6. Kapitel
Gott, war ich froh, dass es Tashy gab. Schlafen konnte ich nicht. Als ich die Titelmelodie der Spätnachrichten aus dem Wohnzimmer hörte, rollte ich mich im Bett zu einer kleinen Kugel zusammen, aber die ganze Nacht hindurch wachte ich immer wieder ruckartig auf, das bescheuerte Tagebuch fest umklammert. Ich hatte Tashy ganz früh im Morgengrauen eine SMS geschickt und mich ein Stück weiter die Straße hinunter mit ihr getroffen, nachdem ich mich in echter Teenagermanier aus dem Haus geschlichen hatte. Im Coop-Supermarkt würde ich einfach kündigen. Mum ging da sowieso nie hin. Die dachte, das sei der Supermarkt des kommunistischen Russland.
Tashy saß hinter dem Steuer ihres kleinen Audi. Sie zog die Augenbrauen hoch, als sie mich sah, und erst da ging mir auf, dass mein Ensemble aus Minirock und gestreiftem Pullover, das ich ohne langes Nachdenken aus dem Schrank gezerrt hatte, für einen Samstagmorgen vielleicht etwas zu schrill sein könnte.
»Was?«, fragte ich mürrisch, obwohl ich so erleichtert war, dass sie da war - ich hätte platzen können.
»Nichts«, sagte sie, als ich einstieg. »Du bist bloß so winzig. Lass mich mal kurz deine Oberarme anfassen.«
»Lass das.«
Mit einem Finger schob sie die Haut unter meinen Augen nach oben. »So, siehst du. So wirst du in sechzehn Jahren aussehen. Scheiße, du hast noch so viel Zeit.«
Während Tashy das Auto vom Bordstein wegmanövrierte, betrachtete ich mich im Autofenster. Sie hatte Recht: Da, wo nicht gerade Pickel sprossen, war meine Haut rosig wie ein reifer Pfirsich. Aber ich sah auch weniger aus wie ich selbst. Nur von meinem Aussehen konnte ich nicht beurteilen, was für ein Mensch ich war. Ein unbeschriebenes Blatt, ja klar. Mein Gesicht wirkte, als sei es noch nicht ganz fertig.
»Weißt du, seit Monaten esse ich nur noch gedämpften Fisch, und trotzdem sehe ich nicht halb so gut aus wie du.«
»Du siehst toll aus«, erwiderte ich, ein Reflex, der bei der besten Freundin völlig unwillkürlich einsetzt.
»Das will ich auch hoffen«, murmelte sie versonnen. »Wie sehe ich an meinem großen Tag aus?«
»Oh, über die eigene Zukunft darf niemand was erfahren«, wiegelte ich ab. »Das ist verboten.«
»Ist die Rede von Max wenigstens witzig?«
»Ja«, log ich. »Ahm, wie geht es Max denn?«
»Na ja.« Sie wirkte plötzlich ein wenig unbehaglich. »Ich habe gesagt: ›Du errätst nie, was Flo zugestoßen ist.‹«
»Mhm?«
Konzentriert starrte sie auf die Straße. »Tja ...«, sagte sie.
»Was?«
»Das ist echt ein Ding, Flo. Er hat noch nie was von dir gehört.«
»Er hat noch nie was?«
»Er hatte nicht die geringste Ahnung, von wem ich rede.«
Diese entsetzliche, erdrückende Angst war plötzlich wieder da.
»O Gott«, flüsterte ich. »O Gott. Ich existiere gar nicht. In dieser Welt, oder der alten Welt, oder der ... was geht hier vor, verflucht? Wer bin ich? Ich bin nicht... wie soll ich denn irgendetwas machen oder wieder zurückfinden oder ... ich bin niemand!« Ich fing an zu hyperventilieren.
Tashy packte mich fest am Arm. »Du existierst.«
»Aber ... nicht für Max, nicht für den beschissenen alten Karl Dean, nicht für Miss Syzlack, obwohl... na ja, nein, die kennt nur die andere Flora.«
»Ich bin mir sicher, dass es dafür eine völlig logische Erklärung gibt.«
»Sieh mich doch mal an!«
»Okay, vielleicht nicht unbedingt völlig logisch.«
Plötzlich musste ich schlucken. »O mein Gott. Und was ist mit Olly?«
»Ich hatte mich schon gefragt, wann der dir wieder in den Sinn kommen würde«, erwiderte Tashy leise. »Er ist bestimmt schon ganz krank vor Sorge.«
»Und, wo fahren wir jetzt hin?«
»Wirst schon sehen.«
»Hast du eine Alterungsmaschine erfunden?«
»Ja, ich nenne sie ›Interne Rechnungsprüfungen‹«
»Haha.«
Wir parkten in der Nähe des Stadtzentrums und gingen über den Piccadilly Circus, dann die Stufen hinunter und rüber in den wunderschönen St. James‘s Park. Es war ein herrlicher Herbstmorgen, kein Regen, aber ein leichter Nebel stieg aus dem See und kräuselte sich um die Bäume. Vom üblichen Kontingent der manischen Jogger mal abgesehen waren nicht viele Leute unterwegs.
