3.
Anno Domini 1182
senhart, wo steckst du?«
Die Stimme seines Vaters riss Isenhart nur kurz aus seinen Gedanken. Er stand unter einer Eiche im Wald und hatte soeben eines ihrer Blätter zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetscht.
Grünlicher Saft war dabei ausgetreten. Isenhart hob den Kopf, starrte zur Eiche empor, die ihn um ein Vielfaches überragte. Ein ebenso verwegener wie einleuchtender Gedanke, der vielleicht erklären konnte, weshalb die Bäume im Herbst ihre Blätter abwarfen, kam ihm gerade, als sein Vater ihn ein zweites Mal rief und ihn daran hinderte, den folgerichtigen Schluss zu ziehen. Isenhart wartete die dritte Aufforderung besser nicht ab und ließ die Eiche Eiche sein.
Der Pinkepank Chlodio stand neben dem rauchenden Holz, das durch eine Decke aus Erde und Gras begierig nach Luft schnappte. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, wie er zu sagen pflegte. Er trank den ganzen Tag über Bier und er züchtigte seine Frau und seine Kinder, ein ganz normaler Vater also.
Isenhart fragte sich insgeheim, ob das in hundert Jahren anders sein würde. Dann kniete er sich neben seinen zwölf Monate älteren Bruder Henrick und dichtete das Holz weiter ab, damit es sich nicht entflammte. Wenn es durchs Feuer gefressen wurde, war die Arbeit dahin.
Es gelang ihnen einigermaßen, und Chlodio gab ihnen vom Bier zu trinken, während der stechende Qualm Tränen über ihre Wangen laufen ließ.
Chlodio wies seinen Ältesten an, den Maulesel mit dem Karren herzuschaffen, um die Holzkohle, die die Glut bald geschaffen hatte, zur Esse zu transportieren.
Henrick täuschte Magenschmerzen vor, und als das nichts half, bemühte er zunächst Waldgeister, deren angebliche Umtriebe sein Vater mit einem Tritt in die Rippen quittierte, bis Henrick schließlich Chlodios persönlichen Albtraum bediente: Wölfe.
Als Kind war ihr Vater in einen Zusammenstoß mit einem Wolf verwickelt gewesen. Abends, im Schein einer Wachskerze, wenn genug Bier und Met geflossen waren, wurde er nicht müde, von dem Kampf auf Leben und Tod zu berichten, den er damals überstanden hatte, obgleich sich das Gesinde einig war, dass es ein blindes, sterbendes Tier gewesen sein musste, das – ebenso erschrocken wie Chlodio – vom Hunger ermattet kraftlos gegen ihn gestolpert war.
Nichtsdestotrotz waren ein fahrender Händler und seine beiden Kinder in der schlimmen Hungersnot vor drei Jahren – Isenhart konnte sich erinnern, wie sie im Burginneren an Lederriemen gekaut hatten, während draußen Kinder und Vieh erfroren – von einem Wolfsrudel angefallen und in Stücke gerissen worden.
Isenhart bot sich an, den Maulesel zu holen. Chlodio hatte nichts anderes erwartet, und Henrick versicherte ihm seine ewige Dankbarkeit.
Die Eselin ließ sich bereitwillig von ihm führen. Isenhart achtete darauf, sich stets vor ihr zu befinden, um sie ruhig zu halten – und aus Vorsicht. Das letzte Mal, als Henrick sie vergewaltigt hatte, waren ihre Hinterläufe nicht um eine Antwort verlegen gewesen. Seitdem hielt Henrick Abstand, und wer ihn kannte, sah, dass er ein wenig gekrümmt ging.
Sie hatten die Holzkohle in der Schmiede neben der Esse abgeladen, als Isenhart sich mit schmerzendem Rücken erhob. Der Pinkepank trat auf den Blasebalg, die Holzkohle zischte im Ofen. Henrick und er nahmen das schmutzige Erz, das sie jeden Nachmittag in einem dreißig Fuß tiefen Erdtrichter im Wald abbauten, und warfen es auf die Holzkohle.
