Am Morgen schauen wir wieder Nachrichten. Die staubige Dunstglocke löst sich auf und enthüllt eine erstickte Wüste, trostlos wie hunderttausend Ground Zeros. Sie stellt alles in den Schatten, was ich je gesehen oder mir vorgestellt habe, eine rauchende, glimmende Ödnis, die sich kilometerweit erstreckt, unterbrochen von seltsamen Nischen der Normalität, auf die die Sonne scheint: ein Spielplatz, ein Streifen Park, ein funkelnder See, der mit bunten Tretbooten getupft ist. Moscheekuppeln sind wie kugelförmige Pilze aufgeplatzt, klaffende Höhlen unter dem Himmel. Tausende Menschen sind unter Schutt begraben. Soldaten mit Masken suchen nach Überlebenden, ertasten sich mit Wärmedetektoren und Suchhunden den Weg durch gezackte Vorgebirge aus Stahlbeton.
Ich frage mich, was in Bethany Krall vorgeht, wenn sie die Folgen eines Grauens betrachtet, das sie so präzise vorhergesagt hat. Fühlt sie sich mächtig, stolz, allwissend, unbesiegbar? Oder hat sie in einem Winkel ihrer Psyche furchtbare Angst? Und was ist mit Dr. Ehmet, der wie Millionen andere Menschen Namenslisten, Zeltstädte, selbst gemachte Plakate und Rotkreuz-Zentren nach seiner Familie absucht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann mit dem laienhaften Haarschnitt, dem tapferen »Ha« und den Hegel-Zitaten für diese Aufgabe gerüstet ist, aber er wird sie dennoch erfüllen. Und sein gebrochenes Herz wird sich zu all den anderen gesellen, die ohne erkennbaren Grund in Sekunden zerschmettert wurden.
In wenigen Tagen wird es verrückte Überlebensgeschichten geben. Ein Kind wird unversehrt aus einem unglaublich engen Erdspalt kriechen. Eine alte Dame wird erzählen, wie ein Glas |170|Maulbeermarmelade ihr das Leben gerettet hat, als sie mit gebrochenen Beinen unter einem Balken eingeklemmt war. Dann spule ich vor, gar nicht so weit, bis die Überlebenden mit den Gegenständen davongetrottet sind, die ihnen viel bedeuten – ein Foto, ein Spielzeug, ein Kaktus, eine Teekanne, ein Koran – und die leere Hülle Istanbuls zurücklassen, die schließlich einstürzt: eine Geisterstadt, ein modernes Angkor Wat. Bald wird die Natur die Oberhand gewinnen. Insekten, Tauben, Eichhörnchen, Eidechsen, Schlangen und Treibsand werden die Ruinen von Wohnungen und Reisebüros, Schulen und Kaufhäusern erobern. Prunkwinden und Bougainvillea in allen Schattierungen werden sich durch die Überbleibsel der Hochhäuser schlängeln und an den verrosteten Stahlgerippen der Krankenhäuser emporsteigen, Alpenveilchen zu leuchtenden Teppichen erblühen; Mohn und Zaunwinde und Rosmarin und Zitronengras überziehen gesplittertes Holz und geborstenen Beton mit ihrem üppigen Grün; Akazien und Paternosterbäume werden die Risse besiedeln und den Asphalt sprengen, um die schlimmste Schönheit heraufzubeschwören: jene Schönheit, die den menschlichen Zusammenbruch feiert.
Wenn etwas eine Marter erduldet hat, sei es nun eine Wirbelsäule oder ein Herz, wird es nie mehr wie früher sein. Das Verlangen ist mit den Nervenenden abgestorben, Impulse haben sich verändert, Empfindungen neue Ausdrucksmöglichkeiten gefunden, bestimmte Muskelbewegungen und emotionale Regungen sind verkalkt. Obwohl ich das seelische Symptom, das in mir wächst und von der Nähe des sommersprossigen Physikers ausgelöst wurde, diagnostizieren kann, gebe ich mich nicht dem Trost hin, den es mir bieten könnte. Ich erkenne es als das, was es ist: eine falsche Empfindung. Wie das neurologische Kribbeln in meinen Beinen ist auch dieses Symptom – manch einer würde es Liebe nennen – der Phantombeweis einer emotionalen Schwäche, die meine Umstände mir nicht erlauben.
In der Mittagspause surfe ich im Netz, öffne Links und ändere Suchbegriffe, springe zurück und steige um auf einen neuen Gedankengang, |171|wenn mir danach ist. Ich überfliege Berichte über den letzten Aufruf der Planetarier, den amerikanischen Ex-Präsidenten wegen »Verbrechen gegen die Erde« anzuklagen. Über die sibirische Tundra, die schneller taut, als es die pessimistischsten Modelle prognostiziert haben. Über die äußeren Ränder des Amazonasbeckens, die sich in riesige Schlammwüsten verwandeln, voller erstickender Fische, und den verbliebenen Urwald, der in absehbarer Zeit verbrennen und zu einer Savanne werden wird: wieder eine grüne Lunge weniger. Über den Golfstrom, der die gewaltigen Mengen arktischen Schmelzwassers aufnimmt, sich verlangsamt, weniger Wärme in den Atlantik pumpt, was dramatische Auswirkungen auf die Küstenverläufe hat. »Wenn der Erwärmungsprozess nicht rechtzeitig rückgängig gemacht werden kann, ist die fast vollständige Auslöschung der Spezies Mensch auf lange Sicht unvermeidlich«, schrieb Modak in seinem Artikel für die Washington Post. Wenn Bethany von der »Trübsal« spricht, der Verheerung, die sie nicht genauer benennen kann, meint sie dann einfach den klimatologischen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, an dem alles kippt, die kritische Schwelle, die Modak bereits überschritten glaubt, oder eine andere, ungeahnte Katastrophe?
Wie soll man etwas verhindern, das man nicht einmal benennen kann?
Ich klicke und klicke und gelange nirgendwo hin.
Feniton Acres ist eine der Ökosiedlungen, die vor der Wohnungskrise aus dem Boden geschossen sind. Ich komme rascher hin als geplant, kurz nach sechs bin ich da. Das Ziel, das ich in mein Navigationssystem eingegeben habe, ist ein Einkaufszentrum mit Parkplatz. Es gibt ein Franchise-Unternehmen für Whirlpools, einen Anglerladen, eine Tierarztpraxis, ein Kino, einige teure Boutiquen, in deren Fenstern Puppen in dezenter Freizeitkleidung zu sehen sind. Dahinter liegt ein Golfplatz. Die Kirche selbst, riesengroß und rosa, ist flach, gewölbt wie der Panzer eines Krebses und erinnert an skandinavische Baukastenarchitektur: |172|ein militant friedfertiges Gebäude in einer künstlichen Umgebung. Belustigt bemerke ich, dass wenigstens hier, zwischen sorgfältig gepflanzten Ebereschen und Fächerahornen, die Krummen und die Lahmen willkommen sind: neben mehreren Behindertenparkplätzen gibt es auch eine Betonrampe, die zum Haupteingang führt.
Wie viele Menschen, die gern einen guten Eindruck machen möchten, zögere ich, bevor ich einen Raum betrete – eine schlechte Angewohnheit, die seit meinem Unfall noch schlimmer geworden ist. Hier aber genieße ich nicht den Luxus, mich vorbereiten zu können. Der Eingang hat wie ein Krankenhaus oder Supermarkt automatische Glastüren. Das Gebäude muss überaus schalldicht sein, denn beim Hineinrollen trifft mich die unerwartet laute Musik wie ein Schlag. Gerade wird ein Kirchenlied mit Disko-Rhythmus gespielt. Die klimatisierte Luft ruft Gänsehaut auf meinen nackten Armen hervor. Drinnen wiegt sich ein Meer von Menschen im Takt der Musik. Alle strahlen vor Glück.
Ein paar Köpfe drehen sich zu mir um, man lächelt mir aufmunternd zu. Unter den etwa fünfhundert Gläubigen sehe ich viel schwarze und braune Haut, sehr viel mehr, als man in einem Ort wie Feniton Acres erwarten würde. Die riesige Halle ist mit Teppich ausgelegt und in einem neutralen Hellblau gestrichen. Ganz vorn, unter einem Betonkreuz auf der weiß getünchten Mauer, spielt eine Band mit Gitarren, Kesselpauken, Blasinstrumenten und Perkussion. Lauter Männer, bis auf die Saxophonistin, ein junges Mädchen in Jeans. Weitere Leute lächeln zur Begrüßung, während mich ein junger Mann im schicken Anzug zu einem Platz weit vorn führt, von dem aus ich das Geschehen überblicken kann. Er gibt mir einen weißen Umschlag und einen Stift und flüstert: »Das ist für Ihren Zehnten. Wir geben alle, was wir können.« Auf dem Umschlag kann man Namen, Adresse und Kreditkartendaten eintragen.
