8. Kapitel
Am darauf folgenden Abend lag ich zusammengerollt in meinem kleinen schmalen Bett. Ich war so dünn, dass meine Rippen neuerdings hervorstanden, und ständig fror ich. Ich war am Telefon, und unten stritten sich meine Eltern über eine Bratpfanne. Die Bratpfanne selbst war bisher noch nicht ins Spiel gebracht worden, aber ich hatte den schrecklichen Verdacht, dass es nur noch eine Frage der Zeit war.
»Tashy, wir müssen -«
»Ich weiß. Keine Sorge.«
»Was?«
»Ich habe bereits mit John Clelland gesprochen. Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben einen Mann gehört, der derart in Panik war.«
»Er hat dich wegen mir angerufen?«
»Nein, er hat die Ghostbusters angerufen. Ja, natürlich hat er mich angerufen. Oder vielmehr meine Mum, und hat bei ihr eine ziemlich konfuse Nachricht hinterlassen. Er dachte, er sei dabei durchzudrehen.«
»Wow. Er hat sich an mich erinnert.«
Ich glaube, Clelland erst wieder zu treffen und dann für alle Zeiten von seinem Memory-Chip gelöscht worden zu sein, hätte ich nicht ertragen.
»Nach dieser langen Zeit. Weißt du, wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen. Wir treffen uns erst bei deiner Hochzeit wieder. Und trotzdem hat er mich erkannt! Wahnsinn!«
»Ja, ja, meine Hochzeit, die Hochzeit, bla bla bla. Egal, er hat angerufen. Als Justin ihm gesagt hat, wie du heißt, hat er angeblich angefangen zusammenhangloses Zeug zu brabbeln. Er hat sich gefragt, ob du kürzlich verstorben bist.
Weißt du was, inzwischen bin ich ziemlich gut darin, diese Geschichte ganz nonchalant zu erklären.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er hat angedeutet, wir beide sollten uns wohl besser was verschreiben lassen. Und er will dich sehen.«
Mein Herz machte einen Satz. »Ich könnte ... Ahm, vielleicht sollte ich zu ihm gehen und ihm die Sache erklären.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Die Sache erklären?« Tashy klang misstrauisch. »Und dazu trägst du dann ein Britney-Spears-Top, in dem dein superflacher Bauch perfekt zur Geltung kommt?«
»Kommt ganz darauf an - wenn es die Situation erfordert.«
»Flora.«
»Mhm?«
»Es gibt da wirklich jemanden, mit dem du dringend reden solltest, und das ist nicht John Clelland.«
Ich wusste es. Es war dumm, dumm, dumm. Ich befand mich in einer vollkommen absurden Situation, und eine seit hundert Jahren verflossene Liebe anzuschmachten war dabei keine große Hilfe.
»Ich weiß«, sagte ich.
»Ruf ihn an. Klärt das. Und dann entscheidet ihr, was ihr tun wollt. Und dann musst du versuchen, dein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Und alles wieder in Ordnung zu bringen. Und dann musst du dich darum kümmern, dass bei meiner Hochzeit alles gut geht. Und dann, aber erst dann, darfst du dir Gedanken über John Clelland machen.«
Das laute Poltern einer Bratpfanne, die gegen eine Wand prallte, drang nach oben.
Vorsichtig schlich ich mich nach unten. Ich musste den Festnetzanschluss benutzen. Ständig mit dem Handy zu telefonieren konnte ich mir auf Dauer nicht leisten. Meine Eltern ließen augenblicklich voneinander ab, und dann machten sie so ein grässliches Gesicht, als freuten sie sich, mich zu sehen. Wahrlich kein schöner Anblick.
»Willst du dich nicht langsam fertig machen?«, fragte meine Mutter. »Ich dachte, du wärst schon ganz aufgeregt.«
»Warum denn aufgeregt?«, fragte ich zurück.
»Ach, ihr Teenager!«, rief meine Mutter, während wir alle eine große, verbeulte Bratpfanne mitten auf dem Küchenboden geflissentlich ignorierten. »Ha ha.«
Es läutete an der Haustür. Meine Mutter machte auf, und hereingefegt kam Constanzia, ein Wirbelwind aus schwarzen Löckchen, mit einem winzigen zerfetzten Spitzen-Netz-Top-Dings.
»Hat deine Mutter dich etwa so aus dem Haus gelassen?«, erkundigte sich meine Mum.
