Ich bin bei meinem zweiten Whisky angelangt, und Harish Modak richtet sich im Wohnzimmer ein. Er holt diverse Päckchen aus seiner Kamelleder-Aktentasche, wickelt sie aus und ordnet sie auf dem Couchtisch an. Ich bin von einem Toilettenbesuch zurück, wo ich mir einen heftigen Heulanfall gestattet habe. So habe ich nicht mehr geweint, seit ich Max verloren habe. Ich bin jetzt ruhiger, aber in meinen Beinen kribbelt es noch immer wie tausend Nadelstiche, wie das Flackern eines Schwarms winziger Leuchtkrebse – eine aufreizende Erinnerung daran, dass meine unteren Gliedmaßen zwar nicht mehr auf Befehle reagieren, aber durchaus noch in der Lage sind, seelischen Stress wahrzunehmen und parallel dazu ebenfalls Unruhe zu stiften.
»So, bitte sehr. Katastrophenhilfe«, sagt Harish Modak und deutet auf das Essen. Ich betrachte die aromatischen französischen Käse, die Gänseleberpastete, die winzigen Samosas, die belgischen Pralinen, die Lindt-Schokolade, den Beutel Litschis und den türkischen Honig und revidiere meine Meinung. Harish Modak ist wohl doch kein Asket. »Wenn Sie ablehnen, wäre ich sehr gekränkt.«
»Dann nehme ich einen Kaffee-Cognac-Trüffel«, sage ich und bediene mich. »Und noch einen.« Ich merke, dass ich kurz vor dem Verhungern bin. Zucker ist jetzt genau das Richtige.
»Wie fühlen Sie sich?«
Ich frage mich, ob er mich auf der Toilette hat weinen hören. »In meinem Beruf stelle gewöhnlich ich diese Fragen. Jedenfalls bis vor Kurzem. Bethany erinnert mich immer daran, dass das mein Job ist. Aber es ist auch meine Methode, Menschen besser |287|kennenzulernen, eine andere kenne ich nicht. Ich würde also lieber Sie fragen, wie Sie sich fühlen.«
»Na schön«, sagt er und erwidert mein Lächeln. Die Pralinen wirken, sie wärmen und liebkosen mich von innen. »Na schön. Ich mag diesen Ausdruck, Sie nicht? Er ist so wunderbar britisch.«
»Also, wie fühlen Sie sich?«
»Genau jetzt?« Ich nicke. Er wirkt belustigt und runzelt nachdenklich die Stirn. »Falls es um die augenblickliche Situation geht, würde ich sagen: besorgt und fasziniert. Aber auch vorsichtig.«
»Und die allgemeine Situation?«
»Ah, das ist eine umfassende Frage. Sprechen wir jetzt über die Welt als solche?«
»Was könnte wichtiger sein?«
»Dann lautet die Antwort: ebenfalls besorgt und fasziniert. Und noch mehr als das: Ich fühle mich betrogen, weil ich nicht die Welt in fünfzig Jahren sehen kann.« Er setzt sich auf einen Stuhl mit gerader Lehne. Er bewegt sich wie ein Mensch, der unter chronischem Rheuma leidet. »Mehr als alles auf der Welt möchte ich die Zukunft sehen. Ich möchte sehen, wie sich das Leben entwickelt.«
»Eine erstaunliche Aussage. Immerhin sind Sie der führende Vertreter der Ansicht, dass sich das Leben gar nicht mehr entwickeln wird«, sage ich und trinke noch einen Schluck Whisky, der meinen Brustkorb erglühen lässt.
»Jedenfalls nicht für die meisten Menschen. Aber der Niedergang des Homo sapiens als dominanter Art bedeutet für Millionen anderer Lebensformen den Anbruch einer neuen Ära. Und für die interessiere ich mich.« Falls das hier Small Talk ist, frage ich mich, wie erst eine richtige Unterhaltung mit ihm aussieht. Er holt ein Taschenmesser mit Horngriff aus der Brusttasche seines Jacketts, klappt es auf und schneidet sich ein bescheidenes Stück vom Ziegenkäse aus den Pyrenäen ab. »Geologisch betrachtet sind wir erst einen kurzen Augenblick hier«, sagt er und mustert |288|den Käse, als hätte er ein Scheibchen Gehirn auf einem Objektträger vor sich. »Meine Frau war eine der führenden Expertinnen für das späte Perm. Damals wurde das Leben auf dem Planeten fast gänzlich ausgelöscht. Doch innerhalb von ein oder zwei Erdzeitaltern hatte es sich äußerst wirksam regeneriert.« Er schenkt sich einen Whisky ein und lässt die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas kreisen. »Vor Jahrmillionen war Lystrosaurus, ein reptilienähnlicher Vorfahr des Schweins, der Herr im Haus. Eine Katastrophen-Spezies, ähnlich wie die Pilze, wie geschaffen für die Zeit nach einem belastenden Ereignis, da sie sich von verwesender organischer Materie ernährt. Vor zweihundertfünfzig Millionen Jahren feierten die Pilze eine wahre Orgie. Genau wie die Schleimaale. Das wohl hässlichste Geschöpf des Meeres, aber ein äußerst erfolgreicher Aasfresser.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«
Er lächelt unwillig, als wüsste er es eigentlich besser. Die umschatteten Augen schimmern wie alte Murmeln. »Wenn Sie einmal blinzeln, haben Sie nach den zeitlichen Maßstäben des Lebens auf diesem Planeten den Homo sapiens schlichtweg verpasst. Wir sind völlig irrelevant.« Die Vorstellung scheint ihm zu gefallen. Er schneidet sich ein zweites Stück Käse ab und steckt es in den Mund.