Die Schmiede befand sich am äußersten Ende des Burghofs. Im Sommer wurde sie vom Gesinde und der Familie Laurin gemieden, aber im Winter konnten sie oftmals vor Gedränge kaum arbeiten, denn die beißenden Dämpfe, die zischend aus der Esse schossen und die Luft verpesteten, wurden als wärmende Wohltat empfunden.
Wieder kam eine Schicht Holzkohle auf das Erz. Während Walther von Ascisberg schon eine Weile über eine Methode zur Temperaturbestimmung sinnierte, war Isenhart und Henrick nur bewusst, wie unendlich und zum Zerspringen heiß der Ofen glühen musste, damit das Erz sich verflüssigte. Das wechselseitige Schichten von Holzkohle und Erz verbrannte ihnen die Haare an den Armen und raubte ihnen die Luft, die unfreiwilligen Berührungen mit dem Ofen hatten ihnen schwere Brandnaben zugefügt. Meist eiterten sie nicht, weil die Gluthitze jeden Keim zuverlässig vernichtete.
Die Unterarme des Pinkepanks waren übersät mit hellen Strichen, auf denen kein Haar mehr wuchs. Von denen auch Isenhart bereits zwei aufweisen konnte, da ihn sein Vater seit einigen Wochen in der Schmiedekunst unterwies.
Ida kam mit einem Bottich frisch gegärtem Bier zu ihnen. Sie war hochschwanger. Der Pinkepank schöpfte mit seinem Kelch, probierte und war zufrieden. Henrick und Isenhart griffen nach ihren Holzbechern und tranken gierig von dem Bier, das ihre Mutter gebraut hatte. Ihr Bier war das schmackhafteste weit und breit.
In den Jahren zuvor hatte sie zwei tote Kinder zur Welt gebracht. Chlodio war außer sich vor Zorn gewesen, hatte in ihrer Kammer – Schlaflager, Tisch, ein Stuhl – alles kurz und klein geschlagen, bis er sich schließlich mangels anderer Gegenstände, an denen er seinem Schmerz und seiner Scham freien Lauf lassen konnte, Ida zugewandt hatte.
Henrick hatte die Eselin aufgesucht, Isenhart hörte es am Wiehern des Tieres, also stellte er sich vor seine Mutter. »Fass sie nicht an«, sagte er mit einer Stimme, in der Angst und Wut sich die Waage hielten.
Der Pinkepank war für einen kurzen Augenblick fassungslos. Eher hätte er damit gerechnet, dass der Leibhaftige in ihre Stube trat. Was nicht geschah.
»Du kleiner, untoter Bastard«, schnaufte Chlodio.
Und dann bezog Isenhart die Prügel seines Lebens. Der Verlust seines Bewusstseins kam wie eine Erlösung über ihn.
Als er erwachte, beugte sich gerade ein Engel über ihn, das blonde Haar strich über sein Kinn, er konnte die blaue Färbung der Pupillen sehen. »Bin ich im Himmelreich?«, hörte er sich flüstern.
Der Engel war gleichermaßen belustigt wie bestürzt. Die Bestürzung gewann die Oberhand. »Er ist wach«, sagte der Engel, in dem er jetzt endlich Anna erkannte, die älteste Tochter des Fürsten von Laurin. Isenhart blickte von seinem Lager zur Seite. Da war ihre jüngere Schwester Sophia, die roten Haare kurz gestutzt wie bei einem Jungen. Sie streckte ihm die Zunge heraus und versuchte zu schielen.
Ein weiteres Gesicht beugte sich nun über ihn, es war das eines alten Mannes, über fünfzig Lenze hatten tiefe Furchen in sein Gesicht getrieben, das durch Barthaare halb verdeckt war.
