36.
Anno Domini 1200
u Pechvogel!«, brüllte Vater Hieronymus plötzlich.
Seine Hand schoss vor und packte den Kolkraben, der es sich auf Isenharts Schulter bequem gemacht hatte, riss ihn zu sich heran und ließ ihn in einer schleudernden Bewegung durch die Luft sausen und gegen die Wand krachen, an der Gweg abrutschte und zu Boden plumpste. Gweg schlug so panisch mit dem Flügeln, dass der rechte, soeben gebrochene Flügel zu einer steten Kreisbewegung führte, die den Raben keinen Daumenbreit vom Fleck brachte.
Hieronymus hob den Fuß, um dem Vogel den Kopf zu zertreten.
»Nicht!«, kreischte Marie entsetzt. Ihr Ausruf verursachte exakt jenen Moment der Verzögerung, der den Geistlichen kurz verharren ließ und den Isenhart dazu nutzte, sich gegen ihn zu werfen, sodass Hieronymus zu Boden stürzte. Isenhart war es in dem Augenblick egal, ob er sich dabei etwas brach. Gwegs aufgeregte Flügelschläge und sein Unvermögen, auf die Beine zu kommen, die hellen Krächzlaute, die er ausstieß und die sofort Dolph und Unnaba auf den Plan riefen, fuhren Isenhart in die Glieder.
Er hockte sich über den Kolkraben, dessen Bewegungen zu nichts führten. Behutsam streckte Isenhart die Hände nach dem Vogel aus, der – wegen Hieronymus oder aufgrund unsäglicher Schmerzen – jedes Vertrauen in ihn verloren zu haben schien und seine absurd anmutenden Flugversuche nur umso intensiver fortsetzte, um auch vor ihm zu fliehen.
So sanft es eben ging, legte er dem Kolkraben den verletzten Flügel an den Körper, bevor er ihn hochhob. Gweg erstarrte. Keine Erschlaffung, sondern Spannung. Reglos bis auf den Kopf, der hin und her ruckte und Isenhart von allen Seiten zu betrachten schien. Ganz so, als habe er sich schwerwiegend in den Menschen getäuscht, als habe Isenhart, der dieser Spezies angehörte, zu viel unverdientes Vertrauen genossen – was nun einer genaueren Einschätzung bedurfte.
»Was hast du getan?«, herrschte Isenhart Hieronymus an, der zu seinen Füßen lag und sich das linke Handgelenk rieb, das er sich beim Sturz verstaucht hatte. Der Geistliche warf ihm den Blick eines verletzten Kindes zu. Hieronymus war nicht in der Lage, Isenharts Worten einen Sinn zuzuordnen.
Was dieser nun auch begriff, weshalb er hinüber zum Kanal ging. Dolph und Unnaba folgten ihm in sicherem Abstand, ein Abstand, der sich soeben verdoppelt hatte. Isenhart war kein Experte, was gebrochene Flügel betraf, aber immerhin war ihm das Schienen von Gwegs durch einen Katzenangriff verletzten Flügel einst gelungen. Diese rohe Gewalt jedoch hatte zu einer schlimmen Verletzung geführt. Dort, wo der Flügel in den Körper mündete, war er aus ebendiesem zu einem Drittel herausgerissen worden. Isenhart entdeckte die Stelle aus von Blut durchtränkten Federn sofort.
Und auch, wenn er im Geist schon neuartige Arten des Schienens entwarf, wusste er es doch. Er wusste es schon, als Hieronymus den Raben gegen die Mauer geschleudert hatte, er wusste es, als Gweg nicht in der Lage gewesen war, davonzuflattern und sich in die Luft zu flüchten. Wusste, dass diese Geschichte hier zu enden hatte, die seinem Traum vom Fliegen eine erste Grundlage vermittelt und die zu einer bemerkenswerten Annäherung zwischen Mensch und Raben geführt hatte.
Am meisten machte ihm die Angst zu schaffen, mit der Gweg ihn beäugte. So sanft es ihm möglich war, fuhr Isenhart dem tödlich verletzten Vogel mit dem Zeigefinger zwischen den Augen entlang. Sanft und wieder und wieder und nicht müde werdend. Als Sophia mit Lilian auf dem Arm auftauchte, als ihre Augen stumm die Frage stellten und er ein Kopfschütteln andeutete, war alles gesagt. Die beiden folgten ihm den Kanal entlang zum Rhein, in dem sich die Abendsonne spiegelte.
»Gweg«, sagte Lilian und reckte ihre kleinen Finger.
»Gweg ist müde«, sagte Sophia, und die Brüchigkeit in ihrer Stimme zerkrampfte Isenhart das Herz. Er hätte weitere drei Finger gegeben, um den Raben mit Worten beruhigen zu können. Ihm sagen zu können, dass es letztlich nicht in Hieronymus’ Absicht gelegen hatte, die Verletzung aber so schwer schien – hast du starke Schmerzen, Gweg? –, dass es keinen glücklichen Ausgang mehr geben würde. Um alles in der Welt hätte er ihm die Furcht nehmen wollen, ihm sagen mögen, dass er vor ihm keine Angst zu empfinden bräuchte. Das nicht tun zu können, sich für diese simple Verständigung unfähig zu finden, führte ihm seine eigene Nichtigkeit vor Augen, gegen die er – nur auf den ersten Blick ein Widerspruch – bis zum letzten Atemzug aufbegehren würde.
Isenhart hatte das Ufer fast erreicht, als er die Schritte hinter sich vernahm. Eine schnelle Trittfolge, die Kieselsteine knirschten unter dem Gewicht – Konrad. In dessen Miene las er echte Bestürzung.
»Gweg, alles in Butter?«
»Nein«, sagte Isenhart ruhig, er sah dem Freund in die Augen, und Konrad musste zurückdenken bis zum Tod seiner Schwester, um sich einer ähnlichen Traurigkeit Isenharts zu entsinnen, »nein, es ist nichts in Butter. Tu mir den Gefallen und sag das nie wieder.«
Konrad von Laurin begriff seinen Fehler, er beeilte sich zu nicken. »Was kann ich tun?«, fragte er.
»Such Würmer«, antwortete Isenhart mit brüchiger Stimme.