»Nein, Mrs. S.« Stanzi hielt ihre Tasche hoch. »Da ist eine Strickjacke drin. Die hatte ich an, als ich gegangen bin.«
»Na, die wirst du auch brauchen. In dem Ding holst du dir ja den Tod.«
Stanzi starrte mich entgeistert an. »Noch nicht fertig? Was willst du? Einen weiße Garderobe mit Lilien, wie Jennifer Lopez?«
»Ja«, erwiderte ich, um ein bisschen Zeit zu gewinnen. Ich tappte total im Dunkeln. Wovon um Himmels willen redete sie da? Ich musste schon an so vieles denken. Gott, ich musste mich mit Olly treffen. »Komm doch mit und hilf mir beim Umziehen!«
»Aber wir müssen ganz früh da sein! Damit wir ganz nach vorne kommen!« Stanzis Gesicht war Fleisch gewordene Frustration.
»Ich weiß. Ich beeil mich, versprochen!«
»Mrs. S, können Sie ihr ein bisschen Dampf machen?«
»Ich habe gedacht, die Aussicht, dass Darvel euch erwartet, würde genügen, ihr Beine zu machen.«
»Darius, Mrs. S«, korrigierte Stanzi sie mit tadelndem Blick. »Das ist ein persischer Name. Er stammt aus einer langen Ahnenreihe von Königen. Und Ärzten. Eine sehr gute Kombination.«
»Wir gehen zu Darius?«, rief ich, ehe ich mich bremsen konnte.
»Ahm, jaha«, sagte Stanzi. »Ich dachte schon für einen Moment, du hättest es vergessen.«
Ich wurde in Stanzis Welt gezogen und ließ mich davontragen. Augenblicklich war Musikhören einfacher als an irgendwas zu denken.
Ich hatte ganz vergessen, wie es bei richtigen Konzerten abging. Ein Konzert hieß für mich irgendwo gemütlich zu sitzen und mir, sagen wir mal, melodischen Folkrock anzuhören. Man kommt zu spät, verpasst die Vorgruppe, besorgt sich einen Gin Tonic und lehnt sich gemütlich zurück, in Erwartung leichter, ohrenfreundlicher Unterhaltung, und versucht sich von seinem Freund, der ständig knapp neben dem Takt mit dem Fuß tappt, nicht den ganzen Abend versauen zu lassen.
So was ist kein richtiges Konzert. Kein Gig jedenfalls. Das hier war ein Gig. Ich hatte mir ein Sophie Ellis Bextor-mäßiges Make-up ins Gesicht gekleistert (»Mann, du hast es echt gelernt, dich zu schminken«, hatte Stanzi bewundernd angemerkt) und trug einen Push-up-BH (meine Brüste waren immer noch quasi nicht existent) und ein knappes pinkfarbenes Trägertop mit einem V-Ausschnitt, der aussah, als habe ein wütender Tiger ihn mit den Krallen hineingeschlitzt, und dazu einen kurzen Jeansmini. Ich drehte mich vor dem Spiegel. Ich sah aus wie mein Traum-Ich. Besser konnte ich gar nicht aussehen. Da fragte man sich doch, warum in meinem Tagebuch nur Klagen und Gejammer standen.
»Du findest dich wohl toll, was?«, fragte Stanzi.
»Jawoll«, antwortete ich.
»Du hast vor, Darius abzuschleppen?«
»Der kriegt von mir eine Abfuhr.«
Wir mussten beide kichern.
»Seid ihr beiden liebreizenden Ladys jetzt fertig?«, rief mein Dad von unten. »Ich habe hier nämlich einen gewissen Popstar an der Strippe, der dauernd anruft und mich anfleht, ihr sollt zu seinem Konzert kommen.«
»Das ist kein Konzert, Mr. S«, erklärte Stanzi und machte die Tür auf. »Es ist ein Gig.«
Mein Vater lachte. »Der bewegt doch bloß die Lippen, oder? Ist doch nicht mal ´ne richtige Show. Vielleicht solltet ihr einfach zu Hause bleiben und euch das Video ansehen.«
Stanzi war auf einmal knallrot im Gesicht. »Das ist nicht wahr. Darius singt und schreibt all seine Songs selbst. Und wir werden immer seine Fans sein.«
»Er will dich doch bloß aufziehen«, sagte ich beschwichtigend und gab ihr einen Klaps auf die Schulter. »Und es ist doch auch völlig egal. Solange wir ihn gut finden, kann uns alles andere doch schnuppe sein.«
»Lieber Gott, Joyce, unsere Flora hat gerade was Vernünftiges gesagt.« Er guckte meine Mutter mit seinem »Komm, wir vertragen uns wieder«-Gesicht an und kratzte sich verlegen am Kopf, was ziemlich komisch aussah. Meine Mutter blickte durch ihn hindurch, als sei er Luft. Ich hätte sie am liebsten angeschrien und gebrüllt: »Mum! Du hast keine Ahnung, was er tun wird!«
»Bitte, Joyce«, sagte er. »Können wir es einfach gut sein lassen? Bloß für heute? Die Mädels haben ihren großen Abend.«
Stanzi und ich schauten uns an und scharrten mit den Füßen.