Eine junge Frau in meiner Nähe schaut ins Publikum und wiegt sich mit eleganten Arm- und Handbewegungen, die mir irgendwie |173|bekannt vorkommen. Einige Leute, die nicht mitsingen, schauen sie aufmerksam an. Dann dämmert es mir: Sie sind taub, und die Frau übersetzt das Lied in Gebärdensprache. Ich weiß nicht genau, warum sie das tut, da der Text auf einer riesigen Leinwand in blauer Schrift angezeigt wird.
Ich stehe auf und lasse Jesus ein
Um meine Seele von der Todsünde zu befrein
Ich bete zu ihm Tag und Nacht
Denn sein ist der Weg, und sein ist die Macht.
Vor mir wiegt sich der stämmige Körper einer Frau im Rhythmus.
Dann sehe ich ihn.
Im wirklichen Leben wirkt Leonard Krall breiter, imposanter, lebendiger und menschlicher als auf den geschönten Fotos auf seiner Homepage. Er trägt einen taubengrauen Anzug, der sehr gut geschnitten ist, und hat ein Mikrofon ans Ohr geklemmt. Er sieht nicht aus wie ein Mensch, dessen Frau mit einem Schraubenzieher erstochen wurde und dessen Tochter vom Teufel besessen ist. Er schaut mich flüchtig an und nickt, wobei er seinen ganzen Körper wiegt. Ein glücklicher Mann, könnte man meinen. Ein Mann, der weiß, wer er ist und warum er hier ist. Ein Mann, der sich in seinem Element befindet.
Da ich die Melodie nicht kenne, mache ich passende Mundbewegungen, als der Refrain wiederkehrt. Die Leute um mich herum tauschen erfreute, fast verschwörerische Blicke, als teilten sie alle ein riesiges Geheimnis. Vielleicht tun sie das auch. Ich denke: Massenproduktion von Serotonin. Religion ist Opium fürs Volk. Ich merke, wie ein breites, dämliches Lächeln auf meinem Gesicht erblüht. Akzeptanz: Akzeptiere, und du wirst akzeptiert werden. Es nimmt mich gefangen. Ich kann nicht anders. Der Mann neben mir hat den Kopf in den Nacken geworfen. Während die anderen singen, hat er die Hände zum Gebet gefaltet und stößt ein beinahe ununterbrochenes Gebrabbel hervor, als experimentiere er |174|mit seiner Zunge. Mein Oberkörper giert nach Bewegung, die meinem Unterkörper versagt bleibt. Ich hebe die Arme, schwenke sie beim Singen und lese dabei den Text auf der großen Leinwand über dem Chor. Ein pawlowscher Reflex treibt mir die Tränen in die Augen. Ich kann nicht anders. Gemeinsames Singen ist wie guter Sex. Nach dem Höhepunkt ist man aufgedreht und erschöpft zugleich. Ich könnte ewig so weitermachen. Wir singen noch vier Lieder und enden mit »Steh auf, steh auf für Jesus«, dem einzigen, das ich kenne. Ich bin fast enttäuscht, als es vorbei ist und die Gemeinde Platz nimmt. Leonard Krall, gedrungen und energisch, beginnt auf und ab zu laufen.
»Diese Treuekarten aus dem Supermarkt. Hand hoch, wer keine hat.« Gelächter brandet auf. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich denke meist gar nicht darüber nach, erst wenn es Zeit wird, den Rabatt einzulösen. Doch als die Kassiererin letztes Mal meine Karte durch das Gerät zog, habe ich angefangen, über das Wort Treue nachzudenken und über das Geschäft, das hier wirklich abläuft. Wer ist wem treu – und warum?« Er hält inne, und als das Publikum nickt, spricht er weiter über die »tiefere Bedeutung von Treue in unserer globalisierten Gesellschaft«. Welche Art von Treue wichtig sei: Treue zu einem Einzelhändler oder einer Fußballmannschaft oder unserem Stamm (er malt Anführungszeichen in die Luft) oder zu allen Kindern Gottes, ob sie nun unsere Sprache sprechen oder nicht, ob sie unseren Glauben teilen oder nicht. Ist es die Treue zu bestimmten christlichen Prinzipien? Er glaubt schon. Man kann Bethany in ihm erkennen, im oberen Teil des Gesichts, in den weit auseinanderstehenden Augen. Er hat Potenzial. Man könnte ihn attraktiv finden. »Krieg, Hunger, Krankheiten, Katastrophen. Die Ausbreitung des Atheismus, der Klimawandel, die Gewalt in Jerusalem und im Iran. Schaut doch hin. Die politische Welt wird geschüttelt, erschüttert werden. Noch einmal will ich bewegen nicht allein die Erde, sondern auch den Himmel. Hebräer 12, Vers 26. Und Vers 27: Auf dass da bleibe das Unbewegliche. Wir werden bleiben. Ja, fest im Herrn. |175|Denn wir können nicht erschüttert werden. Andere schon.« Er hebt warnend die Stimme. »In unserer heutigen Welt herrscht eine Epidemie der falschen Religionen. Unsere Nation und unsere Hauptstadt müssen sich wieder Gott zuwenden, dem Gott von heute, dem Gott des Jetzt!« Er schreit. »Mögen wir von deiner Gnade durchtränkt werden, o Herr! Tränke uns, tränke uns mit deiner ewigen Liebe!« Dann wird er sanfter. »Ehre sei dir.«
Die Frau neben mir stimmt begeistert zu und fällt ein in den Chor aus Gemurmel und Amen. »In mir ist kein Zweifel, dass böse Kräfte auf dem Planeten Erde am Werk sind. Dass der Teufel etwas vorbereitet. Nun, hier ist Gottes Botschaft: Die Anhänger Christi bereiten auch etwas vor!« Er stößt den Finger in die Luft, was weiteres Gemurmel und stakkatoartigen Beifall hervorruft. »Wir bereiten uns auf die Entrückung vor!« Die Menschen brechen in Jubel aus, und er schreitet wie ein Panther mit blitzenden Augen auf und ab. »Es gibt Zeichen. Ich sehe Zeichen, und ich spüre Zeichen. Zeichen, von denen die Bibel gesprochen hat. Was haben wir alle empfunden, als wir Christus vom Berg stürzen sahen? Hast du wirklich diese Stunde gewählt, Herr, am Beginn des 21. Jahrhunderts, um uns zu entrücken und diesen Planeten mit Ezechiels Krieg heimzusuchen?« Er wartet nicht auf die Antwort, sondern stößt die Faust in die Luft. »Es steht geschrieben, ihr Menschen! Es steht geschrieben! Siehe, der Herr macht das Land leer und wüst und wirft um, was darin ist, und zerstreut seine Einwohner. Darum frisst der Fluch das Land; denn sie verschulden’s, die darin wohnen. Darum verdorren die Einwohner des Landes, also dass wenig Leute übrigbleiben. Gott stellt uns irdische Wesen vor eine Herausforderung. Aber ihr dürft nicht erwarten, dass alle seine Wege verstehen. Johannes, Kapitel 3: Es sei denn, dass jemand von Neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.«
Amen, murmelt die Gemeinde inbrünstig.
Das traute Familienleben der Kralls. Ich möchte Fragen stellen. Haben Bethany und ihre Eltern zusammen auf dem Ledersofa gesessen und DVDs mit Heilsverkündigungen angeschaut? Hat |176|Karen Krall dafür gesorgt, dass ihre Tochter täglich fünf Portionen Obst und Gemüse zu sich nahm, wie vom Gesundheitsministerium empfohlen? Ist Bethany regelmäßig in diese Kirche gekommen, um Leonard predigen zu hören? Wie sieht es mit der Vergebung aus, wenn die eigene Tochter deiner Frau einen Schraubenzieher ins Auge stößt?
»Als Istanbul dem Erdboden gleichgemacht wurde«, fährt Krall fort, »bestätigte dies nur ein tiefes Wissen, ein Wissen, das von der Glaubenswelle getragen wird, der wir angehören: Die Endzeit ist nahe. Ihr Menschen, wir haben nichts zu befürchten. Angst ist die Waffe, die der Teufel gegen uns einsetzt, und wir werden ihm nicht den Sieg überlassen. Wir wissen, dass wir sicher sind und der Herr uns beschützen wird. Doch was ist mit unseren Liebsten und mit all jenen, die nicht gerettet werden, die Gottes Liebe nicht gefunden haben?«
Das Publikum murmelt zustimmend. In der Schule bei den Nonnen habe ich gelernt, dass man die schiere Kraft des Glaubens niemals unterschätzen darf. Die Unerschütterlichkeit des wahren Glaubens. Leonard Krall besitzt sie.
