|331|4. Teil

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Im dichten Verkehr in Norfolk wirken wir normal und damit unsichtbar. Ein grauer Nissan mit Hybrid-Antrieb, darin eine kleine Pseudo-Familie, am Steuer ein Patriarch mittleren Alters, der sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält und über eine wenig malerische Route nach London fährt: Wir könnten jedermann sein. Und das ist sehr beruhigend. Links von uns ein saures, metallisches Meer; zu unserer Rechten fahlbraunes, gepflügtes Ackerland, sporadisch unterbrochen von Gewerbegebieten, Wohnwagenparks, Bürogebäuden und Imbissen, die Kaffee, Hotdogs, Coca-Cola und Internetzugang anbieten. Ich habe das Navigationssystem so programmiert, dass es uns über Nebenstraßen bis Great Yarmouth leitet, an der Küste entlang durch Lowestoft, Aldeburgh und Felixstowe und dann Richtung Westen, parallel zum Mündungsgebiet der Themse, bis zur Stadium Island. Ein psychotischer Teenager im Auto birgt ein gewisses Risiko, doch zum Glück hat sich Bethany bislang nicht gegen unsere Fluchtpläne gewehrt. Als Frazer Melville an einer anonymen Tankstelle anhielt, um Vorräte zu kaufen, darunter auch die Vorratspackung Popcorn, auf die sie bestanden hatte, schlüpfte sie mit einem Haufen Make-up in die Toilette und tauchte als Mischung aus Nutte und Goth wieder auf. Niemand würdigte sie (oder uns) eines Blickes. So weit, so gut. Dennoch werde ich nicht den Fehler begehen, ihr zu vertrauen. Jetzt hat sie sich wieder auf dem Rücksitz ausgebreitet, der mit Konfetti aus zerplatzten, karamellisierten Maiskörnern übersät ist. Ihre Augen zucken hin und her, und mit dem rasierten Kopf, der einen grotesken Helm aus Stoppeln trägt, erinnert sie an ein angekettetes Tier, das auf seinen großen |334|Auftritt wartet. Gelegentlich liest sie mit sich überschlagender Marge-Simpson-Stimme Reklametafeln vor (Kredit gefällig? Kostenlose Beratung unter 0870  101 101. Pagoda Emporium – Frühstück, so viel Sie wollen!). Ansonsten ist es eine schweigsame Fahrt. Wir alle sind eingesponnen in unsere Gedanken.

Meine verschaffen mir keinen Trost. Als ich das Fenster öffne, dringt ein widerlicher Geruch herein, als wäre der Mond verwest und atmete seine lunare Fäulnis über den Ozean. Mir wird bewusst, dass eine Insel ein Gefängnis ist. Wie sicher kann die Sicherheit sein, in die wir uns bringen? Wie kann eine gelähmte Frau in einer überhitzten, von Hochwasser bedrohten, geplünderten Welt überleben, in der die Kommunikationswege zusammengebrochen, die Ressourcen eingeschränkt und Lebensmittel schwer zu bekommen sind? Werden wir Mineralwasser, Zucker und Sardinenbüchsen aus Supermärkten stehlen? Oder Kohl anbauen? Wer wird uns den Umgang mit Schusswaffen beibringen, falls wir sie benötigen? Und auf wen werden wir schießen? Vielleicht habe ich tief im Inneren angenommen, dass es nicht zu dieser Katastrophe kommen wird. Und wenn doch, dass wir still, effizient und schmerzlos sterben, indem wir eine Art innerer Löschtaste drücken, die es uns erlaubt, binnen einer Sekunde zu verschwinden. Bislang hat mir der Gedanke an meinen Tod keine Angst gemacht, vielleicht weil ich ihn schon einmal so lange und heftig geküsst habe und eine krankhafte Vertrautheit zu ihm fühle. Nun aber, da die Katastrophe wie ein Gespenst hinter den drohenden Wolken lauert, wird mir klar, dass ich nicht bereit bin, zu sterben. Außerdem habe ich eine durchaus gesunde Angst vor Schmerzen.

»Was für Leute leben eigentlich in diesen Planetariersiedlungen?«, frage ich Frazer Melville leise. Ich habe versucht, mir einen solchen Ort vorzustellen, kann aber nur die Bilder heraufbeschwören, die ich aus den Zeitschriften kenne: geduckte Reihen solarbeheizter Ökounterkünfte, Windräder, Felder mit Wurzelgemüse und Hanf, Fischteiche, Weinstöcke in Gewächshäusern und |335|verdreckte Kleinkinder in Gummistiefeln. Hinzu kommt Harish Modaks pessimistische Bewertung, was die Überlebensaussichten des Homo sapiens als Spezies betrifft. Ansonsten habe ich keinen Schimmer.

»Wie Harish schon sagte: Bauern, Ärzte, Ingenieure«, erwidert Frazer Melville, die Augen auf die Straße gerichtet. Ich beneide ihn, er kann sich immerhin mit Fahren ablenken. »Die Leute, die man braucht.«

»Physiker, Paläontologinnen, pessimistische alte Knacker, schwule Klimatologen, verkorkste Seelenklempnerinnen«, meldet sich Bethany vom Rücksitz. »Und Teenager. Zu Fortpflanzungszwecken.«

Eigentlich sollte ich vermutlich heulen, tue aber das genaue Gegenteil. Wenn auch ein bisschen hysterisch.

»Ich habe mal eine in Kanada besucht«, sagt Frazer Melville. »Man muss dort eine völlig neue Denkweise entwickeln.«

»Ist das gut oder schlecht?«

Er zuckt mit den Schultern. »Es ist das einzig Mögliche.« Er wirft einen Blick aufs Navi. »In zwei Stunden sind wir am Stadion.« Sein Gesicht ist starr vor Konzentration.

»Arbeitsunfall?«, erkundigt sich Marge Simpson. »Wie viel ist Ihr Fall wert? Sprechen Sie jetzt mit unseren Experten. Office Sense: Finanzplanung neu gedacht.«

Vor einer Weile hat Ned angerufen, um uns zu sagen, dass sie uns nach der Pressekonferenz mit einem Hubschrauber in der Mitte des Stadions abholen werden. Bis dahin können wir telefonisch Kontakt aufnehmen. Wir sollen weiter auf die Nachrichten achten. Er mahnt uns zur Vorsicht. Sollte man Bethany mit den drohenden Ereignissen in Verbindung bringen, könnte die Sache sehr unerfreulich werden.

Und was ist sie bitte jetzt?

Als ich nach dem Unfall aus dem Koma erwachte, lebte ich nach dem Prinzip »ein Tag nach dem anderen«. Oft auch nur minutenweise, bei extremen Schmerzen sogar im Zehnsekundentakt. Die |336|Medikamente halfen. Ansonsten verlegte ich mich auf die Selbsttäuschung, eine Angewohnheit, die ich früher verachtet hatte. Nun, da das langfristige Denken definitiv vorbei und die Zukunft auf wenige vorhersehbare Stunden geschrumpft ist, gilt dieses Prinzip erneut. Im Zweiten Weltkrieg, während der Luftangriffe, haben es Männer und Frauen in den Luftschutzkellern getrieben wie die Kaninchen. Das kann ich in diesem Moment durchaus nachvollziehen.

