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Die Zeitungen kündigten an, dass der High Court an diesem Tag gegen den Kunst- und Antiquitätenhändler Henry Hewitt wegen Diebstahls, Hehlerei und Urkundenfälschung sowie Steuerhinterziehung Anklage erheben würde. Die Staatsanwaltschaft habe ihre Ermittlungen erfolgreich abgeschlossen. Willem grinste in sich hinein. Sollte es doch so etwas wie Gerechtigkeit in dieser Welt geben?

Die Abendnachrichten des Fernsehens brachten die Bestätigung. Sie zeigten Hewitt, wie er beim Verlassen des Gerichts, eskortiert von zwei Anwälten, durch einen Korridor von Fotografen und Kameraleuten schritt. Doch dann folgte die große Überraschung. Auf dem Bildschirm in Willems Ein-Zimmer-Appartement tauchte Anne-Marie auf. Sie stand an dem Treppeneingang ihres Hauses. Im Hintergrund war deutlich die blaue Tür mit der 46 zu sehen.

Sie las mit heller klarer Stimme und gefälligem französischem Akzent eine Erklärung vor, in der sie der »bösartigen Behauptung« widersprach, sie sei an diesem internationalen Schmuggel von gestohlenen oder gefälschten Kunstgegenständen beteiligt.

»Ich bin Hausfrau und Mutter und habe seit meiner Eheschließung keine andere Tätigkeit ausgeübt. Die infamen Verdächtigungen sind für mich ein weiterer Beweis, dass es sich auch bei den Anschuldigungen gegen meinen Mann, Henry Hewitt, um eine fein gesponnene Intrige handelt, die zum Ziel hat, die Existenz meines Mannes und meiner Familie zu zerstören.«

Mit trauriger, aber gefasster Miene dankte Anne-Marie den »Ladies und Gentlemen von der Presse« für ihre Aufmerksamkeit, drehte sich um und verschwand im Haus.

Für einen Augenblick war Willem wie benommen. Er wusste nicht, was er von dem spektakulären Auftritt halten sollte. Er hatte doch die ganze Affäre Hewitt aufmerksam verfolgt, die Berichte aller großen englischen Zeitungen gelesen. Nirgendwo war die Rede davon, dass Lady Anne-Marie an den Machenschaften ihres Mannes beteiligt sein könnte. Warum dementierte sie einen Verdacht, den es gar nicht gab?

Die Antwort erhielt er am nächsten Morgen. Fast alle Zeitungen brachten auf Seite eins das Bild von Lady Hewitt, auf dem sie, vor ihrer blauen Haustür stehend, fast schüchtern in die Kameras schaute. Das einfache graue Kleid und der schlichte weiße Kragen, das blonde, streng zurückgekämmte Haar, ihr ernster Blick aus ihren grünen Augen – alles an ihr strahlte Unschuld und Anmut aus. »Eine Frau kämpft um ihre Familie« und »Tapfere Lady Anne-Marie wehrt sich gegen böse Gerüchte« und ähnlich lauteten die Bildunterschriften. Natürlich!

Willem hätte darauf früher kommen können. Den Auftritt hatten sich Hewitt und seine spitzfindigen Anwälte ausgedacht. Ein Ablenkungsmanöver. Henry Hewitt hatte seine Frau benutzt. Das Bild seiner schönen blonden Frau sollte die Berichterstattung über die jüngste Entwicklung in der Affäre bestimmen, und nicht, wie Henry Hewitt vom Gericht die Anklageschrift entgegen nehmen musste. Der Coup war gelungen. Und er lieferte Willem einen weiteren Grund, Henry Hewitt abgrundtief zu hassen.

 

 

Beim Aufwachen dachte er daran, dass er am nächsten Sonntag Pia und Nikita wieder sehen würde. Immer noch hatte er keinen Plan, wie sie die Entführung durchführen könnten. Die Schule, die die Tochter der Hewitts besuchte, war keine fünf Minuten von seinem Stammcafé entfernt. Dort ging Willem hin. Vielleicht würde er hier einen Anhaltspunkt finden. Der Unterricht musste ungefähr vor zweieinhalb Stunden begonnen haben. In der schmalen Gasse war es ruhig. Auch auf dem Schulhof tat sich nichts. Er stellte sich vor, wie die kleinen Mädchen in ihren grauen Röcken und blauen Blazern aufmerksam dem Unterricht folgten.