»Stirbt er?«
Diese Stimme erkannte Isenhart, er hatte sie hin und wieder vernommen. Sie gehörte zu Sigimund von Laurin, ihrem Herrn, der sich am Eingang zu dem Krankenzimmer befand. Die Arme hingen locker herab, die ganze Gestalt befand sich nicht unter Spannung, Sigimund von Laurin stand einfach da. Und strahlte dabei eine Selbstverständlichkeit des Seins aus, die Isenhart trotz seines Dämmerzustands – oder gerade deswegen – tief beeindruckte. Ich überstehe nicht Steine noch Bäume, schien der ganze Mann auszudrücken, aber ich bin.
Etwas an diesem Gedanken spendete Isenhart Trost.
»Nein«, sagte Walther von Ascisberg, der Mann über ihm. Er betastete Isenharts Auge, die Linien verschoben sich, der Raum schrumpfte. Und dann sprang das Volumen zurück in den Raum und verursachte ihm starke Kopfschmerzen.
»Wer …«, setzte Isenhart leise an.
»Schweig«, befahl der Mann. Er sah tief in sein rechtes Auge, fuhr mit den Fingern erstaunlich sanft über das Lid. »Schließ das linke Auge.«
Isenhart zögerte.
»Das da«, sagte Walther von Ascisberg mit einer leichten Ungeduld in der Stimme und tippte mit dem Zeigefinger neben das Auge.
Isenhart war beschämt, weil der Mann annehmen musste, dass er unfähig war, zwischen links und rechts zu unterscheiden. »Ich weiß«, antwortete er deshalb. Seine Stimme erschien ihm selbst schwach.
»Ich weiß, dass du es weißt, und jetzt schließ das Auge.«
Isenhart fügte sich. Aber er hatte Probleme, das Lid über den Augapfel gleiten zu lassen. Davon abgesehen war es ein Gefühl, als fahre rohes Fleisch über Sand.
Der alte Mann führte ihm seine Hand vor Augen. »Wie weit ist der Abstand zwischen meiner Hand und meinem Gesicht?«, fragte er.
»Eine Armeslänge.«
Von Ascisberg nickte zufrieden. »Jetzt öffne das Auge wieder und schließ das andere.«
Isenhart befolgte die Anweisung.
»Ich will nicht, dass er stirbt«, sagte eines der Mädchen. Es war Anna.
»Anna will Isenhart heiraten.« Das war Sophia.
»Schweigt.« Die Mädchen verstummten, ihr Vater hatte gesprochen.
»Und wie ist der Abstand jetzt?«
»Da ist keiner«, antwortete Isenhart ebenso verblüfft wie erschrocken.
»Auf einem Auge existiert nie ein Raum«, belehrte Walther ihn, »was du eine Armeslänge nennst, basiert auf Erfahrung und Annahme – nicht auf dem, was du siehst, denn mit einem Auge erscheint der Raum als Fläche. Also: Was siehst du jetzt?«
Isenhart konzentrierte sich: »Ich sehe Flächen, die verwoben sind.«
Von Ascisberg kniff die Augen zusammen, und Isenhart ahnte die Anstrengung des Mannes, seinen Worten etwas Greifbares zu entnehmen.
Er sah zur Seite und entdeckte dort ein Flachrelief, das in das Mauergestein gehauen worden war. »So wie das«, sagte er schnell. Walther von Ascisberg warf erst dem Relief einen langen Blick zu, dann dem Jungen auf dem Lager.
»Erblindet er?«, fragte der Fürst.
»Nein, aber er nimmt den Raum jetzt anders wahr als wir«, antwortete von Ascisberg mit einer Gelassenheit in der Stimme, die dazu angetan war, Isenhart zu beruhigen. »Abstände und Maße wirken auf dem einen Auge für ihn anders.«
»Kann er damit arbeiten?«, wollte Sigimund von Laurin wissen und trat an das Lager aus Stroh heran, auf dem Isenhart lag.
