12. Kapitel
Das Erste, was ich beim Reinkommen sah, war ein Pärchen, das sich knutschend gegen die Wand presste. Na ja, anscheinend hätte ich mir in Bezug auf Pünktlichkeit keine Gedanken machen müssen. Überall waren Teenies: Sie hingen übers Geländer und tanzten im Wohnzimmer. Es war lange her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war, aber das Haus von Clellands Eltern hatte sich kein bisschen verändert. Da ... o mein Gott, ein Bild von Clelland, das ich gleich wiedererkannte und immer ganz besonders gemocht hatte. Da war er achtzehn und hatte ein quirliges Krabbelkind auf dem Arm. Er guckt mürrisch und leicht verlegen, aber gleichzeitig total happy. Es war komisch zu sehen, wie es da im Rahmen vergilbte: Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als wir es in der Drogerie abgeholt haben. Das ganze Haus war immer noch voller Krimskrams und Erinnerungsstücke, die wir damals so furchtbar spießig gefunden hatten. Heute dagegen fand ich sie irgendwie tröstlich, und es war schon ziemlich seltsam, sie nach dieser langen Zeit noch mal wiederzusehen.
Stanzi klammerte sich an meinen Mantel, und ich tätschelte ihr beruhigend die Hand. Ein älterer Junge, den ich nicht kannte - obwohl das unter den gegebenen Umständen gar nichts hieß -, kam auf mich zu.
»Hi, Flora. Toll, dass du da bist!«, begrüßte er mich. »Du siehst süß aus.«
Na, na, na! Mein Herz hüpfte einen doppelten Rittberger bei diesem Kompliment. Vielleicht würde der Abend ja doch nur halb so schlimm wie befürchtet.
»Hey!«, riefen ein paar andere Jungs. »Siehst gut aus, chica.«
Ich schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln und schlenderte Richtung Küche. Irgendjemand pfiff anerkennend, als wir vorbeigingen.
In der Küche holte Stanzi mich ein.
»Irgendwas stimmt hier nicht«, bemerkte sie misstrauisch, während ich meinen ersten Alkopop zum Mund führte und gegen den Würgereiz ankämpfte, der bei so viel Zucker automatisch einsetzte.
»Wie meinst du das?«, fragte ich. »Wenn man sie erst mal außerhalb der Schule trifft, sind die meisten ganz nett.«
Ein Bauerntrampel von einem Kerl mit etlichen Pickeln im Gesicht kniff mir in den Po.
»Na, na, benimm dich«, tadelte ich kokett.
»Hmm«, machte Stanzi. Sie beugte sich zu mir rüber. »Bist du ganz sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Stell dich nicht so an!«, entgegnete ich. »Sei doch mal locker.«
Und damit nahm ich einen großen Schluck aus meiner Flasche, der diesmal schon viel besser schmeckte. Stanzi ihrerseits guckte mich unverwandt an.
Vielleicht war es ja, weil ich die letzten beiden Wochen eigentlich nonstop Stress gehabt hatte, vielleicht auch, weil die Welt für mich in sehr naher Zukunft untergehen würde, vielleicht, weil ich jung, verrückt und naiv war und mir so was erlauben konnte, vielleicht auch, weil ich es einfach satt hatte, immer das Mauerblümchen zu sein. Ich kann nicht genau sagen, woran es lag. Aber ich habe getrunken und getanzt und geflirtet und habe mit allen geredet und war laut und habe Justin zugewunken, der leicht verlegen zurückwinkte, und ich beschloss, ganz einfach meinen Spaß zu haben. Es konnte ihm ja wohl kaum peinlich sein, dass er uns eingeladen hatte, wo wir doch der quicklebendige Mittelpunkt seiner Party waren. Na ja, ich zumindest. Stanzi verlor ich immer wieder aus den Augen, vor allem deshalb, weil ich sie jedes Mal, wenn sie zu mir kam und den durchaus vernünftigen Vorschlag machte, wir sollten uns mal ein bisschen hinsetzen, einfach wegwedelte wie eine lästige Fliege.