»Wir wurden auserwählt, in diesen Zeiten zu leben und sie zu deuten«, sagt er. »Also werden wir dem Teufel gegenübertreten, der die von Gott erschaffene Erde zerstört und den Atheismus verbreitet, und wir werden die Rückkehr des Messias, des großen Erlösers, erwarten. Denn so wie wir ihn fallen sahen, so wird er auch wieder erstehen!« Während er noch immer energisch auf und ab läuft, gleitet er nahtlos in einen Gesang über; aus dem Keyboard erklingt ein Akkord, der ihn begleitet.
»So wird er erstehen, so wird er erstehen, so wird er erstehen, erstehen, erstehen!«
Er hebt die Hände, und die Menschen springen auf und singen vom Erstandenen, Auserwählten, Heiligen. Ich klatsche im Rhythmus mit. Wieder diese physiologische Reaktion: Mein Herz geht auf, ein Lächeln tritt auf mein Gesicht, und ich spüre einfach Freude. Am Ende des Liedes bleibt die Gemeinde stehen und |177|versperrt mir die Sicht. Ich rolle ein Stück in den Gang. Krall hat den Kopf gesenkt und die Faust in der Luft, wobei er ein dunkel behaartes Handgelenk, eine silberne Uhr, eine weiße Manschette entblößt. Seine Energie ist intim, fast sexuell. Er hat die Augen geschlossen, und sein Körper erbebt, was auf einen Stimmungswechsel hindeutet. Als er weiterspricht, den Kopf fast träge in den Nacken gelegt, liegt eine ruhige Kraft in seiner Stimme.
»Wir werden unter den Geretteten sein, und wir werden unser Bestes geben, um die Herzen all jener zu bekehren, die wir kennen und lieben und die noch nicht die Gnade Gottes gefunden haben, auf dass auch sie gerettet werden. Psalm 25, Vers 4: Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige. Niemand auf dieser Erde soll leiden. Einige von ihnen sind unsere Freunde, unsere Liebsten. Wir erfreuen uns nicht an ihrer Lage. Wir wollen, dass sie ihre Sünden bereuen und auferstehen und entrückt werden mit den Gerechten und die Rückkehr des Messias bejubeln. Und er wird kommen, um uns zu holen, oh ja, zweifelt nicht daran, er wird kommen.«
Zustimmung wogt durch die Halle.
Nach dem Gottesdienst rolle ich zwischen Gruppen von Männern, Frauen und Teenagern, die gekleidet sind wie Teenager überall, hindurch, die sich angeregt und mit geröteten Gesichtern unterhalten, während die Kleineren nach draußen ins Einkaufszentrum laufen.
»Willkommen«, sagt Krall, zieht sich einen Stuhl heran, setzt sich und ergreift meine Hand mit der Zuversicht eines Menschenfischers, eines begabten Redners, der auch zuhören kann. »Es ist wunderbar, neue Gesichter zu sehen. Sind Sie von hier? Leonard Krall.« Ich frage mich allmählich, wann er meine Hand wieder loslässt. »Die Leute nennen mich Len. Freut mich sehr.«
»Ich bin Penny«, lüge ich.
»Penny«, wiederholt er. Noch ein Druck, dann bekomme ich meine Hand zurück. Penny ist mir unterwegs eingefallen, eine |178|unsichere, religiöse Version der Frau, die ich vor dem Unfall war. »Ich bin nur auf der Durchreise. Im Vorbeifahren hörte ich die Musik …«
»Und konnten nicht widerstehen. Alte Lieblingslieder, was?«
»Das Singen ist tröstlich.«
Er lachte leise. »Besser, als sich mit Essen zu trösten, oder?«
»Was Sie über die Trübsal und die Entrückung gesagt haben, hat etwas in mir zum Schwingen gebracht.« Damit verdiene ich mir einen intensiven Augenkontakt und ein Nicken, mehr nicht. Es ist beunruhigend, dass mich Bethanys braune Augen aus einem anderen Gesicht klug und sanft anblicken.
»Soll ich Ihnen etwas sagen, Penny? Ich kann Jesus in Ihnen spüren.«
Darauf fällt mir keine Antwort ein, die nicht paranoid klingen würde. Hat er mich etwa durchschaut?
»Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen, wenn Sie sich verabschiedet haben? Es war nämlich nicht nur die Musik, die mich hergeführt hat«, gestehe ich. Das weckt sein Interesse.
»Natürlich, Penny.« Er richtet sich auf. »Geben Sie mir zehn Minuten«, sagt er und nickt einem vorbeigehenden Mann zu. »Ich werde den Mob der Gerechten hier rausschaffen, dann können wir uns in Ruhe unterhalten.«
Ich warte, während er weitere Hände drückt, mit Männern witzelt, Frauen zuhört, kleinen Kindern scherzhafte Boxhiebe versetzt. Eine Stimmung wie bei einem Grillfest.
Eine Viertelstunde später sind wir allein. »Also, Penny. Was kann ich für Sie tun?«
»Besteht die Trübsal aus verschiedenen Phasen?«
Er schüttelt den Kopf. »Sie kommen ja gleich mit den ganz großen Fragen. Phasen, die gibt es. In der Tat glauben manche Christen, die Trübsal sei bereits angebrochen. Sehen Sie sich um. Krankheiten, Wetterextreme, Katastrophen, Globalisierung, zusammenbrechende Finanzmärkte, Terrorismus, Atheismus. All das könnte man als Symptome werten.«
|179|»Sie glauben also auch, es habe schon angefangen?«
»An schlimmen Tagen tue ich das. Aber wenn man die Heilige Schrift genau liest, erfährt man, dass die wahren Gläubigen vor dem Beginn gerettet werden.«
»Die Entrückung. Sie werden in die Luft gehoben.«
»So sagt es uns die Bibel.«
»Sie haben den Antichristen erwähnt. Also glauben Sie an das Böse?«
Er lacht. »Und ob ich das tue. Wenn Sie Gott ernst nehmen, müssen Sie den Schurken auch ernst nehmen. Vor allem aber glaube ich an das Gute, an die Macht von Gottes Willen und an Gottes Plan. Selbst wenn furchtbare Dinge geschehen. Und Gott sie zuzulassen scheint. Das verwirrt die Menschen, sollte es aber nicht. Wir fragen uns immer nach dem Warum. Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Aber Gott weiß, was er tut. Er hat einen Plan. Wir dagegen sind nur Ameisen, Penny. Wir sind zu klein, um seinen Plan zu erkennen. Unser Blick reicht nicht so weit. Unser Problem ist die Arroganz. Wir müssen unsere Arroganz überwinden. Man muss demütig sein, um hinzunehmen, dass Gott alles vorgezeichnet hat, wir es aber nicht immer erkennen können. Viele Dinge, die für uns keinen Sinn ergeben, besitzen für ihn durchaus einen Sinn. Wie ich vorhin schon sagte, blicken wir in einen dunklen Spiegel.« Ein Schatten huscht über sein Gesicht, verschwindet aber augenblicklich. Er grinst. »Verzeihen Sie, Penny, ich rede ohne Punkt und Komma.«
»Kann das Böse denn angeboren sein? Ich meine, diese Vorstellung von Unschuld und Verderbnis … Kann ein Kind von Natur aus böse sein?«
»Sie kann vom Teufel heimgesucht werden.«
»Sie«, sage ich. Ein winziges Schweigen. Leonard Krall erstarrt kaum merklich, und sein Blick kehrt sich nach innen.