»Wir waren uns nicht sicher, ob Sie kommen würden.«
Er schaut zur Seite. »Ich mir auch nicht.«
Sein Unbehagen verrät, dass die Entscheidung aus einem Drang erwuchs, der in den tiefen Schichten seiner Psyche schlummert, einem Drang, den er nicht benennen kann oder will. Ich bestehe auch nicht darauf. Entweder kommt er von selbst zutage oder gar nicht. »Und nun, da Sie hier sind?«
Er deutet mit der Spitze des Taschenmessers auf mich. »Nun habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie dramatisch ernst Sie dieses interessante Kind nehmen. Das lässt einen nicht unberührt. Ich kann nur hoffen, dass sich das Experiment gelohnt hat.«
|289|»Aber wenn Bethany etwas Eindeutiges sehen sollte …«
»Ich bin unter der Voraussetzung hergekommen, dass sie bereits etwas gesehen hat.«
»Das ändert nichts an meiner Frage. Wie werden Sie reagieren?«
»Bevor ich mich anschicke, die Brücke zu überqueren, muss ich die Brücke erst gesehen haben. Und beurteilen, ob man sie überqueren kann.« Irgendwo im Haus hört man Ned, der Bethany gut zuredet. Sie ruft, er solle sie verflucht noch mal in Ruhe lassen. Ein Zweifel bleibt. Warum ist Modak wirklich hier? Ned hat angedeutet, es könnte schwer sein, ihn zum Handeln zu bewegen, selbst wenn wir ihn überzeugt haben. Allerdings erwähnte er auch Modaks Neugier. Ist es denkbar, dass allein sie ihn hergelockt hat? Falls ja, wie weit wird sie reichen? Welchen Hebel kann man ansetzen, falls er auf stur schaltet?
»Wie war Meera?«, frage ich. Er wirft mir einen abwehrenden, verstörten Blick zu. »Sie waren lange verheiratet. Sie müssen sie vermissen.«
»Dürfte ich Ihnen als Psychologin eine Frage stellen?« Er klingt noch immer spielerisch, aber ich spüre die Veränderung und nicke. »Sie wollte, dass ihre Asche im Ganges verstreut wird, aber ich habe etwas davon behalten. Als die Urne aus dem Krematorium kam, verspürte ich den sonderbaren Drang, sie zu essen.« Ah. Nun kommt Bewegung in die Sache. »Ist es ein bekanntes Syndrom, wenn man seine andere Hälfte verzehren möchte?«
»Ich habe in der Literatur darüber gelesen. Dieser Drang tritt überraschend häufig auf.«
»Betrachten Sie es als Form von Kannibalismus?«
»Sie denn?«
»Meine inneren Geschworenen haben sich noch nicht geeinigt.«
»Es ist kein Verbrechen, wenn Sie sie bei sich haben wollen. Ich stelle es mir tröstlich vor, selbst nach dem Tod noch ein Fleisch zu werden. Sie haben dem Drang also nachgegeben.«
|290|Er lächelt und entblößt Zähne von der Farbe alter Klaviertasten. »Dr. Melville hatte mir schon gesagt, Sie seien gut.« Ich werde rot. Er greift in die Aktentasche, holt ein kleines Marmeladenglas mit körniger Asche hervor und hält es ehrfürchtig in die Höhe. Dann grinst er. »Die Essenz von Meera.«
Plötzlich verspüre ich den unwiderstehlichen Drang, herauszufinden, ob er sie wie ein Gewürz auf sein Essen streut oder wie Medizin hinunterschluckt, doch nun ist Diplomatie gefragt.
»Sie war sicher eine beeindruckende Frau.«
»Genau wie ich glaubte sie, dass unser Leben nach dem Tod rein organisch verläuft. Ich habe keine Angst vor dem Tod, der Umwandlung der Materie vom Tierischen ins Mineralische. In meinem Alter fürchtet man sich nicht mehr davor.«
»Also haben Sie alles erreicht, was Sie wollten?«
»Ich bin zu gewissen Schlussfolgerungen über unsere Spezies und ihr Schicksal gelangt. Schlussfolgerungen, auf die viele Menschen lieber nicht hören wollen.«
»Sie haben eine ganze Bewegung begründet. Mit autarken Siedlungen in aller Welt. Ich habe durchaus den Eindruck, dass eine Menge Leute auf Sie hören.«
»Nicht aufmerksam genug.« Sein Mund bildet eine schmale Linie wie bei einer Schildkröte.
