7. Kapitel

Dafür, dass ich ein Teenager war, die ja angeblich kaum Verpflichtungen haben, von der Schule und ihrer Freizeitgestaltung mal abgesehen, konnte ich kaum fassen, wie müde ich war. Ich dachte, eigentlich müsse ich geradezu strotzen vor jugendlicher Energie, aber was ich dabei komplett vergessen hatte, war, dass Teenager noch mehr schlafen als Studenten, was eigentlich schier unglaublich ist. Zusätzlich verschärft wurde die Situation dadurch, dass ich das Gefühl nicht loswurde, in einem Theaterstück ohne Stichworte mitspielen zu müssen. Ich stand unter scharfer Bewachung meiner Eltern, und ständig steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt, was ich wohl als gutes Zeichen deuten sollte, denn beim letzten Mal hatten sie praktisch gar nicht mehr miteinander geredet.

Und dann erst die Schule. Wie habe ich das nur jemals alles hingekriegt?, wunderte ich mich. Ich hatte Englisch, Mathe, Chemie und Allgemeinkunde als Prüfungsfächer belegt. Schon wieder. Da lag nämlich der Hund begraben. Ich hatte es schon lange bereut - das mit der Buchhaltung, was sonst. Was ich mich immer gefragt habe: Was wäre gewesen, hätte ich, statt BWL zu studieren - staubtrocken, aber, wie mein Vater zu sagen pflegte, »Buchhalter werden ja immer gebraucht«, er hatte wohl schon vorausgesehen, wer bald gezwungenermaßen der Hauptverdiener in unserer kleinen Familie sein würde -, etwas gemacht, wozu ich wirklich Lust hatte - sagen wir mal Kunstgeschichte? Stundenlang in Bibliotheken sitzen und sich über Kunst unterhalten. Oh, vielleicht könnte ich aufs St. Andrews College gehen und mich an Prince William ranmachen. Oder vielleicht könnte ich sogar versuchen, bei den großen Jungs mitzuspielen, in Oxford oder Cambridge. Birmingham war natürlich auch okay, immer für einen Lacher gut. Aber es hatte nicht lange gedauert, bis ich festgestellt hatte, dass der Besuch einer dieser Snob-Unis einem wirklich alle Türen öffnet.

Am nächsten Tag zog ich in der Schule das erste Buch aus meiner Tasche. Ein Eselsohr markierte ein Kapitel mit der Überschrift »Reagenzien und Bedingungen für einstufige Konvertierungen«. Die ganze Seite war voller griechischer Buchstaben. Ich verstand nur Bahnhof. Und selbst wenn ich es lesen und noch mal lesen würde, war mir doch eins inzwischen glasklar geworden. Eine Sache gab es, die ich unter gar keinen Umständen mehr machen wollte, ganz gleich, welche verflixte Zukunft ich beim zweiten Anlauf auch haben mochte. Ich wollte auf gar keinen Fall Buchhalterin werden, darauf können Sie Gift nehmen.

Miss Syzlack lächelte freundlich, als ich eintrat. Mal ehrlich, wann ist eigentlich der Erlass ergangen, der Lehrern gestattete - nein, fast schon vorschrieb sich anzuziehen, als seien sie aus einem brennenden Oxfam-Laden gerannt und die Secondhand-Klamotten seien an ihrem Körper festgeschmolzen? Dann ging mir allerdings auf, dass man vor einer Horde 15-jähriger Jungs vielleicht gar nicht unbedingt sexy und verführerisch aussehen wollte.

»Hallo.«

»Hallo, Flora Jane«, begrüßte sie mich, freundlich lächelnd, aber ein wenig argwöhnisch.

»Darf ich mich setzen?«

»Na klar.«

Ich konnte mich beim besten Willen nicht an die Schuletikette erinnern.

