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Es schien, als hätte Conti bereits gerufen, noch bevor Fortnum Gelegenheit gefunden hatte, anzuklopfen. «Herein!»

Der Kameramann trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. Conti war auf der anderen Seite des großen Raums, in seinem improvisierten Theater, versenkt in ein Video auf dem riesigen Bildschirm. Das Bild war verwackelt und verkratzt, doch die Szene dennoch sofort erkennbar: die Hindenburg, lichterloh in Flammen am Boden der Lakehurst Naval Air Station.

«Ah, Allan», sagte der Regisseur. «Setzen Sie sich doch.»

Fortnum kam herbei und setzte sich in einen der bequemen Polstersessel vor dem Bildschirm. «Wie geht es Ken?»

Conti legte die Fingerspitzen zusammen. Er starrte unverwandt auf den Bildschirm. «Ich bin sicher, es geht ihm bald wieder gut.»

«Das ist nicht das, was ich gehört habe. Er soll den Verstand verloren haben.»

«Vorübergehend. Er hat einen üblen Schock erlitten. Das ist es auch, worüber ich mit Ihnen reden wollte.» Conti löste sich für einen Moment von dem alten Wochenschau-Bericht und blickte Fortnum an. «Wie kommen Sie voran?»

Fortnum hatte angenommen, dass Conti mit ihm über Toussaint reden wollte. Stattdessen hatte er nun den Eindruck, als wollte der Boss über die Arbeit reden. Er sagte sich, dass das vermutlich normal war: Bei so mächtigen Regisseuren wie Conti kam die Arbeit stets an erster Stelle. «Ich habe ein halbes Dutzend guter Reaktionen auf die Nachricht von Peters’ Tod eingefangen. Ich bin gerade dabei, sie zu rendern.»

«Sehr gut, sehr gut. Das ist ein ausgezeichneter Anfang.»

Anfang? Fortnum hatte eigentlich geglaubt, «Making of»-Aufnahmen gedreht zu haben, die ziemlich geschmacklosen finalen Einstellungen für eine Dokumentation über eine Dokumentation – eine Studie über ein Projekt, das auf tragische Weise gescheitert war.

Das Bild auf dem Schirm wurde schwarz. Conti nahm eine Fernbedienung zur Hand, drückte eine Taste, und die Wochenschau begann von vorn: Die Hindenburg glitt feierlich zu ihrem Landemast, eine gigantische silberne Zigarre über den weiten Wiesen von New Jersey. Plötzlich schossen Flammen aus der Unterseite. Dunkle Rauchwolken stiegen himmelwärts. Der Zeppelin wurde langsamer, hing noch für einen schrecklichen Moment in der Luft, dann stürzte er dem Boden entgegen, während Feuer seine Hülle fraß und das Gerippe Stück für Stück sichtbar machte.

Conti deutete auf den Bildschirm. «Sehen Sie sich das an. Die Bildeinstellung ist grauenvoll, die Bewegungen der Kamera sind abgehackt. Es ist überhaupt kein mise en scene zu erkennen – und doch sind es wahrscheinlich die unvergänglichsten Bilder, die je auf Zelluloid festgehalten wurden. Erscheint Ihnen das gerecht?»

«Ich glaube nicht, dass ich Ihnen folgen kann», gestand Fortnum.

Conti winkte. «Hier stehen wir, jahrein, jahraus, verfeinern unsere Technik, erschaffen immer subtilere, atemberaubendere Einstellungen, machen uns endlose Gedanken über die Beleuchtung und Einschübe und Rahmenhandlung. Und mit welchem Erfolg? Irgendjemand mit einer Boxkamera ist zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort – und filmt in fünf Minuten etwas, das berühmter wird, als all unsere sorgfältig orchestrierten stundenlangen Filme zusammengenommen.»

Fortnum zuckte die Schultern. «So ist das eben.»

«Nicht unbedingt.» Conti fingerte an der Fernbedienung herum.

«Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.»

«Es ist einfach so, dass das Schicksal dieses eine Mal vielleicht jemanden mit den richtigen Fähigkeiten und dem richtigen Werkzeug zur rechten Zeit an den rechten Ort versetzt hat.»

Fortnum runzelte die Stirn. «Sie reden von diesem Ding, das Josh Peters zerfetzt hat. Diesem Ding, von dem Ken ständig fabuliert.»

Conti nickte langsam.

«Sie glauben diese Geschichte also? Sie denken nicht mehr, dass es Sabotage war?»

«Sagen wir, ich halte mir meine Optionen offen. Und wenn sich hier eine Gelegenheit ergeben sollte, so bin ich fest entschlossen, sie zu ergreifen. Wir wären Dummköpfe, würden wir das nicht tun.»

Fortnum verschlug es die Sprache. Er redet doch wohl nicht von … Nein. Natürlich nicht. Nicht einmal Conti ist kaltblütig genug für so etwas …

Der Film endete, und Conti drückte auf seine Fernbedienung und startete ihn ein weiteres Mal. «James, lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Warum, glauben Sie, ist der Film über die Hindenburg so berühmt?»