»Komm, wir füttern die Enten«, sagte Tashy bedeutungsvoll und nahm ein bisschen Brot aus der Tasche.
»Ich bin sechzehn, nicht sechs.«
»Komm schon.«
»Du hast mir eine Falle gestellt und willst mich dem Geheimdienst ausliefern«, mutmaßte ich, plötzlich in Panik. »Du willst mich ans Militär verkaufen, nicht wahr, die dann alle möglichen Tests mit mir machen, um herauszufinden, wie sie mich als Waffe einsetzen können!«
»Ja, dazu hat man schließlich Freunde«, erwiderte Tashy.
»Wir sind in der Nähe von Whitehall! Experimente! Tu‘s nicht, Tash. Was, wenn ich von einer Kosmetikfirma gekidnappt werde?«
»Pst. Pst. Hör auf, dich so paranoid aufzuführen.«
»Ich habe jedes verdammte Recht, paranoid zu sein.«
»Muss an deinen Hormonen liegen.«
»Hormone, die sie mir mit einer gigantischen Spritze entnehmen werden! O Scheiße!«
Eine Gestalt löste sich aus den Bäumen. Es war Olly.
Drei Meter vor uns blieb er wie angewurzelt stehen.
»Heilige Scheiße«, stieß er hervor und starrte mich an wie das Kaninchen die Schlange.
»Er kennt mich!«, rief ich. Warum manche Leute mich erkannten und andere nicht, war mir absolut schleierhaft. Bis zu diesem Moment war mir gar nicht klar gewesen, was für fundamentale Existenzängste ich ausgestanden hatte, und nun waren meine Knie ganz zittrig vor Erleichterung und Dankbarkeit. »Du kennst mich!«
Tashy war bereits zu ihm rübergegangen und tätschelte seinen Arm.
»Tut mir Leid«, sagte Tashy. »Ich wusste nicht, wie ich dir das am Telefon erklären sollte.«
»Verständlich.« Olly klang heiser. »Was ... was?« Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich raff‘s nicht. Was?«
Ich starrte ihn an. Er wirkte müde und - herrje, ich gebe es nur ungern zu aber nachdem ich mich in den vergangenen zwei Tagen viel zu oft im Spiegel beguckt hatte, fand ich, dass er unheimlich alt aussah. Er sah ja aus wie mein Dad.
»Klar erinnert er sich an dich«, sagte Tashy zu mir, um das Schweigen zu durchbrechen. Olly zitterte. »Dein Telefonanschluss wurde anscheinend stillgelegt.«
»Ja, in der Anderswelt«, stöhnte ich.
»So, wie Tashy geklungen hat, dachte ich, du wärst schwanger«, sagte Olly ungläubig. Seine Stimme klang brüchig. »Oder dein Friseur hätte dir die Haare verschnitten und du wärst total traumatisiert. Was ist mit dir passiert?«
Er kam auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Ich sah ihm in die Augen. Er schüttelte den Kopf. »Sieh dich nur an«, murmelte er leise. Dann streckte er die Hand aus und betastete mich neugierig, als habe er es mit einem ganz besonders seltenen Exemplar in einem Labor zu tun.
»Na ja ...«, setzte ich an. Dann erzählte ich ihm alles und ließ nur die Sache mit meinen Bedenken ihm gegenüber und dem Zusammentreffen mit Clelland aus, es dauerte also nicht allzu lange.
Olly hörte aufmerksam zu und sagte die ganze Zeit keinen Pieps. Sein rationaler Anwaltsverstand war voll und ganz darauf konzentriert, alles zu verstehen, doch gelegentlich schüttelte Olly ungläubig den Kopf. Als ich fertig war, stand er lange wortlos da und starrte hinaus auf den See. Schließlich drehte er sich um und sah mir in die Augen. Nervös rieb ich mir die Arme.