Sie alle begaben sich auf die Knie und formten mit ihren Fingern Rechen, mit denen sie durch den feuchten Ufersand fuhren und Würmer an die Oberfläche zwangen, mit denen sie Gweg fütterten, der mittlerweile jede Gegenwehr aufgegeben hatte und sich in sein Schicksal gefügt hatte.
Nach dem sechsten Wurm hielt Gweg den Schnabel eisern geschlossen. Isenhart fuhr mit dem Finger in die Strömung, um Gweg von den Wassertropfen trinken zu lassen, die ihm über die Fingerglieder liefen, aber der Kolkrabe starrte ihn nur stumm an.
Es war so weit. Isenhart begriff, dass es viel weniger Mut bedurfte, einen Feind zu töten, als einen guten Freund zu erlösen. Mit der Rechten umschloss er Gwegs Kopf, er ermaß all die ungeflogenen Meilen, die zu erkunden der Kolkrabe noch in der Lage gewesen wäre, er ermaß den Verlust, den er der Welt aus Erbarmen beizubringen gezwungen war, bevor er Gweg mit einer schnellen Drehung seiner Hand das Genick brach.
Das Knacken ertönte ganz leise, voller Haltung, ganz so, als wolle es diesem Tierleben einen stimmigen, also würdevollen Abschluss verleihen.
Isenhart bettete den kleinen Körper in den Sand, Dolph und Unnaba stiegen hinauf, bis sie eine günstige Thermik erwischten, die sie davontrug. Weit, weit weg. Es war das letzte Mal, dass Isenhart oder ein anderer Bewohner Heiligsters die beiden sah. Sie sollten nie mehr an diesen Ort zurückkehren.
»Wer hat ihm das angetan?«, fragte eine Stimme hinter Isenhart. Er wandte sich um. Hieronymus ging neben dem toten Kolkraben auf die Knie und begann bitterlich zu weinen, und als Isenhart sah, wie der Körper des alternden Mannes vom Schluchzen hin und her gerissen wurde, verflüchtigte sich sein Zorn, und auch er weinte um den schwarzen Vogel.
Das alles ereignete sich im Sommer 1200.
Als Sophia und Isenhart Jahre zuvor als Paar nach Heiligster zurückgekehrt waren, waren Marie und Konrad ebenso erleichtert wie dankbar gewesen. Die Braut Christi war heimgekehrt. Nur das Antlitz von Vater Hieronymus verfestigte sich zu Stein, und erst, als sie ihm versicherten, von ihm getraut werden zu wollen, brach sich ein kantiges Lächeln den Weg.
Am nächsten Morgen lag er neben einem zerborstenen Holzeimer, den Blick ohne jede Teilnahme an dieser Welt an einen weit entfernten Punkt gerichtet, weißen Schaum vor dem Mund und die Arme merkwürdig verrenkt, die Hände waren bis zum Anschlag nach innen gebogen, die Finger verkrampft.
Isenhart stieß auf ihn, als er frühmorgens vor die Hütte trat, um frisches Wasser zu holen.
»Vater«, rief er Hieronymus an und schüttelte ihn vorsichtig. Doch der Angesprochene zeigte keinerlei Regung. Isenhart erfasste intuitiv den Ernst der Situation, aber er wusste nicht, was zu tun war. »Vater Hieronymus!«
Der Geistliche zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Doch Isenharts Schrei sorgte für Aufruhr in Heiligster, Konrad und Marie stürzten gleichzeitig aus der Hütte, Konrad trug Sigimund. Gweg flatterte heran, zog einen Bogen und setzte sich auf einen Ast, um das Geschehen von dort aus zu beobachten.
Konrad beugte sich zu Hieronymus hinab, setzte Sigimund ab – »Warte da, du Knirps« – und zwang den Geistlichen mit all seiner Kraft auf die Beine, doch Marie schüttelte den Kopf.
»Wir müssen ihn baden – schnell. Und das Wasser mit Alaun und Asche mischen.«
»Wieso?«, fragte Sophia, die nun auch zu ihnen stieß.
»Der Schlag Gottes hat ihn getroffen«, erwiderte Marie, »wir müssen dem Allmächtigen danken, wenn er ihn nicht ganz zu sich ruft.«
Also betteten sie den teilnahmslosen Hieronymus in einen Zuber, sie sparten nicht mit Salz und schütteten immer wieder warmes Wasser nach, das Konrad über einem Feuer in den drei Kesseln erhitzte, die sie besaßen. Isenhart, der seinem alten Lehrer über die Haut fuhr und die Verkrampfungen mit Massagen zu lösen versuchte, bemerkte alsbald ein Nachlassen der Lähmungserscheinungen in den Waden, danach folgten die Schenkel. Auch das Gesicht des Geistlichen entspannte sich, die Lider flatterten und schlossen sich über den Pupillen. Die verrenkten Hände aber verblieben in ihrer unnatürlichen Haltung. Speichel rann dem Mann Gottes aus dem Mundwinkel.
Aber auch hier wusste Marie Rat, deren Onkel ebenfalls Opfer eines Schlag Gottes geworden war. Indem man die gelähmten Körperpartien mit frisch gerupften Brennnesseln schlug, lösten sich auch dort die Verkrampfungen.
»Ist das wirklich wahr?«, hakte Sophia nach, die Isenharts skeptischen Blick auffing.
»Sonst würde ich nicht dazu raten«, entgegnete Marie eine Spur gereizt.
Also malträtierten sie Vater Hieronymus mit frischen Brennnesseln, sie schlugen sie ihm über die Ober- und Unterarme, über die Handgelenke und Finger und sicherheitshalber auch über die nackten Schultern.
Pünktlich um Mitternacht beendeten sie die Behandlung. Danach, so Marie, wirke die Pflanze nicht mehr, erst wieder ab sechs Uhr in der Früh.
Isenhart war, als müssten ihm die Arme abfallen. Kraftlos ließ er den zerfledderten Strauch Brennnesseln sinken. Arme und Hände des Geistlichen schwollen rot an, die Verkrampfung indes löste sich nicht. Aber ein leises Stöhnen entwich seinem Mund.
»Vielleicht ist etwas in ihn gefahren«, sagte Konrad leise, »ein Dämon.«
Marie warf ihm einen ängstlichen Blick zu.
»Und was für ein Dämon soll das sein?«, fragte Isenhart. Der raue Ton seiner Stimme entsprang seiner Befürchtung, Konrad könnte damit vielleicht sogar recht haben.
