1. Kapitel
Edinburgh, Schottland, Oktober 2009
Adam warf einen bewundernden Blick auf das beleuchtete nächtliche Edinburgh Castle, das sich vor dem schwarzen Himmel abhob. Er stand auf der Royal Mile, der schmalen Straße, die sich den Burghügel hinab bis vor die Tore des Holyrood Palace zog.
Sein Blick glitt über die zahlreichen kleinen Bars und Geschäfte, die die kopfsteingepflasterte Straße säumten: Kilt-Boutiquen, Andenkengeschäfte, Whisky-Bars, Coffee-Shops und Teeläden, dazwischen schmale, finstere, von steinernen Torbögen überdachte Gässchen. Er liebte die malerische Altstadt von Edinburgh mit ihrer immer noch etwas düsteren Atmosphäre, die hohen, schmalen Steinhäuser und ihre noch immer ein wenig rußigen Fassaden - obwohl die Zeiten längst vorbei waren, in denen in jedem Haushalt ein Kohlefeuer gebrannt hatte und dunkle Rauchsäulen aus den zahlreichen Kaminen in den Himmel gestiegen waren, zerteilt von den stürmischen schottischen Winden. Auld Reekie, hatte man die Stadt damals genannt, Old Smokey auf Neuenglisch. Adam spürte, wie sehr er seine Heimatstadt, die Stadt, in der er zur Welt gekommen war, vermisst hatte - so sehr sie jemand, der seit fast einhundertdreißig Jahren mehr oder weniger ununterbrochen unterwegs war, nur vermissen konnte. Ja, die Stadt berühmter Dichter und ebenso berühmter Morde hatte die ersten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens geprägt. Genauso geprägt, wie sich die lilafarbene Knetmasse formen ließ, die er für seine Schwester Helena gekauft hatte.
Lila war Helenas Lieblingsfarbe - sie war ganz verrückt nach allem, was lila war. Adam hatte die Knetmasse in einem Dutyfree-Shop am Frankfurter Flughafen entdeckt und gedacht, sie wäre ein passendes Geschenk für das Oberhaupt der schottischen Vampire. Seine Schwester war zwar nur ein paar Jahre älter als er, hatte aber gute Aussichten, das neue Oberhaupt des Nordclans zu werden. Aber er fand, sie war viel zu ernst. Sein Geschenk würde sie, so hoffte er, ein wenig zum Lachen bringen.
Adam schob seine Hand in die linke Brusttasche seiner Jacke, tastete kurz nach dem Päckchen mit der Knetmasse und setzte sich dann den Hügel hinab in Bewegung. Ja, Edinburgh hatte ihn geprägt und übte noch immer großen Einfluss auf ihn aus. Er gab der Stadt die Schuld an seiner Schwäche für komplexe, vielschichtige Frauen - dieser komplexen, widersprüchlichen Stadt mit ihrer Vielschichtigkeit. Er mochte Frauen, die viele Facetten hatten, die sich nicht auf den ersten Blick einordnen ließen.
Es war ein kalter Oktobertag, aber Adam spürte die Kälte kaum, ganz im Gegensatz zu den Menschen, die sich mit hochgezogenen Schultern in Pub-Eingängen drängten und an Zigaretten lutschten. Weiter vorne überquerte ein Grüppchen ausgelassener Mädchen die Straße. Aus den rosa Federboas, den grell geschminkten Gesichtern und der »Brautschleife«, die eine kurzgewachsene Blondine um die üppigen Hüften trug, schloss er, dass es sich um eine sogenannte Hen-Night handelte, das weibliche Äquivalent der Stag-Night oder des Junggesellenabschieds. Auch die Mädchen hatten ihn jetzt bemerkt und kamen, eine Duftwolke aus süßlichem Parfüm, Schweiß und Baccardi-Breezers vor sich hertreibend, auf ihn zu: sechs Paar Highheels, sechs ultrakurze, hautenge Miniröcke, starrten sie ihn mit glasigen Augen und breiten, rotgeschminkten Mündern an.