»Ja, ihr beiden, lasst es doch einfach gut sein«, sagte ich.
»Okay, okay«, lenkte meine Mum ein. »Viel Spaß euch allen.«
»Aufhören, ihr alle!«, kommandierte Stanzi. »Wenn wir nicht auf der Stelle fahren, falle ich tot um!«
Sollte ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet haben, ich könnte ein bisschen underdressed wirken, so wurden diese Bedenken bei unserer Ankunft am Earls Court augenblicklich zerstreut. Drinnen drängelten sich schätzungsweise gut fünftausend Teenie-Schlampen. Ja, allem Anschein nach gehörten wir sogar zu den Ältesten. Viele waren mit ihren Eltern da, die kleinen Schwestern im Schlepptau, was dem Ganzen die seltsame Aura einer Monsterkinderkrippe verlieh. Flauschige rosa Plüschhaarreifen mit wackelnden Bommeln daran, mit denen man aussah wie ein kuscheliges Rieseninsekt, schienen wieder in zu sein.
Mein Vater ließ uns unauffällig am Haupteingang aus dem Auto, damit er nicht mit reinkommen musste und wir so tun konnten, als seien wir allein da. »Ich warte einfach auf euch«, sagte er und holte seine Abendzeitung hervor.
»Dad, das dauert garantiert Stunden. Fahr doch nach Hause und ... überrasche Mum und geh mit ihr irgendwo Fish and Chips essen oder so was!«
Er sah mich an. »Deine Mutter isst nie Pommes.«
»Aber sie liebt Pommes. Ehrlich wahr. Bitte, Dad. Fahr nach Hause.«
Er seufzte. »Na gut. Aber wenn sie sich über mich ärgert, gebe ich dir die ganze Schuld.«
»Wird sie schon nicht«, sagte ich und hoffte inständig, ich möge Recht haben.
»Okay. Ich hole euch nachher hier ab. Und hier ...« Er streckte die Hand aus. Darin waren ein Zehner und - himmlisch! - eine Prepaid-Karte für mein Handy.
»Ich warte hier draußen auf euch«, brummte er. »Seid vorsichtig. Und nehmt keine Drogen.«
»Darius sagt Nein zu Drogen«, verkündete Stanzi.
»Gut für ihn. Und ich will euch um Punkt halb elf hier wiedersehen.«
Rasch warf ich einen Blick auf meine Swatch. Es war sechs Uhr. Die Vorgruppen, von denen es anscheinend mindestens neunhundert gab, fingen um halb acht an zu spielen. Der große Künstler selbst würde wohl frühestens in drei Stunden auf die Bühne gehen. Herrje, bis dahin würde die Hälfte von uns tief und fest schlafen.
»Ist echt toll«, rief Stanzi.
»Nicht zu fassen, dass die Leute schon drei Stunden vorher Schlange stehen.«
»Du machst Witze, oder was? Ich wollte schon um vier hier sein, aber meine Mama hat mich nicht gelassen. Blöde Kuh.«
Wir gingen an einem der vielen Verkaufsstände vorbei, die Merchandising-Artikel in allen erdenklichen Farben, Formen und Größen verkauften. Stanzi war im siebten Himmel.
»Guck mal das hier!«
»Wer ist denn so bescheuert, 25 Pfund für ein T-Shirt zu bezahlen?«, fragte ich, die 16-jährige Ausgabe meiner Mutter, ohne nachzudenken. »Ach so. Du.«
»Ich arbeite samstags sehr hart«, erklärte Stanzi. Dann nahm sie eins der sackartigen, billig gemachten Shirts. »Aber - ich weiß nicht so genau. Meinst du, in einem riesengroßen T-Shirt gefalle ich ihm besser als in meinem Spitzen-Netz-Top von Zara?«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte ich. »Und es wird auch wesentlich schwieriger, einen auf cool zu machen, wenn du mit seinem Namen und seinem Gesicht auf der Brust herumläufst. Man könnte meinen, du seist leicht zu haben.«
»Weil ich sein Gesicht auf der Brust habe?«
»Ja.«
»Meiner großen, sackartigen T-Shirt-Brust?«
»Ja.«
Sie dachte kurz darüber nach und musste mir zustimmen.
»Komm«, sagte ich, als die Schlange sich im Infinitesimalbereich nach vorne bewegte. »Ich versuche mal, uns ein Bier zu besorgen.«
»Bier ist eklig.«
Ich dachte an meine Vorliebe für Süßes als Teenager zurück und wagte einen zweiten Versuch: »Dann eben einen Snowball.«
»Eher einen Wodka Red Bull.«
»Oh ja. Lecker.«
Aus der brüllend lauten Arena hörte man dumpfes Bassdröhnen.