Angespannte Stille senkte sich zwischen sie. »Es war ein langer Tag«, ergriff Sophia das Wort, »es hat uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Ich glaube, auch Vater Hieronymus tut der Schlaf jetzt gut.«
»Uns allen«, stimmte Konrad seiner Schwester halbherzig zu.
Seitdem wechselten sie sich ab, Hieronymus verbrachte die Nächte entweder bei Konrad und Marie oder bei Isenhart und Sophia. Die Verkrampfungen lösten sich in den darauffolgenden Tagen, alles kehrte wieder – nur der Verstand nicht.
Seinen Namen kannte er wohl, auch den Sophias, Konrad und Isenharts. Aber Marie, nein, er schüttelte den Kopf, nie zuvor war er ihr begegnet, und dann lächelte er und erklärte, es sei eine Freude, die Bekanntschaft der Gemahlin von Konrad von Laurin zu machen. Am nächsten Tag war seine Überraschung wieder dieselbe. Konrad war verheiratet? Das Haus Laurin besaß einen neuen Stammhalter? Sein Name war Sigimund? Welch Freude! Sogleich wollte er ein Dutzend Kerzen entzünden.
»Wir haben keine mehr«, eröffnete Isenhart ihm.
»Keine mehr?« Der gestrenge Blick des Geistlichen traf Isenhart. »Ihr müsst auf Vorräte achten«, rügte er ihn und schüttelte dabei den Kopf, »ohne Kerzen kein Licht. Ts, ts.«
»Ihr habt gestern die letzten Kerzen entzündet«, erinnerte Konrad ihn.
Hieronymus stockte, sein Blick richtete sich auf Konrad, er musterte ihn. »Treib keinen Schabernack mit mir, Konrad. Ah – wer seid Ihr?«
Er hatte Marie wahrgenommen, die hinter Konrad aus der Hütte trat. Sie trug Sigimund.
»Das ist Marie, mein Weib«, erklärte Konrad.
»Dein Weib? Warum weiß ich nichts davon? Und das Kind?«
»Mein Sohn. Er heißt Sigimund.«
»Sigimund – eine treffliche Wahl. Ich werde ihm zu Ehren ein Dutzend Kerzen anzünden.«
»Wir haben keine Kerzen mehr, Vater.«
»Keine Kerzen mehr?«
So drehten die Gespräche sich im Kreise. Glaubten sie, etwas geklärt zu haben, hatte Hieronymus es bereits wieder vergessen, kaum war der letzte Bissen Fisch verzehrt, war ihm nicht mehr bewusst, was er zu sich genommen hatte, ja, mehr noch, er beschuldigte sie, ihm nichts abgeben zu wollen und ihn verhungern zu lassen.
Mitunter verloren sie die Geduld, sie packten seine öligen Finger und rieben sie ihm unter die Nase und fragten, ob er nun wenigstens rieche, dass er eben Fisch in den Händen gehalten habe.
Der schroffe Ton bekümmerte den kranken Mann, wenige Momente später wusste er bereits nicht mehr um die Ursache seiner Verstimmung – sie selbst aber erfasste er, und es bereitete ihm eine unauflösbare Trübsal, den Grund dafür nicht zu kennen. Außerdem fragte er, wieso alle anderen Fisch aßen und er selbst nicht, ob es wohl boshafte Absicht war, ob sie sich abgesprochen hatten und ihn darben lassen wollten.
War das etwa der Dank für seine Erziehung? Für all die Stunden auf der Burg Laurin? Dafür, dass er Konrad das Heiligste mit auf den Weg gegeben hatte, das er besaß, den Heiligen Span vom Kreuz des Erlösers? Jener Span, der Konrad von Laurin als einzigen der drei Heißsporne lebendig und unversehrt zum Ascisberg hatte zurückkehren lassen?
Da war er wieder, der alte Hieronymus, der gesunde, der sich an diese Einzelheiten zu erinnern vermochte und damit kurz für ungläubiges Staunen bei den anderen sorgte.
»Das wisst Ihr noch?«, fragte Marie.
»Selbstverständlich. Der Herrgott hat mich mit einem hervorragenden Gedächtnis ausgestattet. Ihr erscheint mir bekannt. Wie ist Euer Name?«
»Marie, Vater. Ich bin’s: Marie.«
»Marie, ja. Natürlich.«
Aber sie alle sahen die Leere in seinem Blick, die seine Worte begleitete und sie ins Gegenteil verkehrte. Dann schlugen die Wellen erneut über diesem wachen Moment zusammen, begruben ihn in einem Meer, dessen Oberfläche eine klare Grenze zog. Hieronymus gelang es nur noch äußerst selten, diese Linie zu durchbrechen. Den anderen aber war es nicht gegeben, sie zu übertreten. Sie vermochten nicht, dem Geistlichen in seine neue Welt zu folgen, die sich aus den wenig verbliebenen Resten der alten neu zusammengesetzt hatte und in der Regeln und Zusammenhänge wirkten, die niemandem außer Hieronymus bekannt waren.
Sophia erfasste als Erste, dass sie einem Verstand beiwohnten, der sich in kleinen Dosen täglich verringerte, als fräße er sich selbst auf, immer kleiner wurden die Wege, die die Gedanken des Geistlichen zu gehen in der Lage waren.
»Sein Verstand erlischt«, stellte Sophia leise fest.
Genau so kam es. Die Beschädigungen seines Geistes, die Hieronymus durch den Schlag Gottes erlitten hatte und die seinem Erinnerungsvermögen zugesetzt zu haben schienen, waren keinesfalls beendet. Wie ein Wundfraß oder ein Schimmelgewächs wucherte der Schlag weiter und vernichtete Erinnerung um Erinnerung, er brachte Hieronymus’ geistige Fähigkeiten ins Wanken, beschädigte seine räumliche Koordination, sodass aus den festen, ruhigen Schritten überaus kurze wurden, die seinen Gang zu einem Schlurfen verkümmern ließen, und er merzte Stück um Stück mehr von dem aus, was es hieß, Hieronymus zu sein. Der Schlag Gottes raubte ihm mit der gemächlichen Langsamkeit des Siegers seine Identität.