Die letzte Party, auf der ich und Olly zusammen gewesen waren, war eine Dinnerparty. Zwei seiner Freunde hatten gerade ein Baby bekommen und haben total damit angegeben, als sei das eine ungeheuer beachtliche Leistung ihrerseits, und wären vor Stolz beinahe geplatzt. Dauernd sind sie aufgestanden und haben den Babysitter angerufen und, heiliger Himmel, Milch abgepumpt. Warum muss man den Leuten das denn auch noch unter die Nase reiben? Die Party war der totale Reinfall. Ich hätte mich gerne betrunken, aber Ol ließ mich nicht, nur für den Fall, dass zwei weitere der Anwesenden eventuell Klienten seiner Kanzlei werden wollten (jedenfalls haben sie ihn den ganzen Abend lang um Gratisrat gefragt). Nach der Hälfte des Abends hatte ich Tash angerufen, die gerade bei Max‘ Eltern war, und wir hatten uns überlegt, wie es wäre, den beiden Jungs ihre Kreditkarten zu klauen und einen schnellen Abgang a la Thelma und Louise zu machen.
Die Musik hier war laut und richtig klasse. Schließlich war es Samstagnacht und die Luft wurde immer heißer, Baby! An diesen Song von Whigfield erinnerte ich mich noch von meinem ersten Anlauf! Ich liebte Alkopops, ganz besonders die blauen, und all die Jungs aus der Schule. Die waren einfach zum Knuddeln, auch wenn ich mir ihre Namen partout nicht merken konnte. Die fanden das schrecklich komisch, und ich auch. »Ich kann mir nicht mal eure Namen merken!«, kreischte ich total hysterisch. Wie hatte ich mich nur so irren und die allesamt für Kotzbrocken halten können? Die waren alle irre gut drauf! Es war irre gut hier! Das Leben war cool. Ich wirbelte dem Delirium nahe herum und ließ die Ärmel meines Tops herunterrutschen, so dass meine BH-Träger hervorblitzten. Ich tanzte so sexy ich nur konnte. Alle wollten mit mir tanzen, es war der reine Wahnsinn. Die Zeit verging wie im Flug. Und plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich hielt mich fest und erkletterte den auf Hochglanz polierten Holzesstisch, an dem ich früher mal eine Zeit lang jeden zweiten Sonntag gesessen und mich ganz brav mit Clellands Eltern unterhalten hatte und der jetzt gegen die Wand gerückt worden war, und fing an zu tanzen wie ein Derwisch.
»Wow!«, brüllten die Jungs. Die konnten mir unter den Rock gucken. Mir war das egal. Die Musik wurde lauter und lauter, und ich drehte mich wie ein Kreisel und ...
»Flora?«
Die Stimme dröhnte durch den Raum wie ein Donnerschlag. Alle blieben wie angewurzelt stehen und drehten sich um. Clelland und seine abstoßend hübsche Freundin standen in der Tür und starrten mich an. Neben ihnen war Stanzi und gestikulierte wie wild in meine Richtung.
»Komm sofort da runter.«
»Hol mich doch!«, neckte ich, weil mir Alkohol, Machtgefühle und jugendlicher Trotz zu Kopf gestiegen waren.
»Wir kommen dich alle holen, Flora«, rief eine andere Stimme, und ein paar Jungs grölten und lachten ziemlich dreckig.
Clelland blickte mich immer noch unverwandt an.
»Was - wenn ich nicht von eurem Tisch runtersteige, gehst du nach Aberdeen?«
Er schaute sich um. Die Musik lief zwar immer noch, aber alle sahen wie gebannt diesem Drama zu.
»Was redet sie denn da?«, zischte seine Freundin. Die war definitiv total angestunken. Wobei, ich wäre vermutlich auch nicht sonderlich entzückt, wenn ich am Samstagabend eine Kinderparty überwachen müsste.
»Bitte, Flora?«
Kokett hob ich mein Röckchen. »Hol mich doch.«
Die Menge antwortete mit lautem Johlen.
»Verdammt, Flora, hör auf, hier rumzuzicken.«
Ich streckte ihm die Zunge raus und tanzte weiter. »Warst du schon immer so eine Nervensäge?«
»Warst du schon immer so ein Langweiler?«
»Verdammt...«, fluchte Clelland, dann biss er sich auf die Unterlippe und verlor vollends die Geduld. Und unter den Blicken sämtlicher Anwesender stiefelte er zum Tisch, hob mich hoch und warf mich wie einen Sack Zement über seine Schulter.