Nicht sein Typ. Viel zu oberflächlich. Dennoch verlangsamte er unwillkürlich seine Schritte, denn nun drang ein weiterer Duft in seine Nase, ein Duft, den er viel verlockender fand: der Duft warmen, lebendigen Bluts.
Mit seinen scharfen Sinnen nahm er Details wahr, legte sie automatisch in den Archiven seines Gedächtnisses ab, als befände er sich auf einer Mission. Mädchen Nummer eins trug zwei unterschiedliche Ohrringe, hatte einen schlampigen dunklen Haaransatz und den rosa Nagellack zu hastig aufgetragen und nicht gründlich genug trocknen lassen. Zwei der Mädchen waren kokainsüchtig, eine hatte vor kurzem ein Kind bekommen, und die Brünette, die ihn unter klimpernden Wimpern hervor kokett anlächelte, schlief mit einem, mit dem sie besser nicht schlafen sollte, wie der Liebesbiss an ihrem Hals verriet, den sie laienhaft mit Make-up abzudecken versucht hatte. Adams Blick hing einen Moment lang hungrig an ihrem Hals. Er konnte ihre pochende Halsschlagader sehen, die wie Sirenengesang auf ihn wirkte. Seine Pupillen begannen sich zu weiten, Schwarz drohte das Dunkelblau seiner Augen zu verschlingen. Er blinzelte mehrmals, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.
»Wow, hallöchen, du Schöner«, schnurrte die kokette Brünette, die neben der kleinen blonden Braut stand. Sie trug einen rosa Haarreif mit zwei wippenden Antennen.
An deren Spitzen klebten zwei Dreiecke, auf denen »Made of Honour« stand. Niedlich, dachte Adam amüsiert. Wie sehr sich die Zeiten geändert hatten! Niemand hätte sich vorstellen können, dass Frauen irgendwann einmal an Freitagabenden in knappen Miniröcken, Stilettos und pelzigen Antennen herumlaufen würden - ohne sich im geringsten um ihren guten Ruf, ja, um Leib und Leben zu sorgen. Jedenfalls ganz bestimmt nicht 1879, als er geboren worden war.
Adam ging weiter, ohne auf ihr Gekicher und ihre anzüglichen Sprüche einzugehen, schenkte der kleinen Braut zum Abschied aber noch ein Lächeln. Zwei Dinge hatte er in seinem langen Leben gelernt: dass der Tod am Ende unvermeidlich ist. Und zweitens: dass jede Frau begehrt werden will. Und Adam war ein Mann, der Frauen liebte.
Was kein Wunder war, denn er war in einem Haus voller Frauen aufgewachsen: seine Schwester Helena, seine Mutter Margaret und ihre engsten Freundinnen Prinzessin Belanow, Lady Violet und Storm. Allesamt starke, gütige - und komplexe Frauen. Die Art Frauen, die ihm gefielen.
So eine hoffte er eines Tages selbst zu finden; aber jetzt noch nicht. Vorläufig war er es zufrieden, sich mit zwei von diesen drei Eigenschaften zu begnügen: komplex und sexy. Und wenn er seine Stadt auch nur ein bisschen kannte, würde ihm bald eine solche Frau über den Weg laufen.
Aber zuerst galt es, eine alte Freundschaft wieder aufzufrischen.
Er grinste bei dem Gedanken an ein Wiedersehen mit Professor Cem Bilen. Seit fast neun Monaten hatte er den Osmanen, seinen besten Freund, nicht mehr gesehen, was im Zeitalter von Billigflügen und Globalisierung einfach zu lange war. Aber Adam hatte schlichtweg nicht die Zeit gefunden. Irgendwie hatte eine Krise die andere gejagt, und als Friedenshüter des House of Order war es natürlich an ihm gewesen, die Brandherde zu löschen.
