dich eigentlich nicht für eitel gehalten«, bemerkte Adam und blickte endlich von seinem Apparat auf.
Eitel? Ein Vorwurf, der nicht stimmte und sie daher eigentlich auch nicht hätte treffen sollen. Es machte ihr nichts aus, wenn Leute, die ihr nichts bedeuteten, etwas Hässliches über sie sagten. Aber diesmal seltsamerweise schon. Sie zuckte gespielt gleichgültig mit den Schultern.
»Da sieht man mal wieder, wie wenig du über mich weißt.«
Er ließ sein Handy sinken und schaute sie mit der für ihn typischen Intensität an, bei der es sie immer in den Fingern juckte, ihn zu fotografieren. Sie hatte noch nie Porträtaufnahmen gemacht, sich nie für Menschen, das menschliche Gesicht interessiert. Bis jetzt.
Was sie am liebsten mit ihren Fotos einfing, waren Dinge, die sich nicht so leicht in Worte fassen ließen. Stimmungen wie Einsamkeit. Innerer Aufruhr. Angst. Anfangs waren manchmal noch Menschen auf ihren Fotos zu sehen gewesen, aber nie mit dem Gesicht zur Kamera. Sie zeigte nicht gerne Gesichter, denn Gesichter waren trügerisch, konnten lügen. Ein Blick konnte aufgesetzt, einstudiert sein. Im übrigen waren Gesichter oft zu wenig subtil, verrieten zu viel.
Kindern wird von klein auf beigebracht zu lachen, wenn sie glücklich sein sollten, und das Gesicht zu verziehen, wenn sie traurig sind. Ein Lächeln wird da schnell als Mittel zum Zweck missbraucht. Ein Mann, der mit einem Strahlen im Gesicht herumläuft, wird misstrauisch beäugt: »Warum strahlt er so?«, denken die Leute. »Was steckt dahinter?« Und der Mann weiß, dass die Leute das denken würden, also strahlt er nicht... selbst wenn ihn der sonnige Tag so froh macht, dass er am liebsten jauchzen würde.
Aber Adams Gesicht fand Lea interessant. Der Ausdruck seiner Augen stimmte gewöhnlich mit seiner Miene und mit seiner Stimmung überein. Er verbarg weder seinen Unmut, noch seine Leidenschaft, wie Lea wusste.
Seine Nase war aristokratisch, schmal und gerade. Dunkle Brauen, ein kräftiges Kinn, volle Lippen und hohe Wangenknochen: ein starkes Gesicht. Von ihm würde sie eine Porträtaufnahme machen, ganz aus der Nähe, die Ränder aber im Dunkeln lassen. Sie würde die Beleuchtung auf den Bereich zwischen Oberlippe und Unterkante der Brauen konzentrieren. Und es müsste ein Schwarzweißfoto sein, weil dann die Schatten, die seine langen Wimpern warfen, besser zu sehen wären - ein guter Kontrast zu seinen kräftigen Gesichtsknochen. Und blau. Das Blau seiner Augen sollte die einzige Farbe in dem Bild sein.
»Nein, du bist nicht eitel, das weiß ich genau«, sagte Adam jetzt. Neugierig musterte er sie. Das sanfte Schaukeln des Zugs löste allmählich die Anspannung ihrer Muskeln. »Wie sind sie so? Deine Geister?«
Lea rutschte auf ihrem graublauen Sitz herum. Wieso wollte er das auf einmal wissen? War das immer noch ein Test? Spielte es überhaupt eine Rolle?
»Was willst du denn wissen?«
Er zuckte die Schultern, lehnte den Kopf zurück. Etwas an seiner Haltung störte sie fast - so locker, so entspannt, das passte nicht zu ihm. Adam war immer irgendwie in Alarmbereitschaft, selbst wenn er sich mal ein wenig entspannte.
»Wie kommt es, dass sie zu Geistern werden?«
Lea stieß den Atem aus. Das hatte sie sich auch als Erstes gefragt, sobald sie sich einmal mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass sie Geister hören konnte.
»Soweit ich weiß, bleibt eine Seele dann zurück, wenn sie hier noch etwas zu erledigen hat. Das ist dann das, was man ›Geist‹ oder ›Gespenst‹ nennt.«
»Hmm.« Adam hatte die Augen geschlossen, aber die Arme vor der Brust verschränkt. Das passte schon besser zu ihm. Jetzt schien er wieder auf alles vorbereitet zu sein.
»Und dein Liam? Was hat der noch hier zu suchen?«
Ihr Liam? Hatte sie sich verhört, oder hatte er den Namen ein wenig missgünstig ausgesprochen?
»Ich weiß nicht, was Liam noch hier zu suchen hat. Er sagt's mir nicht.«
»Wieso nicht?«
»Na, weil er noch hierbleiben will. Wenn das, was er hier noch zu erledigen hat, getan ist, hat er doch keinen Grund mehr zu bleiben.«
Sie schwiegen einen Moment. Dann riss Adam plötzlich die Augen auf.
»Ach, das ist es, was du tust, Madame Foulard! Du findest Geister und schickst sie eine Ebene höher.«
Lea schüttelte heftig den Kopf. »Ich würde keine Seele zwingen, diese Welt endgültig zu verlassen! Ich will nur helfen. Manche verstehen nicht, was mit ihnen passiert ist, weißt du. Sie wollen nicht bleiben, wissen aber auch nicht, wie sie von hier weg können. Andere dagegen wissen es, körinen ihr Problem aber nicht selbst lösen, weil ihnen vielleicht die Kraft dazu fehlt, oder ...«
»Die Kraft? Was meinst du? Stimmt das mit den Türen, die von selbst aufgehen, dem Tische-Rattern? Können sie wirklich Dinge bewegen?«
Adam wirkte wie ein aufgeregter kleiner Junge, und Leas Irritation verflog. Unter der beherrschten Fassade des Lord Adam Murray steckte ein sensibler Mann, mit einer großen Lust am Leben. Und Lea mochte Menschen, die Lust am Leben hatten. Es gab überraschend wenige davon.