Das, so begriff Isenhart, war unaufhaltsam. Doch wenn dem Geistlichen Speichel aus dem Mundwinkel rann, wischte er ihn ab, und wenn sein ehemaliger Lehrer dieselbe Frage das dritte, vierte oder achtzehnte Mal an ihn richtete, disziplinierte er sich, jede Wut aus seiner Stimme zu bannen und ihm freundlich zu antworten, als täte er es das erste Mal. Was sich als kräftezehrend herausstellte – aber Hieronymus’ Würde nicht auch noch der Krankheit überließ. Zumindest nicht kampflos.
Hieronymus würde niemals zu ihnen nach Heiligster zurückkehren, nur ein Schatten war geblieben, ein wohlbekannter, und auch der verlor von Tag zu Tag an Substanz.
»Was gibt es Neues zu berichten?«, fragte der junge Mann mit dem schmalen Gesicht, der sein Maultier eng bei sich hielt, während der Ältere der beiden, vielleicht der Vater, sich auf den Sack aus Leinen setzte, in dem er vermutlich seine Habseligkeiten mit sich führte.
Isenhart packte den Staken mit beiden Händen und stieß das Floß, auf dem sie sich alle befanden, von der Uferböschung ab. Er schob es in das Wasser des Rheins, bevor er den Stab zu Boden legte und ihn mit einem Lederriemen sicherte, den er dort angebracht hatte, nachdem ihm zwei Staken ins Wasser gerollt und flussabwärts verschwunden waren.
»Wir hatten Unwetter«, erzählte Isenhart. Er stellte sich neben Hieronymus, der krampfhaft das Seil festhielt, das die beiden Ufer miteinander verband. Isenhart schlüpfte mit den Füßen in zwei lederne Schlaufen, die mittels Holzschrauben fest mit den Stämmen des Floßes verbunden waren. Mit flinken Fingern verschloss er sie über dem Rist der Füße und legte die Hände auf das Seil.
»Gut. Ihr könnt loslassen.«
»Wirklich?«, vergewisserte Vater Hieronymus sich mit leerem Blick.
»Ganz bestimmt.«
Hieronymus nickte und löste die Hände. Isenhart packte das Seil und zog daran, während er sich mit dem Körper gegen die Strömung des Rheins stemmte, die die hölzerne Fläche, auf der Isenhart seine Kundschaft übersetzte, flussabwärts drückte. Der Geistliche nahm neben ihm auf einem Schemel Platz, den Marie mit Hühnerfedern gepolstert hatte.
»Jesus Christus hat diesen Platz gesegnet«, hatte Sophia Vater Hieronymus versichert.
»Christus? Er war hier?«
»O ja. Auf seinem Weg nach … Jerusalem«, log Konrad.
Die Ehrerbietung, die Vater Hieronymus vor dem Schemel empfand, zeichnete sich für alle unübersehbar auf seinem Gesicht ab.
»Das ist ab jetzt Euer Platz«, fügte Konrad hinzu, »der Herr hat ihn Euch zum Lobe gesegnet.«
»Das … das kann ich kaum glauben.« Mit zittrigen Fingern war Vater Hieronymus über den dünnen Stoff gefahren.
Isenharts Hände waren mit Schichten von Leinen umwickelt. Eine unvorhergesehene Stromschnelle reichte, um ihm das Hanfseil tief in die Haut zu treiben und das Fleisch zu versengen. Im Umgang mit den Elementen war Umsicht gefordert. Die Masse an Wasser, die gegen das Floß drückte, besaß ungeheure Kraft. Und leitete man sie einmal in sinnvolle Bahnen – am Rande des Kanals hatte er mit der Hilfe der anderen ein Mühlrad errichtet, das ihnen das Korn aufs Gründlichste zermahlte –, nahm sie einem die Arbeit ab.
Überhaupt walteten in der Welt ungenutzte Kräfte. Das Wasser, der Wind. Wenn es also Schaufeln gab, mit deren Hilfe man sich die Wucht des Wasser zunutze machen konnte, was sprach dagegen, sich mit ebendiesen Schaufeln die Fähigkeiten des Windes zu eigen zu machen?
»Unwetter?«, fragte der Ältere der beiden mit einer Spur Besorgnis.
Isenhart nickte: »Hagel hat uns die Ähren zerrissen.«
»Und Spira«, fragte der Jüngere, »gibt es dort noch zu essen?«
»Ja. Weniger Brot und Mus. Aber Gemüse.«
»Und Bret?«
»Auch das, wenn die Münze stimmt.«
Die beiden Männer schienen erleichtert. Sie waren mit insgesamt vier Maultieren unterwegs, die allesamt schwer zu tragen hatten. Die Rücken der Tiere bogen sich unter dem Gewicht. Gewürze sind nicht so schwer, dachte Isenhart, während er das Floß Zug um Zug über den Rhein zerrte. Zug um Zug, der seine Muskeln anschwellen ließ, manchmal waren sie hart wie Stein, wenn er abends auf das Lager fiel. Seine ehemals feinen Hände wurden breiter und kräftiger, sie fuhren über die gespannte Haut von Sophias Bauch. Irgendwann wurde das Streicheln matter, die Radien der Kreise, in denen die Finger ihre Bahnen zogen, kleiner, bis er in den Schlaf fiel.
Wind und Sonne trieben erste Furchen in seine Gesichtshaut, um sie dann Tag um Tag, Stunde auf Stunde zu vertiefen.
»Na, Alter, wie ist dir? Ist das dein Sohn?«
Hieronymus strahlte die beiden Reisenden an und nickte. »Ja, mein Sohn.«
Die Reisenden bemerkten, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Davon abgesehen handelte es sich wohl um einen harmlosen Gesellen. »Dein Sohn ist ein fleißiger Mann«, sagte der Ältere, um Hieronymus eine Freude zu bereiten, dem beim Lächeln Speichel über die Unterlippe rann.
Isenhart fuhr ihm sanft mit der Linken über das Kinn, ganz so, als verscheuche er ein Insekt, um dann wieder das Seil zu packen und sie näher ans andere Ufer zu ziehen, wo Heiligster auf ihn wartete. Und eine Gestalt am Ufer. Sophia, die eine noch kleinere Silhouette an der Hand hielt: Lilian.
»Ja, fleißig. Was treibt Euch nach Coellen?«
»Coellen«, fragte der Jüngere, »wir sind bei Spira.«
»Oh, Ihr müsst vom Weg abgekommen sein«, merkte Hieronymus mit echter Bestürzung an, seine Finger verfingen sich ineinander und rangen einen unbestimmten Kampf.