Begeisterter Beifall brandete auf. Irgendjemand brüllte: »Die Kleine ist fällig, Mann!«, und jemand anders rief: »Sie fällt dir ja schon um den Hals, Mann!«, und ich wurde knallrot, denn ich hing kopfüber an Clellands Hals, und ich wusste, dass man mein Höschen sehen konnte. Was mir jetzt gar nicht mehr so wahnsinnig komisch vorkam wie noch vor ein paar Minuten. Mir war übel, und ich schämte mich, und ich kam mir dumm und bevormundet vor. Und gleichzeitig hatte es etwas seltsam Vertrautes, so an Clellands Hemd gedrückt zu werden, und sein Geruch versetzte mich schlagartig zurück in die Zeit, als wir zusammen gewesen waren. Ein besonderer Duft kann einen wie nichts anderes plötzlich in die Vergangenheit katapultieren.
Auf einmal stand Fallon vor mir (oder hinter mir vielmehr, nehme ich an, da Clelland mich gerade zur Tür hinaustrug). Sie und ihre drei Gehilfinnen, bis zum Anschlag aufgetakelt in winzigen Bikini-Tops und engen Hosen. Die vier lachten sich fast schlapp.
»Ach herrje, habt ihr das gesehen!«, keuchte Fallon und wischte sich doch tatsächlich Tränen aus den Augenwinkeln. Dann guckte sie mich an und grinste fies.
»Oh, John, geht es Flora gut? Sollen wir uns um sie kümmern?«
Clelland brummte bloß mürrisch, marschierte zur Tür hinaus und stellte mich auf der dritten Treppenstufe ab.
»Was zum Teufel hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte er barsch.
»Das war doch bloß Spaß, ein bisschen abgedrehter Teenie-Fun«, antwortete ich. Mein Gesicht brannte dermaßen, dass ich Angst hatte, die Wände anzusengen.
»Du bist doch angeblich eine erwachsene Frau, verdammt noch mal. Was sollte das darstellen? Einen Striptease an der Stange?«
»Einen Tabledance?«, piepste ich kleinlaut.
Er starrte mich an. »Du drehst langsam durch.«
Ich ließ mich auf eine Stufe sinken, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. »Nein, tu ich nicht«, protestierte ich. Dann merkte ich, wie schwindlig mir war. Und dann ging mir auf, dass ich gerade wie die letzte Schlampe auf dem Esstisch von Clellands Eltern getanzt hatte.
»Au weia, tut mir echt Leid«, entschuldigte ich mich umgehend.
»Du verträgst überhaupt keinen Alkohol mehr, schnell, trink ein bisschen -«
Aber da kam auch schon Stanzi mit einem riesengroßen Glas Wasser angefegt. Sie schnatterte vor Aufregung wie eine Ente. »Flora, du musst mir unbedingt zuhören, du musst -«
»Könntest du uns eine Sekunde allein lassen?«, unterbrach Clelland sie in sanftem Ton.
»Neiiiiin! Ich kann nicht warten, sonst platze ich.«
»Tja, bevor du platzt...«
Ich blickte auf. »Was ist los?«, fragte ich. Ich wurde rasend schnell wieder nüchtern, aber meine Laune glich der eines gereizten Stachelschweins.
»Fallon hat ein fieses Gerücht in die Welt gesetzt! Sie hat behauptet, du wolltest heute Abend deine Unschuld verlieren! Sie hat allen Jungs erzählt, dies sei deine erste und letzte Party und du würdest definitiv unter allen Umständen mit einem Kerl ins Bett gehen! Kendall hat‘s mir erzählt!«
Ich setzte mich kerzengerade hin. »O mein Gott! Dieses Miststück!«
Clelland sah mich an. O nein. Schon wieder diese verfluchten Hormone. Ich schämte mich so, ich wäre am liebsten im Boden versunken - es war so schlimm, dass ich fürchtete, gleich loszuheulen.
»Darum waren also alle so nett zu mir ... all die Jungs, die ich nicht mal richtig kenne. Und ich Idiot dachte, die seien hinter ihrer rauen Fassade einfach ein bisschen schüchtern und ... O Gott, ich bin so ein Vollidiot.« Meine Stimme klang ein bisschen wacklig.
Clelland schien das komisch zu finden. »Soll das heißen ... bitte sag mir nicht, dass du so angegeben hast, damit die Jungs dich mögen!«
»Das ist überhaupt nicht komisch«, sagte ich streng. »Das war ganz furchtbar grausam. So was kann einen fürs Leben zeichnen.«
Ich nahm noch ein paar große Schlucke Wasser.
»Vielleicht wollte ich ja bloß, dass es anders ist als damals beim ersten Mal. Und das war es ja auch. Es war noch schlimmer!«
»Was war denn so schlimm beim ersten Mal?«, fragte Clelland leise.