Wir sind in eine Wildnis aus billigen Häusern, Burger-Buden und Schrottplätzen vorgedrungen, auf denen sich ausgeweidete Autowracks und kaputte Baugerüste stapeln. Auch diesmal öffne ich das Fenster nur ganz kurz. Bethany krächzt: »Scheiße, was ist das?«, und Frazer Melville hustet demonstrativ. In den fauligen Gestank mischt sich eine metallische Note. Ich mache rasch das Fenster zu und hole tief Luft, versuche den Vulkanausbruch in meinem Magen zu unterdrücken. Während die Kilometer dahingleiten, wird der Geruch zunehmend intensiver. Um elf Uhr schalten wir den winzigen Fernseher im Armaturenbrett ein und entdecken den Grund dafür. An den britischen, skandinavischen und nordeuropäischen Stränden wurden Zehntausende Quallen angespült, die dort verwesen. Aufnahmen aus dem Weltraum zeigen riesige Schwärme, die sich wie unterseeische Wolken auf die Küsten zubewegen, während andere als dunkle Linien vor den Ufern tanzen und sich zu konzentrischen Kreisen sammeln, als hätte ein wahnsinniger Riese die ganze Küste in Luftpolsterfolie gewickelt. Frazer Melvilles Hände umklammern das Steuer. »Sie haben es gespürt«, sagt er. Dann nähern wir uns wieder dem Meer und können es mit eigenen Augen sehen. Der ganze Strand glitzert im grellen Sonnenlicht. Einen Moment lang sagen wir gar nichts, betrachten nur das Chaos aus Gallert und Schleim. Dann deutet Frazer Melville zum Himmel, wo ein Schwarm schwarzer Vögel kreist. Bald ist die Luft ganz dunkel.

»Sie fliegen weg.«

»Wohin?«, frage ich. »Wohin sollten sie schon fliegen?«

|337|»Dahin, wo wir auch hinfahren«, murmelt eine heisere Stimme vom Rücksitz. Sie lacht dreckig. Ich drehe mich zu ihr um. Der schwarze Kajal um ihre Augen ist schon verschmiert. Ein aufgeklebter Metallstecker an ihrer Oberlippe ist lose, und der rußige Lippenstift ist zu einem unirdischen Grau verblasst, wie bei den Zombies in den Splatterfilmen.

Die Nachrichten melden das ungewöhnliche Verhalten von Delphinen und Vögeln, das an der gesamten britischen Küste bis zum Kanal hinunter zu beobachten ist. Auf einer Karte der gesamten Nordseeregion zeigen animierte Schaubilder, wie sich die verstörten Schwärme im Wasser und in der Luft von der norwegischen Küste her ausbreiten. In Norwegen haben Meeresbiologen diese Phänomene bereits mit Buried Hope Alpha in Verbindung gebracht. Bethany gähnt gleichgültig und klappt ihren Mund hörbar zu. Der Umweltexperte Harish Modak, der die Verantwortung für die Geo-Graffiti von heute Morgen übernommen hat, hat für ein Uhr eine Pressekonferenz angekündigt. Er wird erklären, weshalb er die öffentliche Aufmerksamkeit auf Traxoracs Methanförderung in der Nordsee lenken will. Ich versuche mir vorzustellen, wie Harish, Kristin und Ned im Konferenzraum eines Hotels den internationalen Medien gegenübertreten. Blitzende Kameras, Blumensträuße aus Mikrofonen, die alle auf sie gerichtet sind. Und das, was danach kommt: Verkehrschaos, Straßenkämpfe, Plünderungen, das hemmungslose, brutale Drängen nach Sicherheit. An einer Ampel am Stadtrand von Lowestoft male ich mir ein Riff der Zerstörung aus. Die Frau da drüben, die mit den schweren Einkaufstüten im Kofferraum kämpft; das dickliche kleine Mädchen im lila Sweatshirt mit dem Aufdruck »Kleines Luder«, das die Haare zu hundert straffen Zöpfen geflochten hat; der Mann im Anzug, der vorsichtig ein Kaugummi von seiner Schuhsohle kratzt; die Frau im Schaufenster des Friseurs, die mit aufwendig dekorierten Fingernägeln in einer Ausgabe von Heat blättert; das gesamte Personal des Geländewagenhändlers, der mit unglaublichen Finanzierungen wirbt. Ein übergewichtiges Kind |338|aus Lowestoft, auf dessen T-Shirt »Kleines Luder« zu lesen ist, ist nicht gerade die Krone der Schöpfung. Aber es ist auch keine Schande für die Menschheit. Es ist einfach nur es selbst, so wie ich auch. Eine Frau, die im Auto sitzt, Wasser trinkt und vor Angst kotzen könnte. Jetzt läuft die Wettervorhersage. Über Schottland hat es Wolkenbrüche gegeben. Die Stürme ziehen rasch nach Süden. Es folgen Werbespots für Lebensversicherungen und Diätkliniken. Die muffige Luft wird dunkler und ist von einer mineralischen Kühle durchdrungen. Eine Welle der Klaustrophobie schlägt über mir zusammen, als wären wir in ein tiefes, stinkendes Loch gefallen. »Könntest du bitte mal anhalten?« Meine Hand umklammert Frazer Melvilles Oberschenkel. »Das ist nicht sehr romantisch, aber ich muss kotzen.«

 

Ab einem gewissen Alter sollte eine Frau ihr Herz nicht mehr an materielle Gegenstände hängen, an sentimentalen Nippes. Ich habe dieses Alter eindeutig noch nicht erreicht. Bei der überstürzten Abreise aus dem Bauernhaus habe ich mein liebstes Frida-Kahlo-Buch auf dem Tisch vergessen. Nachdem ich aus der offenen Tür gekotzt und die letzten Reste von Würde zusammengekratzt habe, kann ich seinen Verlust körperlich spüren. Es ist, als hätte ich einen lieben Menschen verraten und könnte es nie wieder gutmachen. Um die aufsteigende Paranoia zu unterdrücken, betrachte ich Dinge, die mir Trost schenken. Den Wangenknochen, den ich leicht beiße, wenn wir miteinander schlafen. Seine kräftige Nase. Den Bartschatten, rot wie oxidierte Erde. Er hat mir den Mund abgewischt, mir Wasser zu trinken gegeben, mich ganz fest gedrückt und mein Gesicht geküsst, obwohl ich mich gerade eben übergeben hatte. Ich lege meine Hand auf seinen Oberschenkel, wo sie hingehört, und er legt seine darüber. Ich bin unendlich dankbar. Dennoch kann das die Angst nicht ganz vertreiben. Wenn ich uns irgendwohin wünschen könnte, würde ich uns ans Ufer eines Flusses versetzen. Ja, an den Severn in der Nähe von Bristol. Im Frühsommer. Dort gäbe es Libellen, Kajaks |339|und lange, träge dahintreibende Wasserpflanzen. Die Wiese hinter uns wäre mit Mohnblumen, Bergastern und Butterblumen getupft. Vielleicht ist die Telepathie zwischen uns so stark, dass unausgesprochene Dinge unausgesprochen bleiben können.