»Du ... du hast dir ein anderes Leben gewünscht?«
»Oder mir mein altes zurückgewünscht.« Ich zuckte die Achseln.
Er ließ den Kopf hängen. »Wie unglücklich warst du denn mit mir?«
Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Ich sah ihm ins Gesicht und fühlte mich gotterbärmlich. Immerhin war es nicht mal mehr einen Monat hin, bis er vor mir auf die Knie fallen würde, und er musste zumindest schon mal darüber nachgedacht haben. Also tat ich das Beste, was mir unter den gegebenen Umständen einfiel. Ich log.
»Aber Liebling, sei doch nicht albern. Es ging doch gar nicht um dich. Ich habe bloß wild in der Gegend herumgeträumt, und dann passiert so was Verrücktes.« Ich versuchte unbeschwert zu klingen, als gäbe es keinerlei Probleme.
»Gott, ich kann dich nicht... du müsstest dich mal sehen, wenn du das sagst, wirklich. Weißt du, dass du lila Zeugs in den Haaren hast?«
Ich nickte.
»Egal, ich dachte, du hättest gesagt, du hättest deinen Wunsch laut ausgesprochen.«
»Wohl kaum. War mehr so ein Gedanke, der mir durch den Kopf gegangen ist...«
»Ein Glück, dass du nicht gerade an irgendwelche Riesenmonster gedacht hast«, warf Tashy ein.
»Nein, das war bei Ghostbusters«, sagte ich. »Ich glaube, das hier ist mehr wie bei Peggy Sue hat geheiratet.«
Olly konnte einfach nicht aufhören, mich anzustarren. »Und, hast du nebenbei auch noch einen Blick in die Zukunft geworfen?«
»Nein, ich habe bloß schon mal in ihr gelebt. Und das auch nur für einen Monat.«
Er runzelte die Stirn. »Weißt du noch, wie der Aktienmarkt schließt?«
»Ich weiß nicht mal mehr, wer die Nummer eins in den Charts ist. Ich hab‘s schon versucht.«
»Haben wir«, mischte Tashy sich ein. »Aber immerhin: Bei meiner Hochzeit ist schönes Wetter, und ich passe in mein Kleid. Oh, vielleicht könnte ich mir ja ein Stück Kuchen genehmigen.« Ich liebte sie dafür, dass sie versuchte, uns mit diesen kleinen Albernheiten aufzuheitern. Aber ich hasste, was ich nun sagen musste.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, bremste ich sie. »Ich bin jetzt hier. Das könnte alles verändern. Du kennst mich, aber Max kennt mich nicht, und meine Eltern sind ganz jung und komisch, und ich weiß nicht, was zum Teufel hier abgeht und was ich ändern kann und was nicht. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
»Oh.« Tashy wirkte geknickt. »Okay. Dann eben kein Kuchen.«
Olly kam zu mir und packte mich an den Schultern. »Mein Gott, du bist sogar kleiner geworden«, murmelte er traurig.
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber, wenn man es mal positiv betrachtet, sind meine Brüste weiter vom Boden entfernt.«
Er sah mich mit argwöhnischem Blick an. »Also, ähm, das ist echt ein Schock. Sollen wir ... sollen wir nach Hause fahren?«
»Ähm«, stammelte ich.
»O Gott.« Er machte einen Satz zurück. »Ist das überhaupt legal? Oder bin ich ein Pädophiler? Scheiße!«
»Darum geht es nicht«, sagte ich. Der arme Olly hatte Angst davor, versehentlich seine eigene Freundin anzufassen. Eine schöne Bescherung. »Und außerdem bin ich schon sechzehn.«
»Okay, gut.« Er dachte kurz nach. »Besser als gut, genau genommen.«
»Ich kann nicht«, erklärte ich. »Ich muss nach Hause zu meinen Eltern. Die drehen völlig durch, wenn ich die ganze Nacht wegbleibe.«
»Oh. Stimmt. Kannst du denen nicht erzählen, du würdest bei Tashy übernachten?«
»Erstaunlich, wie schnell manche Leute sich an ihre ausgebufftesten Teenie-Täuschungsmanöver erinnern. Aber davon mal abgesehen, nein, kann ich nicht. Tashy ist nämlich eine große, Furcht erregende erwachsene Frau, und außerdem habe ich Stubenarrest.«
»Ehrlich?« Er fing an zu lachen. »Du hast Stubenarrest. Das ist doch vollkommen bescheuert.«
»Das ist nicht komisch.«
»Ich weiß. Es ist bescheuert! Soll ich dir zum Trost ein Eis kaufen?«
»Bist du scharf auf mich, ich meine, mehr als früher?«, fragte ich. Irgendwie beschlich mich bei diesem Gedanken ein ungutes Gefühl.