»Es geht um meine Leistungskurse«, erklärte ich, »Ich glaube, ich habe mir die falschen ausgesucht.«

Sie konsultierte ihre Unterlagen. »Mathe, Englisch, Chemie. Damit kann man doch eigentlich alles machen, oder?«

»Genau darum geht es ja, ahm, Miss. Man kann mit allem alles machen, es sei denn, ich wollte Chemikerin werden. Und ich kann Ihnen versichern, diese Absicht habe ich ganz bestimmt nicht.«

»Ja, dein Chemielehrer ist da ganz deiner Meinung.«

»Sehen Sie! Ehrlich?«

Wir lehnten uns beide gleichzeitig zurück und guckten uns unverwandt an. Sie hielt das Schweigen nicht lange durch.

»An was hast du denn stattdessen gedacht?«

»Ich wollte Mathe gegen Geschichte tauschen und Chemie gegen Kunst«, verkündete ich großspurig, eine Entscheidung, die ich vor genau 14 Minuten getroffen hatte.

»Das ist aber ein ziemlich drastischer Kurswechsel. Was sagen denn deine Eltern dazu?«

»Äh-äm ... die wissen noch nichts davon. Aber die haben bestimmt nichts dagegen.«

»Hmm. Flora, du hast Kunst nicht mal als Grundkurs belegt. Und wenn man nach dem Gekritzel in deinem Englischheft geht, dann würde ich sagen, du solltest diese Richtung lieber nicht einschlagen.«

»Ich will an der Uni Kunstgeschichte studieren«, sprudelte es aus mir heraus. »Ich will nicht irgendwann damit enden ... BWL in Birmingham zu studieren oder so was in der Art. Ich will zur Kunsthochschule oder zur London Film School. Oder nach Notre Dame. Oder nach Harvard. Oder zum St. Martin‘s College of Art and Design.« Ich sagte das mit dem Brustton der Überzeugung einer beruflich erfolgreichen erwachsenen Frau, aber sobald die Worte meinen Mund verließen, klangen sie wie wirres Gebrabbel und ich wie die Karikatur eines Teenagers, dessen Hormone total verrückt spielten.

Miss Syzlack lachte. »Okay, okay. Beruhige dich. Ich denke, wir machen hier gerade eine Phase durch, oder wie siehst du das?«

»Das ist doch keine Phase!«

Lieber Gott, ich könnte auch Amok laufen, und sie würden mir immer noch sagen, es sei »bloß eine Phase«.

»Genau das sagen alle Leute, die gerade eine Phase durchmachen.«

»Kann ich jetzt meine Leistungskurse wechseln? Ich komme sonst zu spät zur nächsten Stunde«, sagte ich.

»Sieh mal«, erwiderte Miss Syzlack. »Deine Leistungskurse zu wechseln ist kein Pappenstil. Das ist eine weitreichende Entscheidung.«

»Ist es nicht!«, protestierte ich. »Welche Leistungskurse haben Sie damals belegt? Ich wette, Sie können sich kaum noch daran erinnern. Ich wette, an der Uni haben Sie keinen Gedanken mehr daran verschwendet.«

»Hier geht es nicht um mich, Flora.« Sie kam hinter dem Schreibtisch hervor und hockte sich wieder auf die Tischkante. »Sieh mal, ich weiß, das Erwachsenwerden macht dir augenblicklich ganz schön Angst. Es ist alles so verwirrend. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, zwischen denen man sich entscheiden muss.«

Jaha.

»Jugendliche in deinem Alter - ich meine, ihr steht unter enormem Druck: Ich müsst richtig aussehen, die richtigen Entscheidungen fällen, die richtigen Kurse belegen, die coolsten Freunde haben ... aber es wird nicht halb so schlimm, wie du denkst, Ehrenwort.«

»Ich weiß!«, rief ich. »Deshalb will ich ja auch unbedingt etwas tun, was mir Spaß macht.«

»Ich weiß, viele Leute wollen was Kreatives machen«, seufzte sie. »Ich wollte immer Fotografin werden.« Sie lächelte und wirkte ein bisschen verlegen. »Aber das Leben läuft nicht immer so, wie man sich das vorstellt.«

