11. Kapitel
Ich hatte da ein Problem. Na ja, so gesehen hatte ich eigentlich eine Menge Probleme, und zwar ganz schön heftige, nicht so ein Popelkram wie den richtigen Zeitpunkt abzupassen, in London Wohneigentum zu erwerben, oder die richtige Putzfrau zu finden oder so einen Käse, den ich mir in meinem alten Leben ständig bei Dinnerpartys hatte anhören müssen.
Dieses hier war also, an meinen sonstigen Maßstäben gemessen, ein Miniproblem. Es war Samstag, und ich hatte gleichzeitig Tashy versprochen, mich mit ihr auf die Suche nach einem Brautjungfernkleid zu machen, Stanzi, mit ihr ein heißes Outfit für Justins Party auszusuchen, und meiner Mum und meinem Dad, mit ihnen auf Shoppingtour zu gehen, als »Familienausflug« sozusagen, ein krampfhafter Versuch, mal wieder was gemeinsam zu unternehmen. Ich hatte das nicht alles auf ein und denselben Samstag legen wollen, aber wenn mir (möglicherweise) bloß noch drei Wochen auf dieser Erde blieben, dann wollte ich die voll auskosten und so viele liebe Leute wie möglich treffen. Außerdem bedeutete diese Konstellation Shopping-Vergnügen hoch drei. Wir entschieden uns für Kingston als Jagdrevier. Mum wollte partout nicht ins West End, und Tashy war es egal.
»Beeil dich, Flora«, quengelte meine Mum. Normalerweise drängelte Olly auch immer schon, während ich noch frühstückte. Ich musste wohl unter einer Frühstücksgeschwindigkeitsstörung leiden.
»Ja, ja«, knurrte ich und rührte, wie ich glaubte, in allerbester Manier eines schmollenden Teenagers in meinen Cornflakes herum. O nein, Irrtum, war wohl doch nicht typisch Teenie, bei Olly habe ich das nämlich auch immer gemacht.
Dad guckte ein bisschen bedröppelt aus der Wäsche, als er sich im Spiegel ansah. Ich wusste, wie viel er noch zunehmen würde. Vermutlich fragte er sich gerade, ob er je wieder guten Sex haben würde ... tja, da wollte ich lieber nicht drüber nachdenken.
»Du siehst toll aus, Dad«, sagte ich, so herzlich ich konnte.
Argwöhnisch warf er mir einen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Wenn du dir einbildest, dafür würde ich dir jetzt lauter nuttige Fummel kaufen, dann hast du dich aber geschnitten.«
»Und wenn sie nur ein kleines bisschen nuttig sind?«
»Kommt nicht in die Tüte.«
»Können wir uns auf schlampig einigen?«
Er lächelte. »Nein.«
»Gewagt?«
»Flora Jane, bitte zwing mich nicht, dieses Gespräch zu führen.«
»Ich bin ein ganz braves Mädchen, Dad, wirklich«, versicherte ich mit porentief reinem Gewissen.
Er lächelte schief.
»Na ja, ich gebe mir jedenfalls Mühe«, erklärte ich ein wenig schuldbewusst, als mir meine Entgleisungen der vergangenen Woche wieder einfielen. Von den Streichen in der Firma mal abgesehen hatte ich 16 Rollen Pringles verschlungen, verschiedenfarbige Socken getragen und mich eines Abends hinausgeschlichen und die ganze Nacht in unserer Disko abgetanzt, obwohl man den Laden echt vergessen konnte und ich die ganze Nacht von den gleichen blöden Wichsern angequatscht wurde, die ich nur allzu gut aus Mr. Deans Büro kannte.
Die Kingston High Street war rappelvoll. Es machte nicht halb so viel Spaß, ohne eigene Kreditkarte hierher zu kommen. Tashy hatte mir noch mal was gepumpt, doch ich fürchtete, dass sie mittlerweile insgeheim mit den Zähnen knirschte. Aber besser als gar nichts, wo meine Eltern dauernd in Richtung Marks and Spencer und der Wäscheständer mit den BHs steuerten. Ich schaute mich immer wieder unauffällig um. Bis mir aufging, dass ich mich doch tatsächlich umblickte, ob Clelland nicht gerade zufällig vorbeikam und mich peinlicherweise mit meinen Eltern beim Einkaufen sah. Zum Teufel mit diesen verfluchten Hormonen! Dann sah ich mich in einem Schaufenster und musste den Kopf schütteln über meine knubbeligen Knie und das Baby-Schmollmündchen. Aber ich fragte mich trotzdem, wo Clelland wohl gerade steckte. Vermutlich kaufte er gerade Müsli und plante mit Madeleine ein Baby.
»Können wir nicht wenigstens zu Gap gehen?«,- flehte ich. »Die haben keinen Schlampenkram.«
»Gap«, schnaubte meine Mutter abfällig und schüttelte den Kopf. »Völlig überteuert...«
Wobei mir wieder einfiel, warum ich ihr immer erzählte, alles, was ich kaufte, hätte ich für zehn Pfund im Schlussverkauf erstanden.
»... und nichts, was ich zu Hause nicht selber machen könnte.«
»Du nähst doch gar nicht«, entgegnete ich mürrisch.