»O mein Gott! Es fängt an!«, jaulte Stanzi und packte mich schmerzhaft fest am Arm.
»Das glaube ich nicht«, widersprach ich. »Das ist bloß Musik aus der Büchse. Die legen was auf, damit die Leute in Stimmung kommen.«
»Woher willst du das denn wissen, Klugscheißerin?«
Sie hatte Recht. Ich konnte genauso gut einfach mitspielen.
»Ich denke mir das alles bloß aus, damit ich möglichst clever wirke.«
»Tja, funktioniert aber leider nicht!«
Ich streckte ihr die Zunge raus und marschierte durch die Tür.
Wir kamen an zwei Mädchen vorbei, kleiner als wir, die billige Synthetik-Tops und passende Cowboyhüte a la Atomic Kitten trugen. Sie hatten ein großes Schild dabei, auf dem stand: »Darius - heirate uns!«
»Schlampen«, zischte Stanzi.
»Stanzi!«
»Sie sehen jedenfalls aus wie Schlampen.«
»Wir doch auch!«
»Gar nicht wahr. Wir sehen aus wie attraktive, erwachsene Frauen von Welt.«
Eins der Mädchen drehte sich um. »Was hast du gesagt?«
»Nichts«, entgegnete ich hastig.
»Mann, die sehen aus wie Schlampen«, lästerte das andere Mädchen mit Cowboyhut.
Ich grinste verlegen und ging weiter.
Stanzi hüpfte von einem Fuß auf den anderen und versuchte das Ende der Schlange zu sehen, die sich um mehrere Ecken wand und in der Ferne verschwand.
»Es sind einfach zu viele Leute hier! So kommen wir nie in die erste Reihe.«
»Wir sind größer als die meisten anderen. Wir kommen bestimmt ganz nach vorne. Wir hauen sie mit ihren eigenen Leuchtstäben.«
»Ja!«, rief Stanzi und sah aus, als meinte sie es ernst.
Das riesige Gewölbe des Earls Court wirkte gewaltig, vermutlich auch, weil wir alle so klein waren. Aber bei einem solchen Großereignis war ich seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen.
Die Luft war zum Schneiden, man konnte kaum atmen wegen des ganzen Haarsprays und irgendeinem anderen Zeug, das ich zunächst nicht eindeutig identifizieren konnte. Dann ... ja, da war es. Ich hatte nicht gewusst, dass sie es kein bisschen verändert hatten. Wenn es eins gab, was mir das Gefühl verlieh, wieder sechzehn zu sein, dann war das der Geruch von Impulse Deodorant. Ich atmete tief ein, schlagartig wie elektrisiert. Impulse, Quell exotischer Träume von vierzehn bis vierzehneinhalb, als mein Dad eingeschritten war und gesagt hatte, wenn ich nicht aufhörte, wie eine Haremsdame zu riechen, würde er mich nicht mehr zur Schule fahren.
»Lauter Stinker«, bemerkte Stanzi naserümpfend. »Guck dir die mal an. Was haben die gemacht, hier übernachtet?«
»Keine Sorge«, beruhigte ich sie. »Ich bringe uns schon nach vorne.«
Stanzi folgte mir stumm, als ich meinen oft trainierten, Sich-mit-hocherhobenem-Kopf-ganz-nach-vorne-an-dieBar-drängeln-Gang einschaltete. Sie sah mich plötzlich mit ganz anderen Augen an, als ich mich ohne einmal den Kopf zu drehen durch Massen angestunkener Noch-nicht-ganz-Teenies schob.
»Willst du dich einfach seitlich nach vorne mogeln?«, flüsterte Stanzi, die mir auf dem Fuß folgte.
»Klar«, erklärte ich und zupfte einem Mädel ihren Flitterschmuck aus den Haaren. »Der Trick dabei ist, man muss so tun, als hätte man es nicht mit Absicht getan. Oh, entschuldige ...«
»Au!«, hörte ich ein Mädchen hinter mir protestieren, die das Pech gehabt hatte, Stanzi im Weg zu stehen.
