2.

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igimund von Laurin war es gewohnt, von der oberen Wehrmauer, an der er stand, die Umrisse des Ascisbergs zu sehen, der sich weithin sichtbar dem Himmel entgegenreckte, aber dichtes Schneetreiben versagte ihm diesmal den Anblick. Der Wind pfiff über das Gestein, es war kalt.

Er presste das doppelte Kuhfell an sich und warf einen Blick hinab in den Burghof, wo Ruprecht sich anschickte, zwei Gruben ins Erdreich zu treiben, bevor der Frost ihm einen Strich durch die Rechnung machen konnte.

Sigimund schaute an Walther von Ascisberg vorbei zu dem dürren Barbier, der dem Hause Laurin auch als Medicus zu Diensten war. Im Augenblick untersuchte er im Schutz des Turmaufgangs das Neugeborene, das sein alter Weggefährte mitgebracht hatte.

»Es war tot«, sagte Sigimund ohne Umschweife, wie es seine Art war.

Walther von Ascisberg konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Woher weißt du das?«

Ein Lächeln zog über Sigimunds Gesicht und war so schnell wieder verschwunden, dass es von Ascisberg schwerfiel zu bestimmen, ob er es überhaupt gesehen hatte.

»Das Gesinde«, erwiderte der Burgherr, »ist immer noch der verlässlichste Kurier.« Er schritt ein wenig an der Wehrmauer entlang und sah hinab zu der Quelle des metallischen Geräusches, das klar und nüchtern durch den Schnee drang. Der Pinkepank ließ den Hammer auf ein Hufeisen fahren. Wieder und wieder, unermüdlich. »Ein Untoter, der ein Stück seiner Seele in sich trägt. Ich sollte das Bündel nehmen und es über die Mauern werfen.«

»Er ist jetzt auch für ein Stück meiner Seele Unterschlupf«, erwiderte von Ascisberg. Ihre Blicke begegneten sich, während die Schneeflocken zwischen ihnen die Strömungen des Windes markierten.

»Lebt er?«, fragte von Laurin unvermittelt.

»Er hat zwei Soldritter erschlagen. Ich nehme es an, ja.«

Sigimund von Laurin war nicht verwundert über die Antwort. Er beobachtete Walther von Ascisberg, eine dürre Gestalt im Kettenhemd, die so verletzlich wirkte, dass er den Reflex verspürte, ihn vor den Kamin zu setzen – aber er widerstand dem Impuls, weil er wusste, aus welchem Stoff sein Freund gemacht war.

»Warum sollte ich das tun – den Knaben aufnehmen?«

»Deus vult«, erwiderte Walther von Ascisberg.

Sigimund von Laurin wusste nicht, ob er verärgert oder froh sein sollte, diese Worte zu hören.

Deus vult war die Parole der Katholischen Kirche, mit der sie Abertausende ins Heilige Land entsandt hatte, um das Grab des Herrn vor den Ungläubigen zu sichern, wie er sich nur zu genau erinnerte. »Gott will es« brachte den Vorteil mit sich, dass niemand, der nicht öffentlich zu brennen gedachte, widersprach.

»Der kleine Bastard war tot«, stellte Sigimund von Laurin fest, »wie kommt es, dass er die Luft atmet, die wir auch atmen? Wie kommt es, dass sein Herz schlägt? Er könnte ein Vorbote des Antichristen sein.«

Walther von Ascisberg bekreuzigte sich eilig.

Sigimund von Laurin lächelte, weil es ihm gelungen war, den Freund zu dieser Geste zu provozieren. Aber seine Belustigung war nicht frei von Unbehagen. Dem Unbehagen, seinen Worten könnte etwas Wahres anhaften.

Unten im Hof jammerte ein Kind. Von Laurin erkannte die Frau des Schmieds. Ihr Name war Ida, sie trug ihren einjährigen Sohn mit sich herum.

»Der Pinkepank soll ihn aufziehen. Sein Weib kann ihn stillen.«

Walther von Ascisberg hatte keinen Zweifel gehabt, wie sich sein Freund entscheiden würde. Er erkundigte sich nach dessen Familie und erfuhr, dass Schelm, der Älteste, zu seinem Herrn gerufen worden war.

»Ein Unfall?«

Von Laurin schüttelte den Kopf: »Gemeiner Sterb.«

Grippen und Seuchen rafften die sehr Jungen und die Alten regelmäßig dahin. Es war die gängigste Todesursache.

Der neue Stammhalter hieß Konrad, erfuhr Walther von Ascisberg, er war ein Jahr alt und konnte schon laufen. Kinder kamen und gingen, kaum hatte man sich ihre Namen eingeprägt, hatten sie den Löffel an den Nächstälteren abgegeben. Wer das zehnte Lebensjahr vollendete, so hatte Walther von Ascisberg in seinen Aufzeichnungen festgehalten, war gegen den Gemeinen Sterb gut gewappnet. Vielleicht lag es daran, dass in diesem Alter, in dem sie alle langsam flügge wurden, die vier Lebenssäfte miteinander in Einklang gerieten. Das, so rief er sich ins Gedächtnis, galt es noch zu erforschen.

Und obwohl Sigimund von Laurin schon Kinder verloren und gelernt hatte, sein Herz nicht allzu sehr an sie zu binden, um im Fall ihres Todes nicht wochenlang aus der Bahn geworfen zu werden – immerhin oblag ihm die Verantwortung für Haus, Hof und Gesinde, eine Pflicht, die keine Pause duldete –, hörte Walther von Ascisberg Zuneigung in der Stimme des Freundes, als er von seinem Sohn Konrad sprach.

»Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Bei der Sonnenwendfeier vorletztes Jahr?«, fragte von Laurin. In seinen Worten schwang keinerlei Bitterkeit mit, nur Bedauern.

Walther nickte. »Ich habe deine Gesellschaft auch vermisst«, antwortete er.

»Wo warst du?«

»Hier und da. Und Sydal auf den Fersen.«

Es war beschwerlich gewesen, aber das brachte das Reisen stets mit sich. Er erzählte von seiner Reise nach Iberien, genauer gesagt nach Toledo. Eine einzige Strapaze. Sydal hatte es dorthin verschlagen gehabt, den Grund dafür ahnte Walther, und als er Nachforschungen anstellte, stieß er auf Ablehnung und offene Bedrohung. Auf dem Rückweg hatte ihn in den Pyrenäen, wie er Sigimund berichtete, die Nachricht erreicht, dass ein gewisser Saladin Sultan von Ägypten geworden sei.

»Die Herrscher der Muselmanen kommen und gehen«, lautete Sigimunds Kommentar.

»Er hat eine Vielzahl der arabischen Stämme hinter sich geeint«, erwiderte von Ascisberg.

»Das ist allerdings eine Leistung«, gab der Burgherr zu, »vielleicht gelingt es ihm ja, ein paar Monate zu überleben, ohne vergiftet zu werden.«

Sie schwiegen einen Moment, ihre bevorzugte Disziplin. Es war ein Leichtes, jemanden zum Reden zu finden, aber ein Glücksfall, auf jemanden zu treffen, mit dem man beredt schweigen konnte. Sie hatten sich nie über diesen Umstand ausgetauscht und sollten das auch bis an ihr Lebensende versäumen. Aber unausgesprochen fühlten sie die Wertschätzung dieser Seelenverwandtschaft beim anderen.

»Ich möchte, dass er lesen und schreiben lernt«, sagte Walther von Ascisberg unvermittelt.

»Er muss nicht lesen können, um ein Feld zu bestellen.«

»Trotzdem.«

»Wozu? Ich kann selbst keines von beidem.«

»Und Konrad auch.«

Ihre Blicke begegneten sich. Sigimund von Laurin war nicht verärgert, nur irritiert.

»Konrad soll kein Mönch werden. Er soll das Wort führen und das Schwert.«

»Meinst du, lesen und schreiben wäre für ihn von Nachteil?«

»Es wäre Zeitverschwendung.«

»Die Zeit, die du den beiden für das Lesen und das Schreiben gibst, wird dir hundertfach vergolten werden, glaub mir.«

Sigimund von Laurin konnte das nicht glauben. Etwas hundertfach vergelten … »Wie soll das gehen?«

In Walther von Ascisbergs Lächeln lag keine Abschätzigkeit. »Die Zeiten nehmen ihren Lauf. Du wirst es noch erleben, dass Lesen und Schreiben und andere geistige Fähigkeiten mächtiger sein können als hundert Soldritter. Und ertragreicher als hundert Morgen. Und wenn es so weit ist, ist dein Stammhalter vorbereitet.«

Von Laurin überlegte, sah noch einmal hinaus zu der Silhouette des Ascisbergs, zu dessen Füßen Walther seine Kindheit verbracht hatte, und richtete den Blick wieder auf den Freund.

Soldrittern konnte man sich entgegenwerfen, Erde und Bäume anfassen, mit der bloßen Hände Arbeit eine ganze Landschaft verändern. Dazu brauchte man keine Buchstaben, und Wissen ließ sich nicht anfassen. Fällte Wissen vielleicht einen Baum oder – viel wichtiger – füllte es den Bauch? Nein, es war nur gut für unpraktisches Gerede.

Wozu sollte man Lesen lernen? Es gab nur ein Buch, die Heilige Schrift, und die Geistlichen besorgten das Vorlesen und Seiern. Wozu schreiben? Ein Wort war schneller gesagt als geschrieben, schreiben machte alles langsamer und komplizierter. Denn was nützte auch das gelehrteste Schreiben, wenn der Empfänger es nicht lesen konnte?

Sigimund von Laurin fand nichts Vernünftiges an dem Anliegen seines Freundes. Aber eine Freundschaft wie die zwischen ihnen war rar, Sigimund wollte sie nicht missen, und vielleicht – wer weiß – hatte Walther wie so oft recht, auch wenn Sigimund es dieses Mal nicht glauben wollte. Außerdem würde Konrad das Lesen und Schreiben nicht zum Nachteil gereichen, wenn er, Sigimund, nur darauf achtete, dass seine Kampfausbildung neben all dem nutzlosen Tand nicht zu kurz kam.

Also willigte er ein.

Der Barbier trat mit dem Säugling zu ihnen. Der Kleine war ganz still, als von Laurin sich über ihn beugte und mit Blicken den kleinen Körper bemaß.

»Er ist schwach, klein und kränklich, Herr«, sagte der grauhaarige Mann, »er wird den Winter nicht überstehen. Falls doch, muss er eiserne Härte beweisen.«

Sigimund warf von Ascisberg einen Blick zu, der dort schlotternd in seinem viel zu weiten Kettenhemd stand und keine Miene verzog. »Also gut. Der Knabe bleibt ohne Namen. Aber wenn er im Frühjahr noch lebt, dann soll er auch ›Isenhart‹ gerufen werden.«