»Ich weiß, aber ich könnte. Genauso gut wie die bei Gap.«
Ich beließ es dabei und folgte den beiden pflichtschuldig nach drinnen, wo meine Mutter sich durch Regale voller schlabberiger Gummibund-Hosen wühlte und mir die schlichteste Jeans (die bei ihr Nietenhosen hießen) aufschwatzen wollte, die sie im ganzen Laden finden konnte, nur um mir zu beweisen, dass sie zumindest ansatzweise wusste, was bei den Kids so angesagt war.
Stanzi und ich hatten einen vagen, nur mäßig durchdachten Plan ausgeheckt, uns einfach gegen Mittag bei Bentalls über den Weg zu laufen und unsere Eltern gemeinsam zum Kaffeetrinken zu schicken. Offenbar verstanden sie sich sehr gut, obwohl mir das natürlich völlig neu war.
Als ich mich jedoch in immer neue T-Shirt-und-Strickjacken-Kombinationen mühte, fing ich langsam an daran zu zweifeln, ob das ein besonders kluger Plan war.
»Du bist ja heute richtig gut gelaunt«, bemerkte meine Mutter. »Normalerweise wärst du jetzt schon so genervt, dass du alle anschreist und fluchst und darauf bestehst, dass wir so eine Kombi-Hose kaufen.«
Kombi-Hose? Hatte ich da eine monumentale Revolution auf dem Gebiet der alternativen Mode verpasst?
»Na, diese hässlichen Dinger da«, erklärte meine Mum und zeigte auf ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, die total auf Christina Aguilera machte - kleine Zöpfchen, zum Teil blau eingefärbt, Nasenpiercing, zerfetztes, Bauchnabel enthüllendes Top und eine kurze Armee-Hose.
»Und an dem Mädchen findest du die Hose am schlimmsten?«, fragte ich ungläubig. »Na egal.« Das sagten sie bei diesen Musiksendern auch dauernd, also passte das vermutlich zu einem Teenie.
»Genau«, meinte meine Mutter. »Probier mal dieses süße Polo-Shirt.«
Während ich mich noch damit abmühte, meinen Kopf durch die extrem kleine Öffnung des Polo-Kragens zu quetschen, hörte ich das vertraute Quietschen.
»Mrs. Scurrison! Mr. Scurrison! So eine Überraschung!«, kreischte Stanzi und gab damit die wohl schlechteste Theatervorstellung eines überraschten Mädels in der gesamten Geschichte des Universums.
Endlich hatte ich den Kopf durch das Shirt geschoben und guckte durch den Vorhang. Bei Stanzi standen etwas pummelige Eltern, mit denen sie eindeutig verwandt war.
»Bella, buon giorno!«, rief ihr Dad und drückte mich sehr fest und herzlich und ein bisschen verschwitzt an sich.
»Come stai?«
Alle sahen mich an, als müsse ich jetzt etwas sagen, was mir ein bisschen peinlich war, weil ich kein Wort Italienisch spreche.
»Ah ... s.«, erwiderte ich.
»Si? Si? Ach, eure Tochter«, sagte er zu meinen Eltern. »Sie will nicht mehr spielen, nein? Sie ist zu erwachsen geworden, sie meint?«
Meine Mum nickte. »Na ja, du weißt doch, wie es ist, Gianni. Dauernd machen sie irgendeine Phase durch.«
»Ich weiß. Meine Tochter, sie heiratet jetzt einen Popstar, ja?«
»Da-ad«, protestierte Stanzi.
»Sie sind zu alt, dass Papa sie auf den Arm nimmt? Niemals!«
Und damit kniff er mir fest in die Wange, und ich wand mich etwas, vor allem auch, weil alle mich ansahen, als hätte ich etwas unbeschreiblich Unhöfliches getan, sogar Stanzi.
»War bloß ein Scherz«, behauptete ich munter und wechselte blitzschnell das Thema, ehe irgendjemand Gelegenheit hatte, mich zu fragen, was das bedeuten sollte. »Kaffee?«
»Oho, Kaffee«, lachte Stanzis Dad. »Sie sagen ›Kaffee‹, aber sie meinen, ›alte Eltern, bitte setzt euch irgendwohin und kommt uns nicht in die Quere, wir wollen unser schwer verdientes Geld ausgeben‹, ja?«
Stanzi grinste. »Per favore, Papa.« Und dann legte sie ihm den Arm um die Taille und zog ihm das Portemonnaie aus der Tasche.
»Benimmst du dich immer wie eine Neunjährige, wenn dein Dad dabei ist?«, fragte ich sie, als wir außer Hörweite waren.
»Funktioniert doch immer wieder, oder?«
»Ja, aber das ist doch nicht -«
»Vorher hast du dich doch auch nie beschwert.«
Recht hatte sie, dachte ich, als mein Blick auf das Rieseneiscremehörnchen in meinen Händen fiel.
»Wie wär‘s denn hiermit?«, fragte sie. Wir waren bei Topshop - wo sonst? Ich weiß zwar, dass Kylie Minogue und Davina und andere cool aussehende Mittdreißigerinnen ausdauernd behaupten hier einzukaufen, aber ich persönlich konnte den Laden einfach nicht ausstehen. Es mag vielleicht Größe 40 drinstehen, aber es sieht nie so aus. Und außerdem, all die Teenie-Mädels, die da rumstolzieren und in den alles enthüllenden Gemeinschaftsumkleiden einfach viel zu gut aussehen... zu deprimierend. Mit Leuten, die wesentlich jünger und schlanker sind als man selbst, im selben Laden einzukaufen, ganz gleich wie oft man auch denkt: ha, auch du wirst eines Tages als dickschenklige Buchhalterin enden, macht einfach keinen Spaß.