»Na ja, aber es hilft bestimmt nicht, wenn ich Chemie belege«, entgegnete ich. »Sehen Sie mal, Miss, ich weiß, dass ich damit Recht habe. Und wenn doch alles schief geht, dann kann ich immer noch in den Staatsdienst gehen oder so was in der Art. Letzten Endes ist es dann ganz egal. Für einen BWL-Abschluss ist es nie zu spät. Aber jetzt gerade ist es für mich ein himmelweiter Unterschied. Zumindest werde ich nicht ewig bereuen, es nicht wenigstens versucht zu haben.«

Sie sah mich an.

»Ich bin sechzehn. Ich habe noch jahrelang Zeit, alle möglichen und unmöglichen Fehler zu machen. Es gibt massenweise dumme Sachen, die ich unter Garantie machen werde. Aber mir zwei Jahre Mathe und Chemie anzutun gehört ganz sicher nicht dazu.« (Und auch nicht, mit einem meiner Dozenten zu schlafen, ermahnte ich mich streng.)

Miss Syzlack schüttelte den Kopf. »Du musst den Stoff nachholen.«

»Glauben Sie mir, das kann ich.«

Sie kramte in den Ordnern auf ihrem Schreibtisch herum. »Also gut, hier ist das Formular. Deine Eltern müssen es unterschreiben.«

»Meine Eltern dürfen entscheiden, womit ich die nächsten zwei Jahre meines Lebens verbringe?«

»Zieh damit von mir aus vor den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Flora«, antwortete sie mit einem schiefen Lächeln. Dann schaute sie mich durchdringend an. »Geht es dir auch ganz bestimmt gut?«

»Mir geht ‚s gut!«

»Und du willst dich ganz sicher nicht mal mit unserer Schulpsychologin unterhalten?«

»Ehrlich, es geht mir gut. Mir ist bloß aufgegangen, dass ich nicht zwangsläufig drei Jahre BWL studieren und dann bei einer Finanzfirma einsteigen muss. Da muss es mir doch gut gehen, oder?«

Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. »Na dann, ab durch die Mitte.«

Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Stanzi war da draußen und wartete auf mich. Fallon stand ganz in der Nähe und redete offensichtlich über sie. Stanzi bemühte sich, unbeteiligt zu wirken.

»Wissen Sie was, die letzten beiden Schuljahre zu überstehen könnte unter Umständen das Schwerste sein, was ich je durchmachen muss«, sagte ich.

»Stell dir mal vor, wie es ist, wenn man immer hier bleibt«, seufzte Miss Syzlack. Dann wurde ihr klar, was sie da gerade gesagt hatte. »So. Raus! Korrekturen warten!«

Stanzi saß, so nonchalant sie eben konnte, draußen auf der niedrigen Mauer.

»Hey«, rief ich. Ich fühlte mich mies, weil ich diesen liebenswerten Menschen derart durcheinander gebracht hatte. Schließlich hatte Stanzi nicht darum gebeten, dass sich ihre beste Freundin über Nacht in eine 32-Jährige verwandelt. »Wie geht‘s?«

»Wenn wir Jungs wären«, Stanzi guckte philosophisch, »dann müssten wir uns mit niemandem zanken. Wenn die sauer aufeinander sind, kloppen sie sich, und am nächsten Tag spielen sie wieder zusammen Fußball.«

»Ich weiß«, stimmte ich ihr zu. »Warum, glaubst du, sind Männer emotional so zurückgeblieben? Nie wollen die was ausdiskutieren.«

»Oder jemanden in Grund und Boden zicken.«

Fallon schlenderte zu uns herüber. »Entschuldige, Stanzi, aber ich habe mich gerade gefragt - sind deine Schuhe von Prada oder Gucci? Ist auf die Entfernung schwer zu sagen.«

Verblüffend. An Stanzi gewandt sagte ich ohne nachzudenken: »O mein Gott. Ist die immer so? Ich meine, wirklich jeden Tag?«

Stanzi sah mich an, schockiert über meinen Ausbruch. Ihre großen Augen flehten mich wortlos an, meine große Klappe zu halten und die Situation nicht noch schlimmer zu machen, als sie ohnehin schon war.