»Sag irgendeinen Fluss, der dir in den Sinn kommt.«

Er lächelt angespannt. »Der Nil.«

Falsche Antwort. Das heißt, wir sterben. »Was hast du gegen den Severn?«

»Gar nichts. Aber ich habe an den Nil gedacht. Jetzt bin ich dran mit Albernsein. Nenn mir einen See.«

»Titicaca.«

»Nein. Lake Powell. Im Grenzgebiet von Utah und Arizona, falls du das noch nicht wusstest.«

Ich wusste es nicht. Ich habe noch nie vom Lake Powell gehört. Das war’s. Wir werden mit Sicherheit sterben. »Es kann doch nicht das erste Mal sein, dass die Menschen glauben, der Weltuntergang stünde bevor.« Meine Stimme klingt künstlich und piepsig. »Denk doch nur an Karthago. Die Pest. Das Erdbeben von Lissabon siebzehnhundertsoundsoviel. Hiroshima.«

»Die Sintflut. Die Geburt der Überlebenskunst und eine praktische Lektion über die Vorteile weitsichtiger Planung.« Auch seine Stimme klingt künstlich und piepsig. Er spielt mein Spiel mit. Ist das gut oder schlecht? »Isaac Newton glaubte, die Welt werde im Jahre 2060 enden. Aber wenn die Leute von der Welt sprechen, meinen sie unsere Welt.« Ja, er konzentriert sich darauf, normal zu klingen. Und scheitert, genau wie ich. »Die Welt, wie wir sie kennen. Geologisch gesehen ist das business as usual. Eine Ära findet ein abruptes Ende, die Biosphäre erleidet einen schweren Schlag, und dann beginnt eine neue Ära.«

»Die Regentschaft des Antichristen«, rülpst Bethany vom Rücksitz. »Die Herrschaft des Tieres.«

Das Unwetter beginnt mit einzelnen Regentropfen auf der Windschutzscheibe und einer Welle kalter Luft, darin der finstere, organische Gestank von Enzymen, die Proteine zersetzen, von |340|Fischinnereien, von Kelp, Schlamm und Blasentang. Zinngraue Wolken rollen vom Horizont heran. Das Meer ist ruhelos und kabbelig, und in der Ferne durchzuckt ein weißlich-gelber Blitz den Himmel, vor dem sich Antennen, Telegrafenstangen und die geisterhaften Skelette der Bäume abzeichnen. Sekunden später gurgelt der Donner. Wir befinden uns in einem nördlichen Vorort von Felixstowe, in dem die Platanen zu arthritischen Fäusten gestutzt wurden. Wir sind noch immer über hundert Kilometer von London entfernt. Der Regen prasselt gegen die Scheibe und rinnt schräg zur Seite weg. Bethany öffnet ihr Fenster und streckt den Kopf in die gesättigte, stinkende Luft, die sich wie ein Lebewesen ins Wageninnere wälzt.

»Ich kann den Strom spüren!«, ruft sie. Dann schreit sie zum Himmel: »Hey, mehr davon!«

»Mach das Fenster zu!«, brüllt Frazer Melville. Bethany beachtet ihn nicht und fängt an, sich auf dem Rücksitz hin und her zu wiegen, summt laut mit offenem Mund wie ein Baby, das seine Stimme ausprobiert.

»Gewitter regen sie auf.« Ich erinnere mich an Oxsmith. »Wir müssen irgendwo parken und sie beruhigen.«

Der Gestank ist so intensiv, dass ich ihn auf der Zunge schmecke. Bethanys Augen glitzern dunkel, als betrachte sie eine gefährliche Bühnenshow hinter einem unsichtbaren Vorhang. Sie beugt sich aus dem Fenster und schreit in den peitschenden Regen: »Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind! Und es kam Elektrizität! Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen!«

»Bethany, mach das Fenster zu, ich muss Auto fahren!«, zischt Frazer Melville. Schweiß rinnt ihm übers Gesicht in den Kragen. Ich schaue zu Bethany. Sie kämpft mit dem Verschluss des Sicherheitsgurtes.

»Fahr ran. Bethany, alles in Ordnung. Alles wird gut«, sage ich.

Aber für sie wird nichts gut. Diese Chance hat sie nie gehabt. |341|Sie löst den Gurt und schleudert ihn beiseite. Dann stößt sie mit einem ekstatischen Schrei die Tür auf und stürzt sich hinaus.

Frazer Melville reißt das Steuer herum. Der Wagen schwenkt nach links und bleibt halb auf der Straße, halb auf dem Gehweg stehen. Mein Mund ist weit geöffnet, ich muss wohl geschrien haben. Durch die Hintertür peitscht der Regen herein und färbt die Sitze dunkel. Die anderen Autofahrer hupen wütend, weil sie ausweichen müssen. Von Bethany keine Spur. Dann entdecke ich im Seitenspiegel einen Umriss, und meine Kehle schnürt sich zusammen. Sie liegt reglos hinter uns auf dem Gehweg, Arme und Beine von sich gestreckt.

Mit forensischer Klarheit sehe ich ihr zerschmettertes Rückgrat. Vor allem die zerstörten Wirbel. Den Bruch auf Höhe von T3, vielleicht auch T4. Der Albtraum erwacht brutal zum Leben. Mein Herz hämmert wild.

Eine Sekunde später ist sie aufgesprungen, als wäre nichts geschehen, und die Erleichterung macht mich schwindlig. Sie rennt an uns vorbei in eine Seitenstraße, wobei ihr schwarzes Riesen-T-Shirt im Wind flattert. Ich frage mich, ob jemand die Polizei gerufen hat. Und ob ich mich in diesem Moment nicht sogar darüber freuen würde. Vor uns teilt ein greller Blitz den Himmel, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag, der erschreckend nah ist. Das Gewitter befindet sich genau über uns.

»Ich laufe ihr nach«, murmelt Frazer Melville und öffnet die Tür, worauf erneutes Hupen ertönt. Ich schalte den Warnblinker ein. Ein junger Mann verflucht mich auf Urdu, bevor er Gas gibt und im Gewitter verschwindet. Ich bin hilflos ohne Rollstuhl. Von dort, wo ich sitze, kann ich nicht einmal die hintere Tür schließen. Die nasse Luft stinkt wie verdorbener Eintopf. Zu meiner Linken kann ich gerade noch Bethanys winzige schwarze Silhouette erkennen. Frazer Melville rennt hinter ihr her. Sie sind in eine mit Platanen bestandene Seitenstraße eingebogen, in der drei kleine Kinder im Wolkenbruch spielen. Ein blonder Mann, vielleicht ihr Vater, repariert im Carport sein Auto. Er richtet sich auf und |342|betrachtet das stoppelköpfige Goth-Teenie-Mädchen, das rasend schnell an ihm vorbeiläuft, gefolgt von einem großen Mann in Hemdsärmeln, der bis auf die Haut durchweicht ist und wie ein Irrer brüllt.

Dann sehe ich, wohin Bethany will. Es liegt eine furchtbare Logik darin.

Auf einem verwilderten Grundstück neben der Straße steht ein Strommast, so hoch wie ein achtstöckiges Gebäude.

Ich lasse das Fenster herunter und drücke die Hupe, bis sich der blonde Mann zu mir umdreht. Er ist etwa Mitte dreißig und trägt ein ölfleckiges Kapuzensweatshirt. Oben quillt Brusthaar heraus. »Kommen Sie bitte her, Sie müssen mir helfen!«, schreie ich gegen den tosenden Wind an. Er schaut vorwurfsvoll von mir zu Bethany und Frazer Melville, die den Mast fast erreicht haben, dann brüllt er die Kinder in einer slawisch klingenden Sprache an. Sie beachten ihn nicht. Er brüllt noch einmal, brutaler, und sie stürzen ins Haus. Wieder reißt ein Blitz den Himmel in der Mitte durch. Ich versuche ihm mit Gesten zu zeigen, dass ich mich nicht bewegen kann. Schließlich trabt er zögernd und mit gesenktem Kopf durch den Regen zu mir herüber. Der nächste Donner hallt so heftig, als würde Geschirr zerschlagen.