»Komm, wir probieren alles durch«, quietschte ich.
Okay, es war Topshop und keine Boutique auf dem Rodeo Drive, und okay, ich hatte bloß mein Taschengeld dabei und nicht Richard Geres Kreditkarte. Aber noch nie in meinem Leben hatte ich mich so sehr wie Julia Roberts in Pretty Woman gefühlt wie in diesem Augenblick - ein Film übrigens, den Stanzi, was mich kaum wunderte, nur vom Hörensagen kannte, schließlich war er in die Kinos gekommen, als wir beide gerade mal drei Jahre alt waren.
Ich konnte alles tragen. Na ja, gut, nicht unbedingt diese Atomic-Kitten-mäßigen weißen Catsuits, die kann nämlich absolut niemand tragen, ganz egal was Stanzi sich auch dabei denken mochte.
»Das ist eine Schulparty und keine Einladung an sämtliche Anwesenden, dich zu schwängern«, zischte ich ihr zu, als sie in dem Outfit mit weißer Weste und Schlaghosen aus der Umkleide kam.
»Und du hör auf, Ballkleider anzuprobieren«, entgegnete sie. »Du siehst total behindert aus.«
»Ich sehe toll aus«, erwiderte ich eingeschnappt. »Halt die Klappe.«
Stanzi zog die Augenbrauen hoch. »Aber ich sehe ätzend aus«, seufzte sie und starrte ihr zartes, winzig kleines Spiegelbild an. »Ich bin ein dicker Fettkloß, in Stahlwolle gewickelt.«
»Du bist umwerfend«, widersprach ich. »Du siehst super aus. Hier.«
Ich reichte ihr ein knallrotes Top, in dem ihre Brüste riesig aussahen und vor dem ihre dunklen Haare glänzten wie die von Catherine Zeta-Jones.
»Nuttenfummel«, quiekte sie. »Spitze.«
Ich schlüpfte in ein absolut nichts verbergendes elfenbeinfarbenes Toga-Kleid mit Metallschnalle. Der Stoff war ziemlich billig, aber wenn man praktisch keine Hüften hat, spielt das keine Rolle.
»Was willst du darstellen, eine 25-Jährige kurz vor ihrer Hochzeit? Du siehst aus wie deine eigene Oma.«
Mist, wobei mir nämlich wieder einfiel: Tashy. Ich guckte auf meine Swatch. Es war okay, ich hatte noch ungefähr eine halbe Stunde Zeit, Folgendes anzuprobieren:
mikroskopisch kleiner Jeans-Minirock, in dem meine Beine richtig schlank aussahen obszön tief sitzende Hüftjeans, in die ich sonst höchstens ein Bein hätte quetschen können Minikleid im 60er-Jahre-Stil ohne Taille, daher untragbar für weibliche Wesen mit
irgendwelchen Kurven wallendes Laura-Ashley-mäßiges 7oer-Jahre-Zigeunerkleid (preisreduziert), trotzdem abscheulich Leggins (die mir schon beim ersten Durchgang damals in den 8oern nicht gestanden hatten und heute auch nicht viel besser aussahen)
unzählige Sharon-Stone-mäßige Satin-Abendkleider mit passenden langen Handschuhen für meine langen, schlanken Arme, in denen ich in der Umkleide herumstolzierte, weil ich so süß darin aussah. Ich brauchte zwar mitnichten ein Abendkleid, aber, Mannomann, in den Dingern sah ich aus wie eins dieser Hollywood-Sternchen.
Stanzi schaute mich seltsam an.
»Wir müssen los«, drängelte sie.
»Noch zehn Minuten«, bettelte ich.
»Normalerweise sagst du beim Einkaufen immer, du findest dich hässlich.«
»O ja«, murmelte ich, während ich mein Spiegelbild in einem gelben Kleid bewunderte, beinahe wie das von Renée Zellweger bei der Oscarverleihung. »Ich sehe aus wie ein Kübel Mist.«
»Ich auch«, jaulte Stanzi, offensichtlich heilfroh, dass ich wieder mitspielte. »Ich sehe aus wie ein Schwein im Kleid!«
»Du siehst umwerfend aus! Aber ich sehe aus wie ein Wombat in Strumpfhosen.«
»Nein, du bist wunderschön. Ich sehe aus wie eine sabbernde Marsianerin, die zur Erde geschickt wurde, um herauszufinden, wie man männliche Erdbewohner am besten zum Kotzen bringt!«
»Was mache ich bloß in diesem Laden, wo ich doch eigentlich einen Laden bräuchte, der Papiertüten in Übergrößen führt?«
Wir kicherten ununterbrochen, während wir unsere endgültige Auswahl trafen. Stanzi nahm das rote Top, in dem sie wirklich fabelhaft aussah, bestand aber darauf, es mit einer schwarzen Hose zu tragen, in der sie einen enormen Hintern hatte, und die ganze Kombination erinnerte irgendwie entfernt an eine dieser tödlichen Giftspinnen. Ich behielt den niedlichen Jeansmini - Selbstbräuner ahoi! -, und dazu wollte ich ein schnuckeliges schulterfreies Streifentop tragen, das zwar ein bisschen nach 8oer-Jahre-Revival aussah, aber ich dachte mir, wenn irgendjemand das Recht hatte, in 8oer-Jahre-Klamotten herumzulaufen, dann ich. Wir schlüpften vergnügt in die Kabine, um uns wieder umzuziehen (wir teilten uns eine Kabine, ich hatte ganz vergessen, dass das ein absolutes Muss war), erstarrten aber beide, als wir eine allzu bekannte Stimme hörten.