»Das habe ich an dich verschwendet, weißt du nicht mehr?« Eigentlich sollte das ganz unbeschwert klingen, aber es hörte sich doch ziemlich verbittert an.
Clelland blinzelte langsam.
Und mit einem Mal wünschte ich mir nichts mehr - nichts mehr -, als in meiner kleinen Wohnung zu sein, mit einem heißen Schaumbad und einer Zeitschrift und dem Telefonhörer neben der Gabel.
»Ich will nach Hause«, jammerte ich unvermittelt.
Stanzi nickte.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, erbot sich Clelland.
»Okay.« Ich nickte. »Danke.«
»Okay.«
Unsere Jacken und Taschen waren verschwunden. Ich hatte eine vage Vermutung, wo sie sein könnten - wahrscheinlich irgendwo versteckt von irgendwelchen dieser ach so freundlichen und charmanten Jungs, die wahrscheinlich vorgehabt hatten, mir später dabei behilflich zu sein, sie in den dunklen Ecken eines dunklen Schlafzimmers zu suchen.
Als ich die Treppe hinaufstieg, hörte ich, wie Madeleine zu Clelland sagte: »In dem Alter sind sie echt grauenhaft, oder?«
Ich schnitt hinter ihrem Rücken eine Grimasse.
»Sind doch bloß Kinder«, sagte Clelland ziemlich amüsiert.
»Tja, ich habe mich als Kind jedenfalls nicht so aufgeführt.«
Das glaube ich dir aufs Wort, dachte ich.
»Das glaube ich dir aufs Wort«, sagte Clelland. »Möchtest du noch was trinken?«
»Nein danke, Liebling.«
Ich mag dich nicht, dachte ich. Ich hoffte, Clelland würde wieder das Gleiche sagen, aber diesmal tat er das nicht.
In den ersten beiden Zimmern, in denen ich nachsah, war meine Tasche nicht zu finden. Dafür stieß ich aber auf alle möglichen anderen der üblichen Verdächtigen, die sich in Ekel erregenden schleimigen Spuckekugeln umschlangen, und gelegentlich rief einer von ihnen: »Nein, nicht hier.« In einem Zimmer zündete unser Schulhippie gerade einen Joint an, umringt von seinen Anhängern, die ihm mit großen Augen dabei zusahen und sich krampfhaft bemühten, einen auf cool zu machen, aber irgendwie aussahen wie Fünfjährige, die auf den Nikolaus warteten. Ich wanderte gerade den Flur hinunter und fühlte mich wie ein furchtbares Flittchen - das Gummiband in meinem Oberteil war total ausgeleiert, und ich musste es mit beiden Händen festhalten, damit es nicht runterrutschte als ich auf Justin stieß, der gerade eine Tür bewachte und dabei kreuzunglücklich aus der Wäsche guckte. Als er mich sah, hellte sich sein Blick ein bisschen auf.
»Ahm, Flora, könntest du mir mal helfen?«
»Wobei, dem ganzen Footballteam einen zu blasen? Nein, Justin, dieser Schwachsinn ist auf Fallons Mist gewachsen.«
Er guckte irritiert. »Wovon redest du da? Ist das so eine Zickenalarm-Mädchengeschichte?«
»Ja«, sagte ich.
»Weil, so was höre ich mir grundsätzlich nicht an. Pass auf, wir brauchen Hilfe. Und ich glaube ... na ja, ich glaube, du bist möglicherweise die Einzige, die das versteht.«
Na toll. Was wurde das denn jetzt? Wollte eines der Kids hier auf der Party seine Steuererklärung ausfüllen?
»Was ist los?«, fragte ich.
»Komm besser erst mal rein«, erwiderte Justin. Ich ging in das Zimmer. Es lag auf der Rückseite des Hauses und hatte früher mal Clelland gehört. Zu seiner Zeit war es mit Sisters-of-Mercy-Postern behängt gewesen, und in den Regalen hatten eselsohrige, orangefarbene Penguin-Taschenbücher gestanden und überall dekorative Schmuckkreuze gehangen. Jetzt stand hier ein grellbunter iMac, an der Wand hing ein Basketballreifen, auf dem Boden lagen mehrere Paare Turnschuhe, und über das Bett war eine ziemlich schicke gestreifte Tagesdecke von Paul Smith gebreitet. Das Zimmer war eindeutig aus Anlass des heutigen Abends aufgeräumt worden. Ich fragte mich, wen Justin wohl im Auge gehabt hatte als die Glückliche welche, die mit ihm bei dieser Party das Bett teilen sollte.