»Nein, das ist schon recht, Vater«, beruhigte Isenhart ihn dann, »nach Coellen kommen wir erst am Nachmittag.« Was eine glatte Lüge war, die Isenhart – Übung macht den Meister – mittlerweile ohne ein Zögern über die Lippen kam.
»Natürlich, ja«, antwortete der Geistliche erleichtert.
Isenhart warf dem Gespann aus Vater und Sohn einen Blick zu, ein Nicken. Sie begriffen. Der Fährmann war mit einem verwirrten Alten geschlagen.
Isenhart unternahm gar nicht erst den Versuch, dieses Missverständnis aus der Welt zu räumen. Während seine Hände wieder und wieder nach vorne schnellten und das Seil ergriffen, seine Arme und Beine sich gegen die Strömung stemmten, erinnerte er sich an die Zeit in Heiligster, in der Sophia und er am Anfang die Augen nicht voneinander hatten lassen können und nahezu jeder Abend in einem Liebesspiel endete, in dem stets neuen und vergeblichen Versuch, zu einem Wesen zu verschmelzen. Ihre Blicke saugten jedes Detail auf, jede Kontur des Gesichts, jede Schwingung des Mundes, jeden Leberfleck, jeden einzelnen Sprenkel in der Pupille des anderen.
Sie erinnerten sich gemeinsam an die Jahre auf der Burg Laurin und stellten fest, wie sie beide Außenseiter gewesen waren. Jeder von ihnen hatte für Giselbert eine besondere Bedeutung eingenommen, wie sie erst jetzt, viele Jahre nach seinem gewaltsamen Tod, herausfanden. Sie streiften Alexander von Westheim und Hieronymus, Dolph von Grundauf und Chlodio. Über alles und jeden verschafften sie sich mit- und durcheinander Klarheit.
Lediglich Henning von der Braake ließen sie dabei aus. Isenhart gewährte seiner Frau, wie auch Konrad, zwar Einblick in seine Rekonstruktion der Ereignisse. Wann Henning was weshalb getan hatte. Oder unterlassen.
Aber stets, wenn sie ihn fragten, warum Henning ihn gerettet oder verschont hatte, in der Scheune des Wirtshauses und auch später bei diversen Anlässen, spätestens aber auf der Burg von Engelhardt von Weinsberg, als Simon von Hainfeld ihn bewusstlos geschlagen hatte, als es ein Leichtes gewesen wäre, sich Isenharts Nachstellungen ein für alle Mal zu entledigen, warum er diese Gelegenheit hatte verstreichen lassen – stets schüttelte er den Kopf und schwieg. Weigerte sich, auch nur ein weiteres Wort darüber zu verlieren.
Hennings Namen zu erwähnen war immer mehr zu einem Tabu geworden.
Unablässig hielt Isenhart den Kontakt mit dem Seil, er spürte die Spannung seiner Muskeln knapp unter der Hautoberfläche. Jeder Zug erinnerte ihn an jene Zeichnung, auf die sie in Tarup gestoßen waren, auf die Skizze von der Funktionsweise des Unterarms. An jene Gefühlsregung in seinem Herzen, die sich dem Hass und der Abscheu selbstbewusst entgegenstellte, nämlich Bedauern. Das Bedauern darüber, diesen Seelenverwandten – da hatte er es schon geahnt – vernichten zu müssen.
»Vermisst du ihn?«
Es war ein Wispern am Morgen gewesen. Isenhart lag matt auf dem Lager, es war Sommer und schon taghell. Sie hatten sich geliebt, Sophia und er. Mit dieser Leidenschaft, die schon Anna an Isenhart verwundert hatte. Frisch, gewaltig und sich nach dem Leben verzehrend, so zu küssen, als wisse man um den nahen Tod, so zu lieben, als spüre man bereits die ausgestreckte Hand des Schnitters.
»Vermisst du ihn?«
Sanft fuhr sie ihm mit den Zehen dabei über den nackten Bauch, sie schmunzelte über die Linie der Härchen, die vom Bauchnabel nach unten verlief. Sein Herz pochte noch vor Anstrengung, der Brustkorb hob und senkte sich, einen Arm hatte er angewinkelt und seinen Kopf darauf gebettet. Die Haare trug er immer noch kurz und stoppelig. Die frischen Barthaare stachen schwarz aus seinem Gesicht hervor. Sophia schlang die Beine um seinen Rumpf und fuhr ihm mit der Hand über den Kopf. Auch sie verspürte noch die Wärme in ihrem Schoß, in dem er gewesen war. Isenhart wandte sich ihr zu und vergrub sein Gesicht an ihrer Brust. Er tat es nicht um der Lust willen, das spürte sie, sondern um ihr nahe zu sein.
Sophia wäre am liebsten für immer so liegen geblieben.
So verharrten sie, bis ein Molkenstehler über die Fensteröffnung zu ihrem Lager fand. Schwarz um den Leib, hellrot in den Flügeln, ein schönes Muster.
Scheinbar ziellos flatterte der Falter über sie hinweg. Er landete auf Isenharts Hand, der den Blick hob, mit einem Lächeln und Ehrfurcht vor dem, was sich direkt vor ihm abspielte. Nichts Geringeres als das Wunder der Schöpfung. »Was außer einem Gott wäre wohl in der Lage, so etwas Vollkommenes zu erschaffen?«, flüsterte er. Seine Stimme war frei von Spott und Sarkasmus. Ehrliche Nachdenklichkeit lag in seinen Worten.
Er küsste die Wölbung ihrer linken Brust und schaute zu ihr auf: »Ja, ich vermisse seine Gesellschaft. Diejenige Seite, die staunend Fragen in die Welt wirft. Aber die andere werde ich zur Rechenschaft ziehen.«
Sophia, die ihre Schläfe auf seinen Kopf gebettet hatte, beugte sich weiter hinab, sodass sie sich in die Augen schauten.
»Du kannst nicht verstehen, dass ich die Nähe eines Mörders vermisse«, vermutete Isenhart, aber Sophia deutete ein Kopfschütteln an.
»Ich will, dass er sich für meine Schwester verantworten muss und für die anderen, für Walther. Aber Anna wird es uns nicht zurückbringen. Und du setzt dein Leben aufs Spiel«, antwortete sie mit Sorge in der Stimme.
Isenhart musterte ihre grünen Augen: »Hast du das geträumt?«
»Nein«, erwiderte sie schnell.