»Olly«, befahl Tashy streng. »Diese Frage solltest du niemals beantworten.«
»Okay.« Olly war der Meinung, wir sollten uns aber trotzdem alle ein Eis gönnen. Eiscreme gehört für ihn zu den Grundnahrungsmitteln. Wir gingen hinter ihm her zu dem kleinen Eiswagen.
»Und ein Cadbury Flake für die junge Lady«, sagte er gerade.
Tashy sah mich an. »Ich finde, er hat das Ganze sehr gut aufgenommen.«
»Zu gut«, erwiderte ich. »Ich will doch nicht, dass er beim Anblick einer Zehnjährigen einen Steifen kriegt.«
»Ach, komm schon. Du guckst doch fern. Das Fernsehen konditioniert sie wie Hunde.«
»Hmmm«, sagte ich.
»Das mit Jamie Theakston habe ich nicht so gemeint. Du etwa?«
»Na ja, seine Neigung zu Kerkerfantasien ist etwas zu heftig für meinen unbefleckten Körper, aber ich würde keine der Boybands von vornherein ausschließen.«
»Mal im Ernst. Was ist, wenn du wieder zurückkommst?«
Ich sagte nichts.
Olly trat mit drei Cadbury-9 9-Eiscremehörnchen zu uns.
»So«, sagte er. »Wann kommst du wieder zurück?«
»Vorausgesetzt, ich will wieder zurück«, antwortete ich nachdenklich.
Und überraschte damit sogar mich selbst.
»Studienbeihilfen«, sagte Tashy ernst. Wir hatten uns ins Institute of Contemporary Art verzogen. »Pullis mit großen Löchern in den Ärmeln. Die ganze Woche mit einem Topf Chili überleben.«
»Abschlussprüfungen«, warf Olly ein.
»Die Führerscheinprüfung machen. Die übrigens viel, viel schwieriger geworden ist.«
»Der Supermarkt.«
»Die anderen idiotischen jungen Leute, mit denen man sich abgeben muss.«
»Hoffnungen, die sich immer wieder aufs Neue zerschlagen.«
»Mittelmäßige Studenten, die sich in endlosen, todlangweiligen Diskussionen mit dem Sozialismus auseinander setzen.«
»Der Kampf, in London eine bezahlbare Wohnung zu finden.«
»Mittelmäßige Studenten, die dir ein Ohr abkauen, wie ihr Wartejahr in Indien ihnen ganz neue Perspektiven auf ihr Leben eröffnet hat.«
»In der Öffentlichkeit tanzen müssen.«
»Wieder Gras rauchen.«
»Leistungskurse!!!«
»Okay, okay«, sagte ich. »Passt auf, es ist mir nur so rausgerutscht. Als Möglichkeit. Ich weiß, dass es grauenhaft wäre.«
»Grauenhaft und verrückt.«
»Es ist bloß so ...«, begann ich zögerlich. »Ich könnte ... ich könnte alles noch mal ganz neu entscheiden. Es diesmal anders machen.«
»Was war denn so verkehrt an dem, was war?«, fragte Olly und starrte angestrengt in seinen Cappuccino.
»Nichts«, entgegnete ich. »Es gibt bloß... so viele Möglichkeiten. Ich meine, was, wenn ich zur Filmhochschule ginge?«
»Flora, dein Lieblingsfilm ist Goldeneye«, bemerkte Tashy.
»Mmm. Pierce Brosnan ist so schön. O Gott - und, ehrlich gesagt, jetzt einfach viel zu alt für mich.«
»Ich glaube nicht, dass sie dich an der Filmhochschule annehmen, bloß weil du für irgendwelche Filmstars schwärmst.«
»Sollten sie aber«, empörte ich mich. »Dann würden sie endlich aufhören, Robin Williams zu besetzen.«
»Hmm.«
»Na ja, es muss ja nicht unbedingt die Filmhochschule sein. Vielleicht könnte ich auch Illustratorin werden oder Lehrerin ... okay, vielleicht - nein, definitiv - keine Lehrerin. Vielleicht könnte ich ein bisschen in der Welt herumreisen. Oh, ich könnte in einer Werbeagentur arbeiten. Fand ich immer total cool. Oder ich könnte ein Praktikum machen. Vielleicht in die Regierung gehen. So eine clevere kleine Fachidiotin werden wie die Mädels in The West Wing, dieser amerikanischen Serie über das Weiße Haus. Ich wette, es gibt Millionen und Abermillionen Dinge, die ich tun könnte. Und ich weiß auch, welche. Und ich weiß, wie man sich vernetzt. Und deshalb könnte ich mein Leben von Anfang an selbst gestalten, und zwar weil ich weiß, wie die Welt sich dreht, und nicht, weil ich bloß verzweifelt versuche, mein Anmeldeformular für die Uni noch rechtzeitig auszufüllen.«
Die beiden schauten mich an. Olly hörte auf, mit dem Zuckertütchen rumzuspielen.