»Der Teufel ist mächtig«, murmelt er schließlich wie zu sich selbst, und zum ersten Mal erkenne ich in seinen Zügen den Kummer eines Mannes, der Frau und Kind verloren hat. »Der |180|Teufel ist heimtückisch. Der Teufel ist boshaft und findet Wege, um die Gerechten vom Pfad der Tugend abzubringen.« Er schaut mich eindringlich an, als suchte er nach dem Jesus, den er vorhin in mir gespürt hat. »Was halten Sie davon, Penny?«
»Die Kirche, der ich angehöre, legt allen Nachdruck auf das Gute. Das Böse hingegen scheint nicht zu existieren. Und ich frage mich immer, ob man das eine ohne das andere haben kann.«
»Politische Korrektheit?« Sein Lächeln ist aufmunternd und kameradschaftlich. »Ich werde keine anderen Kirchen oder Glaubensrichtungen vom Sockel stürzen«, sagt er. »Aber ich bin ein Mann der Bibel. Und wenn man ein Mann der Bibel ist, glaubt man an das, was in der Schrift steht, und man streicht den Teufel nicht einfach heraus, nur weil einem die Vorstellung des Bösen nicht gefällt. Vertrauen Sie dem Text. Das Böse ist unter uns. Aber unser Glaube wird uns davon erlösen. Der Glaube ist der Beweis für Dinge, die man nicht sehen kann. Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht. Hebräer 11. Die Stelle mag ich gern. Ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht.« Dann greift er in die Tasche und gibt mir seine Visitenkarte. Darauf stehen sein Name, seine E-Mail-Adresse und seine Handynummer. »Nehmen Sie das, Penny. Falls Sie Lust auf ein längeres Gespräch haben. Ich bin viel unterwegs und verbreite das Wort Gottes, aber Sie sind mir überall willkommen, wo ich predige.« Angesichts seiner Aufrichtigkeit und meiner Lügen werde ich ganz rot, nehme die Karte und bedanke mich. Da ich keine Hosentasche habe und sie nicht seitlich in den Rollstuhl stecken will, taste ich in meiner Handtasche nach dem Portemonnaie, das ich prompt fallen lasse. Er hebt es galant auf und klappt es zu meinem Entsetzen auf. Mein Führerschein blickt uns entgegen.
Im Bruchteil einer Sekunde hat sich alles verändert. »Gabrielle Fox«, liest er vor. Ich werde bleich. »Schade, dass Ihr Beruf nicht hier drin steht, Ms. Fox.« Mir ist ganz schlecht. »Ich tippe auf Journalistin.«
|181|»Ich bin keine Journalistin«, sage ich leise. »Bitte geben Sie mir das Portemonnaie zurück.«
Sein Lächeln ist verschwunden. »Ab und an kommen sie immer noch, um zu schnüffeln. Aber so tief ist noch niemand gesunken«, sagt er und deutet auf meinen Rollstuhl, »Penny.«
»Ich bin gelähmt.«
»Und ich bin Micky Maus. Hören Sie, Ms. Fox. Die meisten Leute hier wissen, dass ich vor einigen Jahren eine private Tragödie erlitten habe und dass die Kirche und Gottes Liebe mir dabei geholfen haben, mich wieder an den kleinen Segnungen des Lebens zu erfreuen. Ich frage nicht länger nach dem Warum. Ich nehme hin, dass wir die Dinge nur wie in einem dunklen Spiegel sehen. Ich möchte Sie nicht kränken. Aber solche Heimlichkeiten gefallen mir nicht. Wenn eine junge Frau, die in ihrem Leben offenkundig gelitten hat, bei mir Rat sucht und echte spirituelle Sorge über die Natur des Bösen äußert, werde ich ihr nur zu gerne helfen. Wenn sich aber jemand kaltblütig einen Rollstuhl besorgt und in das Haus Gottes einschleicht, um mir persönliche Fragen über eine Tragödie zu stellen, die meine Familie getroffen hat, ist das etwas völlig anderes. Diejenige muss ich in aller Höflichkeit bitten, zu gehen.«
Ich fühle mich unwohl. Am liebsten würde ich mich wegbeamen. Die Szene zurückspulen bis zu der Stelle, an der wir gesungen und geklatscht haben und ich vergnügt war. Nur weg von diesem … diesem diesem.
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« Sein Gesicht ist ganz weiß. »Nur eins noch: Wer zum Teufel sind Sie?« Diesen plötzlichen Zorn hatte ich nicht erwartet, und er macht mir Angst. Einen schrecklichen Moment lang glaube ich, er wolle mich schlagen. Ich taste nach meinem Donnerei und will schon zum Angriff ausholen. Doch er ist schneller, umfasst die Handgriffe des Rollstuhls. Ich schnappe nach den Rädern, um sie zu blockieren, doch er versetzt mir einen heftigen Stoß. Dann schiebt er mich einfach hinaus. Die Automatiktür öffnet sich; draußen dämmert es schon. |182|Wortlos schiebt er den Rollstuhl im Rekordtempo die Rampe hinunter.
»Wir Männer der Bibel lieben Wunder, Ms. Fox«, sagt er und kippt meinen Stuhl langsam nach vorn. Ich klammere mich an die Armstützen. Ich will schreien, bringe aber keinen Ton heraus. Verzweifelt schaue ich mich nach Hilfe um, doch der Parkplatz ist menschenleer. »Und mir gefällt die Vorstellung, dass sie manchmal tatsächlich geschehen.« Noch immer rüttelt er am Rollstuhl. Ich klammere mich mit aller Kraft an die Armlehnen, doch er hört nicht auf. Er ist stark. Er kippt den Stuhl so weit nach vorn, dass ich auf den Asphalt schaue. Meine Hände geben nach. Ich muss loslassen, wenn ich ernsthafte Verletzungen vermeiden will. »Sehen wir doch mal, ob wir die Lahmen gehend machen können, was?«
Ich bin zu bestürzt, um zu sprechen. Ich muss im Stuhl bleiben, verliere aber den Kampf. Ich lasse gerade noch rechtzeitig los und bremse meinen Sturz verzweifelt mit den Händen. Dann liege ich ausgestreckt da. Vielleicht ist ein Bein verletzt, und ich spüre einen brennenden Schmerz in der linken Handfläche. Blut und Schotter und aufgeschürfte Haut. Schmerz gegen Stolz: Ich will mein Schluchzen unterdrücken. Und verliere.
Er lacht. »Gut gespielt.« Dann wirft er mein Portemonnaie auf den Boden, und der Inhalt landet auf dem Schotter. Mein Führerschein blickt zu mir auf.
»Ich bin die Therapeutin Ihrer Tochter«, platze ich heraus. Meine Augen brennen vor Schmerz. »Sie hat Naturkatastrophen vorausgesehen. Sie hat Istanbul vorhergesagt.« Sein Körper erstarrt; er sagt nichts, aber ich spüre, dass er meine Worte registriert. »Können Sie mir das erklären, Mr. Krall?«
»Natürlich kann ich das erklären«, sagt er. Ein Schauer huscht über sein Gesicht. Angst, Verachtung oder beides? »Besser gesagt, der Teufel kann es. Mit ihm sollten Sie reden. Er hat die Macht über Bethany.«
»Sie ist Ihre Tochter.«
|183|»Nicht mehr. Ich bete jeden Tag meines Lebens für ihre Seele. Sie werden manipuliert, Ms. Fox. Und merken es nicht einmal.«
Als ich mich so weit erholt habe, dass ich mich wieder bewegen kann, ist er verschwunden. Während ich mich in den Rollstuhl hieve, ist er in seine Kirche zurückgekehrt und hat die Tür hinter sich geschlossen. Ich bin allein.
Ich schlucke meine Tränen hinunter und versuche, die ganze Sache eher amüsant als grotesk zu finden. Vom Auto aus rufe ich Frazer Melville an, doch er meldet sich nicht. Ich schalte das Radio ein. In der Türkei gibt es Geschichten von Rettungen in letzter Minute, von rührenden Wiedersehen, tragischen falschen Berechnungen, der Ausbreitung von Seuchen, stümperhaften Hilfsaktionen. Ich fahre und bemühe mich, nicht nachzudenken.
Zu Hause wartet Frazer Melville mit einer Flasche Champagner und einem schwachen, unglücklichen Lächeln auf mich. »Heute feiern wir das Ende meiner Karriere als ernst zu nehmender Wissenschaftler«, verkündet er. Wir stoßen darauf an, dann säubert er meine aufgeschürfte Hand. Wir sind beide auf unsere Weise verzweifelt.