»Sie und Meera haben keine Kinder. Ich nehme an, das war Ihre private Reaktion.«
»Warum sollte man einer Zukunft, die sich so deutlich abzeichnete, Geiseln liefern? Es war eine Entscheidung, um Kummer zu vermeiden. Für einen selbst, aber auch für andere.« Aus reiner Gewohnheit registriere ich, dass er das unpersönliche »man« gewählt hat. »Die Welt ist zu voll, aber die Kinderlosen werden immer bestraft. Es ist schon paradox, dass man für eine letztlich altruistische Entscheidung als selbstsüchtig gebrandmarkt wird.«
Seit sich das Gehirn meines Vaters aufgelöst hat, vermisse ich die Gesellschaft älterer Männer. Professor Modak allerdings wirft beunruhigende Fragen auf, statt Tochtergefühle in mir zu wecken. |291|Angenommen, er mit seinem fröhlichen Nihilismus und seinem Marmeladenglas voller essbarer ehelicher Asche glaubt tatsächlich, die Welt sei ohne Menschen besser dran, und denkt in Maßstäben von Epochen statt Tagen und Stunden: Warum sich dann die Mühe machen, willkürlich einige Millionen zu retten?
Ja, warum?
Als Schritte auf der Treppe ertönen, packt Harish Modak sein Glas in die Aktentasche und schaut zur Tür. Zuerst kommt Bethany barfuß herein, gefolgt vom Physiker.
»Hi, Roller.«
Ich mustere Bethany. Nach dem Bademantel, den Bethany trägt, zu urteilen, muss unser abwesender Gastgeber, der Fachmann für Biolumineszenz, über eindrucksvolle körperliche Proportionen verfügen. Sie ertrinkt fast in den rot karierten Stoffmassen. Sie lässt sich in einer Ecke des Sofas nieder und zieht die nackten Füße unter sich. Frazer Melville begrüßt uns gedrückt und macht eine Bemerkung über den üppig gedeckten Tisch. Ich spüre seinen prüfenden Blick, verstehe mich aber inzwischen darauf, ihm auszuweichen. Bethany ist gewaschen und frisch verbunden worden, von Ned, nehme ich an. Ihr Gesicht ist aschfahl, und die zerbissene Zunge hängt ihr auf die Unterlippe. Die Spitze sieht aus wie rohes Hackfleisch.
»Ich habe gesagt, dass sie es machen soll«, sagt sie zu Harish Modak und deutet dabei auf mich. Sie spricht mit Bedacht, schiebt die Worte an ihrer zerstörten Zunge vorbei. »Ich habe ihr gesagt, sie soll mir dreißig Sekunden geben.« Sie klingt stolz. Ned und Kristin kommen leise herein und setzen sich. Wir sechs bilden einen Kreis um den Couchtisch.
Harish Modak nickt. »Und, hat es gewirkt, Miss Krall?«
Die Luft erstarrt in Schweigen. Bethany genießt die Aufmerksamkeit von fünf Erwachsenen und grinst, zuckt aber vor Schmerz zusammen und holt tief Luft.
»Ich war mittendrin. Es war, als würde man vom Blitz getroffen. Das war so cool. Ich hatte eine Riesenladung in mir.«
|292|Harish verharrt still wie ein Reptil.
»Nimm dir Zeit. Beschreibe alles ganz genau.« Ned stellt seinen Laptop auf die Ecke des Couchtisches, um die Bilder der Bohrinseln auf die Leinwand zu werfen.
»Es ist, als würde man eine riesige Decke von einem Bett heben. Blasen und anderes Zeug quellen überall an den Ecken hervor.« Frazer Melville und Kristin Jonsdottir wechseln einen Blick, der mich wie eine Faust in den Magen trifft. »Es sind stinkende Blasen. Dann zerbricht alles, und dann reißen riesige weiße Stücke ab und schießen nach oben. Überall. So weit man sehen kann. Dann ist Feuer auf dem Wasser, das Meer, es leuchtet im Dunkeln. Gelb und orange. An manchen Stellen blau. Es flackert auf der Wasseroberfläche.« Sie spricht in singendem Tonfall, als würde sie ein Märchen erzählen. »Dann baut sich diese gigantische Welle auf. Wie eine Wand vor dem Himmel. Höher als die Wolken.«
Der alte Mann bewegt sich nicht, aber ich spüre, wie der Funke zündet.
»Wir müssen wissen, wo das passiert«, sagt Kristin Jonsdottir. »Wir müssen die Bohrinsel identifizieren.«
Ich rolle näher an Bethany heran. »Deine Zeichnung. Du warst unter Wasser und hast dir vorgestellt, dich durch das Rohr zu bewegen, und du hast die Plattform und den gelben Kran gesehen. War das jetzt auch wieder da?« Bethany nickt, blinzelt und tippt auf ihre Zungenspitze. Als sie die Hand wegnimmt, ist ein frischer Blutfleck auf dem Verband an ihren Fingern zu sehen. Sie spuckt auf den Boden, schließt die Augen und lässt den Kopf zurücksinken.