»Ich dachte immer, wir hätten ein gutes Leben«, bemerkte er leise.
Auf einmal wünschte ich mir, Tashy wäre nicht da.
»Hatten wir doch auch«, sagte ich, so überzeugend ich konnte.
»Das sagst du so. Und, nebenbei bemerkt, in der Vergangenheitsform. Natürlich. Es klingt vernünftig. Aber andererseits ... andererseits hast du es so sehr gehasst, dass du die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt hast, um ihm zu entkommen. Uns zu entkommen. Mir.«
Dann schmiss er unvermittelt und ziemlich heftig den Zucker auf den Tisch. Das Tütchen riss auf, und der Zucker ging wie ein winziger Hagelschauer nieder. Olly stand auf, zog den Mantel an und wollte hinausstürmen. Dann fiel ihm ein, dass er seinen Teil der Rechnung noch nicht bezahlt hatte, also blieb er stehen, nahm sein Portemonnaie heraus, warf Geld auf den Tisch und ging davon.
»Sieh mich nicht so an«, sagte Tashy. »Ich hatte keine Ahnung, dass ihr beiden derart gravierende Probleme hattet.«
»Tja, ich wusste auch nicht, dass du Probleme mit Max hast, bis ich dich neulich heulend auf der Parkbank gefunden habe.«
Wir starrten beide angestrengt in unseren Kaffee.
»Ich -«, setzten wir gleichzeitig an.
»Du zuerst«, sagte Tashy.
»Ich glaube ... ehrlich, du hast nicht mit angesehen, was bei der Hochzeit passiert, aber schön ist das nicht.«
»Warum, was passiert denn bei der Hochzeit?«
»Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen soll.«
»Was?«
»Olly macht mir einen Heiratsantrag.«
»O mein Gott! Glückwu-«
Es gibt eine Standardeinstellung bei Frauen über dreißig, und Tashy hatte noch nicht gelernt, wie man die ausschaltete.
»Ich meine, herrje, das macht die Sache etwas komplizierter.«
»Ich weiß.«
»Oho, stiehlt er mir etwa die Show? Böser, Show stehlender Freund.«
»Ganz bestimmt nicht. Er kommt ja nicht mal bis zum Ende. Meine Mum unterbricht ihn. Genau genommen werden wir unterbrochen, kurz bevor ihr die Torte anschneidet.«
»Mist, verdammter«, sagte Tashy. »Du hast es also wirklich absichtlich gemacht.«
Wir gingen zusammen zur U-Bahn-Station und wollten uns gerade trennen, nachdem Tashy noch tadelnd den Kopf geschüttelt hatte, weil ich mit dem Kinderticket fuhr, obwohl wir beide das früher auch gemacht hatten, bis wir neunzehn waren, als ich eine immer vertrauter klingende Stimme hörte.
»Flora! Flora! Wie, was, reist du jetzt schon herum ohne mich, ja? Vielleicht du wärst glücklich, wenn du tust so, als ob es mich nicht gibt, was? Du läufst weg von zu Hause, du läufst weg von deine Job, du läufst weg vor deine beste Freundin - bist du verrückt geworden? Nimmst du Drogen? Vielleicht hat dir ja bei Nachsitzen einer Drogen angedreht. Und jetzt du stehst hier am Trafalgar Square und arbeitest als Prostituierte, um dir Geld zu verdienen für Drogen? Bist du jetzt eine Crack-Hure? Schämst du dich deshalb, beste Freundin zu sehen? Wegen dem ganzen Hurerei, ja?«
Ihr Akzent schlug besonders durch, wenn sie sich aufregte. Stanzi trug ein grässliches, schulterfreies graues Top, eine weiße, über und über mit Bändchen dekorierte Armeehose und dazu kleine weiße, knöchelhohe Stiefeletten. In meinen Augen sah sie aus wie eine durchgedrehte Babyschlampe. Sie war offensichtlich stinksauer auf mich.