Fortnum dachte nach. «Es war eine gewaltige Tragödie. So etwas bekommt man nicht oft zu sehen.»

«Ganz genau. Und Sie benutzen die richtigen Worte: So etwas bekommt man nicht oft zu sehen. Hat irgendjemand das Valentinstag-Massaker 1929 in Chicago gefilmt? Nein. Den Brand der Triangle Shirtwaist Fabrik in New York im Jahr 1911? Nein. Hätte es jemand getan, wäre sein Film heute eine genauso berühmte Ikone wie der Hindenburg-Film? Sehr wahrscheinlich.» Conti drehte sich zu Fortnum um, und Fortnum bemerkte mit wachsender Bestürzung, dass seine Augen vor Aufregung leuchteten. «Die wahre Tragödie ist, dass die wenigen Filme, die wir von solchen Katastrophen besitzen, ungeschliffen und primitiv sind. Wir haben diesmal eine Chance, daran etwas zu ändern. Verstehen Sie jetzt, was ich mit Gelegenheit meine?»

Fortnum traute seinen Ohren nicht. Seine schlimmsten Befürchtungen, was Contis Beweggründe und Absichten anging, erwiesen sich als wahr. «Sie erwarten also von mir, dass ich dieses Ding – was auch immer es sein mag – dabei filme, wie es jemanden tötet? Ist es das? Ich soll filmen, wie jemand umgebracht wird?»

Anstatt direkt zu antworten, drehte sich Conti wieder zu dem Bildschirm um. «Wissen Sie, welche Videos auf You Tube die beliebtesten sind? Angriffe von Tieren auf Menschen. Wissen Sie, welche Dokumentation im vergangenen Jahr die besten Nielsen-Werte erhielt? Wenn Haie angreifen. Menschen sind erfüllt von dem primitiven Drang, anderen beim Sterben zuzusehen. Ich kann es nicht erklären. Vielleicht ist es irgendeine reflexartige Form von Schadenfreude. Vielleicht ist es ein primitiver Instinkt, der in unseren Amygdalae sitzt. Aber wir haben eine Chance, dabei zu sein, eine Chance, die Filmemacher nur selten erhalten. Wir sind in einem Moment echter Krise zugegen. Ist es das, weswegen wir hergekommen sind? Nein. Haben wir es so geplant? Gewiss nicht. Aber wir sind es uns selbst schuldig – dem Sender – der Nachwelt –, es zu dokumentieren.»

Fortnum erhob sich. «Sie verlangen also nicht nur, dass ich mich selbst einem extremen Risiko aussetze, sondern auch, dass ich filme, wie diese Kreatur unsere eigenen Leute zerfleischt. Dass ich dabeistehe und filme, anstatt alles in meinen Kräften Stehende zu tun, um Leben zu retten.»

«Wer weiß? Vielleicht gibt es keine weiteren Angriffe mehr. Vielleicht gibt es diese Kreatur ja gar nicht. Vielleicht zieht der Sturm vorzeitig ab, und wir sind morgen schon hier raus. Aber wir müssen vorbereitet sein, James – für den Fall der Fälle

Fortnum spürte, wie Schock und Unglaube wichen und Ärger von ihm Besitz ergriff. «Wieso wurde Ken Toussaints Kamera im Krankenrevier gefunden, keine zehn Meter von der Stelle entfernt, wo Josh Peters’ Leichnam gelegen hat? Das war der Auftrag, den Sie ihm in der Eingangshalle gegeben haben, nicht wahr? Joshs zerrissenen Leichnam zu filmen.»

«Eine Schande, dass die Videoaufzeichnung zerstört wurde.» Contis Blick ging wieder zum Bildschirm, wo das riesige Luftschiff einmal mehr langsam und eigenartig feierlich zu Boden sank, eingehüllt in Rauch und Flammen. «Primitiv», murmelte er. «Amateurhaft. Aber nicht dieses Mal. Dieses Mal werde ich die Gelegenheit nutzen und diese Dokumentation – diese Autobiographie, diese sich entfaltende Tragödie auf Film bannen. Eine Krise, so unvergesslich wie die Hindenburg… doch diesmal wird der Film ein Kunstwerk sein.»

Fortnum versteifte sich. «Peters’ Tod für Betroffenheitsszenen auszunutzen war schlimm genug … aber das hier? Ich will damit nichts zu tun haben. Und ich denke, Sie sind ein Monster. Allein dafür, dass Sie es wagen, so etwas Widerwärtiges vorzuschlagen!»

Es dauerte einen Moment, bis sich Conti vom Bildschirm losgerissen hatte. Er sah Fortnum an. «Sie arbeiten für mich», sagte er. «Wenn Sie nicht das Zeug haben, um zu tun, was in dieser Situation getan werden muss, dann sind Sie nicht als Dokumentarfilmer geeignet. Ich werde dafür sorgen, dass Sie in diesem Geschäft erledigt sind.»

«Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der eine oder andere von uns längst erledigt ist. Er weiß es nur noch nicht», entgegnete Fortnum. Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und stürmte aus Contis Quartier.