»Kannst du dich an den Kran erinnern? Konntest du ins Führerhaus hineinsehen?«
Sie seufzt und kneift die Augen zu. Ein Augenblick vergeht. »Da war was. Autsch. Reden tut weh. Es war rosa. Es sah aus wie …« Mit geschlossenen Augen versucht sie, sich zu konzentrieren. »Mein Gott. Es war eine Möse.« Sie bricht in Gelächter aus. »Die |293|Möse einer Frau! Rasiert!« Sie schlägt die Augen auf und schaut Kristin Jonsdottir an. Dann grinst sie schief. Wieder lacht sie beglückt. »Es war eine nackte Muschi! Das Arschloch konnte man auch sehen. Iih, war das eklig!«
»Bethany«, sage ich scharf. »Das hier ist ernst. Ich habe dich vorhin beinahe umgebracht. Das ist nicht die richtige Zeit für Spielchen.«
»Das ist kein Spiel!«, ruft sie lachend. »Ich sag doch, ich hab eine Möse gesehen!«
»Ähm, wenn ich aus meinem Wissen über Bohrinseln schöpfen dürfte«, meldet sich Ned Rappaport zu Wort, »könnte sie durchaus recht haben. Eigentlich ist es kein großes Rätsel.«
Harish Modak zeigt flüchtige Belustigung. »Prostituierte sind dort also gestattet? Sehr aufgeklärt!«
Kristin lächelt schwach. »Die zweite Wahl«, sagt sie und schließt die Jalousien.
Eine Sekunde später erscheinen wieder die Bilder der vier Bohrinseln auf der Leinwand. Auf einem Foto ist das Wasser von einem schrillen Türkis, auf den anderen Fotos dunkler.
»Hier haben wir die Hauptverdächtigen. Auf allen wird nach Methan gebohrt. Sie befinden sich vor der Küste Sibiriens, in Indonesien, in der Nordsee und in der Karibik südlich von Florida«, sagt Ned. »Die Übrigen haben wir aus Gründen ausgeschlossen, die mit ihrer Betriebsart zusammenhängen. Diese vier haben gelbe Kräne.«
»Die Bilder sind von ausgezeichneter Qualität«, bemerkt Harish Modak in fragendem Ton. »Besser als jede Satellitenaufnahme.«
»Genau die Fotos, für die Spione töten würden«, murmelt Ned, erfreut, dass Harish seine Arbeit zu würdigen weiß. Er stellt das Bild schärfer. »Sie sind vom Militär.« Er klickt, worauf drei Bohrinseln verschwinden. »Das hier ist die sibirische. Endgame Beta.« Er zoomt zuerst die Spitze des Bohrturms und den gelben Kran heran, der an einer Seite der Bohrinsel aufgebaut ist.
|294|»Noch näher«, kommandiert Bethany. Plötzlich blicken wir auf den Bierbauch eines Mannes in mittleren Jahren, der am Kontrollpult im Führerhaus sitzt. Sein Mund steht offen, als würde er gerade singen oder gähnen. Er hat keine Ahnung, dass man ihn fotografiert hat.
»Erkennst du irgendetwas, Bethany?«, fragt Ned. »Den Typen hier? Kommt dir sonst etwas vertraut vor?«
Bethany zuckt mit den Achseln und zeigt auf die Familienfotos, die an der Wand des Führerhauses hängen. »Kein nacktes Fleisch. Ich würde sagen, der sibirische Saubermann arbeitet in einer muschifreien Zone.«
Ned klickt weiter zum nächsten Bild, auch nichts. Dann kommt Lost World in der Karibik mit einem unbemannten Kran an die Reihe. An der Innenwand des Führerhauses, links von Bedienhebel und Kontrollpult, befindet sich ein rosa Rechteck. Ned schneidet es aus und stellt es scharf. Plötzlich gewinnt das Stück Fleisch an Größe und Struktur, und wir starren auf zwei riesige Brüste mit dunklen Brustwarzen, groß wie Untertassen. Darüber das lächelnde Gesicht ihrer brünetten Besitzerin.
»Her mit der Kotztüte!«, johlt Bethany. Ned scrollt hinunter, doch knapp unter dem juwelenbesetzten Bauchnabel ist Schluss.
»Kein Venushügel«, konstatiert er trocken. »Sollen wir Miss November der Karibik ausschließen und weitermachen?«
Auf dem nächsten Bild scheint die Sonne auf die Windschutzscheibe des Krans, sodass man außer dem Kopf des Kranführers nicht viel erkennen kann. Dennoch deutet Bethany aufgeregt auf das Foto.
»Gehen Sie mal nach oben rechts. Hinter seiner linken Schulter und dann ein bisschen höher.« Der blonde Mann hebt gerade eine Dose Dr.-Pepper-Limonade an den Mund. Er trägt einen Handschuh. »Noch höher«, befiehlt Bethany. Etwas Glitzerndes, Rosafarbenes füllt grell die Leinwand aus. Ned zoomt es heran, bis das ganze Mädchen zu sehen ist. Eine Chinesin.