»Haben Sie ein Problem?«

»Mein Rollstuhl ist im Kofferraum! Ich kann nicht gehen! Ich brauche Ihre Hilfe!« Er kommt näher und betrachtet meine Beine mit unverhohlener Skepsis. »Ich bin gelähmt. Ich kann meine Beine nicht gebrauchen. Ansonsten würde ich Sie wohl kaum um Hilfe bitten!« Er trägt ein Kruzifix um den Hals. Seine Augen sind hell und argwöhnisch. »Unsere Tochter hatte eben einen Ausraster. Sie ist drogenabhängig. Wir wollen sie zurück in die Reha bringen. Wir dachten, sie sei clean, aber sie hat irgendwas genommen. Jetzt will sie sich umbringen.« Er wirkt immer noch misstrauisch. »Sie steht unter Drogen, verstehen Sie? Wir hätten beinahe einen Unfall gehabt!« Der Regen klatscht mir ins Gesicht, auf die Arme, auf den Schoß.

|343|»Das hier ist eine ruhige Gegend«, erwidert er. Der Akzent ist russisch. »Rufen Sie die Polizei. Die werden sich darum kümmern.«

Sein Sweatshirt ist durchweicht und lässt die Muskeln darunter erkennen, die nicht aus einem Fitnessstudio stammen, sondern von der Arbeit auf dem Feld oder in einer Fabrik. Diese Muskeln brauche ich dringend. Ein Blitz beleuchtet sein Gesicht, als hätte jemand ein Foto gemacht. Dann folgt der Donner. Es klingt, als zerreiße jemand eine Leinwand.

»Wir haben keine Zeit! Bitte steigen Sie ein und fahren Sie mich. Wir müssen sie aufhalten. Sie ist gewalttätig.« Der Russe klappt entschlossen den Mund zu. Ich spüre, wie müde und hungrig ich bin. Und wie wütend. »Machen Sie schon!«, schreie ich in sein dämliches, stures Gesicht.

»Hey, immer mit der Ruhe, Lady!«

»Meine Tochter will auf den Strommast da drüben klettern und sich mit einem elektrischen Schlag töten! Und Sie stehen hier herum! Wir müssen sie aufhalten. Los, steigen Sie ein! Der Schlüssel steckt. Herrgott noch mal, fahren Sie doch!«

Wir erreichen den Fuß des Mastes im selben Augenblick wie Bethany. Der Russe bremst, springt aus dem Auto, lässt Motor und Scheibenwischer laufen. Ich spähe durch die beschlagene Scheibe. Bethany umklammert einen der riesigen Gitterpfeiler des Mastes und legt den Kopf in den Nacken, um die Höhe abzuschätzen. Dann fängt sie an, hinaufzuklettern, flink wie ein Insekt. Frazer Melville kommt schreiend angerannt.

»Helfen Sie ihm! Schnell!«, rufe ich dem Russen zu. Meine Stimme verhallt im Gewitter.

Geschickt und entschlossen hat Bethany den niedrigsten Querträger erreicht und balanciert in vier Metern Höhe. Sie streckt sich, um den nächsten zu ergreifen, doch der ist außerhalb ihrer Reichweite. Der Wind kommt aus allen Richtungen, und ihre Füße geraten auf dem nassen Metall ins Rutschen.

Ich verfluche meine nutzlosen Beine.

|344|Frazer Melville springt an dem dicken Stützpfeiler hoch und greift mit einer Hand nach einer Strebe. Einen Moment lang baumelt er in der Luft. Dann hievt er sich hoch bis zum Querträger und rutscht vorsichtig auf Bethany zu, ein kleines Bündel aus nassen Kleidern. Durch den Regen höre ich sie schreien, er solle sich verpissen. Er gibt dem Russen ein Zeichen, sich genau unter sie zu stellen. Er hofft wohl, ihren Griff zu lösen. Der Russe gehorcht, doch als Frazer Melville versucht, Bethany wegzuziehen, schlägt sie ihm die Fingernägel ins Gesicht. Er schreit auf vor Schmerz. Dann packt er ihren Oberarm, doch sie hat die Beine fest um die Metallstrebe geschlungen.

»Sie müssen da rauf!«, rufe ich dem Russen zu. Er kann mich nicht hören. Ich sehe, wie er zögert. Dann klettert er an dem anderen Stützpfeiler hoch. Nach mehreren Versuchen ist er oben und nähert sich Bethany von hinten. Sie sieht ihn nicht kommen. Frazer Melville umklammert noch immer ihren Arm, hält aber nur mit Mühe das Gleichgewicht. Der Russe wirft sich nach vorn und bekommt Bethanys rechtes Bein zu fassen. Sie schreit und tritt nach ihm, trifft ihn im Gesicht, doch er ist unerschüttert und löst ihren Fuß von der Strebe. Beide Männer haben sie jetzt im Griff, doch sie wehrt sich heftig. Ich höre ihre schrillen Schreie und die Männer, die sie zornig anbrüllen. Frazer Melville verliert als Erster das Gleichgewicht. Doch er lässt nicht los. Ebenso wenig wie der Russe.

Es ist ein furchtbarer Augenblick, zeitlupenlangsam und unausweichlich. Ineinander verschlungen, noch immer kämpfend, kippen sie alle drei zur Seite und stürzen aus vier Metern Höhe auf den Boden.

 

Bethany hat zunächst hyperventiliert, nun aber geht ihr Atem ruhiger. Sie hat einen hässlichen Kratzer auf der Stirn. Ihre verbundenen Hände sind blutverschmiert. Frazer Melville hat einen riesigen Kratzer auf der Wange, der mit dunkelrotem Blut und Rost bedeckt ist. Der Russe ist unglücklich gelandet und hinkt. |345|Alle drei sind triefend nass. Noch immer prasselt der Regen nieder. Die Hintertüren des Wagens stehen weit offen, der Russe hält Bethany auf dem Rücksitz fest, während Frazer Melville ihre Handgelenke mit meinem Schal fesselt.

Der Schal hat meiner Mutter gehört und ist von Liberty’s. Diese im Grunde nebensächliche Tatsache macht mich auf einmal sehr traurig. Es ist, als würde meine Mutter mit Entsetzen und Sorge über mich wachen.

»Das Meer wird Feuer fangen«, verkündet Bethany und richtet den kajalverschmierten Blick auf den Russen. Ihre Augen wandern ziellos umher. Ihr Atem geht unregelmäßig. »Verstehen Sie, was ich sage? Alle werden ertrinken. In einer gigantischen Welle. Sie auch. Sie werden sterben.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagt Frazer Melville und drückt ihm ein Bündel Geldscheine in die Hand.

Der Russe nickt, inspiziert das Geld und stopfte es in seine Gesäßtasche. »Kein Problem, Mann.« Sein Ellbogen blutet stark.

»Er ist gar nicht mein Vater«, nuschelt Bethany, wischt sich die Stirn ab und betrachtet das Blut. »Und sie ist auch nicht meine Mum. Aber sie rammeln sich um den Verstand. Echt wahr.«

Der Russe schlägt die Tür zu, entsetzt über das, was er da gerettet hat. Er dreht sich um und will gehen.