»Über wen zum Geier redest du da?«

Fallon schaute mir direkt in die Augen. Sie hatte ein hübsches, herzförmiges Gesicht, was in der Schule zwar ganz nett ist, später aber oft ein wenig seltsam aussieht, ein bisschen wie eine Schleiereule. Der entschlossene Zug um den Mund verriet die Bereitschaft, keinem Streit aus dem Weg zu gehen.

Sie lachte boshaft. »Beinahe hätte ich es vergessen. Ethan hat mich gebeten, dir zu sagen, du sollst aufhören, ihn mit Gedichten zuzuschütten. Er findet sie nämlich zum Totlachen und liest sie immer all seinen Freunden vor, aber er möchte trotzdem, dass du aufhörst, ihn zu belästigen.«

»Gedichte!«, quietschte eine von Fallons ebenso teuer gekleideten, aber nicht ganz so hübschen Handlangerinnen. Sie kreischten alle vor Lachen, und ich spürte, wie meine Ohren anfingen zu brennen.

Ich hatte keine Ahnung, was ich in dieser Version meines Lebens angestellt hatte. Ganz sicher hatte ich in der letzten Zeit keine Gedichte verschickt, damals schon. An einen großen, dünnen Schwarzkittel, der auf Partys gerne Sartre las. Seither hatte ich mich nach Kräften bemüht, den Inhalt dieser Gedichte zu verdrängen, aber ich konnte ja mal einen Schuss ins Blaue wagen.

»Eins davon habe ich rein zufällig dabei.«

O nein. Nein nein nein nein.

»Ich habe ihm versprochen, es zu entsorgen.«

Dieses Weib hatte das Zeug zur Premierministerin.

Zwei andere Mädchen, an die ich mich vage von der Anwesenheitskontrolle erinnerte, kamen herüberspaziert.

»Harley! Paris! Kommt her und hört euch das an.«

Ich sage Ihnen, wäre ich in diesem Augenblick auch noch splitternackt gewesen, dieses Szenario hätte haargenau meinem schlimmsten Albtraum entsprochen.

Die Mädchen scharten sich um uns, und andere taten es ihnen nach. Schulkinder. Unglaublich. Schafe, allesamt Schafe.

»Mäh!«, blökte ich kaum hörbar.

»Wie bitte?«, sagte Fallon und nahm mich ins Visier. »Du möchtest, dass ich dein Gedicht vorlese?«

Schockiert hielt die ganze Meute den Atem an. Sie wussten, dass etwas Interessantes im Gange war.

»Also gut!« Sie drehte sich um und räusperte sich. »›Sei mein, Geliebter‹ von Flora Scurrison.«

Irgendjemand kicherte. Mein Flucht-oder-Kampf-Reflex versetzte meinen ganzen Körper in äußerste Alarmbereitschaft. Ich fühlte mich, als hätte ich Menstruationskrämpfe.

»Die Nächte sind mir öd und leer, Die Tage ertrag ich mit Müh‘ und Beschwer‘.«

Oh, verfluchte Scheiße. Das war ja noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Wenn ich Tashy das nächste Mal sah, würde ich ihr sagen, dass ich auf jeden Fall wieder 32 sein wollte, wenn ich auch nur den Hauch einer Chance hatte, die Dinge irgendwie zu beeinflussen. Keine Frage. Falten, Krähenfüße, verpasste Gelegenheiten - immer her damit! Alles war besser als das hier.

Fallon deklamierte das Gedicht mit waberndem Pathos in der Stimme, aber so langsam, dass auch wirklich niemand ein Wort verpasste. Im Geiste sprach sie vermutlich gerade für die Rolle der Lady Macbeth vor, mit Heath Leadger als Macbeth.