»Jemand muss diejenigen vor ihm schützen, die sich selbst nicht schützen können«, stellte Isenhart fest, »und nicht nur vor ihm, sondern auch vor seinen Ideen.«
»Du willst dich wieder aufmachen?« Sie bemühte sich, ihrer Frage eine unauffällige Beiläufigkeit zu verleihen, während Isenhart Sophias Distanz zu ihren eigenen Worten heraushörte. Die Angst um ihn.
»Nein«, antwortete er daraufhin.
Niemals wieder, dessen war Isenhart gewiss gewesen, würde er sich wieder so aufgehoben fühlen wie bei Sophia. Das Wichtigste, was es auszutauschen gab, kommunizierten sie über Blicke und Gesten, das gröbste Instrument, dessen sie sich bedienten, blieb die Sprache. Langsam, behäbig, missverständlich.
Daran dachte Isenhart, während er Vater, Sohn und die vier Maultiere über den Rhein übersetzte.
»Wir waren drei Jahre auf der Seidenstraße unterwegs«, verriet ihm der Jüngere.
Isenhart merkte auf. »Habt Ihr vielleicht einen Hühnerzüchter getroffen? Sein Name ist Henrick. Es kann sein, dass er sich Henrick von Laurin nennt.«
Der Sohn blickte zum Vater, aber der deutete ein Kopfschütteln an.
»Und Ursel vom kleinen Bachlauf?«
»Nie gehört«, erwiderte der Ältere. Er verschleppte seit geraumer Zeit eine Erkältung, das leise Rasseln seiner Atmung verriet es Isenhart.
Isenhart hatte die Arbeit an dem Nurflügler nicht wieder aufgenommen. Seine Bauteile lagen noch oben in der Tenne und moderten vor sich hin. Denn sein Traum vom Fliegen war untrennbar verbunden mit Henning von der Braake. Für Isenhart wäre die Arbeit an dem Nurflügler gleichbedeutend gewesen mit der täglichen Konfrontation mit dem Mann, der wie ein Gespenst einfach verschwunden war – außer aus seinen Erinnerungen.
So hatte sich Isenhart wie angekündigt in das Leben eines Bauern gefügt. Er bestellte das Feld und fuhr die Ernte ein, er verkaufte die Erzeugnisse auf dem Markt in Spira, wo Konrad weiterhin seinen Dienst als Wachmann versah.
»Ich kann nicht die ganze Zeit hier draußen bleiben«, hatte dieser nur gesagt. Isenhart nickte, er verstand auch so. Konrad brauchte die Betriebsamkeit der Stadt, das Kommen und Gehen, das freundliche Wort eines Kaufmanns oder den messerbewehrten Angriff eines Raufbolds, kurz: die Abwechslung. Den unbestimmten Augenblick. Den Puls des Lebens.
Heiligster erschien ihm eintönig und öd. Für Konrad waren die Tage voneinander nicht oder nur schwerlich zu unterscheiden. Dort, wo Isenhart die kleinen Fluchten aus dem Gleichmaß entdeckte, in denen Heiligster zu einem Erlebnis wurde, zu einem Gewinn, sah Konrad nur den Alltag ohne andere Wachmänner, ohne Würfelspiel, ohne Bier und Zank, ohne fremde Menschen.
Marie weigerte sich, nach Spira zu ziehen. Und aus Konrads allzu schnellem Einlenken vermochten die anderen abzulesen, wie recht ihm dieser Entschluss kam. In Spira ging er seinem Vergnügen nach, und wenn er in Heiligster einkehrte, war er von engelsgleicher Geduld, er war Marie ein guter Mann und Sigimund ein liebevoller Vater.
»Papst Innozenz III. hat den Laien das Lesen der Heiligen Schrift verboten«, erzählte der Ältere der Reisenden auf Isenharts Floß.
»Ich habe davon gehört«, gab Isenhart mit absichtlicher Unbestimmtheit zurück.
»Der Heilige Stuhl hat sogar Söldner nach Metz und Strasbourg geschickt, um die Bibelübersetzungen ins Feuer zu schicken.«
Sein Sohn, wie Isenhart vermutete, nickte: »Sie haben in mehreren Städten die übersetzten Bibeln auf dem Marktplatz aufgeschichtet und verbrannt.«
»Und gesagt«, fügte sein Vater hinzu, »dass in Zukunft ein jeder brennen wird, der die Schrift liest und kein Geistlicher ist.«
»Dabei können wir gar nicht lesen«, sagte der Jüngere. Er und sein Vater grinsten schief.
Isenhart nickte unwillkürlich. Das Verbrennen der Bücher auf dem Marktplatz zu Metz – verwechsle nie Ursache und Wirkung, wie Walther gesagt hatte – richtete sich nicht in erster Linie gegen die Laien, die in der Heiligen Schrift lesen wollten, nein, der Heilige Stuhl verbot Gott die Stimme. Innozenz III. gebot dem Schöpfer zu schweigen.
Wieder rann Vater Hieronymus etwas Speichel über das Kinn, ein Faden aus Spucke wehte im Wind. Isenhart umfasste den eigenen Ärmel mit der Hand und wischte ihn ab.
Es war Zeit, sich des Stakens zu bedienen. Isenhart ließ das Seil los und griff die hölzerne Stange, stieß sie auf den Grund des Flusses und schwenkte das Floß zum Ufer.
»Klug von Euch, diese Furt hier zu nutzen«, lobte ihn der Ältere. Er lächelte ein wenig und bot Isenhart ein paar grauschwarze Zahnstümpfe dar. Er musste Höllenqualen leiden.
»Habt Ihr Zahnschmerzen?«, erkundigte sich Isenhart.
»Unerträglich.«
»Ich kann sie Euch ziehen.«
»Mein Vater fürchtet«, wandte der Jüngere ein, »sein Schlag bei den Weibern wird dadurch einbüßen.«
Der Alte nickte.
»Seit wann betreibt ihr Euer Fährgeschäft?«, fragte der Sohn.
»Seit fast vier Jahren«, antwortete Isenhart.
»Und lohnt es?«, wollte der Vater wissen.
Genau das hatte auch Sophia wissen wollen. Eine weitere Fähre über den Rhein? Wozu? Diejenigen, die Simon Rubinstein aus seinen lukrativen Fährgeschäften gedrängt hatten, würden nicht sonderlich erfreut sein.