Sie hat die Beine weit gespreizt.
|295|Dazwischen ein feucht schimmerndes, fleischiges Durcheinander.
»Das ist sie«, sagt Bethany gleichgültig. Sie scheint das Interesse verloren zu haben.
Ned schaltet den Projektor aus, und der Raum taucht wieder ins Dämmerlicht. Als er spricht, klingt seine Stimme bedrückt. »Es ist Buried Hope Alpha.«
»Mein Gott«, sagt Kristin Jonsdottir. »Die steht in der Nordsee. Hundert Kilometer vor der norwegischen Küste.«
»Norwegen«, wiederholt Harish Modak. Er atmet schweigend ein und aus. Ich denke an Berge. An Kreuzfahrten in Fjorden. Dann geraten meine Gedanken ins Stolpern. Bethany befummelt gelangweilt die Pralinen, schaut angewidert auf den Käse und entscheidet sich für eine Litschi.
»Buried Hope Alpha gehört Traxorac«, erklärt Ned. Sein Gesicht hat jegliche Farbe verloren, und die dunklen Bartstoppeln zeichnen sich scharf auf der Haut ab. Er wirkt gequält. Mir kommt der Gedanke, dass er sich ebenso einsam fühlt wie ich.
»Kannst du die genauen Koordinaten bekommen?«, fragt Frazer Melville. Kristin Jonsdottir beißt sich auf die Lippen.
Nach einem Fehlversuch erscheint eine geologische Karte auf der Leinwand: ein Gewirr dünner, konzentrischer Kreise, durch die Längen- und Breitengrade verlaufen. Ein kleiner roter Punkt zeigt wohl die Position der Bohrinsel an. Bethany gähnt demonstrativ, frustriert, weil sie nicht länger im Mittelpunkt steht.
»Verstehe. Das ist nicht gut«, sagt Harish Modak. Er scheint jetzt so betroffen wie alle anderen.
»Ich hab’s doch gesagt«, bemerkt Bethany leichthin. Wir schauen sie an. »Ich hab immer gesagt, dass es in der Nähe passiert. Dass wir alle ertrinken. Das habe ich die ganze Zeit gesagt. Aber keiner hat mir zugehört. So geht das schon mein ganzes beschissenes Leben lang.«
»Könnte mir das bitte jemand erklären?«, erkundige ich mich. Frazer Melville nimmt die Hände von seinem erschöpften Gesicht. |296|»Hast du schon mal von der Storegga-Rutschungsmasse gehört?« Ich schüttle den Kopf, kann ihn noch immer nicht ansehen. Es ist alles zu schrecklich, zu qualvoll. Ich will hier weg und nie wieder zurückkommen. »Dabei handelt es sich um eine massive Ansammlung von Sand und Geröll vor dem Kontinentalschelf, die sich auf einer Breite von achthundert Kilometern von Norwegen bis Grönland erstreckt, das Ergebnis der größten submarinen Rutschung, von der wir wissen. Sie ereignete sich vor etwa achttausend Jahren und löste einen gewaltigen Tsunami aus, der die britischen Inseln größtenteils überflutete. Und diese Bohrinsel steht an der Kante der Storegga-Rutschung.«
Dann kann er nicht weitersprechen.
Wenn ich ihn liebte, würde er mir leidtun. Ich würde ihn in die Arme nehmen und auf die Wange küssen wollen. Ich schaue zu Kristin Jonsdottir. Sie scheint ganz mit sich beschäftigt. Ihre zarten Augen wirken glasig und verstört.
Harish Modak räuspert sich und nimmt den Faden wieder auf. »Miss Fox, wie es scheint, sehen wir uns der interessanten Möglichkeit einer Katastrophe gegenüber, die einen lokalen Ursprung hat. Ein gewaltiger unterseeischer Abbruch irgendwo in der Storegga-Region wird einen Tsunami auslösen, der das gesamte Gebiet vernichtet. Die norwegische Küste liegt am nächsten, aber das Sedimentpaket wird das Wasser zunächst in die andere Richtung drängen, nach Westen. Damit würde Ihr Land als Erstes getroffen. Durch die Flussmündungen und den Trichter der Deutschen Bucht wird der Tsunami noch verstärkt.« Die Stille klafft wie ein Riss, als hätten die Luftmoleküle eine neue Form angenommen und jedes Geräusch aufgesogen. »Als Nächstes werden Norwegen und Dänemark getroffen, dann das übrige Nordeuropa. Der Tsunami wird sicherlich Island erreichen und, falls er groß genug ist, auch die Vereinigten Staaten.«
»Und das Datum?«, fragt Frazer Melville. Sein Atem geht stoßweise. »Bethany, bist du dir immer noch sicher wegen des Datums?«
|297|»Das Kommen des Drachen und des falschen Propheten! Die Schlacht von Armageddon!«, gluckst Bethany und zieht die Schale einer Litschi ab.