Wie dem auch sei, momentan war das vollkommen nebensächlich, denn auf dem Bett hockte Ethan und heulte wie ein Schlosshund.
»Du hast dich geoutet«, vermutete ich prompt.
Ethan und Justin blickten sich wie vom Donner gerührt an.
»Ich hab dir doch gesagt, dass die Leute es verstehen würden«, sagte Justin schließlich.
Ethan schniefte und beäugte mich misstrauisch. »Und warum hast du mir dann die ganzen Liebesgedichte geschrieben, wenn du es doch schon vorher gewusst hast?«
»Homosexuelle sind oft sensibler und wissen die Schönen Künste mehr zu schätzen«, erwiderte ich ohne nachzudenken. »Was natürlich ein unhaltbares, durch nichts belegtes Vorurteil ist. Du kannst sein, wie du willst.«
Ich hatte die Situation genauso gut im Griff wie dieser dusselige Lehrer Mmkay in South Park.
»Hör zu«, sagte ich. »Es ist nicht schlimm, Ehrenwort.«
»Der hat sich fast in die Hose gemacht vor Schreck«, sagte Ethan düster.
»Hey, Mann, ich war ein bisschen geschockt, okay?« Justin wirkte schuldbewusst.
»Justin, wenn du dein ganzes Leben lang in dem Glauben herumläufst, jeder schwule Mann sei scharf auf dich, dann wird dir irgendwann ziemlich langweilig werden«, prophezeite ich. »So, sagst du es jetzt deinen Eltern?«
Ethan schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich?«
Ich nickte. »Ich glaube, du solltest es sonst niemandem sagen, bis du ein bisschen älter bist.«
Justin runzelte die Stirn.
»Die werden es doch sowieso alle erfahren«, jaulte Ethan.
»Tja, da könntest du Recht haben. Aber die Sache ist doch die: Schulen sind berüchtigt für ihre homophoben Tendenzen, oder?«
Er nickte.
»Aber du willst zur Uni gehen, oder?«
Wieder nickte er.
»Nächstes Jahr?«
»Mhm.«
»Ich würde an deiner Stelle bis dahin die Klappe halten. Die Leute an der Uni - die stehen auf Schwule! Die werden sich gegenseitig den Schädel einschlagen, weil jeder dein bester Freund sein will.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich! An der Uni ist Schwulsein unglaublich hipp.«
»Das kann doch nicht wahr sein«, warf Justin ein.
»Ist es aber.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Ach, das weiß doch jeder«, stöhnte ich mit einem gelangweilten Seufzen. Was postwendend dafür sorgte, dass jeder Teenager sofort zu allem Ja und Amen sagte, bloß um nicht als doof dazustehen.
»Aber, weißt du, ich habe mein wahres Ich akzeptiert.«
»Du kannst auch akzeptieren, dass sie dich zusammenschlagen«, entgegnete ich. »Ich sage dir ja nur, was ich an deiner Stelle tun würde. Und sag‘s deinen Eltern am besten kurz bevor du aufs College gehst - vielleicht wenn du gerade mit dem Koffer zur Tür rausmarschierst -, sonst werden die nämlich felsenfest glauben, es wäre bloß irgend so eine Phase.«
Ethan nickte. »Das wird verdammt schwer.«
»Ach Quatsch«, widersprach ich. »Du wirst einen Riesenspaß haben. Aber sei schön vorsichtig.«
»Ich habe echt Angst davor ... du weißt schon, es zu tun und so.«
»Haben wir alle«, versicherte ich ihm. »Ganz egal, ob es mit einem Donut oder einem Würstchen passiert.«
Die beiden starrten mich fassungslos an.
»Und nun möchte ich mich für diese ekelhafte Analogie entschuldigen.«
Justin grinste.
»Tja, ich gehe dann wohl besser mal wieder nach unten und schlüpfe zurück in mein geheimes Doppelleben«, murmelte Ethan mit einem schweren Seufzen. Vor dem Spiegel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und tuschte sich die Wimpern nach.
»Du schaffst das schon«, sagte ich und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken.
»Danke«, sagte Justin.
Ich folgte den Jungs nach unten in die Küche. Fallon hielt gerade vor dem Kühlschrank Hof.
»Ooh, Ethan«, flötete sie, als sie ihn sah, »komm her zu mir, Baby. Du kriegst ein bisschen Obst von mir.«
Er ging rüber, und sie wuselte um ihn herum und fütterte und betatschte ihn.
»Ooh, mach weiter so, Süße«, rief er.