»Georgia! Herrgott noch mal, Georgia, kannst du mir nicht mal die richtige Größe bringen? 34, verdammt noch mal. Nur Nieten tragen 36.«
Fallon. Augenscheinlich mischte sie sich bei ihrer Shoppingtour unter das gemeine Volk, genau wie Kylie.
»Dreck«, schimpfte ich.
»Porca miseria«, stimmte Stanzi mir zu.
»Wir sehen echt aus wie Lesbenschnallen«, flüsterte ich. Stanzi nickte. Meinem hehren Ziel zuliebe, die Familie zusammenzuhalten, trug ich einen mütterlicherseits genehmigten Zigeunerrock mit passender Folklore-Bluse. Kein Grund, nervös zu werden, aber Konfrontationen jedweder Art beschleunigen meinen Puls, da konnte ich nichts gegen machen.
»Und ich will es in jeder verfügbaren Farbe!«, schrie Fallon. »Zack, zack!«
Ich guckte auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis zum verabredeten Treffen mit Tashy, und vorher musste ich noch meine Eltern abschütteln, und zwar mithilfe eines genialen Plans, der mir bisher bloß leider noch nicht eingefallen war.
Ich starrte zu Boden. Nie im Leben konnte ich mich da drunter durchquetschen.
»Du gehst«, wisperte Stanzi. »Erzähl. Nein. Erzähl irgendwas. Ich komme dann später nach.«
Meine Augenbrauen schossen nach oben vor Erstaunen angesichts dieser selbstlosen Aufopferung. »Vielen Dank!«, sagte ich.
»Pst! Geh jetzt!«
Ich drückte ihren Arm und ging todesmutig hinaus. Fallon beguckte sich missvergnügt im Spiegel, obwohl sie wirklich fabelhaft aussah. Ihr Kopf fuhr herum, als sie mich entdeckte. Eine kurze Pause entstand.
Aber dann. »Gott. Kann man denn nirgendwo mehr hingehen?«, bemerkte sie spitz mit gerümpfter Nase. »Wärst du bei New Yorker nicht besser aufgehoben?«
»Kommst du gerade vom Krallenschärfen?«, fragte ich und ging an ihr vorbei.
»Ich bin mitten in den Vorbereitungen für eine Party«, erklärte sie hochnäsig. »Das ist etwas, wo beliebte Leute am Wochenende hingehen. Würde dir nicht gefallen.«
»Wir sehen uns dann da«, rief ich lässig über die Schulter.
Schockiert wirbelte sie herum und kam aufgebracht auf mich zugestapft, in Killerabsätzen und einem winzig kleinen schwarzen Minikleid.
»Du willst dich doch nicht zum Gespött der Leute machen und tatsächlich da auftauchen?«, zischte sie.
»Du willst dich doch nicht zum Gespött der Leute machen und in diesem Kleid da auftauchen, du billiges Flittchen?«
Ich konnte kaum glauben, was ich da von mir gab. Anscheinend ist man angesichts der Möglichkeit, sich eventuell einfach in Luft aufzulösen, wesentlich schlagfertiger.
Sie verzog das Gesicht. »Wer ist hier das Flittchen?«
»Ähm, keiner, Flittchen.«
O Gott, was machte ich da nur? War ich denn lebensmüde?
Sie warf mir einen erstklassigen Vernichtungsblick zu. »Das werden wir ja noch sehen«, fauchte sie. Und drehte sich um. Und ich machte, dass ich wegkam.
Mein Herz pochte wie wild, und ich war hochrot im Gesicht, als ich bei den Di Ruggerios und den Scurrisons ankam, die einträchtig zusammen in der Lebensmittelabteilung des Kaufhauses saßen.
»Hallo, meine Süße«, wurde ich von meiner Mutter begrüßt. »Hast du was Schönes gefunden?«
»Wo ist meine Tochter?«, wollte Stanzis Dad wissen und verzog das Gesicht über seinem Kaffee. »Hast du sie irgendwo liegen lassen, halb tot geshoppt?«
»Sie kommt gleich«, beruhigte ich ihn. »Sie musste nur kurz zur Toilette.«
Alle standen auf. »Tja, ich glaube, wir müssen jetzt los«, sagte meine Mutter. »Es wird schon spät.«
»Und das Fußballspiel verpassen?«, fragte ich.
»Da bist du ja!«, hörte ich eine laute, vertraute Stimme. »Ich vergesse dauernd, dass du jetzt viel kleiner bist. Und lila Haare hast.«
Tashy hatte die verheerenden Auswirkungen elterlicher Strafgewalt wohl vollkommen vergessen. Es war einfach viel zu lange her, seit sie am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, wie es war, wenn Mum und Dad einem ernstlich das Leben schwer machten. Sie wollte ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken, und sie machte es mit voller Absicht.