»Hören Sie«, sage ich in dringlichem Ton, »das mit dem Tsunami stimmt wirklich. Es wurde noch nicht in den Nachrichten bekanntgegeben. Aber es wäre eine gute Idee, zu fliehen, bevor der Verkehr zusammenbricht. Sie werden es nicht bereuen.«

»Dann haben Sie einen Vorsprung«, bestätigt Frazer Melville und lässt den Motor an. »Fahren Sie mit Ihrer Familie ins Landesinnere. Suchen Sie sich den höchsten Punkt, den Sie finden können. Oder falls Sie jemanden kennen, der ein Boot besitzt …«

Dem Russen stehen tausend Fragen ins Gesicht geschrieben, aber wir haben keine Zeit, sie zu beantworten. Frazer Melville legt den ersten Gang ein, reißt das Steuer herum und schießt auf die Straße hinaus.

|346|Bethany bleibt trotzig, was ihren Fluchtversuch angeht. Sie habe eben Strom gebraucht, sagt sie. Es würde schon mehr als einen Hochspannungsmast brauchen, um sie zu töten. Schon die Luft hat sie ein bisschen high gemacht. Um den Kratzer an ihrer Stirn entwickelt sich ein gelblicher Fleck. Im Handschuhfach finde ich ein Erste-Hilfe-Set. Nachdem ich den tiefen Kratzer auf Frazer Melvilles Wange versorgt habe, überrede ich Bethany, sich nach vorn zu beugen, während ich mich unbeholfen herumdrehe. Ich entferne das verbliebene Make-up, reinige die Wunde etwas energischer als nötig und trage ein Desinfektionsmittel auf. Ihre Handgelenke sind noch immer mit dem Schal meiner Mutter gefesselt, und wir werden sie auch so schnell nicht losmachen.

Als wir London erreichen, ist das Gewitter in einen leichten Regen übergegangen. Die Lagerhäuser und Bürogebäude sind in schwaches Licht getaucht, brüchig wie Stanniol. Als hätte die Sonne ihr neue Kraft verliehen, wird Bethanys bis dahin tonloses Summen lauter, und wir kommen in den wiederholten Genuss einer Hymne über die »Liebe des Lammes«, bis ich das Lamm am liebsten mit bloßen Händen erwürgen würde. Frazer Melville, der nach der Episode mit dem Hochspannungsmast noch immer vor Wut kocht, befiehlt ihr, damit aufzuhören, doch sie ist so schwer erreichbar wie eine ferne Galaxie. Sie lacht und stürzt sich in die nächste Hymne. In dieser geht es um die »Kraft, die im Blut liegt«.

»Sag mir noch mal, weshalb wir sie eigentlich mitgenommen haben«, murmele ich. Wir sind noch immer mindestens vierzig Kilometer vom Stadion entfernt.

»Wegen irgendwelcher albernen moralischen Erwägungen. Bereust du es?« Er sieht auf die Uhr. »Zwei. Schalt mal die Nachrichten ein. Die Geschichte müsste jetzt draußen sein.«

Ich schalte BBC ein, wo gerade die Erkennungsmelodie der Nachrichten läuft. Als sich der kleine Bildschirm mit einer Luftaufnahme von Buried Hope füllt, schlägt Frazer Melville triumphierend aufs Lenkrad. Wissenschaftler warnen vor einer Katastrophe |347|in der Nordsee, die Europa treffen könnte. Das Bild wechselt zur Pressekonferenz, wo Harish Modak, Ned Rappaport und Kristin Jonsdottir auf einem Podest in einem Saal voller Journalisten sitzen. Sie sprechen von einer globalen Krise ungeheuren Ausmaßes  Nun, da die Nachricht in der Welt ist, durchflutet mich die Erleichterung wie eine willkommene Dosis Morphium. Bethany singt scheinbar gleichgültig weiter. Ich stelle den Fernseher lauter. Vor Kurzem hat der führende Umweltexperte Harish Modak vor einem bereits im Entstehen begriffenen Tsunami in der Nordsee gewarnt, der Nordeuropa zerstören und einen großen Teil von Großbritannien überfluten könnte. Auslöser sei ein Unfall auf der methanfördernden Bohrinsel Buried Hope Alpha. »Wärest du frei von Leidenschaft und Stolz?«, grölt Bethany. »Die Kraft liegt im Blut, die Kraft liegt im Blut. Komm zur Reinigung auf den Kalvarienberg, es liegt wunderbare Kraft im Blut!« Professor Modak, dessen Team die Verantwortung für die Graffiti in Grönland übernommen hat, die die von Traxorac betriebene Bohrinsel in den Blickpunkt gerückt haben, erklärt, dass eine Reihe gewaltiger unterseeischer Lawinen  Bethany hält abrupt inne und verkündet: »Mein Kopf tut weh.« Im Fernsehen erscheint eine weitere Ansicht von Buried Hope Alpha. Der gelbe Kran ist in einem Winkel von fünfundvierzig Grad geneigt. Während die North Sea Alliance die Behauptungen des Professors entschieden zurückgewiesen hat, haben ungewöhnliche Vorgänge im Meer Spekulationen ausgelöst  Eine Karte der Nordsee wird eingeblendet, auf der Pfeile die Massenbewegungen der Meerestiere nachzeichnen. Harish Modak, Kristin und Ned erscheinen wieder vor einer Karte des Meeresbodens. Daneben sieht man Graphen, vermutlich die seismischen Aufzeichnungen der Bohrinsel. Unsere Freunde aus dem Bauernhaus in Norfolk haben sich in Schale geworfen. Im Anzug ist Ned kaum wiederzuerkennen. Er hat sich rasiert und die üppigen Locken zu einem Kurzhaarschnitt Marke Geschäftsmann gestutzt. Kristin trägt eine elegante Hochsteckfrisur, eine dunkelgrüne Jacke und ein |348|cremeweißes T-Shirt, während Harish Modak scharf, hellwach und weniger zerbrechlich als im wirklichen Leben wirkt. Sollte Kristin nervös sein, lässt sie es sich nicht anmerken und erklärt anhand von Zeichnungen, Landkarten und Diagrammen die wissenschaftliche Seite. Sie trägt ihren Fall klar und schlüssig vor. Frazer Melvilles Hände schließen sich mit neuer Kraft ums Lenkrad. Dann ist Ned an der Reihe. Auch er hat sich ausgezeichnet vorbereitet.

»Praktisch gesehen bedeutet es, dass Sie sofort aufbrechen sollten, falls Sie weniger als zehn Kilometer von der Küste entfernt wohnen. Packen Sie Essen und Verbandszeug ein und fahren Sie in höheres Gelände«, schließt er. »Wir müssen mit einem Domino-Effekt rechnen.«

Falls die britische Öffentlichkeit in etwa so reagiert, wie ich es in meinem früheren Leben getan hätte, wird die Warnung zunächst auf taube Ohren stoßen. Die Leute werden es verdrängen oder sich um banale Dinge wie Zahnpasta und Hundefutter sorgen. Als Harish das Wort ergreift, spricht er mit dem Bedauern eines Erwachsenen, der ein Kind enttäuschen muss. »Das vernichtendste Resultat der bevorstehenden Katastrophe wird eine plötzliche globale Erwärmung sein, bei der die Durchschnittstemperaturen um vier Grad oder mehr steigen. Dies ist in der fernen Vergangenheit zweimal vorgekommen. Nun haben wir allen Grund zu der Annahme, dass es erneut geschehen wird. Wir befürchten, dass dieser Zustand in diesem Teil der Welt innerhalb weniger Stunden eintreten wird.«

Ich denke an meinen Vater im Pflegeheim. Wie schnell zerbröckeln Kreideklippen, wenn eine Wasserwand mit der Geschwindigkeit eines Jumbojets auf sie trifft? Wie lange dauert es, bis sich die Lungen eines alten Mannes mit Flüssigkeit gefüllt haben?

Harish Modak spricht wieder und muss ein Gewirr erregter Stimmen übertönen.