Ich schlenderte nach hinten in den Garten, damit ich ihr nicht versehentlich in die Titten trat. War ich schon alt genug, dass sie mich wegen schwerer Körperverletzung drankriegen konnten?
Der Geruch von Holzfeuer hing schwer in der Luft, die letzten Rauchschwaden eines Lagerfeuers, das im Garten angezündet worden war und noch vor sich hin knisterte.
Am anderen Ende des Gartens tanzten ein paar Jungs herum und tranken in großen Schlucken Cider aus riesigen Zwei-Liter-Flaschen. Plötzlich fasste mich jemand am Ellbogen. Ich drehte mich um. Es war Justin.
»Noch mal danke für ... das da drinnen«, sagte er schroff. »Ich hatte schon Angst, der wird noch hysterisch oder so.«
»Du klingst wie der General einer Armee.«
»Was?«
»Ach, nichts. Das wächst sich noch aus.«
Er blickte zu Boden. Dann sah er mich an und lehnte sich mit dem Arm gegen einen Baum. Ich fand seine großen grauen Augen einfach toll. Er roch nach Jugend: nach Zigaretten, billigem Bier, billigem Aftershave und Holzfeuer. Die Mischung stieg mir schlagartig in den Kopf. Er blinzelte nervös.
»Flo ...«, setzte er an. Dann beugte er sich zu mir rüber, den Blick auf mich geheftet, als wolle er ganz sichergehen, dass er die Signale nicht falsch verstand, als rechnete er jeden Augenblick mit einer anders lautenden Botschaft, einem unverblümten Nein oder einer Ohrfeige. Aber nichts da. Sehr zögerlich, sehr sanft, fast zitternd vor Aufregung küsste er mich. Zuerst war ich wie vom Donner gerührt, doch dann spürte ich, wie drängend das Verlangen war, diesen weichen jungen Lippen nachzugeben ...
»Flo«, flüsterte Justin, schluckte heftig und zog mich immer fester an sich.
»Flora!«, brüllte eine aufgebrachte Stimme. Der Zauber war schlagartig verflogen, und ich sprang mit einem Satz zurück.
»Mist, das ist mein Bruder«, murrte Justin.
»Er wollte mich ... nach Hause bringen«, stammelte ich und versuchte, mein Top zurechtzuzupfen.
»Ich bringe dich nach Hause«, sagte Justin.
»Ahm, ist schon okay«, murmelte ich, während ich mich fragte, was Clelland wohl zu diesem netten kleinen Arrangement sagen würde.
»Ah ...«
»Flora!«
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte ich. »Ich hab meinem Dad versprochen, pünktlich zu Hause zu sein.«
Justin küsste mich. Dann küsste er mich noch mal. Und dann fing das Ganze schon wieder an, außer Kontrolle zu geraten ...
»Ich muss gehen«, erklärte ich. »Ich muss.«
Ich küsste ihn zum absolut definitiv letzten Mal. Und dann noch ein- oder zweimal, einfach nur so. Und dann noch einen Kuss für den Weg. Und dann tauchte ich atemlos an der Küchentür auf.
Clelland stand da und wirkte durch und durch entnervt.
»Wo zum Teufel bist du gewesen?«
»Sieht fast so aus, als sei da jemand hinter den Büschen verschwunden«, bemerkte Fallon mit einem Blick auf meine fiebrigen Wangen und meine heftige Atmung.
»Ich bin so weit«, sagte ich.
»Vergiss dein Hymen nicht!«, zirpte Fallon fröhlich.
»Hör zu, du nutzloser, magersüchtiger Haufen Dreck«, fauchte ich sie an. »Du weißt doch, dass Eltern immer sagen, es läge nicht an den Kindern, wenn sie sich scheiden lassen, oder? Tja, vielleicht sollte man in eurem Fall diese Behauptung ja noch mal überprüfen.«
Sie taumelte einen Schritt zurück, als hätte ich sie geschlagen. In dem Moment fiel mir wieder ein, dass man niemals die Eltern anderer Leute disste. Zum Glück bin ich sehr erwachsen und habe mich völlig unter Kontrolle. Heute Abend gab‘s seelische Narben für alle.
»Streiten sie sich gerade darum, wer das Sorgerecht nicht kriegt?«
»Halt den Mund«, flüsterte sie. »Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund.«
»Na, dann hör auch auf, mich dauernd dumm anzumachen, Tittenmaus.«
»Ethan!«, rief sie, mit Tränen in den riesengroßen Augen.