»Du hast also die E-Mails verschickt?«
»Ich habe mich auf die nächsten vier Ereignisse konzentriert, da die ersten drei bereits eingetreten sind und der letzte Eintrag keinen Sinn ergibt. Ich habe sie als Spekulationen einer Person präsentiert, die in der Vergangenheit Naturkatastrophen sehr genau vorausgesagt hat. Ich habe es neutral formuliert und Angaben zu der statistischen Wahrscheinlichkeit erbeten, mit der diese Ereignisse tatsächlich am angegebenen Datum eintreten werden. Außerdem habe ich Melina einige von Bethanys Mondlandschaften mit Maschinen geschickt. Ein ehemaliger Kollege von ihr hat Kontakt zu Harish Modak.«
Ich sage, dass ich stolz auf ihn bin, doch die Tatsache, dass er tatsächlich auf »Senden« geklickt hat, macht ihm schwer zu |184|schaffen. »Und du meinst, dass diese Leute alle … offen für Ideen sind, die du nicht beweisen kannst?«
»Nicht alle. Melina tendiert nicht in diese Richtung, aber sie wird mir wohl die Ehre erweisen, eine ernsthafte Antwort zu schicken und die Sache nicht gegen mich zu verwenden. Sollte ihr Kontakt funktionieren, könnte Harish Modak tatsächlich das Risiko eingehen. Aus purer Neugier reagieren. Verrückt genug ist er.«
»Ich habe einen seiner Artikel gelesen. Er hat mich beeindruckt. Obwohl ich mir das alles natürlich nicht eingestehen möchte.«
»In mancher Hinsicht ist er Lovelocks geistiger Nachfolger. Andererseits auch wieder nicht. Ihm ist im Grunde völlig egal, was die Wissenschaft von ihm denkt. Dennoch hat er gewaltigen Einfluss.«
»Und was jetzt?«
»Wir trinken weiter, und du erzählst mir von Leonard Krall.«
Am nächsten Morgen kommt mein Chef gleich zur Sache. Er hat soeben einen Anruf von Bethanys Vater erhalten. Einen Anruf, in dem dieser sich »zu Recht beschwerte«. Da es nichts zu sagen gibt, schweige ich. »Wollen Sie das bestreiten?«
»Er hat mich aus dem Rollstuhl gekippt.« Das klingt ziemlich schwach.
»Ja, das hat er mir auch erzählt. Dafür entschuldigt er sich. Trotzdem. Es ändert nichts an dem, was Sie getan haben, oder?«
»Hat er sich nach Bethany erkundigt?«
»Nein. Sie hat seine Frau ermordet, also hat er das Recht, auf Distanz zu bleiben. Außerdem geht es gar nicht um Bethany, sondern um Sie. Sie!« Er steht auf und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Ich zucke instinktiv zusammen. Doch das stört ihn nicht. »Herrgott noch mal, Gabrielle. Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?« Dann setzt er sich unvermittelt und schlägt noch einmal mit der Hand auf den Tisch.
Ich streiche meinen Rock glatt. »Ich war neugierig«, sage ich |185|leise. Weiter kann ich mich der Wahrheit nicht nähern. Mit einer ausführlicheren Antwort – dass ich gehofft hatte, in der religiösen Überzeugung des Vaters einen Schlüssel zu den Visionen der Tochter zu finden – würde ich mich noch tiefer hineinreiten. »Ist es ein Verbrechen, wenn man neugierig auf seine Patienten ist?«
»Sie waren neugierig«, wiederholt er ruhig. »Neugierig.« Er stößt einen zornigen Seufzer aus. »Nun, ich bin auch neugierig, Gabrielle. Und da ich neugierig bin – in diesem Fall auf Sie –, habe ich in London angerufen und mit Ihren früheren Arbeitgebern in Hammersmith gesprochen. Dort erfuhr ich, dass Dr. Omar Sulieman, der Ihnen ein so glanzvolles Zeugnis ausgestellt hat, als Sie sich um diese Stelle bewarben, leider verstorben ist. Daher konnte ich nicht das Gespräch führen, das ich gern geführt hätte. Allerdings habe ich mit seinem Nachfolger, Dr. Wyndham, gesprochen. Er kennt Sie nicht persönlich, hat aber auf mein Ersuchen in Ihrer Akte nachgeschaut.« Ich hole Luft, sage aber nichts. Es hat keinen Zweck. Auf dem Fensterbrett lässt sich eine Möwe nieder und beobachtet uns mit schief gelegtem Kopf, bevor sie davonfliegt, ein weißes Aufblitzen. »Wie es aussieht, waren alle anderen Mitglieder des Bewertungsausschusses dagegen, Ihnen Ihre alte Stelle wiederzugeben, weil Sie nach dem Unfall und Ihrem persönlichen Verlust noch nicht wieder in der Lage gewesen seien, zu arbeiten. Man kam zu dem Schluss, psychologisch seien Sie den Anforderungen einer so anspruchsvollen Tätigkeit noch nicht gewachsen, und empfahl daher weitere sechs Monate Genesungsurlaub. Dr. Sulieman hat sich über diese Entscheidung hinweggesetzt und Ihre Bewerbung für die befristete Stelle hier in Oxsmith unterstützt.«
Schweigen. Zeit zum Nachdenken. Er sieht mich erwartungsvoll an. Die Uhr an der Wand zeigt achtzehn Minuten nach zehn. Während die Sekunden vor meinen Augen verticken, läuft mein Verstand auf Hochtouren. Geld, oder der Mangel an Geld, wird zur konkreten Bedrohung. Laut meinem Anwalt ist noch lange nicht mit dem Geld von der Versicherung zu rechnen. Habe ich |186|mich durch eine einzige Fehlentscheidung arbeitslos gemacht? Um neunzehn Minuten nach zehn sage ich, noch immer unter seinem wachsamen Blick: »Ich werde mein Büro räumen und Sie von meiner Anwesenheit befreien.«
Sheldon-Gray wirkt eher entsetzt als erleichtert. »Laut Ihrem Vertrag haben Sie noch einen Monat. Sie sollten nur dankbar sein, dass ich keine sofortigen Disziplinarmaßnahmen einleite.«
»Das sind sehr schwerwiegende Anschuldigungen«, sage ich, als ich einen Vorteil wittere. »Therapeuten, die gegen ihr Berufsethos verstoßen, sind eine Belastung für jede Einrichtung. Sie möchten mich doch sicher offiziell rügen?« Er fummelt an seinen Manschetten herum. Ich bohre weiter. »Außer vielleicht, es herrscht Personalmangel, nachdem Dr. Ehmet gegangen ist. Und wie ich hörte, ist es generell schwierig, Mitarbeiter für Oxsmith zu finden …«
»Sie haben noch vier Wochen«, sagt er brüsk. Nachdem die Manschetten in Ordnung gebracht sind, erfordern die Papiere auf dem Schreibtisch seine unmittelbare Aufmerksamkeit. »Fragen Sie mich bitte nicht nach einem Zeugnis. Ich kann Ihnen versichern, diesmal gibt es keinen Mitleidsfaktor.« Damit bin ich entlassen. Ich drehe mich um. »Übrigens«, ruft er mir nach, »der Kontakt mit Bethany Krall ist Ihnen untersagt.«
Ich fahre zu Frazer Melville nach Hause, neben mir auf dem Beifahrersitz ein dampfendes Paket aus dem indischen Restaurant. Ich bin selten bei ihm. Sein gemietetes Reihenhaus in der Nähe des Hafens ist nicht rollstuhlgerecht. Die Wände sind mit riesigen ramponierten Landkarten, von ihm aufgenommenen botanischen Schwarz-Weiß-Fotos und dramatischen Naturbildern tapeziert: Sonnenuntergänge, Flüsse aus geschmolzener Lava, Wasserfälle. Wie in seinem Büro herrscht auch hier ein gelehrtes Durcheinander: das Chaos eines kreativen und wissbegierigen Menschen, der auf Hilfe im Haushalt verzichtet. Er ist blass und einsilbig. Wir stochern in unserem Essen herum, benutzen keine Teller, reden |187|kaum. Ich wage nicht, die Frage zu stellen, weil ich die Antwort von seinem Gesicht ablesen kann.
»Ich habe die Antworten ausgedruckt«, sagt er schließlich. »Die wenigen, die ich bekommen habe.« Er deutet mit dem Kopf auf den Beistelltisch.
Ich rolle hinüber und werfe einen Blick darauf. Er hat sieben verschiedene E-Mails ausgedruckt.
Lieber Frazer, beginnt die erste. Ich habe deine E-Mail mit großer Belustigung gelesen und an Judy weitergegeben, weil sie immer behauptet, wir Naturwissenschaftler seien ein humorloser Haufen. Das ist wirklich klasse!! Jedenfalls freue ich mich darauf, noch mehr von deinem mysteriösen Orakel zu hören, und werde mir die Tage im Kalender anstreichen.