»Bethany«, sage ich mit zugeschnürter Kehle. »Du hast vom 12. Oktober gesprochen.«
Sie wühlt in den Falten des karierten Bademantels nach einem heruntergefallenen Stückchen Schale. »Ach ja? Weiß ich gar nicht mehr. Vielleicht auch früher. Es gibt ein Gewitter. Danach passiert es. Aber diese Sache ist anders als alles andere.« Sie hat die Schale gefunden und schnippt sie durch den Raum, bevor sie sich wieder der Frucht widmet.
»Miss Krall hat schon öfter recht gehabt«, sagt Harish Modak und schaut Bethany durchdringend an. »Gehen wir einfach mal davon aus, dass sie auch diesmal recht hat.«
»Das wissen Sie ganz genau«, murmelt Bethany und hält die perlweiße Litschi ans Licht. »Die Dinger sehen aus wie Augäpfel.«
Eine Zeit lang herrscht nachdenkliche Stille, nur unterbrochen von Bethanys tonlosem Summen. Dann endlich sagt Kristin: »Harish, heute ist der 10. Sie müssen uns helfen.«
Er dreht sich zu ihr um, als hätte er Schmerzen. »Ich muss? Müssen ist ein interessantes Wort. Es stimmt mich immer misstrauisch.« Bethany hört gespannt zu.
Kristin geht in die Luft. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie den ganzen Weg …«
»Meine liebe Kristin. Sie kennen mich doch. Daher wissen Sie auch, welche Frage ich stellen werde. Die gleiche Frage, die ich mein halbes Leben lang gestellt habe. Was ist der Sinn?« Kristin schaut Frazer Melville entmutigt an, dann mich. Harish lächelt. Bethany nickt lebhaft, als wollte sie ihn antreiben. »Was ist der Sinn, wenn die Welt, die nach dieser Katastrophe zurückbleibt, nicht wiederzuerkennen ist?«
»Schon mal was von moralischer Verpflichtung gehört?« Ned spricht ruhig, wirkt aber gewaltbereit. »Schon mal was von unterlassener |298|Hilfeleistung gehört?« Er springt auf und läuft im Zimmer hin und her, wobei er sich über die Bartstoppeln streicht.
»Ich persönlich würde es immer vorziehen, meine Optionen zu kennen«, sagt Frazer Melville. »Dann könnte ich meine eigene Entscheidung treffen. Wir haben nicht das Recht, anderen dies zu verweigern.«
Harish Modak wirkt nicht sonderlich beeindruckt. »Ich bin froh, so alt zu sein«, seufzt er. »Jung sein wäre schrecklich.«
»Es ist wirklich die letzte Scheiße«, pflichtet Bethany ihm bei, steckt sich einen Finger ins Ohr und legt den Kopf in den Nacken, als enthielte er eine Flüssigkeit, die sie nicht verschütten will.
»Harish«, sage ich. Er dreht sich zu mir um und runzelt die Stirn.
»Meine liebe Miss Fox.«
»Wie immer auch die Zukunft für die meisten Menschen aussehen mag, für mich wird sie besonders schwer. Und doch will ich nicht sterben. Ich will leben.« Ich klinge entschlossener, als ich mich fühle.
»Es gibt Leben und Überleben.«
»Sind wir wieder bei dem Thema, wie man Kummer vermeidet?« Ich bemerke, wie Kristin erstarrt.
»In gewisser Hinsicht schon«, erwidert Modak. »Was ist denn so falsch daran?« Es war eine Entscheidung, um Kummer zu vermeiden. Für einen selbst, aber auch für andere.
Ich wende mich an Kristin. »Sie haben Meera gut gekannt. Was, glauben Sie, würde sie jetzt sagen?«
Modak wirkt betroffen, als der Name seiner Frau fällt. Gut so. Falls dies verbotenes Terrain ist, ist es der richtige Schritt.
»Das kann ich Ihnen sagen, Gabrielle.« Sie spricht zu mir, doch eigentlich sind die Worte für ihn gedacht. »Sie würde sich schämen, ihren Mann so reden zu hören.« Modaks Gesicht ist angespannt, und er stößt einen Laut der Verärgerung aus. »Sie hat die Welt nicht so gesehen wie Harish. Das hat sie nie. Sie hat zu viel für ihn geopfert.« Er schließt die Augen, will sie ausblenden. |299|Doch sie hört nicht auf. »Sie wollte Kinder. Aber Sie waren nicht einverstanden, oder? Sie hätte den Kummer in Kauf genommen, um dafür eine Zukunft zu haben. Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie Ihnen Folgendes sagen: Selbst wenn es das Allerletzte ist, was du tust …«
Kristin verstummt und schaut weg, kann vor Wut nicht weitersprechen.