»Du gehst daher wie goldner Tau, Der legt sich über Wies und Au.«

O Gott, Teenager schreiben wirklich grauenhafte Gedichte. Stanzi stand starr vor Schreck da und zitterte am ganzen Leib.

Ich schloss die Augen und murmelte: »Ich wünschte, ich wäre ... ähm, 26«, aber nichts passierte.

»So bleib ich einsam denn, und frag, Wann endlich kommt der ersehnte Tag.«

Stecht mir einfach mitten ins Herz. Das Gelächter der anderen Mädchen war längst nicht mehr reine Beifallsbekundung für Fallon, sondern entsprang echter, tiefer Verlegenheit. Keine Frage, die meisten von ihnen hatten sicher etwas Ähnliches zu Hause unter ihrem Bett versteckt. Und, mal ehrlich, wäre jemand anders das Opfer gewesen, hätte ich vermutlich auch daneben gestanden und gelacht.

Plötzlich kapierte ich, warum Stanzi mich so fest kniff. Zwei Jungs kamen auf uns zu. Der eine, mit einem Gesicht so fremd und vertraut, als ginge man an einem Restaurant vorbei, und plötzlich riecht es wie daheim bei Muttern, war Justin. Neben ihm ein großer blonder Kerl, sehr hübsch, so griechischer-Gott-mäßig. Gemächlich kamen sie zu uns rüber.

»Wenn wir in Liebe uns vereinen ...«

»Uh, sie wollen sich vereinigen!«, grölte irgendein Witzbold. »Wusste gar nicht, dass er so gut im Bett ist.«

»Sie aber auch nicht!«, kreischte eine andere Stimme.

»Und nie mehr eine Träne weinen.«

Meine schlimmsten Befürchtungen sollten sich bewahrheiten, als jemand seinen Namen rief. »Ethan!«

»Mädels, Mädels«, sagte er und kam herüber. »Was ist denn hier los, ein Fan-Club-Treffen?«

»Ich fand bloß, ein gewisses Gedicht verdiente eine öffentliche Lesung«, erklärte Fallon mit gesenktem Kopf und seit Jahrhunderten patentiertem Schlampen-Augenaufschlag.

»O Gott, ja. Hast du das schon mitgekriegt?«, fragte er Justin.

Justin sah mich an und schloss aus meinem flammend roten Gesicht schnell, was los war. »Komm schon. Gib dich doch mit so einem Scheiß nicht ab«, sagte er zu Ethan.

»Nein, nein, ich will mir das anhören.«

Verblüfft hob ich den Kopf - ich hatte mich zwischenzeitlich aufs Zubodenstarren verlegt.

Ethan sah gut aus, echt, gar keine Frage, mit seinen blonden Haaren, der hohen Stirn und der stolzen Patriziernase.

»Ach, Ethan, du wirst es lieben«, flötete Fallon, deren Stimme gleich wie mit Weichspüler gewaschen klang. Den Kopf hatte sie zur Seite geneigt, und sie sah genauso bescheuert aus wie damals Prinzessin Diana, wenn sie das machte.

»Da kann ich kaum widerstehen«, sagte er.

Gewiss. Und vergessen wir eins nicht: Wir waren jung. Aber es sah ganz danach aus, als würden Fallon und alle anderen jungen Frauen dieser Welt mit dem lieben Ethan noch eine herbe Enttäuschung erleben.

Allmählich dämmerte mir, wie idiotisch es war, was ich mir da antat - dazustehen und mich vor der gesamten Schule zum Deppen machen zu lassen. Verzweifelt krallte ich mich an die letzten Überreste meines Erwachsenengehirns.

»Komm, Stanzi.«

»Ach, möchtest du nicht bleiben?«, fragte Ethan.

»Du könntest dich ja mal mit ihr verabreden«, warf Fallon ein.