Er verlangsamte seine Schritte, als er sein erstes Etappenziel, das Mercat Cross oder Marktkreuz erblickte, das auf dem »Kreuzhaus« thronte. Von alters her ein Treffpunkt der Bürger bei Kundgebungen oder Märkten, war es nun der Sammelpunkt für die berühmten »Ghost-Tours« von Edinburgh. Es war am einfachsten, sich einer dieser »Geisterführungen« anzuschließen, wie Adam wusste, um in den Teil der unterirdischen Katakomben zu gelangen, die sein eigentliches Ziel waren.
Ein Mann mit Trommel schritt auf und ab und erzählte, zwischen getragenen Trommelschlägen, die Mär vom Tunnel, der sich unter der Royal Mile von der Burg bis zum Holyrood Palace erstreckte - und von dem Trommler, der eines Tages darin verloren gegangen war. Eine französische Schulklasse hörte kichernd zu, die Mädchen mit halb ängstlichen Gesichtern, die Jungen mit spöttischen, um ihr Unbehagen zu überspielen. Adam warf einen Blick auf seine Uhr: 19:42 Uhr. Um viertel vor acht würde die nächste Führung beginnen. Sein Blick fiel auf ein Grüppchen Touristen, das gespannt mit den Füßen scharrte, und auf deren Führer, eine ungeduldige Gestalt in einem langen schwarzen Cape. Adam trat in den Schatten des Wandelgangs der Kathedrale, die den Platz umschloss, und wartete geduldig ab.
Der Greyfriar's Friedhof lag in grauer Düsternis, aber das machte Lea nichts aus. Sie hatte keine Angst vor der Dunkelheit und auch nicht vor den Spukgeschichten, die über diesen Ort kursierten. Die Touristen strömten in Scharen hierher, um die eisige Hand von Mackenzie dem Poltergeist zu spüren, oder um sich das Grab anzusehen, an dem ein kleiner Hund namens Bobby noch lange treu über sein totes Herrchen gewacht hatte.
Auch auf diesem Friedhof spukten Geister, wie auf den meisten alten Friedhöfen in und um Edinburgh. Aber weder Bobby, der Hund, noch Mackenzie waren im Moment da, wie Lea genau wusste. Stattdessen geisterte hier eine ältere Dame namens Mrs. McDonald herum und ein mürrischer alter Mann, den die anderen Gespenster nur Old Grumpy nannten, weil er nie ein Wort sagte. Und natürlich der junge Liam O'Conner, dessentwegen sie hergekommen war.
Lea bog bei der Kirche nach rechts ab und schritt die abschüssigen Pfade entlang, die einst von Mönchen in grauen Kutten bevölkert worden waren.
»Lea, meine Liebe, wie geht es dir heute?«, erkundigte sich eine körperlose Stimme. Sie kam von einer steinernen Parkbank, die unter einem hohen Baum zu Leas Linker stand. Margaret McDonalds Lieblingsplatz.
»Sehr gut, danke, Mrs. McDonald. Und Ihnen?«
Margaret war ein sehr altes und erfahrenes Gespenst.
Sie hatte keine Mühe, sich bei den Lebenden bemerkbar zu machen. Lea spürte eine eisige Kälte an ihrer linken Schulter und wusste daher, dass Mrs. McDonald neben ihr herging. Sie setzte ein Lächeln auf und wartete darauf, dass der Klagenkatalog aufgeschlagen wurde.
»An sich nicht schlecht, aber diese Lebenden!«, klagte die alte Dame prompt. »Diese Lebenden! Absolut kein Respekt vor den Toten!«
»Hmm«, murmelte Lea unbestimmt. Es hätte keinen Zweck gehabt, Mrs. McDonald darauf hinzuweisen, dass sie selbst ebenfalls zu den Lebenden gehörte. Der einzige Weg, mit der alten Schottin zu verfahren, war, möglichst nichts zu sagen, bis der Fluss ihrer Klagen von selbst versiegte.