Alles Gute, Cees
P. S. Da du schon danach fragst, schätze ich die Chance, dass ein Zyklon Mumbai an diesem Datum trifft, auf 5380 zu 1.
Die zweite:
Sehr geehrter Dr. Melville, ich möchte Ihnen mein tief empfundenes Beileid zum Tod Ihrer Mutter aussprechen. Ich hörte davon, als ich heute Morgen in Ihrem Büro anrief. Wir alle hier möchten Ihnen in dieser schwierigen Zeit unser Mitgefühl aussprechen und hoffen, dass Sie sich bald wieder besser fühlen. Gestatten Sie mir eine persönliche Erinnerung an die Zeit, nachdem mein Vater gestorben war. Damals war ich tief erschüttert und noch einige Monate später nicht ich selbst …
Die dritte:
Mein lieber, lieber Frazer,
viele Grüße aus der Arktis! Falls du diese »Vorhersagen« tatsächlich |188|als echte Wissenschaft betrachtest (was ich dem Ton deiner Mail nach befürchte), begehst du einen gewaltigen beruflichen Fehler, ob deine »Quelle« nun recht hat oder nicht. Als deine Freundin wie auch als deine Ex-Frau werde ich jetzt das für dich tun, was du hoffentlich auch für mich tun würdest. Ich rate dir, lieber Frazer, dies nicht weiterzuverfolgen. Du genießt auf deinem Fachgebiet einen exzellenten Ruf. Ich weiß, wie hart du gearbeitet hast, um dir einen Namen zu machen, und daher hoffe ich, dass dir selbst schon Zweifel gekommen sind. Ich verspreche dir jedenfalls feierlich, dass ich dies nicht weitergeben werde. Ich bin mir sicher, dass der Tod deiner Mutter eine große Belastung für dich ist …
»Am schlimmsten sind die, die gar nicht geantwortet haben«, sagt Frazer Melville schlicht. »Ich weiß nämlich, was sie denken und untereinander reden. Sie tanzen vor Schadenfreude Polka.«
»Du bereust es.«
»Nein. Ja. Nicht, solange Bethany recht hat. Falls sie sich aber irrt, schon. Dann müsste ich auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Immerhin habe ich eine Seelenklempnerin, die mich wieder herrichten kann.«
»Eine Kunsttherapeutin.«
Er lächelt kläglich. »In der Not frisst der Teufel Fliegen.«
Doch schon wenige Tage später ruft er mich triumphierend an. »Sie hatte für den 5. eine schwere Überflutung in Bangladesch vorhergesagt, und die ist eingetreten. Jetzt gerade zieht ein Zyklon in Richtung Mumbai und wird morgen dort eintreffen. 13. September. Genau wie es in ihrem Notizbuch steht. Sie hat es vor über einem Monat vorhergesagt. Vielleicht ist es sogar noch länger her. Das kann kein Meteorologe.«
»Fühlst du dich jetzt rehabilitiert?«
»Du nicht?«
»Nein«, entscheide ich. Ich muss an Bethany denken, wie sie |189|ihr grünes Kaugummi kaut und die Faust in die Luft stößt, als hätte sie einen Preis gewonnen. »Ich fühle mich nur schlecht. Und irgendwie … verantwortlich.«
»Ich kontaktiere jetzt Kollegen wegen Hongkong und Samoa. Allerdings mache ich mir keine Hoffnungen. Die Leute halten mich entweder für verrückt oder sind neidisch, weil sie vermuten, ich hätte eine neuartige Maschine entwickelt, die frühe Warnsignale auffängt.«
Einige Tage, nachdem der Zyklon in Mumbai schlimmste Verwüstungen angerichtet und über dreihundert Menschen getötet hat, fahre ich zu Frazer Melville nach Hause.
Er öffnet mir schweigend die Tür. Er hat abgenommen, seine Kleidung hängt locker an ihm herunter. Er beugt sich nicht zu mir herunter, um mich zu küssen, und es gibt auch sonst keine Berührung als Willkommensgruß. Ich spüre, dass er sich von mir zurückzieht, vielleicht sogar etwas Entscheidendes für sich behält. Er hat BBC World eingeschaltet. Wie ich bereits in den Nachrichten hörte, steht ein großer Teil von Hongkong in Flammen. Eine Gasexplosion hat ein Hochhaus zum Einsturz gebracht und achtzig Menschen getötet. Außerdem starben Hunderte, als ein Blitz in die Bootssiedlungen einschlug und die daraus erwachsende Feuerwand, angefacht von tropischen Winden, auf das knochentrockene Waldgebiet des Peak District übergriff. Dort ist es Abend, und aus der Luft leuchtet Hongkong als orangefarbener Fleck im südchinesischen Meer. Jenseits des Wassers toben in Kowloon weitere Brände, ausgelöst von Gasexplosionen.
»Du musst mir sagen, was los ist«, sage ich und deute zum Fernseher. »Davon mal abgesehen.«
»Gestern hat mich der Leiter meines Instituts angerufen. Ihm gefällt es nicht, dass ich wissenschaftlich unbegründete Behauptungen äußere.«
»Wegen der E-Mails an deine Kollegen?«
»Seiner Ansicht nach habe ich meinen universitären Status missbraucht. Er ist noch von der alten Schule.«
|190|»Und wie lautet die Strafe?«
»Das übliche Kaltstellen, nehme ich an. Aber ich warte nicht ab, bis ich es herausgefunden habe. Ich habe ihn um ein sechswöchiges Sabbatical gebeten.«
»Hat er zugestimmt?«
»Mit geradezu beleidigendem Eifer.« Sein Lächeln wirkt trostlos. »Niemand will mit mir über diese Brände sprechen, nicht einmal inoffiziell.« Er deutet zum Fernseher. »Ich bin Persona non grata.«
»Und Harish Modak?«, frage ich. Unbehagliches Schweigen, das ich als Nein deute. »Und im Netz?«
»Dort verbreitet es sich wie die Vogelgrippe.« Er braucht nicht eigens zu sagen, dass dies eher Fluch als Segen ist.
»Also werden die Wissenschafts- und Nachrichtenjournalisten es früher oder später aufnehmen.« Wir verweilen einen Moment bei dem Gedanken. »Und jetzt?«
»Wir fahren nach London und zwingen die Leute, die etwas bewegen können, uns zuzuhören.«
»Aktivisten?«
Achselzucken. »Der letzte Ausweg ist eben der letzte Ausweg.«
»Meinst du, dass sie anders reagieren?«
Er greift nach einer Flasche Whisky und seufzt tief. »Das weiß ich nicht.« Die Schwerkraft scheint sein Gesicht herunterzuziehen. »Möchtest du einen Drink? Ich genehmige mir einen.« Mit unsicherer Hand gießt er sich ein Glas ein, kippt es in einem Zug hinunter und schenkt nach.
Der nächste Morgen ist grau, endlich hat es sich ein bisschen abgekühlt. Auf den Feldern und Hecken und den von der Industrie spendierten Kreisverkehren leuchtet es rot und orange und dunkelgrün. Eigentlich ist es schon der zweite Herbst in diesem Jahr. Der erste ließ die Blätter an den Bäumen welken, und die Sonne brachte das Obst schon im Mai zur Reife. Jetzt fallen noch mehr Blätter, Rosskastanien platzen auf, und die Hecken sind |191|mit rot reifenden Hagebutten, Tollkirschen und Weißdorn gepunktet. Ich bin immer allein Auto gefahren, den Rollstuhl zusammengeklappt auf dem Beifahrersitz, und es fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen, dass jemand neben mir sitzt. Vor allem jemand, der so erschöpft und verkatert aussieht wie Frazer Melville. Ich habe gemerkt, dass er gestern Abend zu viel getrunken hat, konnte ihn aber nicht davon abhalten. Und gestattete mir auch nicht, meine fast schmerzhafte Sehnsucht nach körperlicher Intimität zu signalisieren. Habe ich seinen Freiraum respektiert, oder war ich einfach nur feige? Es schien, als hätte er meine Gegenwart fast vergessen, und ich war zu unsicher, um die Initiative zu ergreifen. Außerdem, fiel mir ein, liegt sein Schlafzimmer im ersten Stock.