Walther von Ascisberg sah zu ihm auf. »Er wird sich daran gewöhnen.«
Es war Sophia gewesen, die seine Schreie gehört und in die Kammer des Pinkepanks getreten war, um unfreiwillige Zeugin eines Bildes zu werden, das sie noch jahrelang verfolgen sollte. Die blutige Fehlgeburt in den Armen der verängstigten Frau, der verdreckte Junge am Boden und dieses Auge, das selbst den tobenden Chlodio von dem Schlag abhielt, zu dem er gerade ausgeholt hatte.
Isenhart war schon nicht mehr bei Bewusstsein. Die Wucht des letzten Fausthiebs gegen seine Schläfe hatte ihm das rechte Auge hinauskatapultiert. Es lag, nur durch die dünne Ader des Sehnervs mit ihm verbunden, eine Handbreit von seinem Kopf entfernt auf dem Boden.
Von Ascisberg hatte ihm den Augapfel mit aller Behutsamkeit zurück in die Höhle gedrückt, wie Isenhart später erfuhr.
Von da an spielten sich vor jedem seiner Augen verschiedene Dinge ab. Dem rechten Auge präsentierte sich die Welt als Relief. Anna, die er seit den zwei Tagen auf dem Krankenlager verehrte, warf ihm hin und wieder etwas zu, wenn ihre Wege sich kreuzten. Einen Stein, einen Stock, solche Dinge. Während der erste Stock ihn noch an der Stirn traf und er eine tiefere Verletzung wegen ihrer Geringschätzigkeit ihm gegenüber als wegen der Schramme empfand, die seine Stirn davontrug, begriff er sehr bald, dass es ihre Art war, ihm einen Gefallen zu erweisen.
Sophia erklärte es ihm, denn es war auch ihre Idee gewesen. Es ging darum – von Ascisberg hatte es in jener Nacht gesagt –, sich an sein verändertes, nicht zwangsläufig reduziertes Sehvermögen zu gewöhnen. Da war sie sechs Jahre alt und Isenhart beeindruckt von der Reife dieses Kindes, das ansonsten mehr Schabernack ausheckte als Henrick und er zusammen.
In der zweiten Woche fing Isenhart die Gegenstände, die Anna ihm zuwarf. Und in der Woche darauf arbeitete er an der Esse, als sei nie etwas gewesen. Mit seinem Vater behandelte er das erste Mal selbst das frisch gewonnene Eisen. Schlagzahl und Wucht der Hammerhiebe waren für ihn ein ebenso unbekanntes Feld wie die Deutung der Verfärbung des erkaltenden Metalls. Chlodio, seit dem Zwischenfall in sich gekehrt und melancholisch, brachte es ihm bei, und wenn er einen Fehler beging, begnügte sein Vater sich mit einem kräftigen Tritt gegen sein Schienbein.
»Du untoter Bastard«, sagte Isenhart bei einer Gelegenheit, »was habt Ihr damit gemeint?«
»Das habe ich nie gesagt«, erwiderte der Pinkepank und hämmerte heftiger auf das Metall, das einmal das Scharnier für das neue Burgtor werden sollte. Isenhart hatte die Lüge schon erkannt, bevor sie den Mund des Pinkepanks verließ. Und damit auch die Unmöglichkeit, jemals eine ehrliche Antwort auf seine Frage zu erhalten.
Die Verletzung verlieh ihm allerdings auch eine neue Fähigkeit: Kniff er das linke Auge zu, verhalf das Relief, das sich plötzlich aus der Fläche erhob, seinen Hieben am Amboss zu einer traumwandlerischen Zielgenauigkeit.
Kein Stock und kein Stein, den er nicht mehr fing.
Als der Herbst nahte, gebar Ida einen Sohn. Henrick, der von Esel zu Schaf gewechselt hatte – Esel sind so unruhige Tiere –, kümmerte sich zusammen mit Isenhart um den Nachwuchs, der Frieden in das Haus brachte. Selbst Chlodio lebte auf. Henrick schwor Stein und Bein, ihn lachen gesehen zu haben.