»Heute hat doch tatsächlich eine junge Frau, die in Begleitung ihres jungen Mannes hier war, auf meine Bank gezeigt und gesagt, sie hätte gehört, Mary Shelley habe oft hier gesessen und ihren Frankenstein geschrieben.«
»Ach ja?«
Sie kamen an einem Massengrab aus dem siebzehnten Jahrhundert vorbei. Lea war heilfroh, dass die Seelen dieser Verstorbenen nicht hier zurückgeblieben waren. Wie hätte sie einem Geist helfen können, der zu Tode gefoltert worden war? Nein, Lea war heilfroh, dass sie mit so etwas bis jetzt noch nichts zu tun gehabt hatte ...
»Was für ein Unsinn!«, schimpfte Mrs. McDonald. »Mary hat nie auf meiner Bank gesessen! Sie ist oft hergekommen, das stimmt, aber gewöhnlich saß sie dort drüben.«
Lea konnte nur vermuten, in welche Richtung Mrs.McDonald zeigte, da sie die Geister lediglich hören, aber nicht sehen konnte. Wofür sie ungeheuer dankbar war. Es war schon schwer genug, die Stimmen der Toten von denen der Lebenden zu unterscheiden. Wie viel schwieriger wäre es gewesen, wenn sie ihr auch noch erschienen wären ... schon der Gedanke ließ sie schaudern.
»Du könntest nicht vielleicht dafür sorgen, dass ein Hinweisschild aufgestellt wird, meine Liebe?«, erkundigte sich Mrs. McDonald. »Ich meine, damit es keine Verwechslungen mehr gibt?«
Lea wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Wie sollte sie sich da wieder herauswinden? Sie beschloss, die Karte der »unsensiblen Lebenden« auszuspielen. »Hm, Sie wissen ja, wie das ist, Mrs. McDonald«, sagte sie bedauernd, »die Lebenden begreifen manchmal einfach nicht, wie wichtig solche Dinge sind. Aber ich werde selbstverständlich einen entsprechenden Brief an die Stadtverwaltung schreiben und darum bitten, dass man ein Schild aufstellt.«
»Du hast ja so recht, meine Liebe, die Lebenden können derartig unsensibel sein! Ein Wunder, dass du so nett bist, dabei bist du noch gar nicht tot.«
Lea lächelte unbestimmt und nickte, denn nun hatte sie Liams Grab erreicht. Sie berührte den verwitterten Stein und wartete darauf, seine Stimme zu hören. Nichts.
»Du willst doch diesen Nichtsnutz nicht schon wieder auf eine deiner Unternehmungen mitnehmen, oder?«, fragte Mrs. McDonald missbilligend.
Lea ging stirnrunzelnd vor dem schmalen Grab in die Hocke. »Doch. Es gab eine Geistererscheinung am Manor Place, man hat mich angerufen. Liam sollte mich eigentlich hier treffen! Können Sie ihn irgendwo sehen, Mrs. McDonald?«
»Nein, Liebes, aber du weißt ja, wie diese jungen irischen Rabauken sind. Frech und unzuverlässig.«
Lea widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen.
Liam war siebzehn gewesen, als er starb. Er würde zwar im Herzen immer ein Junge bleiben, da war Lea sicher, aber bis jetzt war er immer absolut zuverlässig und pünktlich gewesen.
»Entschuldige, Lea, dass ich zu spät komme! Jenny vom Bahnhof hat mich aufgehalten - sie hatte ziemlich interessante Geschichten zu erzählen!«
Lea lächelte, als sie Liams vertraute, melodische Stimme hörte.
»Ach ja?«, erkundigte sich Mrs. McDonald höchst interessiert.
»Bist du bereit, mit mir auf Gespensterjagd zu gehen?«, fragte Lea hastig. Sie wollte weder Mrs. McDonald noch Liam - denn beide waren ungeheuer klatschsüchtig - in Fahrt kommen lassen.
Liam gluckste. »Na klar.«