»Nein, danke«, entgegnete Ethan.

Ich bin ein erwachsener Mensch. Das ist ein Kind. Ein ziemlich blödes, arrogantes Kind, meines Erachtens. Das ich vorher noch nie gesehen hatte. Wieso, um alles in der Welt, war mir das bloß so peinlich?

»Das ist echt so was von lahm«, sagte ich.

»Das ist echt so was von lahm«, echote Fallon. Aha, Nachplappern: die einfachste Art und Weise, jemandem den Nerv zu töten.

Endlich hatte ich meine Füße entwurzelt und stiefelte davon.

»Ich glaube, du hast ihr das Herz gebrochen«, hörte ich Fallons höhnische Stimme, während ich mit brennenden Wangen wegstolzierte. Fast hätte ich geheult.

»Das sind bloß die Hormone«, sagte ich mir. »Bloß die Teenagerhormone. Mit so was musst du dich nicht abgeben. Das hast du gar nicht nötig.«

Trotzdem schniefte ich auf der Toilette still und heimlich ein bisschen in mich hinein.

Ich war beinahe erleichtert, als ich zum Nachsitzen ins Klassenzimmer schlüpfte. Da saßen nämlich nicht lauter Leute aus meiner Klasse, die haarklein wussten, was in der Pause passiert war, und den ganzen Nachmittag getuschelt und mit dem Finger auf mich gezeigt hatten. Beim ersten Mal war es mir unbegreiflich gewesen, dass die Lehrer angeblich nichts von den brodelnden Konflikten und zermürbenden Kleinkriegen in ihren Klassenzimmern mitbekamen. Als Erwachsene hatten für mich auch alle Teenager gleich ausgesehen. Bis man mit ihnen auf gleicher Augenhöhe ist.

Ich setzte mich auf denselben Platz wie letztes Mal und fing an, mir etwas über das Thema des heutigen Tages aus den Fingern zu saugen: 500 Wörter unter der Überschrift »Warum Nachsitzen wirkt«. Justin kam zu spät, und ich warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu. Okay, ich geb‘s zu, ich habe mit voller Absicht nicht aufgeschaut, als er hereinkam.

Ich wollte nicht, dass er sich für mich interessierte, und noch weniger wollte ich von ihm bemitleidet werden. Das würde mich zu sehr an einen anderen jungen Mann erinnern, der zwar netter gewesen war als Ethan, dem die Gedichte aber vermutlich auch nicht besser gefallen hatten.

»Hey«, sagte er.

»Hey«, erwiderte ich und kritzelte aufgebracht weiter. »Nachsitzen kann nur im Vergleich mit der Methode, Kinderhaut wiederholt mit Weidenruten zu traktieren, als überlegen betrachtet werden.«

Er zuckte die Achseln. »Tut mir Leid wegen ... du weißt schon, wegen heute.«

»Mal ehrlich«, sagte ich, »was macht das schon, global betrachtet?«

»Gute Einstellung«, erwiderte er. »Ich weiß, dass unter euch Mädchen manchmal ganz schön raue Sitten herrschen.«

»Das gibt sich später«, erklärte ich. »Angeblich.«

»Echt? Hm.«

Ich beugte den Kopf wieder über mein Blatt und schrieb: »Außerdem kommt Nachsitzen auch im Vergleich zu Auspeitschen und stetigem, wiederholtem Fertigmachen ziemlich gut weg.« Ich fragte mich, ob Mr. Rolf mir das durchgehen lassen würde. Vermutlich nicht. Ich muss schon sagen, in einer Welt, in der man mit Bleistift schreibt, war zumindest gelegentlich mal ein kleines Späßchen drin. Ich radierte es weg.

»Weißt du, wegen Ethan solltest du dir keinen Kopf machen.«

Ich blickte wieder auf.