»Da wären wir!« Endlich waren wir in der ersten Reihe ganz vorne, allerdings ein bisschen seitlich. »Jetzt müssen wir nur noch durchhalten und nicht mehr aufs Klo gehen.«
»Können wir auf den Boden pinkeln?«
»Nein, wenn du ganz dringend musst, dann leihst du dir die Plastikhandtasche von einem der kleineren Mädchen aus.«
Sie kicherte, und ich sah mich um. Ich fühlte mich wie Richard Attenborough, als ich die straffe Haut und die kritischen Blicke der Mädels ringsum unter die Lupe nahm. Selbst die schwabbeligsten unter ihnen trugen bauchfreie Tops, was ich sehr begrüßte. Warum sollte die Mode nur den Britneys dieser Welt gehören, verdammt noch mal? Sie gehörte uns allen, ganz gleich wie viele Big Macs man auch in sich reinstopfte.
Keiner guckte uns schief an - tja, warum auch? Und als »Follow the leader, leader, leader« aus den Boxen dröhnte, kam es mir auf einmal wie das Normalste der Welt vor, mit siebentausend von den Farbstoffen in der Limo total aufgeputschten Mädchen erst nach rechts und dann nach links zu hüpfen.
Ich versuchte, mit dem Zehner von meinem Vater zwei Smirnoff Ice zu kaufen, doch trotz meiner wohl geübten Aura der Nonchalance bekam hier niemand Alkohol ausgeschenkt, der nicht ein ganz bestimmtes Plastik-Bändchen am Handgelenk trug, an das man anscheinend nur mit einer gültigen Kreditkarte kam, also kaufte ich stattdessen die quietschbuntesten, mit den meisten Zusatzstoffen gepanschten Limos, die ich kriegen konnte, und dazu zwei gigantische Hotdogs, was den größten Teil meines Geldes verschlang. Erst hinterher kam mir in den Sinn, dass ich jetzt beinahe pleite war. Stanzi bestand allerdings darauf, mir ihre Hälfte bis auf den letzten Penny zurückzuzahlen, und mir fiel wieder ein, dass man das unter Teenies so machte.
Die Mädels hinter uns baten uns, ihnen die Plätze freizuhalten, weil sie zur Toilette mussten, und wir kicherten wie blöde beim Gedanken an diese fiesen Plumpsklos und daran, was passierte, wenn auf fünfzehn Dixie-Klos siebentausend Mädels kamen, die allesamt schwer mit den wunderlichen Launen der Pubertät zu kämpfen hatten.
Der Lärm war ohrenbetäubend, und es war völlig sinnlos, etwas anderes tun zu wollen als herumzuhüpfen, vor allem, als die wirklich anstrengende Space-Musik einsetzte.
Dann plötzlich wurden die Lichter gedimmt - es war fast komplett dunkel. Dann wurden wir ermahnt, hinauszugehen und irgendwelchen Mechandising-Kram zu kaufen, sonst... und dann gab es einen gewaltigen Trommelwirbel, die Lichter an der Bühne wurden langsam, ganz langsam heller, und plötzlich spazierte ein großer, schlaksiger Beinahe-Popstar auf die Bühne.
Das Geschrei war unbeschreiblich, ich hatte noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Na ja, vielleicht schon, ich kann mich bloß nicht daran erinnern, dass Howard Jones mal so beliebt gewesen wäre. Die Mädels hier hätten die globale Energiekrise lösen können, gäbe es nur eine Möglichkeit, 16 Millionen Dezibel rohe, ungezähmte Kreischkraft nutzbar zu machen.
»Yeah, yeah«, schrie ich.
»A aaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!«, kreischte Stanzi.
Es war ein großartiger Gig. Wir schrien, wir weinten, wir sahen zu, wie dutzende und aberdutzende Mädels von den Rettungskräften weggekarrt wurden, wir machten mit, als das Publikum in zwei Hälften aufgeteilt wurde, und setzten alles daran, dass unsere Hälfte gewann, wir kauften es ihm tatsächlich ab, als er sagte, das Londoner Publikum sei sein zweitliebstes (gleich nach dem schottischen, was wir gut verstehen konnten), wir buhten lauthals und ohne nachzudenken, als die Namen Gareth und Will fielen, wir brüllten »Heirate uns, Darius!«
Dann kam der Schmuse-Song. Die Beleuchtung wurde gedämpft, und er kniete sich hin und guckte sich betont langsam im Publikum um. Ein unüberhörbares »Ooohhh« ging durch die Reihen, als Kontrapunkt zu dem anhaltenden Kreischen.
»Heute Abend suche ich ein ganz besonders süßes Mädchen«, flüsterte er. Kitsch, wie er abgeschmackter nicht sein könnte, aber wir schluckten alles. Die Mädels renkten sich beinahe die Arme aus.
»Iiiiich! Iiiiich!«
»Vielleicht von dieser Seite?« Er ging auf die rechte Bühnenseite, ans entgegengesetzte Ende. »Oder aus der Mitte?«
»Aus der Mitte!«, schrien tausend piepsiger Stimmchen in gerechtem Zorn, hatten sie doch am längsten anstehen müssen.