»Oh, hallo, Flora«, sagte er. »Schöner Abend, was?«
»Hey«, gab ich zurück.
»Pass auf dich auf«, sagte er.
»WAS?«, zischte Fallon.
Ich drehte mich zu Clelland um. »Wollen wir?«, fragte ich.
»Streiten sich diese Teenies immer noch?«, erkundigte sich Madeleine und kam durch die Tür. »Wie furchtbar aufregend.«
»Ich bringe die beiden nach Hause«, erklärte Clelland. Er blickte sich irritiert um. »O Gott, wo ist denn jetzt die andere? Die war doch gerade eben noch hier.«
»Stanzi!«, brüllte ich. Leicht schwankend tauchte sie aus Richtung der Garderobe auf, gefolgt von einem brillenlosen, völlig überwältigten Kendall. Ich musste lächeln, und Clelland auch, und unsere Blicke trafen sich.
»Gut!«, kommandierte er. »Alle Mann raus!«
»Ahm, Mr. Clelland, Sir ...«
Wir sahen uns an. Es war Kendall.
»Ja, was ist denn?«, fragte Clell wie ein vollkommen entnervter Lehrer.
»Dürfte ich Constanzia nach Hause bringen, Sir?«
»Schläft sie bei dir?«, erkundigte sich Clelland bei mir. Ich nickte. »Okay. Wenn sie damit einverstanden ist, dürft ihr drei Meter vor uns gehen, aber so, dass ihr jederzeit gut sichtbar seid.«
»Gut, okay, super, danke, Kumpel«, rief Kendall.
»Ich bin gerade von ›Mr. Clelland‹ zu ›Kumpel‹ degradiert worden«, beklagte sich Clelland bei mir.
»Nächster Halt, ›Wichser‹!«, neckte ich ihn munter.
»Constanzia.« Kendall räusperte sich. »Dürfte ich dich fragen, ob ich dich nach Hause -«
Stanzi war ihm bereits wie eine rotschwarze Fledermaus im Landeanflug um den Hals gefallen, und wir mussten die beiden quasi aneinander geleimt aus dem Haus dirigieren.
»Hormone«, knurrte Clelland, als wir endlich draußen waren und langsam hinter einem stolpernden, kichernden Stanzi-Kendall-Fant hergingen. »In dem Alter treiben sie einen in den Wahnsinn ... Herrje, ich vergesse es immer wieder. Warte mal einen Moment...«
Ich hörte kaum hin, weil mein Herz so raste. Ich hatte Mühe zu atmen. Was um alles in der Welt hatte ich getan? »Was denn?«
»Bist du wirklich 32?«
Ich konnte mir beim besten Willen nicht denken, warum er mich das fragte. Er konnte doch unmöglich Verdacht geschöpft haben.
»Wie meinst du das, bin ich wirklich 32? Bist du 34? Und außerdem, du hast doch eh keine Ahnung. Schließlich warst du nie bei einer meiner Geburtstagspartys.«
Das schien ihn erst mal aus der Bahn zu werfen, und wir wackelten eine Weile schweigend nebeneinander her. Aus den Augenwinkeln warf ich ihm einen verstohlenen Blick zu. Er sah recht ungerührt aus, auf jeden Fall machte er nicht den Eindruck, als sei er wütend auf mich. Vielleicht war ich ja noch mal davongekommen.
»Wir drehen noch eine Runde um die Häuser!«, brüllte Stanzi, die den Saugprozess kurz unterbrochen hatte. Wir dackelten hinterher.
»Ich glaube, ich habe mich nie wie 32 gefühlt«, sagte ich schließlich. »Ich glaube, ich habe mich nie anders gefühlt als heute.«
»Hmm«, brummte er. »Geht mir wohl genauso. Aber wenn alle sich so benähmen ...«
»Gäbe es viel weniger Kriege.«
»Soll das ein Witz sein? Du und dieses superhübsche dunkelhaarige Mädchen würdet euch vermutlich längst mit Atomwaffen bedrohen.«
»Ach ja«, sagte ich und ließ beschämt den Kopf hängen. Schlimmer als heute Abend konnte ich mich eigentlich gar nicht aufführen. »Na ja, ihr Jungs habt eben keine Ahnung, wie es in der Schule abgeht. Ihr habt keine Ahnung, wie fies manche Leute sein können.«
»Bist du verrückt? Weißt du nicht mehr, wie sie mir fast den Schädel eingetreten haben, weil ich diesen Robert-Smithmäßigen knallroten Lippenstift getragen habe?«
»Selber schuld.«
»Das ist unfair.«
»Na ja, okay, Tom Philmore hat dir fast den Schädel eingetreten, aber am nächsten Tag hast du schon wieder Fußball mit ihm gespielt.«
»Na und?«
»Mädels können so was über Monate hinziehen. Und außerdem ist Psychofolter viel schlimmer als körperliche Gewalt.«
»Wir reden noch mal darüber, wenn du das nächste Mal fast den Schädel eingetreten bekommst.«
Wir erreichten unser Gartentor. Stanzi und Kendall umschlangen sich wie ein kompliziertes Rohrleitungssystem. Beinahe hatte ich den verbotenen Kuss schon aus meinem Gedächtnis gestrichen.