Nun aber hat die Tatsache, dass wir nicht miteinander geschlafen haben, Unbehagen in mir geweckt. Hinzu kommt das schwierige Thema, über das wir in den ersten zwanzig Minuten der Fahrt diskutiert haben: wie viel wir von Bethany preisgeben sollen. Ich habe darauf bestanden, dass ihre Anonymität nicht angetastet werden darf. Außerdem, argumentierte ich, würde es unsere Glaubwürdigkeit kaum erhöhen, wenn wir erklärten, unsere Quelle sei Insassin einer Nervenheilanstalt. Das gesteht er mir zu, erklärt aber, dann sei er ratlos. Wenn er Bethanys Erkenntnisse über die Turbulenzen nicht als Ergebnis der EKT präsentieren darf, fehlen ihm wissenschaftliche Belege, um seine Theorie bezüglich der Empfänglichkeit für geologische und meteorologische Vibrationen zu untermauern. Schließlich gelangen wir zu einer fragilen Übereinkunft, doch unsere wortlose Fahrt beweist, dass wir unglücklich und gestresst sind. Nach allem, was geschehen ist, haben wir uns anscheinend nicht mehr viel zu sagen. Er hat wiederholt erklärt, wir hätten letztlich nichts zu verlieren. Und daher auch keine Wahl, nachdem Harish Modak uns abserviert hat. Uns bleibt nichts anderes übrig, als Umweltorganisationen, die nicht mit den Planetariern verbunden sind, unser Anliegen vorzutragen. Frazer Melville, BA, MA, PhD (sowie verschiedene |192|andere Abkürzungen), hat seinen Job praktisch verloren, und ich stehe auch kurz davor. Falls sein Schweigen Optimismus angesichts unserer Mission ausdrücken soll, würde ich ihn gern teilen. Dankbar wäre ich auch für einen kleinen Hinweis darauf, worin »die Trübsal« bestehen soll, abgesehen von der vagen Vorstellung von Sintflut und Heuschreckenplagen. Vielleicht ein nuklearer Unfall?
In dieser fröhlichen Stimmung erreichen wir die Hauptstadt.
Die Welt vor der ökologischen Katastrophe zu retten, ist ein großes und aalglattes Geschäft. Die Spendenmaschinerie der Organisation, zu der wir wollen, mag zwar vom kollektiven Schuldgefühl angeheizt werden, doch ihr öffentliches Image ist so zuversichtlich und fortschrittsorientiert wie das Gebäude, in dem sie untergebracht ist – von den Sonnenkollektoren an der Fassade und den diskret angebrachten Windrädern auf dem Dach bis hin zur eindrucksvollen Sammlung gespendeter Kunstwerke in der Eingangshalle. Mich beeindrucken die Größe dieses Unternehmens und die wirtschaftliche Kompetenz des Verwaltungsapparates. Geld und Überzeugung scheinen hier eine kraftvolle Mischung einzugehen. Im Wartebereich, der von einer Fernsehwand beherrscht wird, auf der Höhepunkte von Kampagnen zu sehen sind, bietet man uns Caffè Latte an. Zehn Minuten später werden wir in den zehnten Stock geführt, wo sich das unregelmäßige kubistische Panorama der Londoner Skyline unter einer dichten Wolkendecke präsentiert. Ich betrachte das Grau der Häuser, unterbrochen von den grünen Flächen der Parks, und die Londoner Wahrzeichen, die ich mit meinem Vater auf unserem Ausflug vor sechs Jahren angeschaut habe, als sein Verstand und meine Beine noch funktionierten. Es war ein letzter, ungeahnter Familienabschied von der Stadt. Ich sehe das Swiss-Re-Gebäude, den Post Office Tower, das riesige London Eye, die Nelsonsäule und die St. Paul’s Cathedral. Dazwischen schlängeln sich die roten Busse. Damals sind wir mit einem gefahren. Oben. Und haben geredet und geredet.
Frazer Melville wird von der Chefökologin Karla Fitzgerald und ihrem Team respektvoll begrüßt. Der Name meines Physikers hat durchaus Gewicht.
»Wir wollten Sie persönlich treffen, weil wir uns in einer ungewöhnlichen Lage befinden«, beginnt Frazer Melville, nachdem er sich auf das Sofa gesetzt und mich einfach als »Gabrielle Fox, eine Freundin, die meine Sorgen teilt«, vorgestellt hat. Er ist nervös. Spürt Karla Fitzgerald das auch? Sie lächelt gelassen, aber geschäftsmäßig, und entschuldigt sich, dass sie uns nicht mehr als zehn Minuten ihrer Zeit widmen kann; um elf Uhr steht die nächste Besprechung an. Wir haben überlegt, wie wir unsere Geschichte aufbauen und womit wir anfangen sollen.
»Das Erdbeben in Istanbul wurde von einer Person sehr genau vorausgesehen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie Zugang zu einem speziellen Prognosesystem besitzt.« Er klingt professionell, aber ich bemerke Karla Fitzgeralds sofortigen, leisen Schock. »Dasselbe System hat es dieser Person möglich gemacht, das Datum des Hurrikans in Rio Wochen im Voraus zu bestimmen«, drängt er weiter. An den Wänden hängen Fotos von Kindern. Vielleicht ihre eigenen, von früher. Nein: Enkelkinder. »Nun spekuliert dieselbe Quelle …«
Doch Karla Fitzgerald ist abrupt aufgestanden und hebt warnend die Hand. Sie kommt um ihren Schreibtisch herum und setzt sich neben Frazer Melville aufs Sofa. Mit rutscht das Herz in die Hose.
Ich habe so viel Mitleid erfahren, dass ich es blind erkenne.
»Bevor Sie weitersprechen, möchte ich Ihnen sagen, dass uns diese Informationen nicht neu sind, Dr. Melville«, sagt sie sanft, als spräche sie mit einem ihrer Enkelkinder. »Wir haben schon von diesen Vorhersagen gehört. Und woher sie stammen. Wir sind auch der Meinung, dass es sich um einen erstaunlichen Zufall handelt. Aber nicht mehr.« Hat Bethany sie selbst kontaktiert? »Vor einiger Zeit wurden mehrere Organisationen, darunter |194|auch unsere, von einer zutiefst gestörten Frau angesprochen. Sie behauptete, die Katastrophen würden von einem Kind in einer psychiatrischen Klinik verursacht, in der sie gearbeitet hat. Irgendwo an der Südküste. Hadport, glaube ich.« Es gibt nichts zu sagen. Karla Fitzgerald scheint das alles zu bedauern. »Wie hieß das Mädchen doch gleich … Bethany?« Frazer Melville blickt auf seine Hände. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie beide sich die Zeit genommen haben und hergekommen sind. Viele Leute machen sich Sorgen wegen dieser Dinge, zu Recht«, erklärt Karla diplomatisch. »Wir sagen ihnen immer, dass sie mit einer Spende am besten helfen können oder indem sie selbst in der Organisation aktiv werden. Ich habe hier einige Aufnahmeanträge.« Sie geht zu ihrem Schreibtisch und greift in eine Schublade. Dann fächert sie lächelnd farbige Blätter auf. »Sind Sie vielleicht daran interessiert?«
Zutiefst gedemütigt fahren wir schweigend nach Hause.
Sex ist ein tolles Heilmittel, aber der Physiker zeigt immer noch kein Interesse. Er zuckt zurück, sobald ich ihn berühre. Ich fühle mich abgewiesen, obwohl ich weiß, dass es nichts zu bedeuten hat. Nichts bedeuten muss. Nicht zwangsläufig etwas bedeutet. Ich sollte besser nach Hause fahren, begehe aber den Fehler zu bleiben. Stattdessen …
Nach den Regeln des Anti-Aggressions-Trainings, die ich erst kürzlich einem Haufen mürrischer psychotischer Teenager eingebläut habe, darf man nicht zulassen, dass sich Gefühle von Ärger, Kränkung und Niederlage aufstauen. Man kann nicht wissen, was in anderen vorgeht, so wie man die Welt nicht zwingen kann, so zu sein, wie man sie gern hätte. Doch sobald der Physiker und ich in eine hitzige Diskussion verfallen, versage ich auf der ganzen Linie und kann mich nicht mehr an das halten, was ich mir selbst und anderen immer gepredigt habe. Ich bestehe darauf, dass wir mehr unternehmen müssen, dass irgendetwas Erfolg haben wird. Er leidet noch immer unter unserer Niederlage und will wissen, |195|was das bitte sein soll, nachdem wir alle Brücken hinter uns abgebrochen haben. Mit anderen Leuten reden, sage ich. Leuten, die uns glauben. Seine Reaktion ist ätzend.
»Paranoiker aus dem Internet. Ökofanatiker. Hellseher. Leute am äußersten Rand. Leute, um die man am liebsten einen großen Bogen macht. Leute wie die, die Sheldon-Gray für dich gegoogelt hat. Freaks in Prag und Mystiker in Yucatan. Scheiß-Apokalypse. com. Vergiss es.«
Insgeheim bin ich seiner Meinung, kann aber dem Pessimismus nicht das Feld überlassen. Wir gehen im Streit auseinander. Er sieht aus, als hätte er in zwei Wochen fünf Kilo abgenommen, was ihm gar nicht steht. Ich sollte eigentlich einen gewissen Einblick in die menschliche Psyche haben. Heute habe ich ihn nicht.
Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit komme, teilt man mir am Empfang mit, dass Dr. Sheldon-Gray mich wegen eines »Vorfalls« sprechen möchte, in den Bethany Krall verwickelt war. In seinem Büro stelle ich fest, dass er sich heute ganz förmlich und staatsmännisch gibt, als wäre der nächste Schritt in seiner Karriere eine Kandidatur für die UNO. Leider gebe es schlechte Neuigkeiten. Bethany befinde sich in der Notaufnahme des St. Swithin’s Hospital. Es gehe ihr »nicht sonderlich gut«.
»Was ist passiert?«
»Elektrischer Schlag. Sie beschaffte sich eine Metallgabel und steckte sie in eine Steckdose. Wurde natürlich ohnmächtig. Verbrennungen der Hände und an den Armen hinauf. Ein Wunder, dass sie nicht gestorben ist. Gummisohlen. Ach ja, und vorher hat sie sich den Kopf rasiert.«
»Ganz?«
»Es sah aus wie ein Ritual. Man behält sie noch im Krankenhaus.« Irgendetwas ist im Busch. Das spüre ich genau. Er hat einen Plan.
»Was jetzt?« Ich frage mich, wie ich mich am besten verhalten soll.
|196|Er legt die Hände auf den Tisch, spreizt die Finger und schaut mich trotzig an. »Ich lasse sie nach Kiddup Manor verlegen.« Die Todeszelle der modernen Psychiatrie.
Im nachfolgenden Schweigen hebt er die Hände und legt sie wie zum Gebet gefaltet vor den Mund. Die blauen Augen wandern prüfend über mein Gesicht. Wenn ich etwas sage, werde ich mich durch das Zittern meiner Stimme verraten. Also schweige ich. Ich nicke, als wäre Bethanys Verlegung in eine der brutalsten Einrichtungen des Landes tatsächlich eine Überlegung wert und mir völlig gleichgültig.
»Irgendwelche besonderen Gründe?«, bringe ich schließlich heraus.
»Ich halte mich nur an die Richtlinien. Sie sind sehr deutlich, wenn es um wiederholte Selbstverletzung geht. Hier ist ein neuer Ansatz erforderlich.«
»Sind Sie sich darüber im Klaren, was dort mit ihr geschehen wird?«, frage ich so ruhig wie möglich. »Sämtliche Fortschritte, die sie hier gemacht hat, gehen verloren. Man wird sie mit Medikamenten vollpumpen, bis sie nur noch vor sich hin vegetiert.«
Er zuckt mit den Schultern. »Immerhin vegetiert sie in Sicherheit vor sich hin. Ist nicht länger eine Gefahr für sich und andere. Das Experiment mit der EKT war ein Fehler.«
»Es hat funktioniert.«
»Eine Zeit lang. Aber dann hat sie einfach eine Gabel in eine Steckdose gesteckt, wohl wissend, dass sie dabei sterben könnte. Ich bin bereit, die Verantwortung für die EKT zu übernehmen. Ich habe damals die Formulare unterzeichnet, weil es mir die richtige Behandlungsmethode zu sein schien. Es gab auch eine Verbesserung. Jetzt aber ist der Schuss nach hinten losgegangen, und ich gestehe meine Niederlage ein. Jedenfalls dachte ich, Sie sollten Bescheid wissen, da Sie ihre letzte Therapeutin waren. Sobald sie das Krankenhaus verlassen kann, ist sie nicht mehr unsere Patientin.«
»Oder unser Problem.«
|197|Er lächelt knapp. »Wortklauberei. Es ist keine Schande, zuzugeben, dass die Behandlung von Bethany Krall einer unserer eklatantesten Fehlschläge war.«
»Wie lange wird man sie im Krankenhaus behalten?«
»Bis die Verbrennungen heilen. Nehmen Sie sich morgen frei. Sie sehen schrecklich aus.«
Nach der Arbeit rufe ich meinen Physiker an. Es ist besetzt. Ich beschließe, zu ihm zu fahren und ihm alles zu erzählen. Ich hoffe, dass wir die Nacht durchmachen und die Spannung, die durch unsere katastrophale Fahrt nach London entstanden ist, mit einer Sitzung im Bett vertreiben werden. Ich brauche Sex. Mit Frazer Melville. Ich brauche seine Arme.
Ein Jogger mit drei langbeinigen Hunden an der Leine trabt an Frazer Melvilles Haus vorbei. Ich finde einen Parkplatz unmittelbar gegenüber. Im Wohnzimmer brennt Licht. Ich will gerade seine Nummer wählen, damit er mir die Treppe hinaufhilft, als ich noch einen Blick zum Haus werfe. Wieso, weiß ich nicht. Aber genau da sehe ich sie. Sie ist groß und trägt Jeans und steht am Fenster und schaut heraus. Blond. Schlank. Jung. Als ich kam, war sie noch nicht da. Nun aber ist sie wie ein schrecklicher Springteufel im Haus des Physikers aufgetaucht. Ich sehe, wie er aus der Küche kommt. War sie auch dort drin? Hat er für sie gekocht? Mein Herz versucht eine Kehrtwendung, wie ein Betrunkener auf der Straße. Vergeblich. Es hält inne.
Die Frau scheint sich zu Hause zu fühlen.
Sie geht vom Fenster zum Sofa, wo sie sich zusammen hinsetzen, so nah, dass ihre Körper einander berühren. Sie schauen sich gemeinsam etwas an, haben die Köpfe über den Tisch gebeugt. Er will sie beeindrucken. Und sie denkt ernsthaft darüber nach. Sie hat die Macht.
Ich zittere nicht, ich bebe am ganzen Körper. Es hört einfach nicht auf.
Seine Ex-Frau, wird mir klar. Melina. Seit sie die E-Mail erhalten hat, macht sie sich Sorgen um ihn. Also ist sie hergeflogen. |198|Um sich um ihn zu kümmern. Sie sieht nicht griechisch aus. Ist sie keine Lesbe mehr? Will sie ihn zurückhaben? Will er sie?
Oder es ist doch nicht Melina. Eine andere Frau. Eine junge Kollegin. Eine seiner Studentinnen.
Haben sie schon gebumst?
Sie schlägt die Beine übereinander, und mich durchfährt giftiger, ungezähmter Neid. Sie kann auf ihren Beinen stehen, mit ihnen laufen, hinauf- und hinuntersteigen, sie kann sie spreizen, wenn er in sie eindringt. Ein trockenes Würgen sitzt mir in der Kehle.
Es ergibt einen Sinn, und der ist so offensichtlich, wie wenn man bei einem 3-D-Puzzle das letzte Stück einfügt, mit dem man stundenlang gekämpft hat.
Ich bin keine richtige Frau mehr und habe den Fehler gemacht, das Gegenteil zu glauben. Ich habe angenommen, es gäbe keine anderen Frauen in seinem Leben. Keine Frauen mit eleganten, schlanken und voll funktionstüchtigen Beinen, ob nun Melina oder sonst wer; Frauen, die mit Fug und Recht sexuelles Interesse erwarten und für die man ruhig ein paar Kilo abnehmen kann. Frauen, die aufstehen und auf dem Absatz kehrtmachen können, so wie sie es jetzt tut, die durch das Zimmer gehen, um die Bücher im Regal zu betrachten, als wollten sie bei ihm einziehen und überlegten nun, wohin ihre Sachen passen. Kann man vor Eifersucht sterben? Es fühlt sich jedenfalls so an.
Ich will gerade den Motor anlassen und verschwinden. Doch es geht nicht, denn der Physiker ist aufgesprungen und kommt ans Fenster.
Ich ducke mich, in panischer Angst, dass er mich entdecken könnte. Es ist unbequem. Mein Herz hämmert. Ich bin würdelos gekrümmt wie eine Büroklammer und habe Atemprobleme. Das ist doch absurd. Ich koche innerlich. Meine Brust ist ganz eng, meine obere Wirbelsäule tut weh, und ich zittere noch immer. Ich zwinge mich, tief neben dem Lenkrad zu verharren. Das Blut steigt mir in den Kopf. Meine Hände, mein Mund und meine Brüste |199|reichen ihm nicht, so lebendig sie auch sein mögen, so empfänglich, sosehr sie auch nach seiner Berührung gieren. Denn wenn der Physiker und ich miteinander schlafen, bin ich unterhalb der Taille leblos wie eine aufblasbare Puppe. Nichts wird daran etwas ändern. Niemals.
Als ich wieder auftauche, finde ich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt und verspüre eine beinahe krankhafte Erleichterung.
Jetzt bin ich frei und kann nach Hause fahren. Der Physiker hat genau das getan, was Paare tun, wenn sie für sich sein wollen.
Er hat die Jalousien geschlossen und die Welt ausgesperrt.