»Oder von hier drüben?«, sagte er. Und da stand er auch schon direkt vor uns, nur ein paar Meter entfernt auf der anderen Seite der Absperrung.
Ich musste lachen, weil ich so glücklich war. »Hey!«, rief ich.
Er sah mich und lächelte zurück.
Dann winkte er mir, zu ihm auf die Bühne zu kommen.
Mir blieb die Spucke weg. Stanzi klammerte sich an meinen Arm, als ginge es um ihr Leben. Zwei muskelbepackte Ordner waren schon auf dem Weg zu mir.
»Danke«, formte ich mit den Lippen und zeigte dann auf Stanzi. »Die hier.«
Ich glaube, das war die selbstloseste Entscheidung meines Lebens.
Ich muss schon sagen, Stanzi da oben auf der Bühne zu sehen, als Objekt eines Schmachtfetzens von Liebeslied, war mit das Komischste, was ich je gesehen habe, und obwohl ich mich vorhin noch über die T-Shirt-Preise empört hatte, bereute ich es inzwischen fast, die Gelegenheit nicht selbst beim Schöpfe gepackt zu haben.
Auf der Bühne, umgeben von explodierenden Lichtern und stürmischem Beifall und Gejohle, hatte das kleine Energiebündel, das ich langsam zu kennen glaubte, sich in eine Schlenkerpuppe ohne Knochen verwandelt, die so alarmierend hin und her wankte, dass man sie festhalten musste, damit sie nicht vollends umkippte. Glücklicherweise ist Darius ein großer, starker Kerl, im Gegensatz zu den meisten anderen Popstars, so dass keine Gefahr bestand, komplett hintenüberzukippen. Sie starrte ihm in die Augen wie Mogli, der von Kaa hypnotisiert wird, und wiegte sich zu dem (sehr langsamen) Song, und sang mit heruntergeklapptem Unterkiefer stumm den Text mit, während die übrigen Zuschauer vorgaben weiterzujubeln (um Darius zu beweisen, wie nett sie waren), Stanzi aber insgeheim tausend verschiedene Tode sterben sehen wollten. Wusste der Kerl denn nicht, dass er ein dickes Mädchen aussuchen sollte, damit alle sich einbilden konnten, er hätte es bloß aus Mitleid gewählt und in Wahrheit viel lieber sie genommen? Aber das da war kein dickes Mädchen, haha, es war meine Freundin, und ich hätte es selbst sein können! Haha!
Während ich so dastand und im Takt mitwinkte (komischerweise kannte ich den gesamten Text), fiel mir plötzlich wieder ein, wie eifersüchtig ich damals auf Courtney Cox gewesen war, als die bei einem Bruce-Springsteen-Video herausgezogen wird, und ich fragte mich ein wenig wehmütig, ob ich wohl der einzige Mensch im Publikum war, der sich noch daran erinnern konnte. Nicht mal Darius konnte das noch wissen. Aber heute war ich ein anderer Mensch.
»Die ist doch Dreck«, sagte ein Mädchen mit Feenflügeln neben mir.
»Ja, ich wette, es tut ihm schon Leid«, erwiderte ihre Freundin. »Er denkt bestimmt: ›O nein, was hab ich mir denn da für einen hässlichen Besen ausgesuchte ‹«
»Ihr redet über meine Freundin«, sagte ich und bemühte mich, größer auszusehen als meine 1,52 Meter.
»Ehrlich?«, sagte die Erste rasch. »Kennt sie ihn denn? Könnt ihr uns backstage einschleusen?«
Das konnte ich erst mal nicht mit Gewissheit sagen, denn als das Lied vorbei war und Stanzi eine feste, schwitzige Umarmung und einen Kuss bekommen hatte, aus denen sie sich nur äußerst widerstrebend löste, wurde sie nicht zu mir in die Menge zurückgeschickt, vermutlich, damit sie nicht von den tobenden, blutrünstigen Teenie-Bestien in Stücke gerissen wurde. Sie schickten sie seitlich von der Bühne und schmuggelten sie wahrscheinlich zum Nebeneingang hinaus, und ich musste mir den Rest des Konzerts allein angucken.
Aber das war mir egal. Ja - mir ging gerade auf, wenn jemand aus der Schule uns hier gesehen hatte, dann könnten wir mit dieser Aktion sogar ein paar Pluspunkte sammeln. Ja, wir könnten endlich anfangen, ein paar Dinge grundlegend zu verändern. Wäre doch super! Wie alle anderen hüpfte ich bei »Colourblind« als Zugabe wild und aufgedreht herum.
Ich war den ganzen Abend sechzehn. Und es war toll!