»Die Händler müssen sich nicht bis Spira durchschlagen, wenn sie aus dem Süden oder dem Osten kommen«, erklärte Isenhart seiner Gemahlin, »sie können hier übersetzen, der Rhein läuft in eine Biegung, die Strömung bricht sich und die Wassertiefe ist gering. Hier ist es ideal. Und ich muss nicht mehr Wachmann sein und kann euch beschützen.«
Das leuchtete allen ein. Isenhart würde ebenso viel und vielleicht sogar mehr verdienen, wenn er in Heiligster seinen Dienst als Fährmann versah statt als Wachmann in Spira.
Und die Frauen und ihre Kinder, Sigimund und Lilian, waren nicht schutzlos Räubern, Wölfen oder trunkenem Pöbel ausgesetzt, wenn ein Mann zugegen war. Isenhart war kein Ritter, kein Streiter, kein Brabanzone. Aber er war im Gegensatz zu dem gebrechlicher werdenden Hieronymus in der Lage, den Bolzen der Armbrust auf seine todbringende Bahn zu schicken. Und zwar mit einer Treffsicherheit, die im Raum Spira ihresgleichen suchte. Er erlegte einen Hasen auf siebzig Fuß. Was einen Angreifer tötete, schreckte drei weitere ab.
»Ist das alles?«, hatte Sophia einmal gefragt. Sie kam mit frischem Wasser vom Kanal zurück und stoppte neben Isenhart, der die Seitenstämme des Floßes mit dem Öl imprägnierte, das er Bucheckern abgepresst hatte. Isenhart wischte sich den Schweiß von der Stirn und blinzelte gegen die Sonne. Dazu setzte er ein harmloses Lächeln auf: »Alles? Was meinst du?«
Ihr Mann mochte ein schlauer Kerl sein, aber er konnte sich nicht verstellen. »Du baust dieses Floß, als könntest du damit fliegen«, sagte Sophia, »Tag und Nacht arbeitest du und schleifst und besserst es aus.«
»Damit es nicht untergeht.«
Sophia nickte. Dann ging sie in die Hocke, um mit Isenhart auf Augenhöhe zu sein. Ihre grünen Pupillen ruhten dabei in den seinen, sie gewährten Isenhart keine Ausflucht.
»So kann ich das verdienen, was die Ernte nicht einfährt«, fügte er etwas hilflos hinzu.
Sophia nickte. Sie glaubte ihm kein Wort, sie wusste, er nahm Rücksicht. Auf ihre Schwangerschaft, auf Lilian, seine Tochter, die sie ihm gebären würde. Sie bohrte nicht weiter nach. Aber insgeheim, das wusste sie, war ihr Mann immer noch auf der Jagd.
Als er seinen Fährbetrieb aufnahm, hielt er die Augen und Ohren offen, wenn er Passagiere an Bord ließ und glaubte, Sophia würde nicht davon erfahren.
»Ich suche zwei Männer«, wisperte er, »Henning von der Braake und Simon von Hainfeld – habt Ihr von Ihnen gehört?«
»Von der Braake?«
»Ja, genau.«
»Nein, nie gehört. Was hat er Euch angetan?«
»Er hat fünf Menschen ermordet.«
Isenhart ging es nicht um das Geld und auch nicht um die Abwechslung, die der Plausch mit den Kaufleuten und Händlern brachte. Isenhart wartete ab. Er wartete, um die Witterung wieder aufnehmen zu können. Wie eine Spinne spannte er sein Netz, setzte Reimar von Vogt und Engelhard von Weinsberg in Kenntnis, auch ein paar Wachleute in Spira sowie einige frühere Freunde von Simon Rubinstein. Faden um Faden verknüpfte er miteinander. Das Netz war bereit, und selbst die kleinste Erschütterung eines seiner Fäden würde zu seinem Zentrum vorgetragen werden.
Henning oder auch seine rechte Hand Simon von Hainfeld mussten überhaupt nicht selbst durch die Gegend ziehen – so unvorsichtig wäre Henning auch kaum gewesen –, das Netz filterte die Neuigkeiten all jener, deren Wege über Spira führten. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen, erzählten von ihren Reisen, tauschten sich aus und gaben ihre Informationen, ohne es zu wissen, an Isenhart weiter.
Die Befragung jener, die bei Heiligster über den Rhein übersetzten, nahm er selbst vor.
Mit Reimar von Vogt hatte er sich oben in den Schatten der Trauerweide gesetzt, sie kauten Bärlauch. Der Adlige willigte nur zu freudig in den Handel ein, den Isenhart ihm anbot. Er tauschte Heiligster gegen Tutenhoven. »Unter drei Bedingungen«, wie er sagte.
»Als da wären?«, fragte Reimar von Vogt.
»Alle Bediensteten behalten ihre Anstellung – auf Lebenszeit gilt das für Cecilia und Zolner.«
Reimar von Vogt nickte, er war ein vernünftiger Mann.
»Ein Viertel des Ernteertrags kommt Heiligster zugute.«
»Ein Fünftel.«
»Abgemacht«, stimmte Isenhart zu.
»Und die dritte Bedingung?«, fragte der Mann mit den ebenmäßigen Gesichtszügen, der Isenhart um einen ganzen Kopf überragte.
»Den Almagest und die anderen elf Bücher.«
»Bücher? Ihr könnt sie alle haben, ich kann nicht lesen«, antwortet Reimar von Vogt nicht ohne eine Prise Stolz.
»Und den Beryll«, fiel Isenhart ein.
»Beryll? Ein Tier?«
»Nur ein Stück Stein«, untertrieb Isenhart.
»Es soll Euch gehören«, versicherte Reimar ihm.
Isenhart nickte, dann hielt er dem anderen seine offene Hand hin. »Schlagt ein, wenn das ein Handel ist«, forderte er ihn auf.
Reimar von Vogt hob die Hand, zögerte dann aber und suchte Isenharts Blick.