»Wie meinst du das?«

»Na ja ... du weißt schon, er hat eigentlich nie eine Freundin.«

»Justin, der Kerl ist stockschwul.«

»Miss Scurrison! Ruhe bitte.«

Justins Gesichtsausdruck war wirklich sehenswert. Ich hatte ganz vergessen, wie gedankenlos bigott und homophob Jungs in diesem Alter sind. Ihnen kommt alles total bekloppt vor, und Homosexualität erscheint ihnen zum Totlachen komisch und beängstigend zugleich. Sie taten mir fast Leid: Mit Penissen, die beim geringsten Anlass aufmucken, sei der nun weiblich oder männlich, kriegten sie Panik bei dem Gedanken, irgendwie aufzufallen. Gott, der arme Ethan. Vermutlich war ihm das Teenagersein noch verhasster als mir. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, weil er als Erwachsener sehr beliebt sein würde.

»Ist er nicht«, flüsterte Justin empört. »Er hat bloß keine Freundin.«

»Weil er die Männerwelt vorzieht«, dozierte ich im Tonfall einer Nachrichtensprecherin.

»Bloß weil er nicht auf dich steht, ist er also eine Schwuchtel?«

»Nun, teilweise ja, ganz klar. Nur abgemildert durch die unübersehbare Tatsache, dass er schwul ist. Du solltest deinem Freund nicht so in den Rücken fallen.«

Er starrte mich an, während ich schrieb: »Nachsitzen ist außerdem der Opferung von Teenagern an Inka-Gottheiten vorzuziehen, wie sie seinerzeit einmal in Südamerika gang und gäbe war.«

Er starrte mich immer noch an. Ich streckte ihm die Zunge raus.

»Du«, wisperte er schließlich, »bist überhaupt nicht so, wie ich gedacht hatte.«

»Erstaunlich«, entgegnete ich. »Person entpuppt sich nicht als bemitleidenswertes Opfer. Schockierend.«

Er lächelte.

»Clelland! Scurrison! Wollen Sie tatsächlich noch einen Tag länger bleiben?«

»Klar«, erwiderte Justin. Und dann zwinkerte er mir zu. Und zum ersten Mal seit meiner Ankunft war ich hochzufrieden.

Als wir aus dem Schulgebäude kamen, schlenderte Justin etwas unsicher herüber, um neben mir herzugehen. Es wurde langsam dunkel.

Auf einmal hörten wir: »Ey! Kurzer!«

Es war eine vertraute Stimme, und ich blieb wie angewurzelt stehen.

»Oh Mann, verflucht ...«, knurrte Justin. »Das ist mein Bruder. Er findet es unheimlich lustig, mich so zu nennen.«

»Dein Bruder holt dich ab? Hier?«

»Er ist aus Afrika zurückgekommen und lässt mich einfach nicht in Ruhe. Irgend so ein Verbrüderungsscheiß«, sagte Justin. »Da kommt er.« Eine allzu vertraute Gestalt erschien aus dem Dunkeln.

»Scheisse!«

Clelland blieb keine zwei Meter vor uns stehen, stocksteif, mit kalkweißem Gesicht, und starrte mich einfach nur an.

Es schien, als erkenne er mich, glaube aber, einen Geist gesehen zu haben.

»Hey, Spatzenhirn!«

Das kam von Justin. Staksig spazierte er rüber zu Clelland und boxte ihm gegen den Arm. Ich weiß noch, wie er als Baby immer hinter ihm hergewatschelt ist, und insgeheim verehrte Justin seinen großen Bruder wohl noch immer sehr.

Clelland starrte mich unentwegt an. Ich wich seinem Blick aus.

»Spasti«, sagte Justin, als Clelland immer noch keinen Ton herausbrachte.

»Tut mir Leid, ich ...« Clelland blinzelte und sah mich noch mal an. »Du siehst aus wie ...«

»Ich muss los«, unterbrach ich ihn. »Bye, Justin.« Und dann rannte ich los wie der Wind, mit wehender Krawatte und wild schlenkernder Schultasche, den ganzen Weg bis nach Hause.