Ich konnte mich kaum beruhigen - und ich glaubte auch nicht, dass Stanzi sich jemals wieder beruhigen würde. Von nun an würde Hyperventilation für uns zum Alltag gehören. Wir bekamen zwar keine Backstage-Ausweise, aber sie bekam ihr Darius-T-Shirt - kostenlos - und wurde vom Star höchstpersönlich geknuddelt und geknutscht, was wesentlich besser ist als Sex, wenn man ein jungfräulicher Teenager und in einen Popstar verschossen ist, und sie hopste herum wie ein Flummi, als Dad und ich sie am Nebeneingang fanden. Eine koffeinhaltige Cola beim Pizza-Express half auch nicht.
»Das ist Liebe«, sagte ich.
»Ich kann nichts essen«, verkündete Stanzi theatralisch. »Ich werde nie wieder was essen. Ich werde einfach vergehen und sterben für die Liebe, denn nichts in meinem Leben könnte jemals so herrlich sein wie der heutige Abend.«
»Kann ich dann deine Pizza-Brötchen haben?«
»Nein!«
Wir mussten sie zu Hause abliefern, als sie anfing, unzusammenhängendes, unverständliches Zeug zu plappern, und ich musste Dad eine Million Mal versichern, dass wir weder getrunken noch irgendwas genommen hatten, was wir nicht hätten nehmen sollen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich irgendwie seltsam. Es war die Abwesenheit totaler und absoluter Angst. Ja, ehrlich gesagt war ich beinahe ... fröhlich. Die Sonne schien, meine Schenkel waren schlank, Popstars liebten uns, was konnte da an einem Montag schon Schlimmes passieren? Nachdem ich meinem Dad einen Abschiedskuss auf die Wange gegeben hatte, hüpfte ich fast davon.
»Uff«, sagte er. »Ist ein Weilchen her, seit du das das letzte Mal gemacht hast.«
»Na, solange du ein braver Dad bist, kriegst du jeden Tag einen«, rief ich keck und freute mich über das überraschte Gesicht, das er machte, als ich leichtfüßig aus dem Auto sprang. Ich hatte beschlossen, von nun an alles ganz leicht zu nehmen. Wenn einer in unserer Familie nett war, dann wären die anderen Mitglieder vielleicht auch etwas weniger ätzend. Ich setzte zwar nicht allzu viel Hoffnung in meine Theorie, aber momentan war es das Einzige, woran ich mich klammern konnte. Ich hatte gedacht, die Fish-and-Chips-Idee könnte die Stimmung ein bisschen heben, aber das frostige Schweigen am Frühstückstisch war noch genauso schlimm wie vorher.
Dann fiel mir jemand auf, der am Schultor stand und auf mich wartete, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Er bot ein Bild des Jammers und versuchte, nicht allzu sehr aufzufallen. Olly.
Mist. Mist. Ich hätte ihn gestern Abend anrufen sollen. Wie hatte ich ihn bloß so lange schmoren lassen können? Ich fühlte mich schrecklich.
»Ol«, sagte ich. »Ol.«
»Ich fass es nicht, dass du mich zwingst, das zu tun, Flora«, empörte er sich, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.
»Kannst du nicht so tun, als seist du ein Vertretungslehrer oder so was?«, fragte ich unglücklich.
»Tja. Ich sehe bloß leider nicht aus, als sei ich einer Lumpensammlung entsprungen.«
»Hier können wir jedenfalls nicht stehen bleiben«, sagte ich. »Sonst kriege ich Ärger.«
»Mein Auto steht da drüben«, erwiderte er.
»Klar, ich steige gleich vor der Schule ins Auto eines unbekannten erwachsenen Mannes.«
»Ich wünschte wirklich, du hättest nicht ganz so viel Spaß bei der ganzen Sache«, murmelte Ol.
»Wobei? Wie ein jugendlicher Straftäter überwacht zu werden? Ich kann dir versichern, das macht mir wirklich keinen Spaß.« Ich winkte ihm, mir zu folgen, und dirigierte ihn in den heruntergekommenen kleinen Supermarkt, den es allem Anschein nach in der Nähe jeder Schule gab und der immer noch einzelne Zigaretten und Schokolade mit null Schokoladenanteil verkaufte.
Müde blickte er mich über die losen Süßigkeiten in der Auslage an.
»Ist es aus?«, fragte er steif. Ich weiß ja nicht, was ich erwartet hatte, aber Ol war ein sehr guter Anwalt. Ich schluckte heftig.
»Sag mir, was in einem Monat passiert«, verlangte er. »Bei der Hochzeit. Da muss doch was sein.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sag es mir.«
»Kann ich nicht.«
Ohnmächtig nahm er eine Hand voll Lutscher und legte sie gleich wieder zurück.