»Viele werden uns nicht glauben. Sie müssen selbst entscheiden. Aber meine Kollegen und ich meinen, dass die Menschen das |349|Recht haben, es zu erfahren. Nun sind alle gewarnt und können selbst entscheiden, was sie tun. Ich wünsche ihnen viel Glück.«

Die Nachrichtensprecherin wird vor den laufenden Bildern der Pressekonferenz eingeblendet, auf der die Journalisten die drei Wissenschaftler weiterhin mit Fragen bombardieren. Traxorac hat Professor Modaks Behauptungen entschieden zurückgewiesen und bestritten, dass es ungewöhnliche Aktivitäten unter Buried Hope Alpha gegeben habe. Die Regierung hat die Warnung als vollkommen unbegründet verurteilt und erklärt, dass die Beweise nicht stichhaltig seien. Man solle keine Massenpanik erzeugen. Doch während der wissenschaftliche Chefberater der Regierung noch keine Stellungnahme abgegeben hat, befürworten führende Wissenschaftler wie Kaspar Blatt, Akira Kamochi, Walid Habibi und Vance Ozek, die die Unterlagen von Traxorac geprüft haben, eine Massenevakuierung. Sie erklären, das ungewöhnliche Verhalten der Meerestiere, vor allem vor der norwegischen Küste, sei ein weiterer Beleg dafür, dass die Instabilität des Meeresbodens bald ein kritisches Maß erreichen könnte. Auf dem Rücksitz schaut Bethany, erschöpft von ihrem kopfschmerzerzeugenden Gesang, ausdruckslos aus dem Fenster. Vor uns breiten sich die unregelmäßigen Umrisse der Londoner Vorstädte aus. Eine Sekunde später fallen ihr die Augen zu.

Auf dem Satellitenfoto, das wir uns im Bauernhaus angeschaut haben, besaß der Südosten Englands – die Buckel von Norfolk und Suffolk, die grau-braunen Flecken der Ballungsgebiete, die wie herausgemeißelten Straßen, der geschlängelte Darm der Themse – etwas Traumartiges, dessen Auslöschung vielleicht jemand als hypothetisches Szenario auf dem Bildschirm bewerkstelligen könnte, wenn er mit der nötigen Software und einem starken Zerstörungstrieb ausgestattet wäre. Doch hier am Boden, wo die Sonne die Luft schimmern lässt wie glasiert, inmitten der Hochhäuser, der Discounter mit den abblätternden Fassaden und der emporragenden Kräne, springt die Obszönität einer solchen Katastrophe geradezu ins Auge. Ich sehe sie in Technicolor: die |350|gepeitschten Bäume, weinenden Kinder, verbogenen Straßenschilder und die Leichen, die wie geschwollene Knollen auf dem Wasser tanzen. Früher einmal, denke ich, pflanzten Könige Eichen, die hundert Jahre später gefällt werden sollten, um daraus Kriegsschiffe zu bauen. Sie wussten, dass sie die Flotten niemals selber sehen würden, aber darum ging es auch nicht: es ging um Visionen. Was ist aus uns geworden? Wie kann es sein, dass wir, die wir über Ozeane fliegen, zu anderen Planeten rasen, unter der Erde graben und aus der Ferne töten können, dass die Atomspalter, Antibiotika-Entdecker, Computermodell-Berechner, Kunstherz-Transplanteure, Schöpfer genmanipulierter Pflanzen und Erbauer von Skipisten in Dubai keine fünf Minuten über ihre eigene Lebenszeit hinausblicken können?

Das Gewitter hat die Luft gereinigt, aber es riecht noch immer nach Verwesung. In den organischen Gestank hat sich ein Hauch von Schwefel gemischt, oder geht meine Phantasie mit mir durch?

»Bei Eintritt der Entrückung könnte dieses Fahrzeug unbemannt sein«, liest Frazer Melville den Aufkleber unseres Vordermanns. Links von uns liegt das schwarze Band der Themse, die Oberfläche getupft mit weißen Schaumkronen. Er wirkt nachdenklich. »Schalte mal den Gotteskanal ein.« Ich werfe Bethany eine Decke über und zappe herum, bis ich The Worship Workshop finde, eine Studiodiskussion, bei der die aggressiven Blicke der Teilnehmer schon verraten, dass nach den Nachrichten eine heftige Auseinandersetzung ausgebrochen ist. Ein stämmiger Mann in gut geschnittenem Anzug spricht erregt und wedelt seinem Nachbarn, einem schlaksigen Prediger mit sonnengegerbter Haut, der viel Zeit an der frischen Luft zu verbringen scheint, mit der Bibel vor der Nase herum.

»Die Antwort steckt in diesem Buch! Man nennt es die Bibel, hier ist alles drin! Daher möchte ich mit allem nötigen Respekt Ihr Argument zurückweisen, Marlon. Ich weiß Ihre Aufrichtigkeit zu schätzen und zweifle nicht an Ihrer Liebe zu Jesus, aber dies ist eine Zeit für das Studium der Bibel. Wir sollten das Wort |351|des Herrn sorgfältig lesen, so wie es hier niedergelegt ist. Wir sollten aus alldem keine voreiligen Schlüsse ziehen! Bleiben wir doch beim Wesentlichen. Wir dürfen uns nicht in dieses ganze Hin und Her hineinziehen lassen, bevor wir nicht genau geprüft haben, was die Heilige Schrift sagt! Und das wird Zeit in Anspruch nehmen …«

»Genau die haben wir aber nicht!«, explodiert eine junge schwarze Frau und breitet die Hände aus. »Ich weiß ja nicht, was Ihre Uhr macht, aber meine tickt furchtbar laut!«

Ein älterer Mann schaltet sich ein. Er spricht langsam und gemessen. »Wir vergessen hier etwas. Es wird keine Warnung geben. Jesus hat gesagt: ›Denn ihr selbst wisset gewiss, dass der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.‹ Gerade darin liegt die Schönheit der Entrückung. Wir wissen nicht, wann sie geschehen wird. Wir können es nicht wissen, Christine. Wir können es nicht wissen!«

»Sehr wahr, Jerry«, antwortet der Mann mit dem sonnengegerbten Gesicht. Auch er hält eine Bibel umklammert. »Wie aber sollen wir unsere Brüder und Schwestern retten? Es ist unsere Christenpflicht, den Menschen zu helfen. Und wenn das, was wir heute in den Nachrichten gehört haben, wahr ist …«

»Von wem haben wir es denn gehört? Von Planetariern! Atheisten!«, protestiert Marlon.

»Die Fakten werden von anderen Wissenschaftlern bestätigt, die keine Planetarier sind, darunter Kasper Blatt. Er ist ein Mann Gottes, den ich respektiere. Offen gesagt, Marlon, gibt es für mich, von einem großen Atomkrieg einmal abgesehen, kein deutlicheres Zeichen, dass das Ende der Zeiten gekommen ist. Überdies gibt es noch das andere, sehr deutliche Zeichen, das wir bereits kennen, nämlich den Krieg im Nahen Osten! Dies ist ein Weckruf. Meine Freunde, hier geht es nicht nur um einen Tsunami in der Nordsee. Es geht um eine plötzliche globale Erwärmung von vier oder sogar sechs Grad. Ich möchte gerne das Buch Sacharja zitieren, Kapitel vierzehn, Vers zwölf: Ihr Fleisch wird verwesen, |352|dieweil sie noch auf ihren Füßen stehen, und ihre Augen werden in den Höhlen verwesen und ihre Zunge im Munde verwesen. Ich sage, wir alle sollten aktiv werden. Denkt an eure Lieben, die noch nicht zu Jesus gefunden haben! Führt sie zum Herrn, bevor es zu spät ist, auf dass auch sie entrückt werden!«

Die schwarze Frau breitet die Arme aus, als wollte sie das ganze Studio umarmen. »Ja! Wir sollten jubeln! Wir sollten die Menschen versammeln, um dieses Ereignis in Gott zu feiern, denn die Stunde ist gekommen!« Auf ihrem Gesicht erscheint ein seliges Lächeln, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Was ist los mit euch? Auf diesen Tag habe ich mein Leben lang gewartet! Ich fühle mich so gesegnet