»Stanzi«, sagte ich und wollte Tashy mit einem Augenzwinkern zulächeln, was mir aber nicht so recht gelang. »Das ist Tashy.«
Constanzia sah sie mit jenem ausdruckslosen Blick an, den sie speziell für Erwachsene reservierte. »Sehr nett, Sie kennen zu lernen«, sagte sie beiläufig. Dann beugte sie sich zu mir rüber und flüsterte: »Ist das deine Crack-Huren-Puffmutter?«
»Pst!«
Tashy schenkte ihr ein schmallippiges Lächeln, mit dem sie normalerweise nur Verkehrspolizisten bedachte und Leute, die in Elektrofachgeschäften arbeiteten. »Hallo. Nett, dich kennen zu lernen.«
»Und woher kennen Sie Miss Scurrison?«, erkundigte sich Stanzi übertrieben höflich.
»Äh ... sie ist eine, ähm, externe Beraterin, die meine Eltern für mich engagiert haben.«
Stanzi wirkte misstrauisch, »Oh, das ist ja wunderbar!«, flötete sie, als sei sie gerade zum Tee in einem Schloss eingeladen worden.
»Und das ist Constanzia.«
Sie zupfte mich schon wieder am Ärmel. »Du hast eine Seelenklempnerin und sagst mir nichts davon?«
»Sie ist total öde«, wisperte ich zurück.
»Ja, Constanzia, ich habe die Befugnis, Flora bei lebendigem Leib sezieren zu lassen, wenn ich das will«, sagte Tashy laut.
»Ich muss mal kurz unter vier Augen mit ihr reden«, entschuldigte ich mich bei Stanzi.
»Die ist ja unerträglich!«, schimpfte Tashy, als wir allein in einer Ecke standen.
»Sie ist schon in Ordnung«, widersprach ich.
»Ja, klar.«
»Ich wünschte, du wärst mit mir da.«
Tashy lächelte. »Pass auf. Ich habe heute Nachmittag einen Termin bei der Schneiderin.«
»Ja?«
»Also, ich wollte dich eigentlich immer darum bitten, habe es aber dann doch nicht gemacht, weil ich mir sicher war, du würdest mich dafür hassen. Aber jetzt, wo alles ohnehin schon Kopf steht, frage ich dich einfach.«
»Was?«, wollte ich wissen.
»Möchtest du meine Brautjungfer sein?« Sie musste lachen, als sie sich das sagen hörte.
Ich starrte sie an. »Aber vielleicht bin ich dann schon gar nicht mehr ...«
»Tja, um das Problem können wir uns ja dann kümmern, wenn es tatsächlich eintritt, meinst du nicht?«
Wir umarmten uns. »Würdest du Olly für mich anrufen?«, bat ich sie. »Mal sehen, wie die Stimmung so ist?«
»Klar«, erwiderte sie. »Das wollte ich sowieso als Allererstes machen. Und du machst dir mal in aller Ruhe Gedanken über diesen wirklich hochanständigen Kerl.«
Stanzi wollte reden, mich Sachen aus der Schule fragen, aber es funktionierte nicht. Ich fühlte mich wie betäubt. Ich machte mir Sorgen wegen Olly, ich machte mir Sorgen wegen Tashy, und ich machte mir Sorgen wegen mir und dem, was ich tat.
»Du hörst mir überhaupt nicht mehr zu«, beklagte sich Stanzi während der holprigen Fahrt nach Highgate. »Du willst nicht mehr meine Freundin sein, ist es das? Du redest nicht mehr mit mir. Wir spielen gar nicht mehr Pogcode zusammen.«
Lieber Gott, ich bezweifelte, dass es in der gesamten Weltgeschichte eine Epoche gab, in der ich verstanden hätte, was Pogcode war.
»Willst du nicht mal versuchen, Ethans Party zu sprengen?«
»Stubenarrest.«
»Ja und, dann wartest du eben, bis dein Dad weg ist, und bequatschst deine Mum, wie immer.«
»Ich hab keinen Bock auf Partys.«
Sie starrte mich an. »Bist du krank?«
»In letzter Zeit stehe ich irgendwie neben mir.«
Haha.