»Tja, vermutlich heißt das, es ist aus mit uns beiden.«
Die dicke alte Frau hinter der Theke, deren gesamtes Leben sich offensichtlich auf der Philosophie »Nichts fragen, nichts weitersagen« gründete, ließ sich dazu herab, den Blick von ihrem Klatschblatt zu heben.
»Ol«, sagte ich. »Olly, ich habe mich verändert.«
»Mein Gott«, stöhnte Olly und haute auf den nächstgelegenen Karton mit Chipstüten. »Ich fass es nicht, dass du mir mit diesen ollen Kamellen kommst.«
Die dicke alte Frau sah aus, als würde sie gleich die Polizei rufen.
Ich holte tief Luft. Das war‘s jetzt. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich mit jemandem Schluss machen, würde eine vierjährige Beziehung zerstören und eine ziemlich sichere Chance darauf, geheiratet zu werden, Kinder zu kriegen und das Leben, das ich mir ausgemalt und das ich früher einmal gewollt hatte, einfach wegschmeißen. Ich würde Olly das Herz brechen und seine und meine Träume mit einem Schlag zerschmettern. Und das alles in einer Schuluniform. Avril Lavigne war nichts gegen mich.
»Olly.«
»Wollen Sie was kaufen?«, bellte die dicke Frau.
Olly funkelte mich an.
»Ahm ... fliegende Untertassen?«, stammelte ich panisch.
Er schüttelte missbilligend den Kopf und legte eine Hand voll von dem Süßkram auf die Theke. Die Frau beäugte ihn misstrauisch und wartete mit verschränkten Armen, bis wir den Laden verlassen hatten, wobei ich mit Tränen in den Augen die Straße hoch und runter schaute, ob irgendjemand uns bemerkt hatte. Dann dachte ich, scheiß drauf. Das war nicht fair. Und ich ging zu Olly und nahm seinen Arm. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um an ihn ranzukommen.
»Es tut mir so Leid«, flüsterte ich ihm ins Ohr.
Mit einer Hand fasste er sich an den Kopf, und mit der anderen stieß er mich weg.
»O Gott, Flora.«
»Es ist unmöglich.«
»Du wirst doch nicht ewig so bleiben. Oder?«
»Wer weiß?«, erwiderte ich. »Ich habe kein Handbuch mitbekommen.«
»Na ja, vielleicht können wir ja weitersehen, wenn du wieder zurück bist.« Seine Stimme klang ein bisschen brüchig.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«
Er hielt mich mit ausgestrecktem Arm von sich fern. »Weißt du, ich habe mir ein paar Gedanken gemacht über -«
»Ich weiß«, unterbrach ich ihn.
Er wandte sich ab. »Ich wusste es«, knurrte er. »Ich wusste es. Darum hast du es gemacht, stimmt‘s? Das hat diese ganze beschissene Geschichte ins Rollen gebracht ... Verdammt noch mal!«
»Tut mir Leid.«
»Paarberatung? Nein. Mir sagen, was zum Teufel los ist? Nein, zu müde. Urlaub? Nein, ich glaube, ich nehme einfach die Vollkörperzeitreise.«
»Olly, vielleicht war ich einfach nicht so glücklich.«
»Wir waren recht glücklich.«
»Vielleicht hat mir das nicht ganz gereicht.«
Er starrte mich an. »Ich weiß, warum du wieder sechzehn geworden bist.«
»Weil ich immer sechzehn geblieben bin?«
»Weil... ja. Genau das wollte ich gerade sagen.«
Nun schwiegen wir beide und starrten betreten zu Boden.
»Ich habe sogar gedacht ...« Er hustete wie nach einer Fehlzündung. »Ich dachte, es wäre vielleicht ganz niedlich. Weißt du, wenn du 30 wärst, dann wäre ich 48. Und du würdest mich ›Opa‹ nennen und mit den Kindern spielen und überall rumdüsen, und wir könnten alles anders machen, und du müsstest nicht arbeiten, wenn du keine Lust hast. Du könntest töpfern oder zur Kunsthochschule gehen oder ...« Er verstummte und blinzelte heftig.
Ich schluckte einen Kloß im Hals herunter. »Tut mir Leid.«
»Tut es dir nicht«, sagte er und straffte die Schultern. »Ich glaube, du bist viel zu egoistisch, als dass dir irgendwas Leid täte. Du hast die ganze verdammte Welt verbogen, um deinen Willen zu bekommen, Flora. Jetzt kannst du es ganz allein genießen.«
Und damit drehte er sich um und ging, und sein Hahnentrittmantel flatterte in der plötzlich aufkommenden eisigen Brise.