Der Moderator unterbricht sie. »Nun, es gibt eine Gemeinde, die dieses Gefühl teilt. Wir schalten jetzt live nach Birmingham, wo der Tempel Gottes sich bereits für einen Weg entschieden hat.«

Sie blenden einen jungen Prediger ein, der zu einer großen Gemeinde spricht, während ständig weitere Leute zur Tür hereindrängen. Hinter ihm wiegt sich ein Chor in langen, blau schimmernden Gewändern. »Wir feiern, ihr Menschen!«, dröhnt er und stößt die Faust in die Luft. »Wir machen mobil!« Die Menge brüllt ihre Zustimmung heraus. Die Leute pfeifen und johlen. »Wir feiern die guten Neuigkeiten, die die Ältesten für uns gedeutet haben! Wir feiern den Triumph der Glaubenswelle und das Kommen von Gottes Entrückung! Wie lange haben wir darauf gewartet! Nun aber lobet Gott, die Stunde ist gekommen! Ihr Menschen zu Hause, begebt euch in eure Kirchen, so wie wir es getan haben!« Die Gemeinde jauchzt. »Wisst ihr, was wir im Namen Gottes hier tun? Wir bleiben und beten! Also kommt zu uns! Bleibt und betet! Kommt zu denen, die bleiben und beten, macht mit den Gerechten mobil!« Er spricht in die Kamera. »Führt eure Liebsten noch heute zu Gott. Sagt ihnen, dass es nicht zu spät ist, die Erlösung zu finden. Kommt und lasset euch segnen, legt eure Seele in Jesu Hände und werdet Teil der Entrückung.«

»Okay«, sagt Frazer Melville bedrückt, »ich glaube, das reicht.« |353|Ich schalte den Fernseher aus. Die Autos fahren jetzt im Schritttempo.

Als wir wenige Kilometer vor dem Stadion an einer Ampel halten, beginnen die Straßen vor Aktivität zu vibrieren. An den Ecken bilden sich lebhafte Gruppen. Es sind vor allem junge Männer. Geschäfte werden abgeschlossen und vergittert. Bald begreifen wir, warum. Von links ertönt ein lauter Knall, dann klirrt Glas, als ein junger Typ einen Ziegelstein durch ein riesiges Schaufenster wirft und hineinspringt. Die Plünderungen haben begonnen. Auf dem Gehweg schwenkt ein übergewichtiger Mann mittleren Alters im Jogginganzug die Arme, um ein Auto anzuhalten. Sein Gesicht ist zu einer Maske der Angst erstarrt. Wir fahren an ihm vorbei, lassen uns vom Navi durch Nebenstraßen leiten, um das Chaos der Hauptstraßen so weit wie möglich zu vermeiden. Die Gewerbegebiete liegen still da, wie ausgestorben. In den Geschäfts- und Wohngebieten hingegen schleppen Männer und Jungen schwere Rucksäcke aus den Läden oder schieben Einkaufswagen, in denen sich geplünderte Ware stapelt – nicht nur Lebensmittel, auch Plasmafernseher, Mikrowellenherde, DVD-Spieler und Golfschläger. Ab und zu müssen wir ausweichen, wenn jemand unvermittelt auf die mit Steinen und Splittern übersäten Straßen läuft. In einer Gasse taumeln zwei betrunkene Mädchen in Minirock und unglaublich hohen Absätzen aus einem Restaurant, halten sich aneinander fest und kreischen vor Lachen. Sie wanken an einem älteren Paar vorbei, das drei abgewetzte Lederkoffer in einen weißen Renault hievt, und verschwinden gackernd in einer Fußgängerunterführung.

Bethany schläft auf dem Rücksitz und bekommt von alldem nichts mit. Im Fernsehen wird berichtet, dass die Regierung die »Panikmache« noch einmal verurteilt und als »zynischen Scherz« bezeichnet hat, der »das ganze Land in Aufruhr versetze«. Der Innenminister hat an die Bevölkerung appelliert, Ruhe zu bewahren. Der Premierminister wird sich in Kürze an die Nation wenden. Man spekuliert, dass noch innerhalb der nächsten |354|Stunde der Notstand ausgerufen wird. Der Bürgermeister von London hat erklärt, er werde »an seinem Schreibtisch und bei Verstand bleiben«, doch in Norwegen, wo die Behörden die Warnung ebenso ernst nehmen wie die Bevölkerung, haben ganze Gemeinden die Küsten verlassen und sind in die Berge gefahren. In Dänemark, Norddeutschland, Belgien, den Niederlanden und an der französischen Atlantikküste ist der gesamte Verkehr zum Erliegen gekommen. Wir fahren weiter nach London hinein, kommen an kleinen Einkaufszentren, vom Sturm zerfetzten Bäumen und geplünderten Supermärkten vorbei. Überall verlassen Menschen die Gebäude. Die Nachrichten bombardieren uns mit zusammenhanglosen Bildern. Einige spiegeln wider, was wir mit eigenen Augen sehen, während andere den Ablauf des Chaos reflektieren, den Ned im Bauernhaus beschrieben hat: verstopfte Flughäfen, gewalttätige Scharmützel und Festnahmen, Flucht aus den Städten, Verkehrsstau, entführte Segelboote, Fähren und Flugzeuge, die plötzlich den Kurs ändern. Ich merke, dass ich flacher und mühsamer atme. Ich muss mich konzentrieren, um meine Panik in Schach zu halten, doch ich verliere den Kampf. Als wir durch den dichten Verkehr in Richtung Stadion fahren, drängt eine neue Angst an die Oberfläche wie ein Geysir, der jeden Moment ausbrechen kann.

»Fragst du dich das Gleiche wie ich?«, sage ich zu Frazer Melville und schaue auf die Autos um uns herum. Er nickt unglücklich. Seine Hände umklammern das Lenkrad, sein Gesicht ist blass und angespannt.

Ich schalte durch die Kanäle und erstarre, als mich Bethanys Gesicht von dem Familienfoto angrinst, das ich aus ihrer Akte in Oxsmith kenne. Das breite Lächeln, die Zahnspange, die den ganzen Mund ausfüllt. Man zoomt die Gesichter ihrer Eltern heran. »Inzwischen wird der entführte Teenager Bethany Krall mit der Katastrophenwarnung in Verbindung gebracht.« Wir schauen uns bestürzt an. Ich sehe nach hinten, sie liegt noch immer in die Decke eingerollt da und schläft tief und fest. »Ihr Vater, Reverend |355|Leonard Krall, und ihre ehemalige Therapeutin Joy McConey behaupten, das junge Mädchen habe die Katastrophe vorausgesagt, die laut Professor Modak unmittelbar bevorsteht. Alle, die Bethany begegnen, sollten äußerste Vorsicht walten lassen. Außerdem wird die Öffentlichkeit gebeten, nach den beiden Entführern, dem Physiker Dr. Frazer Melville und Gabrielle Fox, einer ehemaligen Mitarbeiterin der Hochsicherheitsklinik, in der Bethany untergebracht war, Ausschau zu halten.« Dann erfüllen unsere Gesichter, wenig schmeichelhafte Ausweisfotos, den Bildschirm.