»Stimmt es, dass Ihr geflogen seid?«
»Geflogen? Wer sagt das?«
»Ach«, antwortete Reimar von Vogt und winkte ab, während ihm der Zweifel noch ins Gesicht geschrieben stand, »einige Leute in Spira erzählen davon …«
»Unsinn«, unterbrach Isenhart, »wenn ich fliegen könnte, wäre ich dann noch hier? Würden meine Schwingen mich nicht längst in eine bessere Welt getragen haben?«
»Ihr sagt es. Ihr sagt es«, brach es erleichtert aus Reimar von Vogt heraus, er konnte ein Lachen nicht mehr zurückhalten, »bei unserem Herrgott und der Jungfrau Maria, ich bin erleichtert, gebenedeit sei dein Name, Maria, du bist gebenedeit unter den Frauen.« Er schlug das Kreuz. »Ein alter Kauz erzählt, Ihr seid um den Knorrigen Alten geflogen.« Reimar von Vogt vermochte nur schwerlich ein Prusten zurückzuhalten.
»Ich bin also geflogen?«, fragte Isenhart scheinbar amüsiert nach und beschrieb mit dem Zeigefinger einen Halbkreis in der Luft, »um einen Berg herum geflogen?«
Von Vogt hatte sich nicht länger unter Kontrolle, er brach in schallendes Gelächter aus, in das Isenhart einfiel, sie brüllten ihre Erheiterung in die Zweige der Trauerweide. Sie lachten so sehr, dass sie feuchte Augen bekamen und Atemnot, die Tränen rannen ihnen über das Gesicht.
»Geflogen«, japste von Vogt.
»Um den Berg«, keuchte Isenhart, und dann krümmten sich ihre Oberkörper unter Lachkrämpfen. Isenhart beschrieb mit seinen beiden Armen Flugbewegungen, und Reimar von Vogt wäre am darauf folgenden Lachanfall um ein Haar erstickt.
»Ich flehe Euch an, hört auf«, bat er.
Am Abend des Tages, an dem Isenhart auf die denkbar eleganteste Art den Verdacht blasphemischer Handlungen aus der Welt geschafft hatte, wurden sie sich einig. Tutenhoven und Heiligster wechselten die Besitzer.
Von Vogt trabte auf seinem Maulesel davon. »Er ist also geflogen«, hörte man ihn noch eine Weile glucksen, und sein Zeigefinger zeichnete dabei den Halbkreis in der Abendluft nach.
Isenhart musste schmunzeln.
»Glaubst du, Walther wäre einverstanden gewesen?«
Isenharts Lächeln wurde schmaler, er schaute zur Seite, und Sophias Blick traf ihn. In ihren Augen lag kein Vorwurf, sie fragte sich das wirklich. Die beiden standen an der Biegung des Kanals, an dem sich einst der Hühnerstall befunden hatte.
»Ja«, antwortete Isenhart leise, »das wäre er gewiss. Er ist durch seine Schriften hier, er ist durch uns hier, und wir sind das, was wir sind, durch ihn, und er ist, was er war, durch uns, und er wird durch uns bleiben, und so sind wir alle Teil eines Ganzen. Kurz nur, aber lang genug, um eine Spur zu hinterlassen. Und Walthers Spuren sind in Tutenhoven und Heiligster.«
»Und deine?«, fragte Sophia.
Isenharts Miene wurde ernst, der Blick weit. »Sind in dir. Und du hast eine Spur in mir hinterlassen – und das ist es mir wert zu sein.«
Äußerlich war ihr nichts anzumerken gewesen, aber innerlich hatte Sophia gezittert, als hätte ihr jemand in kalter, unendlicher Dunkelheit die ruhige Hand gereicht.
Jahrelang tat sich nichts, blieb das Netz reglos.
Aber am 19. August 1201 wurde es mitten in seinem Zentrum erschüttert.
Isenhart setzte Vater und Sohn am Ufer ab, sie führten ihre Maultiere auf festen Grund und entlohnten ihm mit den zuvor vereinbarten Münzen. Sophia stand dort, sie hielt Lilian auf dem Arm, die ihren Vater neugierig ansah. Ihre Haare waren blond, ein Blond, das manchmal einen Schimmer trug, der ins Rötliche ging.
Sophia hüpfte auf das Floß. »Bring uns auf die andere Seite, Fährmann.«
»Ich muss einen Moment ausruhen«, entgegnete er außer Atem und stützte sich auf den hölzernen Stab.
»Schon gut«, brachte Isenhart spielerisch hervor, »aber könnt ihr auch den Preis zahlen?«
Sophia wandte sich ihm zu, der feine Wind wehte ihr die roten Strähnen in die Stirn, ihre Augen blitzten auf, als sie ihm ein frivoles Lächeln zuwarf: »Eure Entlohnung wird außerordentlich sein. Ich verspreche Euch, sie wird Euch über alle Maßen verzücken.«
In diesem Augenblick nahmen sie Hufgetrappel wahr. Isenhart zog den Stock aus dem Grund und setzte ihn an die Böschung – bereit, das Floß auf den Fluss zu stoßen. Nicht jeder, der Heiligster aufsuchte, kam als Freund.
Dann sprengte ein Reiter um die Biegung, zwang sein Pferd mit den Zügeln zu stoppen, ließ den Blick schweifen, entdeckte sie und ritt dann aufs Ufer zu.
Isenhart legte den Staken beiseite. »Ich kenne ihn«, ließ er Sophia wissen, um sie zu beruhigen.
Der Mann brachte sein Ross vor ihnen zum Stehen, die Nüstern des Pferdes blähten sich, dem Reiter rann der Schweiß über das Gesicht und den Nacken hinab. »Sucht Ihr ihn noch?«
»Jeden Tag«, sagte Sophia ruhig, und Isenhart warf ihr einen überraschten Blick zu, »wenn Ihr von Henning von der Braake sprecht.«
»Von dem spreche ich. Er ist bei Haslach. Er hat von einem befreundeten Kaufmann eine große Menge Harz erworben.«
Haslach.
Isenhart kannte die Gegend. Ein Flusstal. An einer Stelle des Flusses hatte vor vielen, vielen Jahren ein Wasserrad gestanden. Walther von Ascisberg hatte ihn als Knaben dorthin mitgenommen.
»Meine Frau, Sophia von Laurin, und unsere Tochter Lilian«, stellte Isenhart sie einander vor, »Fürst Engelhardt von Weinsberg.«
»Was werdet Ihr nun tun?«, fragte der Burgherr.
Isenhart schlug den Blick nieder. »Nun, ich bin Fährmann geworden …«, begann er zögerlich.
Aber Sophia trat vor, ihr Blick war bestimmt: »Wir bringen es zu Ende. Jetzt gleich.«