»Hierin bin ich mit Professor M. einer Meinung«, sagt Bethany grinsend. »Die Welt ist scheiße. Die Menschen sind scheiße. Wir haben es nicht verdient zu leben. Keiner von uns. Sollen doch andere den Planeten übernehmen. Irgendwelche Skorpione oder was auch immer. Giftpilze. Hyänen. Oder diese Krabbeltiere, die im Dunkeln leuchten. Was macht es schon, wenn ein Haufen Idioten weggespült wird?«
»Das habe ich nicht gesagt, Miss Krall.« Er steht auf und ballt die Fäuste. »Sie drehen mir die Worte im Mund herum.«
»Ach, wie denn?«
»In jeder nur erdenklichen Hinsicht.«
»Sie sind also nicht meiner Meinung?«
»Das gegenwärtige Universum hat zahllose Tode und Wiedergeburten durchlaufen.«
Ich ergreife seine Faust, ziehe ihn neben mich und zwinge ihn, mich anzusehen. Er soll meinen Zorn erkennen. »Was immer Sie über den großen Zyklus und Gaia und die Nichtigkeit unserer Spezies denken, ist irrelevant, Harish! Es geht nur um die Menschen, die jetzt leben und sterben werden, wenn Sie uns nicht helfen, sie zu warnen!« Er will seine Hand wegziehen, doch ich halte ihn fest. »Sehen Sie mich an. Nach Istanbul bin ich mir wie eine Mörderin vorgekommen. Genau wie Frazer. Wenn wir jetzt nicht handeln, sind wir nicht besser als jeder Kriegsverbrecher in Den Haag. Vor allem Sie nicht, da Sie die Macht haben, etwas zu unternehmen.«
Kristin stellt sich hinter ihn und legt ihm die Hand auf die Schulter.
|300|Ned springt unvermittelt auf, schnappt sich das Tablett und geht zum Sideboard. Er kommt mit sechs Gläsern zurück und schraubt die Flasche Laphroaig auf. »Trinken wir auf Ihre Gesundheit, Harish, und Ihren moralischen Mut.«
»Aber ich habe nicht …«, setzt Harish an.
»Oh doch, das haben Sie«, erwidere ich. »Und deshalb stoßen wir auf Sie an.«
Er löst sich von mir und steht auf. Alle schauen ihn an. Er seufzt. Dann lässt er sich wieder auf den Stuhl plumpsen, als hätte ihn der Konflikt ausgelaugt.
»Eines möchte ich Ihnen sagen. Und ich werde es jedem sagen, der über diese Katastrophe hinausdenkt. Überlegen Sie gut, was Sie sich wünschen.« Er blinzelt. Dann tastet er nach dem Glas in seiner Aktentasche. Es ist zu intim. Ich wende mich ab.
Ned stößt mit uns an, entschlossen, die Energie der erzwungenen Entscheidung zu nutzen, und schlägt vor, auch auf Bethany zu trinken. »Eine Cola für dich? Oder Saft?«
Es ist wohl das erste Mal in ihrem Leben, dass jemand auf sie anstoßen möchte, aber sie schüttelt nur mürrisch den Kopf und dreht eine weitere Litschi zwischen den Fingern. Ihr Gesichtsausdruck beunruhigt mich. Sie führt etwas im Schilde.
»Wenn meine Frau hier wäre, würde sie uns an den verbreiteten Irrtum bezüglich des chinesischen Schriftzeichens für ›Krise‹ erinnern«, sagt Harish Modak und trinkt von seinem Whisky. Jetzt, da er die moralischen Entscheidungen hinter sich hat, scheint er neue Kraft zu schöpfen.
»Krise gleich Gefahr plus Gelegenheit«, sagt Frazer Melville.
»Genau das wollen Ihnen westliche Business-Gurus und Mentaltrainer gerne weismachen. Sie führen vor, wie man die Striche auflöst, und siehe da: Gefahr und Gelegenheit. Chinesen hingegen werden Ihnen sagen, dass es ein reiner Mythos ist.«
»Und die Moral von der Geschicht?«
»Eine Krise ist einfach nur eine Krise, nicht mehr und nicht weniger.«
|301|»Die Firma Traxorac hat ihren Stolz. Sie wird um ihr Image besorgt sein und ihr Gesicht wahren wollen«, denke ich laut. »Wir haben es mit den Emotionen einer Institution zu tun, mit Massenpsychologie. Massen sind schwer zu lenken und aufrührerisch, sie unterliegen Stimmungsschwankungen und machen Phasen in ihrem Denken durch, sie verfolgen fixe Ideen.«
»Niemand gesteht gern ein, dass er Mist gebaut hat«, sagt Ned. »Das gilt auch für Konzerne und Regierungen.«
»Unsere Aufgabe ist es, möglichst viele Menschen auf möglichst effiziente und überzeugende Weise zu warnen, ob Traxorac die Gefahr nun eingesteht oder nicht, ob uns die Behörden zuhören oder nicht«, sagt Kristin Jonsdottir. Wenn ich sie nicht hassen würde, hätte ich sie gern. Und ich hasse sie dafür, dass ich sie nicht gern haben kann. »Ich wette, wenn sie begreifen, werden sie es zuerst vertuschen wollen und dann nach einem Sündenbock suchen, statt die Sache in Angriff zu nehmen.«
»Sie hat recht«, sagt Ned und greift nach einem Notizblock. »Ich habe solche Institutionen von innen erlebt. Der erste Instinkt ist Leugnen, dann schalten sie ganz schnell um auf Vorwurf.« Er kritzelt etwas hin.