»Bezüglich der sechzehnjährigen Bethany Krall gibt es im Augenblick mehr Fragen als Antworten«, erklärt eine junge Reporterin. Sie steht vor dem Tor von Oxsmith. Sheldon-Grays Rudergerät, Bethanys zerbrochener Globus, Mesuts gestreifter Heißluftballon, der im Kunstraum von der Decke hängt: lauter geistige Schnappschüsse aus einem anderen Leben. »Könnte es sein, dass die junge Mörderin, die bis vor Kurzem hier untergebracht war, hinter einem ungeheuren weltweiten Hoax, einer globalen Falschmeldung, steckt? Evangelikale Kirchenführer äußerten die Ansicht, sie habe die weltweite Katastrophe vorhergesagt, vor der Harish Modaks Team nun warnt. Ihr Vater, Reverend Leonard Krall, hat sogar erklärt, er halte seine Tochter für die Verkörperung satanischer Kräfte. Bethanys sogenannte Prophezeiungen haben sich in der Vergangenheit als geradezu unheimlich zutreffend erwiesen, wenn man ihrer ehemaligen Therapeutin Joy McConey Glauben schenkt. Aber ist dieser Teenager wirklich ein moderner Nostradamus? Worauf beruhen ihre Behauptungen? Wo ist das Mädchen, das seine eigene Mutter erstochen hat?« Um uns herum staut sich der Verkehr. Das ist widersinnig, da wir in die Hauptstadt hineinfahren, während alle anderen doch hinauswollen. Dann erscheint Leonard Krall im Bild, vor einer riesigen Außenleinwand, auf der die Botschaft leuchtet: Bereit für die Entrückung?

»Als Christ bete ich für Bethany«, sagt der Mann, der mich |356|aus meinem Rollstuhl gekippt und hilflos auf dem Parkplatz seiner Kirche zurückgelassen hat. »Ich bin Vater und Glaubender zugleich. Ich liebe mein Kind. Und ich liebe den Herrn. Wenn jedoch zwei große Lieben nicht miteinander vereinbar sind …« Seine Lippe zittert, und seine Augen leuchten vor Leidenschaft. Mein Verstand ist aber mit etwas anderem beschäftigt: Warum fahren so viele Autos in unsere Richtung? »Falls unsere Kirchenältesten recht haben mit der Annahme, dass dies ein Zeichen für das Ende der Zeiten ist, bete ich, dass auch sie mit den Gerechten entrückt werden möge«, fährt Krall fort. »Aber ich befürchte, das wird nicht geschehen.« Er schüttelt den Kopf, als wäre er zu aufgewühlt, um weiterzusprechen, fängt sich aber. »Meine Tochter hat sich für eine andere Zukunft entschieden.« Warum haben die Autos keine Dachgepäckträger oder Anhänger? Warum sieht man kein Gepäck? Weshalb strahlen die Familien darin vor Lebendigkeit, statt vor Angst wie von Sinnen zu sein? »Falls Bethany jetzt hier wäre, würde ich zu ihr sagen, hör auf, das Werk des Teufels zu tun, und kehre zurück zu deiner wahren Familie, der Familie von Jesus Christus. Ich werde hier und heute für sie beten, zusammen mit Tausenden anderen, während wir auf die Herrlichkeit warten, die uns zuteil werden wird.«

Warum tragen so viele Autos christliche Aufkleber? Als sich die Kamera von ihm wegbewegt und wir sehen, wo Leonard Krall steht, sagt Frazer Melville leise: »Oh Scheiße.«

Was die Sache recht gut zusammenfasst.

Ich wende mich vom Bildschirm ab und kneife die Augen zu. Das kann nicht sein.

Aber es ist wahr.

Man hat das Olympiastadion in ein riesiges, improvisiertes Gebetszentrum verwandelt.

Ich drehe mich um. Bethany schläft noch. Hat sie das alles gewusst? Hat sie es herbeigeführt?

»Lass sie. Es ist egal. Wir suchen uns einen anderen Ort«, sagt Frazer Melville. »Schnell. Ruf Ned an und sag es ihm.«

|357|Panisch tippe ich die Nummer ein. Keine Verbindung. Ich versuche es noch einmal. Und noch mal. Die Leitung ist blockiert.

»Falls die Regierung den Notstand ausgerufen hat, sind die Leitungen vermutlich zusammengebrochen«, sagt Frazer Melville. Er hat meine Panik bemerkt, teilt sie vielleicht, verbirgt es aber gut.

Mit grausamer Präzision springt in mir ein Stöpsel heraus, und alle Hoffnung verschwindet gurgelnd im Abfluss.

Eine winzige braune Spinne huscht über das Armaturenbrett. Als kleines Kind habe ich solche Wesen manchmal aus Langeweile, Sadismus und Neugier zerquetscht. Während ich ihr mit den Augen auf ihrem Weg zum Gebläse folge und die vielen Möglichkeiten bedenke, wie ich den Verlauf ihres winzigen, unbewussten Lebens verändern könnte, wird mir mein ungeheuerlicher Irrtum klar. Ich habe geglaubt, die Not der Erde sei eine Strafe für die modernen Menschen, die mit ihrem Streben gegen ein unsichtbares ethisches Prinzip verstoßen haben. Doch die Natur ist weder gut und mütterlich noch strafend oder rachsüchtig. Sie segnet und pflegt nicht. Sie ist gleichgültig. Womit wir ebenso entbehrlich sind wie der Dodo oder der Eisbär.

»Noch ein Kilometer bis zum Ziel«, verkündet das Navi.

 

»Hast du gewusst, dass dein Vater im Stadion sein würde?«, frage ich so ruhig wie möglich, als Bethany aufwacht. Ihr Gesicht ist schweißbedeckt. Trotz des großen blauen Flecks und der gefesselten Handgelenke wirkt sie seltsam gelassen, als hätte sie nicht Minuten, sondern viele Stunden geschlafen. Sie atmet tief ein und aus, als hätte sie unterwegs erfolgreich Yoga gelernt.

»Klar doch«, sagt sie lächelnd. Ihre Stimme klingt gemessen, fast nachdenklich. »Zusammen mit Tausenden anderen Menschen. Alle rechnen mit der Entrückung. Das habe ich gesehen.«

Eine Welle des Zorns durchflutet mich. Frazer Melville fährt mit rotem Gesicht herum. »Du hast uns also mit voller Absicht an den schlimmsten nur denkbaren Ort geführt!«, brüllt er. »Wir |358|können den Plan nicht mehr ändern, weil wir Ned nicht erreichen können!« Er schlägt mit der Hand aufs Lenkrad.

»Der Hubschrauber wird dort landen«, sage ich leise. Mein Mund ist trocken; ich muss die Worte an meiner Zunge vorbeischieben. »Mittendrin. Uns bleibt nichts anderes übrig, als hinzugehen. Hast du das auch gesehen, Bethany?«

Sie lächelt liebreizend. »Yo. In die Höhle des Löwen.«

Ich erinnere mich an die fatale Begegnung mit Reverend Leonard Krall. Paranoia wuchert so zügellos wie manche Kristalle. Im Nu ist ein neuer Teil gesprossen.

Sie werden manipuliert, Ms. Fox, hat er gesagt. Und merken es nicht einmal.

»Hey, da ist es ja!«, schreit Bethany und zeigt nach vorn. Ihr Gesicht leuchtet vor Aufregung. Sie wirkt beinahe unschuldig. »Christus der Heiland stieg zu uns hernieder! Halleluja, verdammt noch mal!«

Ich starre hin.

Es sieht aus wie eine Fata Morgana.

Die kolossale Zikkurat ragt auf der von Menschen geschaffenen Insel empor. Die glänzende, geneigte Klippe der Außenwand lässt die Menschen, die sich in Massen über die Fußgängerbrücken hineindrängen, als würden sie durch die poröse Haut nach innen gesaugt, wie Zwerge erscheinen.

Wir sind da.