Als Sophia einmal vorbeischaute und den Kleinen, Ludwig, nach dem gerade verstorbenen Landesfürsten von Württemberg benannt, im Arm hielt und dieser zu lächeln begann, schrie sie unvermittelt auf und brach in Tränen aus. Henrick nahm den Bruder an sich, Isenhart fragte Sophia, was sie bedrückte, obwohl er kein wirkliches Interesse für die wechselhaften Gefühle der kleinen Fürstentochter empfand.
»Nichts«, sagte Sophia und verschwand. Und beides war Isenhart recht.
Erst später begriff Isenhart, wie oft Walther von Ascisberg lenkend in sein Leben eingegriffen hatte. An einem regnerischen Septembermorgen tauchte er plötzlich in der Schmiede auf, eine hagere Gestalt, das Gesicht ausgezehrt, die Augen wach und auf den Pinkepank gerichtet. »Ab jetzt kann Isenhart dir nur noch am Nachmittag zur Hand gehen«, sagte er.
Walther von Ascisberg wirkte auf den ersten Blick unscheinbar, ein Mann, den man durchaus übersehen konnte. Und doch war er in gewissem Sinne aus demselben Stoff wie Sigimund von Laurin. Egal, welchen Raum sie betraten, immer beherrschten die beiden ihn auch.
Chlodio erhob keine Widerrede, und von Ascisberg nahm Isenhart mit sich.
Isenhart spürte zum ersten Mal in seinem Leben ein Pferd, das sich unter ihm bewegte und ihn durch die Landschaft trug. »Tut das dem Pferd weh?«, fragte er.
Von Ascisberg lächelte und schüttelte dann den Kopf. Danach verdoppelte sich Isenharts Genuss.
Sie erreichten eine Lichtung, sanfter Nieselregen setzte ein.
»Du wirst«, sagte Walther von Ascisberg, »ab heute etwas erhalten, was dem Stand der Nobile vorbehalten ist: Bildung.«
Isenhart ahnte, dass das wohl eine Art Geschenk sein sollte. Er nickte ehrfürchtig und schwieg, um keinen Fehler zu begehen. Er war den Umgang mit Geschenken nicht gewohnt. Und er wusste auch nicht, was Bildung ist.
»Muss ich dafür weg?«
Walther von Ascisberg schüttelte erneut den Kopf und schmunzelte. »Du wirst die Sprache der Gelehrten lernen«, erwiderte er dann.
Sie hatten einen kleinen Fluss erreicht. Von Ascisberg saß ab, und auch Isenhart rutschte so elegant wie möglich vom Rücken des Pferdes.
»Sieh.«
Isenhart sah ein großes Rad aus Holz, das von der Strömung des Flusses in Bewegung gehalten wurde. Am Rand des Rads waren kleine Gefäße angebracht, die fünf oder sechs Kellen vom Wasser aufnahmen und es, in ihrer unweigerlichen Abwärtsbewegung, in eine hölzerne Rinne entluden. Isenharts Augen folgten dem Verlauf der Rinne. Walther von Ascisberg beobachtete jede seiner Regungen.
»Wohin wird das Wasser getragen?«
»Zu einer Siedlung, sie brauchen es zum Leben, für das Vieh, die Schmiede. Zu allem. Niemand muss jetzt mehr zum Fluss.«
Isenhart verstand. Sein Blick war auf das Rad und seine Funktionsweise geheftet. Es war ebenso einfach wie gewitzt. Er sah zu von Ascisberg. »Habt Ihr es gebaut?«
»Nur erdacht. Das Gesinde hat es gebaut.«
Isenhart durchlief ein Schauer. »Warum werfen die Bäume im Herbst ihr Laub ab?«
Walther von Ascisberg, selbst ganz versunken in den Anblick seines Werkes, versunken in der immer gleichen Bewegung und dem steten Fluss des Wassers in der Rinne, merkte auf und musterte den Jungen. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist es Gottes Wunsch, dass sie es tun.«
Isenhart nickte, aber von Ascisberg konnte ihm an der Nasenspitze ablesen, dass er sich damit nicht zufriedengeben würde, und prompt kam die Bestätigung: »Aber warum ist es Gottes Wunsch?«
»Die Wege des Herrn sind unergründlich.«
Isenhart nickte, doch sein Blick galt dem Wasserrad. Und von Ascisberg konnte es ihm nicht verdenken, denn ebenso gut hätte er gar keine Antwort geben können.