»Okay, und wenn wir einfach hingehen und vor seinem Haus rumhängen? Gib‘s zu, das machst du doch auch gerne.«
»Tu ich nicht!«
Constanzia zuckte die Achseln. »Komisch, ich hatte immer den Eindruck, es macht dir Spaß.«
Ach, du lieber Himmel. Ich starrte aus dem Fenster.
Irgendwann schubste mich jemand sanft am Ellbogen.
»Willst du noch meine Freundin sein?«
»Aber klar doch«, erwiderte ich. »Tut mir Leid.«
»Du solltest Ethan nicht mehr lieben.«
»Tu ich auch nicht«, sagte ich.
»Ehrlich?«
»Ich würde ihn bei einer Gegenüberstellung nicht mal erkennen.«
Stanzi lächelte. »Und wir sind immer noch im ›Wir hassen Fallon‹-Club?«
»Wir haben ihn schließlich gegründet.«
Dann machte Stanzi irgendeine komische Abklatschgeste mit der Hand, die ich wohl erwidern können sollte. Stattdessen zog ich den Kopf ein, grinste und boxte ihr sachte auf die Schulter.
Mein Dad saß im Wohnzimmer und zog sich die Schuhe an. Meine Mum klapperte außer Sichtweite in der Küche herum. Ich sah auf meine Uhr.
»Uff, die Arbeit«, stöhnte ich laut und streckte mich. »Sie haben mir gesagt, ich würde zu viel schuften, deshalb haben sie mich heute früher nach Hause geschickt.«
Meine Mutter lehnte am Türrahmen und sah mich forschend an, aber ich gab mein Bestes, die vollkommene Unschuld zu spielen. Mein Dad blickte nicht mal auf.
»Gehst du aus?«, erkundigte ich mich.
»Ja, Schätzchen.«
»Wohin?«
Er sah mich verdattert an. »Bloß runter in den Club. Du weißt schon. Wie immer. Auf ein paar Bier mit Mike und Peter.«
Die hatte ich ganz vergessen. Seine beiden besten und ältesten Freunde, noch aus jener grauen Vorzeit, als er als Handelsvertreter im Nordosten Englands unterwegs gewesen war. Seine beiden besten Kumpels hatten ihn gedeckt, wenn er sich samstags abends mit seiner Tussi getroffen hatte. Der Trick war so unglaublich abgenudelt, dass es schon an Dämlichkeit grenzte. Er und seine kleine Bande hatten sich gegen meine Mum verschworen, die daraufhin so krank geworden war, dass ich mich oft gefragt hatte, ob sie im Krankenhaus nicht besser aufgehoben wäre. Und er saß seelenruhig da und schnürte ordentlich seine Schuhe und erzählte mir, er ginge mit seinen Freunden ein Bier trinken.
»Mum«, sagte ich, als sie aus der Küche zu mir kam.
»Alles in Ordnung, Schätzchen?«, fragte sie. »Wie war‘s bei der Arbeit?«
»Okay«, knurrte ich. »Hör mal, warum gehst du heute Abend nicht mal mit Dad zusammen aus?«
Mein Dad erstarrte.
»Wäre doch schön, wenn ihr mal wieder einen Abend zusammen was unternehmen würdet. Wer weiß, vielleicht amüsiert ihr euch sogar.«
Meine Mutter umklammerte ihr Geschirrtuch und drückte es fest an ihren Magen. »Flora.«
»Wäre mal was anderes.«
»Also, ich weiß nicht...«, setzte mein Vater an.
»Oh, Flora.« Meine Mutter legte mir eine Hand auf die Schulter. »Hast du einen Freund? Willst du jemanden mit nach Hause bringen? Duncan, ich weiß, du würdest alles immer am liebsten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufschieben, aber ich glaube, es wird langsam Zeit, dass wir uns mal ernsthaft mit unserer Tochter unterhalten.«
»Nein, nein, darum geht es doch gar nicht«, widersprach ich entsetzt.
»Muss das ausgerechnet jetzt sein?«, fragte mein Dad. »Ich komme noch zu spät. Ähm, zu den Jungs.«
Meine Mutter warf ihm einen vernichtenden Blick zu und hockte sich dann neben mich. »Also, Flora, ich weiß, dass du jetzt alt genug dafür bist, zumindest vor dem Gesetz ... und wir wissen, dass du immer ein braves Mädchen warst.«
»Heiliger Strohsack«, rief mein Vater und stand auf.