»Stanzi, wir müssen schnell reingehen, ehe mein Dad rauskommt«, drängte ich. Es war kurz vor der magischen Ein-Uhr-Grenze.
»Wenn du ihm was sagst, bring ich dich um«, stieß sie atemlos hervor.
Clelland und ich blieben stehen und warteten.
»Tut mir Leid, dass ich dich über meine Schulter geworfen habe«, sagte er.
»Lieber Himmel, nein. Das hätte böse enden können da oben, danke, dass du mich vor dem blökenden Akne-Mob gerettet hast.«
»Gern geschehen«, erwiderte er.
»Und außerdem hat es dir bestimmt Spaß gemacht«, bemerkte ich neckisch.
»Ich wünschte bloß, da wäre ich früher drauf gekommen«, nuschelte er. Ich sah ihn im fahlen Licht der Straßenlaterne an. Er hatte eine schmale Linie zwischen den Augenbrauen, eine winzig kleine Falte.
Oben im Haus ging das Licht an.
»Jetzt!«, rief ich Stanzi zu und packte ihre Hand. Sie löste sich mit einem ploppenden Geräusch von Kendall.
Clelland lächelte verschmitzt. »Dass ihr ja nicht zu spät nach Hause kommt«, sagte er.
»Hey! Von Tashy kriege ich schon genug von dem Scheiß zu hören, also muss ich mir das nicht auch noch von dir anhören.«
»Okay, okay, und jetzt ab durch die Mitte!«
Ich schaute ihn noch einmal an. Und er lächelte, zog mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
»Gute Nacht«, murmelte er leise.
»Weißt du«, erklärte ich, »ich muss sagen, ich fand den Abend wirklich sehr schön.«
»Beeil dich!«, quietschte Stanzi, als das Licht im Flur anging. Kendall hatte sich bereits aus dem Staub gemacht.
Ich ging ins Haus, aber nicht etwa mein Vater nahm mich dort in Empfang, sondern meine Mutter.
»Oh«, murmelte sie. »Ich dachte, es sei ...« Der Rest des Satzes blieb ihr im Halse stecken, und sie wandte sich ab.
»Mum? Mum?«, sagte ich, ernsthaft in Sorge, weil sie das Gesicht verzog, als müsse sie gleich weinen.
Stanzi verschwand unauffällig im Gästezimmer.
»Er ist ... ich dachte, er würde nicht mehr so lange wegbleiben.«
Ich schaute auf die Uhr. »Was meinst du mit ›nicht mehr‹? Wie oft kommt er denn so spät nach Hause?«
Meine Mutter biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin nicht die Böse hier in dieser Familie, Flora. Das musst du mir glauben.«
Ich machte ihr eine Tasse Tee. Ihre Hände zitterten. Dann legte ich die Arme um sie und drückte sie fest.
»Pst«, sagte sie. »Ist schon gut. Geh ins Bett.«
Aber es war nicht gut. Sie scheuchte mich die Treppe hinauf, wo ich mit geschlossenen Augen zu einer kleinen Kugel zusammengerollt auf dem Bett lag und mir immer und immer wieder wünschte, das alles würde nicht passieren. Mir wünschte, es wäre nicht meine Schuld, dass meine Mutter das Ganze noch mal durchmachen musste.
Um halb drei ging die Haustür auf. Ich hörte laute Stimmen und Weinen. Dann wieder laute Stimmen, und dann ein »Pst«. Ich hörte »Nie im Leben!« und »Nicht zum ersten Mal«. Ich hielt mir die Ohren zu. Das Letzte, was ich hörte, ehe ich endlich einschlief, war, wie mein Vater versuchte, meine Mutter zu beruhigen, und sagte: »Alles wird gut.« Ich fragte mich, ob sie ihm das glaubte.