»Manche schon, ja. Aber das kostet eine Menge Energie.
Ich selbst kenne nur Mrs. McDonald, die so was kann.«
Lea lächelte über Adams verwirrten Gesichtsausdruck.
»Sie fasst die Leute gerne an, wenn sie ihr auf die Nerven gehen; sie will ihnen einen Schrecken einjagen, weil sie sich mal wieder auf ihre Lieblingsbank gesetzt haben oder schlecht über die Toten auf dem Greyfriars Friedhof reden.«
»Scheint ja eine interessante Person zu sein«, bemerkte Adam lächelnd. Er lehnte sich vor und schaute sie an ... ja, wie? Sie konnte es nicht genau beschreiben. »Wie machst du das? Wie kannst du ihre Stimmen von denen der Lebenden unterscheiden? Wird man dabei nicht verrückt?«
Ja, das konnte man leicht werden. Vor allem anfangs war es nicht leicht für sie gewesen. Sie war allein und unter starken Schmerzen in einem Krankenhaus aufgewacht, ein weißer, kahler Raum mit grellen Leuchtstoffröhren an der Decke. Ein Arzt war hereingekommen, ein netter älterer Herr, ebenfalls in einem weißen Kittel. Das einzig Farbige an ihm war eine rot-rosa-gestreifte Krawatte gewesen, an der er immer herumgezupft hatte, wie um die Aufmerksamkeit auf diese kleine Auffälligkeit zu richten.
»Sie haben großes Glück gehabt!«, hatte er gesagt. »Ein Riesenglück, junge Frau, dass Sie überhaupt noch am Leben sind!«
Im Rückblick musste sie ihm recht geben, damals jedoch hatte sie nicht das Gefühl gehabt, Glück gehabt zu haben, ganz im Gegenteil. Sie hörte auf einmal Stimmen, auch wenn niemand mit ihr im Zimmer war. Und dann war der Arzt ein zweites Mal gekommen, diesmal in Begleitung einer mürrischen Psychotherapeutin, und hatte ihr mitgeteilt, dass die Schäden am Uterus zu groß seien und sie keine Kinder mehr bekommen könne. Drei Tage später war dann ihr Verlobter reingeplatzt und hatte sie angeschrien. Warum er das alles erst jetzt erfahre? Hätte sie ihm nicht eher Bescheid sagen können? Eine Heirat käme jetzt, wo sie keine Kinder mehr haben könne, natürlich nicht mehr in Frage.
Ja, es war schwer gewesen, da nicht verrückt zu werden.
Gut möglich, dass sie den Verstand verloren hätte, wenn Mr. Thomson und Liam nicht für sie da gewesen wären.
Sie hatten ihr beigestanden, hatten ihr Gesellschaft geleistet, wenn ihre Einsamkeit und die Stille sie zu erdrücken drohten. Sie hatten bei der Gerichtsverhandlung neben ihr gesessen und ihr Mut zugesprochen, als sie gegen ihren Angreifer aussagen musste. Sie hatten ihrem Leben wieder einen Sinn gegeben.
»Ich hatte Hilfe«, sagte Lea und zuckte mit den Schultern, »und wieder eine Aufgabe im Leben.«
»Den Geistern zu helfen, diese Welt zu verlassen?«, fragte Adam. Als Lea nickte, lehnte er sich zurück. »Ja, es ist wichtig, eine Aufgabe zu haben. Einen Sinn im Leben.
Viele von uns nehmen sich nach dreihundert Jahren das Leben, weil sie keinen Sinn mehr sehen.«
Davon hatte Liam ihr schon erzählt: von der tiefen Melancholie, die viele Vampire ab einem gewissen Alter ergriff. Lea hatte selbst mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt, hatte sich nicht vorstellen können, dass das Leben je wieder besser werden würde - ein ebenso häufiges Problem unter Menschen wie unter Vampiren, wie es schien: die Unfähigkeit, über den momentanen Gefühlszustand hinauszublicken. Aber das Leben änderte sich ständig.
Tage, die einem in dem einen Moment fürchterlich erschienen, sahen im nächsten Augenblick schon ganz anders aus. Es gab keine »schlechten« und »guten« Tage, das spielte sich alles nur im Kopf ab. Als David sie verließ, hatte sie geglaubt, dass alles zu Ende wäre. Und jetzt, wenn sie zurückdachte, war sie froh und dankbar, den Mistkerl losgeworden zu sein.
Lea wollte Adam so vieles fragen. Wie alt war er? Was bedeutete es, ein Friedenshüter zu sein? Was tat er sonst?
Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Kugeln für sie einzufangen, sie anzubrüllen oder hinter irgendwelchen Formeln herzujagen?
Sie überlegte gerade, was sie zuerst fragen sollte, als plötzlich die Abteiltüre aufging und eine Frau mit einem Getränkewagen den Kopf hereinsteckte.
»Wie wär's mit einem Kaffee?«
Lea wollte Nein sagen, damit die Frau schnell wieder verschwand, doch da klingelte Adams Handy und machte jede Hoffnung auf eine Fortsetzung ihres Gesprächs zunichte.
»Hallo? Ja, McLeod ist dran.«
Lea lächelte die junge Frau an, die hoffnungsvoll einen Plastikbecher hochhielt.
»Ja, ein Kaffee wäre schön, danke.«