Als Kind hatte er die Schule gehasst. Er hatte Angst gehabt zu versagen und dem Zorn der Lehrer ausgeliefert zu sein. Seine Einstellung änderte sich erst in den höheren Klassen des Gymnasiums. Auch wenn er kein überragender Schüler war, so kam er dort mit den meisten Lehrern gut zurecht. Auch mit den meisten Klassenkameraden. Auf dem Gymnasium war immer etwas los gewesen. Und man war nie allein.

Sollte er warten? Aber worauf? Das Schultor war verschlossen. Und die Idee, ein Kind während der Pause vom Schulhof zu zerren, wäre sowieso absurd. Er würde sich lächerlich machen, einen solchen Vorschlag Pia und ihrem Russen zu unterbreiten. Sollte er warten, bis Anne-Marie Patricia abholte? Er kannte den Ablauf nun. Und konnte ihn Pia und dem Russen schildern. Hatte er sich den Namen der Schule bereits notiert? »Our Lady of Victories«. Er schrieb ihn sich auf, zur Sicherheit.

Es war immer noch schwül. Zu Hause wäre es verhältnismäßig angenehm gewesen. Aber Willem konnte nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben, tagsüber schon gar nicht. Missmutig schlenderte er weiter zur Gloucester Road, die das ganze Jahr über von Touristen belebt wurde. In der Nähe gab es viele zweit- und drittklassige Hotels, die dennoch horrende Preise verlangten. London war teuer und wurde immer teurer. Das hatte er bereits in den beiden Jahren, die er hier lebte, feststellen müssen. Er sah von weitem das Natural History Museum. Er hatte Leute davon begeistert reden gehört. Willem hatte es selbst noch nicht besichtigt. Er war an Naturwissenschaften nicht interessiert. Er wollte es sich aber anschauen, ein andermal, irgendwann.

Auf der anderen Seite der Cromwell Road wandte er sich nach links und bog gleich rechts in einen schmalen Fußgängerweg ein. Er führte zu kleinen gepflegten Straßen, die sich parallel zur Gloucester Road entlang schlängelten. Hierhin kamen nur zufällig Touristen. Niedliche Kutscherhäuser wechselten sich mit eleganten Appartementgebäuden ab, in denen viele Diplomaten leben mussten, wie Willem den mit einem schwarzen D gekennzeichneten gelben Nummerschildern der parkenden Autos entnahm.

Vielleicht hätte er auch Diplomat werden sollen, dachte Willem. Man wurde nicht reich dabei, aber man verdiente genug. Der häufige Wohnortwechsel hätte ihm gefallen. Schließlich hing er an nichts. Die äußeren Veränderungen hätten ihn von der Ereignislosigkeit seines sonstigen Daseins abgelenkt. Aber für eine diplomatische Karriere war es zu spät.

Sein schlechtes Gewissen trieb Willem weiter. Er konnte nicht den ganzen Tag verbummeln, wie er so viele Tage verbummelt hatte. Er beschleunigte seine Schritte und verließ das reizvolle Viertel, ging schnellen Schrittes die Kensington High Street hinunter und rechts in die Phillimore Gardens hinein, die Straße der Hewitts. Nur hier, glaubte Willem, könnte er letztlich eine Antwort darauf finden, wo am besten die Entführung ihren Ausgang nehmen sollte.

Um nicht aufzufallen, ging Willem zügig die Straße entlang. Im Haus mit der nachtblauen Tür war keine Bewegung zu erkennen. Er konnte schlecht stehen bleiben, also ging er weiter die Straße entlang und in den Holland Park hinein. Er dachte angestrengt nach. Gäbe es eine Möglichkeit, das Kind ohne Begleitung aus dem Haus zu locken? Ihm fiel keine ein. Oder eine Möglichkeit, im Park an das Kind heranzukommen? Wenn Hewitt dabei wäre? Nein. Zu gefährlich. Und wenn Anne-Marie dabei wäre? Die Vorstellung, Anne-Marie könnte Zeugin der Entführung ihrer Tochter werden, war ihm unerträglich. Das dürfte nicht geschehen. Auf gar keinen Fall.

Zum ersten Mal bemerkte Willem, dass er außerhalb seiner vier Wände laut zu sich selbst sprach. Die Polizisten hatten offenbar doch recht gehabt. Er wurde merkwürdig.

Er steuerte geradewegs auf das Parkcafé nahe am Kinderspielplatz zu. Der lange Spaziergang hatte ihn hungrig gemacht. Mit einem Sandwich und einem Milchkaffee auf dem Tablett setzte er sich an einen der Holztische und schaute in den grau-düsteren Himmel. Es würde bald regnen. Gott sei Dank. Die seit Tagen andauernde Schwüle hätte er nicht länger ausgehalten. Schon kündigten einzelne Tropfen den erlösenden Schauer an.