»Mr. und Mrs. Scurrison!«, rief sie. Und nicht mal ihre völlig überdreht-überschwängliche Stimme konnte ihr ehrliches Erstaunen verbergen. »Sie sehen ja hervorragend aus!«
Meine Eltern sahen sich an. Wer war nur diese elegante junge Lady? In ihren Kreisen verkehrte die jedenfalls nicht.
Tashy streckte ihnen die Hand entgegen und ignorierte mannhaft die festen Tritte gegen ihre Fußknöchel, die ich austeilte.
»Ich bin Floras neue Vertrauenslehrerin.«
Ich runzelte die Stirn, als zwei Elternpaare kollektiv leise »Oh« machten.
»Flora hat uns gar nichts von Ihnen erzählt«, sagte mein Dad und warf mir unfairerweise einen verärgerten Seitenblick zu. Wohlgemerkt, Tashy war schließlich keine Fremde! Mein Dad hatte sie ins Schwimmbecken geworfen, lange bevor das für erwachsene Männer illegal wurde, und meine Mutter hatte sie bei uns übernachten lassen, so oft sie wollte, obwohl wir das nur machten, damit ich im Gegenzug bei ihr übernachten durfte, wo ununterbrochen der Fernseher lief und es massenweise Modezeitschriften gab.
»Ach nein?«, säuselte Tashy, die sich prächtig amüsierte. »Das ist aber wirklich sehr ungezogen. Ich bin seit Anfang des Schuljahrs an der Christchurch. Ich arbeite sehr eng mit Miss Syzlack zusammen.«
»Geht es ums Schwänzen?«, fragte meine Mutter leicht panisch.
»Nun ja, wir möchten sie einfach gerne im Auge behalten. Keine Sorge, sie hat nichts angestellt.«
»Na, das will ich doch hoffen«, sagte mein Dad.
»Hab ich auch nicht!«, rief ich empört.
»Wir haben uns schon gefragt ...«, meine Mutter senkte die Stimme, obwohl mindestens fünf Personen das Gespräch in allen Einzelheiten mitbekamen, »... ob da vielleicht ein Mann im Spiel sein könnte.«
Ach du Scheiße.
»Ich kann Ihnen im Vertrauen sagen ...«, verkündete Tashy in bester »Unter uns Erwachsenen«-Manier, »denn ich weiß, dass sie sich ungern selbst lobt...«
»Ja?«, flüsterte meine Mutter.
»... dass ein wesentlich älterer Mann Flora Avancen gemacht hat.«
»O Gott, ich hab‘s doch gewusst!«, rief meine Mutter entsetzt. »Bitte, sagen Sie mir, dass es kein Lehrer war.«
»Nein, war es nicht. Aber es wird Sie sicher freuen zu hören, dass er bei Flora abgeblitzt ist.«
»Gott sei Dank«, murmelte meine Mutter, und die Farbe kehrte wieder in ihr Gesicht zurück.
Tash schaute mich an, und ich versuchte ihr wortlos meine unendliche Dankbarkeit zu übermitteln.
Meine Mutter kam und fiel mir mitten im Einkaufszentrum um den Hals.
»Mu-um!«, knurrte ich.
»Dein Stubenarrest ist aufgehoben«, grummelte mein Dad, was sehr gut war, denn das hieß, dass ich mich nicht mehr dauernd heimlich aus dem Haus schleichen musste.
»Ich danke Ihnen«, sagte meine Mutter und drückte Tashy die Hand. »Ich meine, Sie wissen bestimmt nur zu gut, wie schwierig es ist, Teenager dazu zu bringen, dass sie einem ihr Herz ausschütten und ... Sie machen das ganz fantastisch, ganz fantastisch ...« Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ach herrje.
Tashy tätschelte meiner Mutter den Arm. »Schon gut«, sagte sie verständnisvoll. »Hören Sie, wie wäre es, wenn ich mit Flora eine Cola trinken gehe?«
»Oh, das wäre wirklich nett von Ihnen«, erwiderte meine Mutter. »Sehr nett. Und das an Ihrem freien Tag.«
»Ihr erlaubt mir, mit einer völlig Fremden abzudackeln?«, fragte ich ungläubig. »Einfach so?«
»Du könntest ruhig ein bisschen dankbarer sein gegenüber Miss ...?«
»Miss Blythe«, erklärte Tashy würdevoll.
»Darf ich Ihnen die Cola ausgeben?«, fragte mein Dad Tash.
»Nein, nicht nötig.«
»Ich bitte Sie. Ich weiß doch, was Lehrer verdienen.« Und zu meinem Entsetzen und Tashys offensichtlichem Vergnügen zog er einen Fünf-Pfund-Schein aus der Tasche und drückte ihn ihr in die Hand. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Sie unserer Tochter helfen, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten«, erklärte er.
»Flora ist schon goldrichtig«, beteuerte Tashy. »Aber wir werden weiter dranbleiben. Wissen Sie, ich finde, Sie als Eltern machen Ihre Sache hervorragend.«
Meine Eltern schmachteten Tashy an, als hätten sie sich gerade Hals über Kopf in sie verliebt.