»Wenn sich ein horizontaler Riss gebildet hat und sich dort, wo sie gebohrt haben, das Sedimentpaket lockert, muss es irgendwo einen Beweis geben«, sagt Frazer Melville und nimmt einen Schluck Whisky.
»Ja, ein einziger Beweis würde schon reichen«, sagt Kristin. »Aber er müsste unwiderlegbar sein. Falls die Entwicklungen irgendwo sichtbar werden, dann in den jüngsten seismischen Aufzeichnungen der Firma. Wenn man sie mit älteren vergleicht und eine Diskrepanz feststellt, heißt das, es hat Bewegungen gegeben. Das wäre ein Beweis.«
»Harish«, sagt Ned schroff und schaut von seinen Notizen auf. »Auch da brauchen wir Ihren Einfluss.«
»Ich fühle mich, als wäre ich tausend Jahre alt.«
»Sobald wir die Aufzeichnungen haben, geben wir eine Pressekonferenz |302|und präsentieren die Fakten. Dann können die Leute selbst entscheiden. Das sind wir ihnen schuldig. Danach sollten wir ganz schnell einen sicheren Ort aufsuchen.«
»Wer ist wir?«, will Bethany wissen. Es wird still im Raum. »Scheiße, ich habe gefragt, wer ist wir?«
Sie versucht mühsam, aufzustehen. Aber es ist noch zu früh, sie ist zu schwach. Sie schwankt, droht umzukippen. »Jetzt hört mal gut zu, ihr Klugscheißer.« Sie umklammert die Sofalehne und richtet sich auf. Frazer Melville will ihr helfen, doch sie schüttelt ihn ab. Unsere ganze Aufmerksamkeit ist auf sie gerichtet. »Ich habe gesehen, dass es passiert. Also kommt bloß nicht auf die Idee, mich zu diesen Wichsern nach Oxsmith zu bringen. Oder nach Kiddup Manor. Ihr wisst, was dort passieren wird.« Keiner sagt etwas. Ned rutscht unbehaglich hin und her. »Und?«, fragt sie anklagend. »Professor M.? Ned? Frazer? Kristin? Roller? Wollt ihr mich fallen lassen, nachdem ihr bekommen habt, was ihr wolltet?« Ihre Augen verdrehen sich leicht. Frazer Melville bemerkte es und zieht sie energisch aufs Sofa. »Wollt ihr mich im Klo runterspülen, ihr Arschlöcher? Ist das euer Plan?«
»Sieht aus, als wären wir ein Team«, setzt Ned zögernd an. Aber er kommt nicht weit. Er ist eher Pragmatiker als Diplomat und denkt das Naheliegende. Sie ist eine tickende Zeitbombe. Eine Gefahr für sich und andere. Ein verrücktes Mädchen. Ein Klotz am Bein. Sie wird von der Polizei gesucht. Auf gar keinen Fall kann man sie einbeziehen. Kristin betrachtet Bethany mit einer Mischung aus Bestürzung und tiefer Abneigung. Der Physiker untersucht seine Hände.
»Roller«, sagt Bethany. Ihre Augen glitzern, sie hat die Mundwinkel verzogen. Ich spüre ein schwaches, hohes Summen in den Ohren wie bei einem Druckabfall im Flugzeug.
Als ich mich zu den anderen umdrehe, breitet sich Schmerz in meinen Schultern aus. Ich setze mich anders hin und richte mich gerade auf.
»Auch das ist eine moralische Entscheidung.«
|303|Die graue Eminenz seufzt. Die anderen wirken verlegen.
Modak sagt: »Das hört ja gar nicht mehr auf.«
»Ja, Professor M.«, knurrt Bethany. Tränen der Wut laufen ihr übers Gesicht. »Und Sie sind ja angeblich ein Experte dafür. Daher haben Sie doch diesen Ruf, oder? Ich habe Sie gegoogelt.«
Harish Modak schließt die Augen und atmet ruhig aus. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass man aufgrund meiner Position einen derartigen Druck auf mich ausüben würde«, murmelt er. »Aber man muss wohl konsequent sein, nehme ich an.« Ich atme aus. Eine so große Erleichterung hatte ich nicht erwartet. Er öffnet die Augen und mustert mich. »Was Ihre Rolle in dieser Sache angeht, Miss Fox …«
Ich zucke mit den Schultern. »Man hört nicht auf, seine Arbeit zu tun, nur weil man gefeuert wurde. Und ich tue hier meine Arbeit.«
Ned macht eine Bewegung, sagt aber nichts.
Ich denke: Ich tue meine Arbeit, denn Bethany ist meine Arbeit.
Und Bethany ist alles, was mir geblieben ist.