Binnen Sekunden, so schien es ihm, war der Spielplatz entvölkert. Von überall her rannten Menschen herbei, um unter den Steinbögen des Cafés Schutz zu suchen. Da öffnete sich der Himmel mit einem gewaltigen Donner. Willem griff sich nur rasch das Sandwich, Kaffee und Tablett ließ er stehen, und flüchtete zu den anderen unter die Bögen. Auch sie schienen den Wolkenbruch als Erlösung zu empfinden. Eine ansteckende Heiterkeit breitete sich aus.

Da kam einsam eine Nachzüglerin angelaufen. Eine junge Frau. Anne-Marie! Sie lief völlig durchnässt direkt auf ihn zu. Er musste beiseite springen, so kam es ihm jedenfalls vor, sonst hätte sie ihn umgerannt. Anne-Marie stand nur Zentimeter von ihm entfernt, ihm den Rücken zugewandt. Jeden einzelnen der silbernen Tropfen konnte er sehen, der ihre nackten, leicht gebräunten Arme herunter rann. Ihre Haare hatten sich zu winzigen Löckchen zusammengezogen und dufteten nach dem frischen Regen. Willem atmete schwer. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Sie trug nur ein ärmelloses weißes Tennishemd, und blaue Shorts, die sich eng um ihre schmale Taille schlossen. Anne-Marie beugte ihren Kopf nach unten, um sich mit den Händen die Haare zu trocknen. Dann warf sie den Kopf zurück, und ihr feuchtes Haar streifte einen köstlichen Moment lang sein Gesicht.

»Verzeihung!«, sagte sie in einer halben Drehung zu ihm hin, ohne Willem aber wirklich anzusehen.

»Macht nichts!«, versuchte er möglichst natürlich und freundlich hervorzubringen.

Er wusste nicht, ob Anne-Marie ihn überhaupt gehört hatte. Nein, keine Reaktion. Sie beachtete ihn nicht. Was sollte er tun? Er verbat sich zu denken. Nur ihre Nähe genießen, sagte er sich. Anne-Marie warf einen Blick auf ihre zierliche Armbanduhr.

»Wann hört der Regen endlich auf?«

Sprach Anne-Marie zu sich selbst oder zu ihm? Glücklicherweise, hätte er gerne entgegnet, regnet es noch. Doch Willem schwieg.

Wie ein unruhiges Kind wechselte Anne-Marie von einem Bein aufs andere. Und plötzlich rannte sie wieder los, mitten durch den Regen. Willem schaute ihr nach, dann auf seine Uhr. Aber sicher, es war schon zwei Uhr durch, und sie musste Patricia von der Schule abholen. Hätte er doch seinen Schirm dabei, der wie eine traurige Trophäe zu Hause in seinem Zimmer stand! Er hätte Anne-Marie anbieten können, sie durch den Regen zu begleiten. Er wusste, er hätte damit alles riskiert. Sie könnte später vielleicht irgendeinen Verdacht schöpfen, ihn irgendwie mit der Entführung in Zusammenhang bringen. Aber in diesem Augenblick wäre Anne-Marie ihm dieses Risiko wert gewesen.

Willem verfluchte sich selbst. Er kam sich mit seinem angebissenen Sandwich in der Hand lächerlich vor. Er starrte auf den menschenleeren Rasen. Anne-Marie war verschwunden. Aber er glaubte, weiterhin ihre Nähe zu spüren. Es wäre besser gewesen, sich zu kompromittieren, als gar nichts zu tun, sagte er sich, auch wenn er damit alles riskiert hätte.

Willem verfluchte sich, er verfluchte Hewitt, er verfluchte Pia und Nikita, er verfluchte die Entführung. Nie und nimmer könnte er ihre Tochter entführen. Jetzt nicht mehr! Er müsste es Pia und Nikita sagen. Sie könnten sich doch gemeinsam etwas anderes ausdenken, ein anderes Opfer suchen. Aber nicht ihre Tochter. Es müsste doch einen Ausweg geben.

Aber wie es Pia und Nikita beibringen? Er würde sich nur lächerlich machen, wenn er ihnen die Wahrheit sagte. Er müsste ihnen etwas anderes anbieten, irgendeine andere Möglichkeit, um an Geld zu kommen. Erst dann könnte er mit ihnen reden.