Stanzi kam auf uns zugeflitzt.
»Diese Schlampine, sie ist da drin geblieben so lange, ich habe gedacht, ich muss ersticken!«
Dann fiel ihr Blick auf Tashy. »Die schon wieder! Die ist aber auch überall!«
Mr. Di Ruggerio fackelte nicht lange. Er verpasste Stanzi eine leichte Kopfnuss.
»Willst du ein bisschen mehr Respekt zeigen gegen deine Lehrerin, hm? Sie hilft deiner Freundin. Vielleicht wir sollten sie bitten, auch zu helfen dir, ja?«
Und damit wurde Stanzi, die lauthals protestierte, von unseren Eltern abtransportiert.
»Wir sehen uns dann heute Abend!«, brüllte ich hinter ihr her.
»Ich bin brillant«, triumphierte Tashy, als die anderen weg waren.
»Ganz bestimmt nicht«, entgegnete ich.
»Ich bin ein Genie. Und du musst mich von jetzt an Miss Blythe nennen. Und wir haben fünf Pfund zum Verjubeln. Klasse!«
»Das hätte echt ins Auge gehen können«, sagte ich.
»Was hattest du denn vor?«
»Ich wollte mich rausschleichen.«
»Soso, rausschleichen. Ist ja echt Teenie-mäßig.«
»Es hätte ins Auge gehen können«, wiederholte ich beharrlich.
»Ist es aber nicht. Dafür haben sie dich jetzt nicht mehr auf dem Kieker, und du hast auch keinen Stubenarrest mehr.«
»Ja.«
»Und solltest du irgendwann den Wunsch verspüren, mir dafür zu danken, sämtliche Bedenken deiner Eltern bezüglich der Tatsache, dass du mit einem 35-jährigen Mann gesichtet worden bist, zerstreut zu haben, dann tu dir keinen Zwang an.«
»34-jährig«, korrigierte ich säuerlich.
»Auch gut.«
»Ich werde dich von jetzt an Mum nennen.«
»Das wirst du schön bleiben lassen.«
»Danke, Mum.«
»Ach, Dreck.« Tashys Laune war schon wieder im Keller. Es ging ihr offensichtlich tierisch gegen den Strich, mir dabei zuzusehen, wie ich Brautjungfernkleider in Größe 36 anprobierte. »Warum habe ich nicht mit siebzehn geheiratet?«
»Weil du dann mittlerweile ein verhärmtes neurotisches altes Weib wärst, mit vier Kindern am Hals und dem dritten arbeitslosen Handwerker in Folge als Ehemann.«
»Aber ich hätte so toll ausgesehen.«
»Nein, hättest du nicht. Du hättest dir eine exakte Kopie von Prinzessin Dianas Hochzeitskleid ausgesucht, inklusive dieser gigantischen Puffärmel, und dann hättest du ausgesehen wie eine dieser scheußlichen Puppen, die manche Leute auf die Ersatz-Klopapierrollen im Gästeklo setzen.«
Tashy probierte gleichzeitig noch mal ihr Hochzeitskleid an. Sie sah fantastisch aus in ihrem schmal geschnittenen elfenbeinfarbenen Kleid, aber sie seufzte trotzdem.
»Tash, wenn du dich dadurch irgendwie besser fühlst, ich habe Pickel bis hoch zu meinen Möpsen.«
»Ehrlich? Bis zu den Möpsen?«
»Nein, nur bis zum Brustbein, aber sie sind trotzdem ziemlich ekelig.«
»Ach.«
»Und, wie ich dir schon tausendmal gesagt habe«, ich nahm ihre Hand, »du siehst wunderschön aus. Wunderschön, wunderschön, wunderschön.«
»Ehrlich?«
Ich wies auf ein riesiges Sahnebaiser von Kleid im Schaufenster. Das Korsett war mit goldenen Bändern geschnürt, wodurch das ganze Ding aussah wie ein enormer, ziemlich edler Kabelsalat. Die Ärmel erinnerten an Heißluftballons.
»Probier das doch mal an, nur für alle Fälle.«
»Ich muss raus aus dem Kleid«, murmelte ich irgendwann, als wir lange genug darauf gestarrt hatten.
»Ach, ich weiß, ich weiß. Es ist bloß - also, ehrlich gesagt, das ist für mich deprimierender als alles andere zusammen.«
»Ich dachte, das wäre alles bloß ein Riesenspaß«, sagte ich. »Und, weißt du, Spaß habe ich momentan nicht mehr viel.«
»Ich bin einfach nicht ...« Sie sank in einem gigantischen Tüllberg in sich zusammen. »Ich meine, ich weiß nicht mal, ob ich für den Rest meines Lebens mit ihm schlafen will. Oder auch nur noch ein einziges Mal.«
»Aber Tash, ihr beide habt immer so glücklich ausgesehen, wie das perfekte Paar.«
»Ich weiß.«
»Ich meine, ehe ich zurückgegangen bin ...«
»Ihr beide habt auch so glücklich ausgesehen, du und Olly, wie das perfekte Paar.«
Wir blickten betreten zu Boden.
»Warum tun wir uns das an?«, fragte Tashy traurig.
»Weil Erwachsene das so machen?«, mutmaßte ich unglücklich.