»Was ist, wenn der Fluss irgendwann kein Wasser mehr führt?«
»Der Fluss versiegt nicht.«
»Warum?«
»Ich habe noch nie von einem Fluss gehört, der versiegt wäre.«
»Und wenn doch?«
Der Junge wurde langsam anstrengend.
»Dann muss das Gesinde zu einem anderen Fluss gehen und sich sein Wasser wieder selbst holen.«
Isenhart spürte, wie seine Fragen den Unmut des Mannes neben ihm hervorriefen, und obschon er wohl einen Tag ununterbrochen hätte reden müssen, um auch nur die dringendsten Fragen zu stellen, die ihn bewegten, schwieg er daher.
So standen sie einige Augenblicke am Ufer und bemerkten am Glitzern des Wassers, dass die Sonne sich gegen den Regen durchgesetzt hatte.
Von Ascisberg selbst war im niederen Adel geboren worden, wie er zu erzählen begann. Er hätte es sich auf dem Landsitz seines Vaters bequem machen und den Knechten beim Arbeiten auf den Feldern zusehen können. Aber ihn trieb dieselbe Frage um, die er auch bei Isenhart immer lauter zu vernehmen meinte: Warum?
Warum werfen die Bäume im Herbst ihr Laub ab? Warum ändert der Mond seine Form, wachsen den Toten Nägel und Haare, fällt alles zu Boden, statt zu schweben, und warum verlieren die Menschen nach und nach ihre Zähne? Und warum, schloss Walther von Ascisberg, sollten die Bewohner einer Siedlung täglich den Weg zum Fluss auf sich nehmen, wenn man den Fluss zu der Siedlung fließen lassen kann?
»Das Wasserrad«, erkannte Isenhart.
Von Ascisberg nickte. Er erklärte ihm, wie der Unterricht, den er von nun an von Pater Hieronymus erhalten sollte, Türen für ihn aufstoßen würde, die einem Jungen aus seinem Stand für gewöhnlich zeit seines Lebens verschlossen blieben.
»Aber«, fügte von Ascisberg hinzu, »durch die Türen muss man immer noch selbst gehen.«
Isenhart wollte sich der Sinn dieser Worte im Moment nicht erschließen, aber das tat seiner zunehmenden Aufgeregtheit keinen Abbruch. In seinem Bauch war ein Kribbeln entstanden, das ihn jetzt ganz erfasst hatte. Seine Intuition sagte ihm, dass er auf der Schwelle zu einer neuen Welt stand.
Sie kehrten zu den Pferden zurück, die in der Nähe grasten.
»Es ist ein Privileg«, sagte Walther von Ascisberg.
»Was ist das?«
»Es stammt aus einer Sprache, die du jetzt lernen wirst: Latein. Es ist die Sprache der Gelehrten. ›Privileg‹ bedeutet ein Vorrecht für den Einzelnen. In diesem Fall für dich.«
Walther von Ascisberg half ihm hinauf aufs Pferd, bevor er sein eigenes bestieg. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück.
»Warum tut Ihr das für mich?«
»Weißt du, was ›verwandte Seelen‹ sind?«
»Nein.«
Walther von Ascisberg nickte sich selbst auf eine Weise zu, die keinen Zweifel daran ließ, dass er mit dieser Antwort gerechnet hatte.
Ihr Rückweg nahm eine gute Stunde in Anspruch, und in der erklärte er Isenhart, was es bedeutete, wenn fremde Menschen im Gleichtakt schwangen.