»Duncan! Herrje, würdest du bitte wenigstens einmal in deinem Leben Verantwortung für deine Tochter übernehmen. Setz dich. Das ist wichtig.«
»Also. Hast du jemanden kennen gelernt?«
Meine Innereien verdrehten sich in sechs verschiedenen Todeskrämpfen. Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten und gesagt: »Nein, aber warum führst du dieses nette kleine Gespräch nicht mal mit Dad?«
»Wir wollen bloß, dass du weißt«, sie sah meinen Dad streng an, der betreten zu Boden blickte, »dass wir, jetzt, wo du sechzehn bist, nichts dagegen hätten, dass du die Pille nimmst. Aber es wäre uns wesentlich lieber, wenn du - ähm diese Kondome - äh - Dinger benutzen würdest.«
Ich schloss ganz fest die Augen.
»Und du kannst es sicher auch verstehen, wenn wir was dagegen haben, dass er bei uns übernachtet.«
Meine Mutter war puterrot geworden. Schweigend standen wir da, das einzige Geräusch war irgendein Gesülze aus der Flimmerkiste.
Es entstand eine lange Pause, in der ich krampfhaft überlegte, was ich darauf erwidern und wie ich es rüberbringen sollte, ohne wie ein mit allen Wassern gewaschenes Luder zu klingen. Schließlich entschied ich mich dafür, einen auf reif und erwachsen zu machen. Dann wären meine Eltern stolz auf mich, und ich würde gut dastehen, und dann könnte ich weggehen und mich mit Tashy besaufen. Ich dachte an die Tipps aus all den Kummertantenkolumnen, die ich gelesen hatte.
»Mum. Dad. Danke. Danke, dass ihr euch getraut habt, ein solches Erwachsenengespräch mit mir zu führen. Das macht mich sehr stolz. Ich möchte nur, dass ihr wisst, dass ich keinen Sex habe« - unvermittelt tauchte Olly vor meinem inneren Auge auf, der einsam und allein zu Hause saß, und ich wurde ganz schrecklich traurig - »noch habe ich vor, das in näherer Zukunft zu ändern. Sollte ich doch Sex haben wollen, dann könnt ihr beruhigt sein: Ich werde nicht die Pille nehmen, weil ich nicht vorhabe, mit 34 unfruchtbar zu sein, vor allem, wenn man bedenkt, wie es mit der Fruchtbarkeit der Männer bergab geht.« Herrje, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Was, wenn ich hier blieb, und das männliche Geschlecht war ausgestorben, bis ich 25 war, so wie Germaine Greer es immer prophezeit hatte? »Und ich weiß, wie man Kondome benutzt. Ahm, das bringen sie uns in der Schule bei.« Na ja, vielleicht tun sie das heute ja wirklich. »Aber es ist auch vollkommen egal, weil wissenschaftliche Studien ergeben haben, dass sechzehn, emotional gesehen, ein sehr junges Alter ist, um bereits Sex zu haben. Und diejenigen, die ihre Jungfräulichkeit sehr früh verlieren, bereuen es häufig später, weil sie nicht auf jemand Besonderen gewartet haben.« Wie ich beispielsweise.
Meine Eltern starrten mich an.
»O Gott«, entfuhr es meinem Dad.
»Du hast jemanden kennen gelernt... nicht wahr?«, stammelte meine Mutter.
»Nein!«
»Ich fass es nicht, dass sie sich alles schon so genau überlegt hat«, sagte mein Dad kopfschüttelnd. »Mein süßes kleines Mädchen.«
»Was! Ich benehme mich gerade wie eine Erwachsene!«
Meine Mutter drückte mich fest an sich. »Ach, Schätzchen. Und mir kommt es vor, als seist du gestern noch unser kleines unschuldiges Baby gewesen!«
»Ich mache doch gar nichts!«
»Ich muss los«, sagte mein Vater.
Ich stand auf und sah ihm direkt in die Augen. »Bleib sauber, Dad!« Ich versuchte, es wie einen Witz klingen zu lassen. Und, ich gebe es nur ungern zu, als er geduckt aus der Tür huschte, war ich höchst zufrieden mit mir.
»Komm, Mum«, sagte ich. »Weißt du noch, wie wir früher immer zusammen gebacken haben?«
»Du warst sieben, als wir zum letzten Mal zusammen gebacken haben«, erwiderte sie konsterniert.
»Na, dann lass es uns doch noch mal versuchen.« Ich nahm sie am Arm, und gemeinsam gingen wir in die Küche.
»O nein, es ist doch nicht etwa einer deiner Lehrer, oder? Bitte, sag mir, dass es kein Lehrer ist«, flehte sie.