»Weil das schon alles war?«
»Wegen der Familie?«
»Wegen Max, der zu knauserig war, eine Hochzeitsrücktrittsversicherung abzuschließen?«
Ich stand auf.
»Dein Kleid ist perfekt«, erklärte Tash und grinste mir durch die Tränen zu. »Wir nehmen es. Und jetzt muss ich los.«
»Wohin?«, fragte ich. »Was, wenn ich ein bisschen seelischen Beistand brauche?«
»Aber ich treffe mich mit Olly«, erwiderte sie, »und er hat ausdrücklich gesagt, und ich zitiere: ›Wenn irgend möglich, könnten wir uns dann bitte ohne die jugendliche Delinquentin treffen?‹«
»Immerhin schon besser als Mutantin«, sagte ich.
»Nein, denn mit ›ich zitiere‹ meinte ich eigentlich, ›ich paraphrasiere und lasse die schlimmsten Schimpfwörter weg‹. Gut, ich werde es versuchen.«
»Was?«
Sie stand auf und schloss die Augen. »Ich wünschte, ich wäre wieder sechzehn!«, sagte sie ziemlich laut.
»Oh, das ist eine tolle Idee!« Ich sprang in die Höhe. »Komm auch zurück. Wir hätten bestimmt einen Mordsspaß! Du kannst mitkommen zu Justins Party!«
Sie machte ein Auge halb auf. »Sag bloß, du gehst zu einer Teenie-Party?«
»Ähm, nein.«
»Du Miststück.« Sie zwickte sich in den Schenkel. »Es hat nicht funktioniert, oder?«
»Weiß nicht«, brummte ich.
Sie machte die Augen auf. »Kann ich trotzdem mitkommen zu der Party?«
»Erinnerst du dich noch an diese kanadische Lehrerin, die sie eingelocht haben, weil sie mit ihren Schutzbefohlenen angebandelt hat?«
»Dreck, Dreck, Dreck.«
»Viel Glück für den glücklichsten Tag Ihres Lebens«, rief die Verkäuferin uns hinterher, als Tashy und ich gebeugt nach draußen schlurften.
Stanzi und ich spielten in der Küche meiner Eltern verrückt. Wir hatten uns gemeinsam im Badezimmer hergerichtet, und ich hatte sie mit Nick Kershaw bekannt gemacht. Die Platte hatte ich in der Sammlung meiner Eltern entdeckt, was ja schon schlimm genug war. Stanzi trug blaue Wimperntusche auf einem Auge und grüne auf dem anderen, während ich mich fragte, wie ich es anstellen sollte, mein gestreiftes Top möglichst weit runterzuziehen.
»Meinst du, es macht was, dass man den Träger von meinem BH sieht?«
Stanzi schnaubte vernehmlich und rieb sich noch etwas mehr Rouge auf ihre ohnehin schon rundlichen Apfelbäckchen. »Ich habe noch nie was davon gehört, dass es jemandem was ausgemacht hätte, wenn man einen BH-Träger sieht.«
Die Antwort lautete also vermutlich nein. Wir veranstalteten einen richtigen Affentanz, bis wir beide total umwerfend aussahen (zumindest für Transen), und nachdem wir eine Schneise der Verwüstung im Badezimmer hinterlassen hatten - hey, gelegentlich musste ich doch mal ein bisschen gedankenlos wirken, sonst würden meine Eltern noch Verdacht schöpfen -, stöckelten wir nach unten.
»Ähm ... sehr hübsch«, nuschelte mein Dad mit zusammengekniffenen Augen. »Was meinst du, Joyce?«
Meine Mutter blickte auf. »Sag du‘s ihnen.«
»Ich glaube, diesen Kampf würde ich mir heute gerne ersparen«, entgegnete mein Dad.
Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und zog meinen Pulli noch ein bisschen weiter nach unten, nur weil der Teufel mich ritt.
»Das reicht«, sagte mein Dad. Und mit einem Mal fiel mir auf, dass seine Hand auf der meiner Mutter lag und sie tapfer lächelte und ihm bei seiner kleinen Gardinenpredigt den Rücken stärkte. Na, wer hätte das gedacht.
»Ich weiß, es ist völlig sinnlos, euch zu sagen, ›trinkt nichts‹, aber ich möchte, dass ihr beide nichts Unvernünftiges tut.«
Wir nickten eifrig und hüpften ungeduldig von einem Bein aufs andere.
»Und lasst auf keinen Fall eure Gläser aus den Augen.«
»Ich glaube, bei Clellands Party dürfte die Gefahr von K.o.-Tropfen in den Getränken relativ gering sein.«
»Man kann nie wissen, Schlaumeierin.«
»Wir halten uns an Alkopops«, ging Stanzi mutig dazwischen. »Keine Sorge, Mr. Scurrison, ist doch bloß zwei Häuser weiter.«
»Keine Sorge, während ihr beide die ganze Nacht lang bis zum Umkippen Alkopops süffelt. Ich werde mir Mühe geben«, sagte mein Dad kopfschüttelnd und sah meine Mutter an.
»Also, ich halte euch beide für sehr vernünftige Mädchen«, erklärte meine Mutter, »aber denkt immer daran, dass es ein schlimmes Ende nehmen kann, wenn ihr mit den Jungs zu weit geht.«
»Ja - ehe man sich‘s versieht, ist man 32 und verheiratet«, unkte ich, aber ziemlich leise.
»Nicht, dass ihr denkt, wir wollten euch den Spaß verderben«, fuhr mein Dad fort. »Wir wollen bloß, dass es dabei sicher und vernünftig zugeht.«
»Das klingt aber gar nicht mehr nach Spaß.«
»Ich hole euch um ein Uhr ab.«
»Dad, es ist doch praktisch gleich nebenan!«
»Darum solltet ihr bis dahin auch lieber zu Hause sein. Wenn ihr verhindern wollt, dass ich da auftauche. Im Pyjama. Mit offenem Hosenstall.«
»Okay«, bremste ich ihn.
Er lächelte.
Ich wäre am liebsten noch ein paar Mal um die Häuser gelaufen, damit wir nicht ganz so irre früh dran waren, aber Stanzi wollte nichts davon wissen.
»Willst du, dass mein Make-up total verschmiert und ich keine Jungs abkriege? Ist das dein geheimer Masterplan?«
»Nein, ich will bloß verhindern, dass wir zwei wie Idioten im Wohnzimmer sitzen und darauf warten, dass seine Eltern endlich gehen.«
»Nein! Wir gehen jetzt sofort da hin! Jetzt sofort! Jetzt sofort! Dann können wir vorher noch mit Ethan reden! Der ist bestimmt auch so früh da.«
»Ich glaube, du solltest dir, was Ethan angeht, keine allzu großen Hoffnungen machen, Stanzi.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
»Ich, ähm ... weißt du, ich glaube, er könnte möglicherweise schwul sein.«
Ich beobachtete Stanzis Gesichtsausdruck, während sie sich nach Kräften bemühte, diese unerwartete, ungeheuerliche Information zu verdauen.
»Aber ... aber er ist doch so hübsch!«
Ich nickte.
»Und so sauber und gepflegt!«
Ich nickte abermals.
Sie verzog das Gesicht. »Da ist eindeutig Stephen Gately von Boyzone dran schuld«, verkündete sie düster.
»Das glaube ich nicht«, widersprach ich.
»Jetzt muss ich mich wohl doch mit Kendali zufrieden geben.«
Kendall war ein süßer Junge mit Pickeln und Brille, der in Englisch hinter uns saß und Stanzi immer schmachtende Blicke zuwarf. Ich war fest davon überzeugt, dass er da noch rauswachsen und ein richtig schnuckeliges Kerlchen abgeben würde, aber momentan war er genauso unbeliebt wie wir.
»Was hast du denn an Kendall auszusetzen?«
»Er ist ein Weichei.«
»Gar nicht wahr. Das wird noch ein richtiger Herzensbrecher, und trotzdem hat er dich nicht verdient.«
Wir standen am Gartentor. Drinnen brannten rote Lampen, und man hörte deutlich Rap-Musik. Ein paar uneingeladene Radaubrüder lungerten angepisst vor dem Tor rum.
Ich schluckte schwer. Ich guckte Stanzi an, die genauso nervös war wie ich. Das war doch total dämlich. Ich konnte quietschvergnügt zu Meetings mit Furcht einflößenden Kunden gehen, zu Firmenfeiern mit hunderten von Leuten und zu Hochzeiten wildfremder Menschen und mich überall wacker schlagen. Bei wichtigen Anlässen waren alle Beteiligten immer ein bisschen nervös, aber wenn man den ersten Schritt machte und jemanden ansprach, war das Eis meist schnell gebrochen.
Aber diesmal war alles ganz anders. Das hier war ein Dschungel; eine vollkommen fremde, außerirdische Zivilisation mit ganz eigenen Regeln, die ich noch nie verstanden hatte. In der Schule tat man zumindest so, als hätten die Erwachsenen alles im Griff. Hier dagegen tobte ein offener Bürgerkrieg, in dem alle Waffen erlaubt waren. In einer Welt, in der alle die Regeln und einander kannten. Außer mir. Gott verdammt, war ich nervös.
»Tja, es geht doch nichts über ein bisschen Spaß, oder?«, sagte ich zu Stanzi, die so verängstigt wirkte, als würde sie jeden Moment in die Löwengrube geworfen. Was ja auch irgendwie stimmte.
»Vielleicht wir gehen doch noch um die Häuser«, schlug Stanzi schnell vor.
»Glaub mir«, versuchte ich sie zu beruhigen, »es wird schon schief gehen.« Ich nickte und versuchte, mich selbst ebenfalls davon zu überzeugen. »Stell dir einfach vor, mit diesem Abend beginnt unser Leben als heiße Partymäuse, und jedes Mal wird es uns ein bisschen mehr Spaß machen. Versprochen. Und irgendwann kommt dann der Punkt, wo Partys auf einmal nur noch halb so viel Spaß machen, weil alle bloß noch über Immobilienpreise und Au-pair-Mädchen reden. Aber darüber kannst du dir Gedanken machen, wenn es so weit ist.«
»Ja?«, meinte Stanzi zweifelnd.
»Komm«, sagte ich, »gehen wir.«
Und damit öffnete ich das Tor und beinahe gleichzeitig ging die Haustür auf, und wir wurden hineingelassen, und der Qualm, die Hitze und der Krach waren fast schon einladend.