14.
n etwa dieser Haltung hatte Isenhart auch Anna vorgefunden. Die riesige Wunde hatte ihn bis in seine Grundfesten erschüttert und entsetzt, aber ihn nicht davon abgehalten, seine große Liebe zu berühren und in die Arme zu schließen. Nichts an Anna hätte ihn abstoßen können, ganz gleich, wie hoch der Grad der Entstellung gewesen wäre.
Heute lagen die Dinge anders. Lilith war eine Fremde, er stand in keinerlei Beziehung zu ihr, sodass er von dem grässlichen Anblick weiche Knie bekam.
Der Leichengeruch bewegte sich in einem erträglichen Rahmen, was zweifellos dem Stall geschuldet war, der den Leichnam vor der Hitze der Sonnenstrahlen schützte.
Als er zur Burg Laurin zurückgekehrt war, um nach Henrick zu suchen, und die Körper der Erschlagenen den Burghof zu weiten Teilen bedeckt hatten, war ein intensiver Würgereiz sein ständiger Begleiter gewesen. Damals besann er sich, dass er zwar durch Mund und Nase Luft in sich aufnahm, der Geruchssinn aber in der Nase verankert war. Nur durch den Mund zu atmen, so hatte er damals festgestellt, mutete dem Magen merklich weniger Kapriolen zu.
Er hörte ein Husten hinter sich. Es war Konrad.
»Atme durch den Mund«, riet er ihm.
Konrad wollte zu einer Frage ansetzen, unterließ es dann aber. Wenn Isenhart in diesem Tonfall das Wort an ihn richtete, handelte es sich um einen Ratschlag, dem man bedenkenlos folgen konnte. Und so war es auch dieses Mal. Nur wenige Atemzüge später rutschte das Frühstück aus Brot, Eiern und Trauben wieder die Speiseröhre hinab.
»Erinnert dich das an irgendetwas?«, fragte Isenhart seinen Freund. Ein kaum wahrnehmbares Zittern hatte sich dabei in seine Stimme geschlichen.
»Nichts weiter.« Isenhart konnte im Augenblick nicht einordnen, ob der Anblick der toten Lilith bei Konrad nicht dieselben Erinnerungen auslöste oder ob er sie verleugnete. Und beschloss, dass es weder Zeit noch Ort war, um diese Frage näher zu erörtern.
Der Vater der Toten fragte sich, was Isenhart da trieb, der allem Anschein nach nichts weiter tat, als seine tote Tochter zu begaffen. »Seid ihr nicht da, um den Mörder zu fassen?«
»Natürlich«, bestätigte Konrad.
»Was wartet ihr dann noch? Hier ist der Schurke ganz gewiss nicht.«
»Ja«, fügte die Frau hinzu, »ihr müsst ihn suchen.«
»Und wer ist der Mörder?«, fragte Konrad.
»Woher sollen wir das wissen?«, antwortete der junge Mann, der sie zu Hilfe gerufen hatte.
»Wisst ihr, wo er sich versteckt? Wie sein Name ist, sein Aussehen?«
Die Umstehenden schüttelten die Köpfe, ganz so, wie Isenhart es vermutet hatte. Ob ihr unsinniges Gerede dem Schock entsprang oder einer allgemeinen Tumbheit, konnte Isenhart nicht beurteilen.
»Wo sollen wir ihn also suchen?«, brachte Konrad es auf den Punkt.
Betretenes Schweigen.
Isenharts erster Blick galt nicht der unübersehbaren Wunde, die die Öffnung des Oberkörpers hervorgerufen hatte, sondern Liliths Hals. Bis auf einige Blutstropfen war er unversehrt. Anna dagegen hatte man die Kehle durchtrennt.
So weit, so gut. Aber was sollte er als Nächstes tun?
Isenhart spürte die Blicke der anderen in seinem Nacken. Er wünschte, Walther wäre hier, um das Heft in die Hand zu nehmen. Er hätte ganz sicher gewusst, was nun zu tun war.
»Und jetzt?«, fragte der Wirt.
»Jetzt gehen alle hinaus, die mit dem armen Mädchen nicht verwandt sind«, sagte Isenhart eine Spur bestimmter, als er es beabsichtigt hatte.
»Es sei denn, jemand kann eine Aussage darüber machen, wie sie zu Tode kam«, fügte Konrad hinzu.
Natürlich, dachte Isenhart. Das hatte er vergessen. Aber der dritte Mann wandte sich ab und verließ den Stall.
»Ich habe manchmal mit Lilith die Gäste bedient«, sagte die Frau, die eine Leinenhaube trug und deren Gesicht eine exakte Einschätzung ihrer Lebensjahre erschwerte. Sie konnte ebenso dreißig wie fünfzig Jahre alt sein. Offensichtlich war lediglich, dass sie nach einem Vorwand suchte, der ihre Anwesenheit bei der weiteren Untersuchung legitimierte. Im Dorf würde es später einiges zu erzählen geben, und über je mehr Details sie Kenntnis erlangte, desto intensiver und andauernder würde das Interesse all der anderen an ihrer Person ausfallen.
»Weißt du etwas darüber, wie sie zu Tode gekommen ist, Weib?«, fragte Konrad, dem Tratsch schon von Kindesbeinen an zuwider war – mit Ausnahme der Geschichten über tollkühne Krieger, versteht sich.
»Nein, aber ich …«
»Dann troll dich«, wies Konrad sie an.
Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu, den Konrad mit einem leichten Lächeln quittierte, bevor auch sie den Stall verließ.
»Du bist der Vater«, wandte Isenhart sich an den dicklichen Wirt, um etwas Zeit zu gewinnen.
»Ich bin Haintz«, antwortete der Mann selbstbewusst, »ich führe das Gasthaus. Und das hier«, er deutete mit einer leichten Kopfbewegung zu dem jungen Mann neben sich, »ist mein Sohn Kuntz.«
Isenhart sammelte sich. Er wusste nun zumindest, wo er ansetzen konnte, und das verlieh ihm ein wenig Sicherheit. Verifizieren hatte Walther von Ascisberg die Methode genannt.
Es lag in der Natur der Menschen, ein und denselben Hergang einer Begebenheit unterschiedlich wiederzugeben. Einige vermochten nicht, sich jeder Kleinigkeit zu entsinnen, andere wiederum ließen persönliche Wertungen in ihre Schilderung mit einfließen, die den puren Sachverhalt verwässerten. Und dann gab es noch jene, die ein vitales Interesse daran hatten, den Wahrheitssuchenden durch eine falsche Aussage in die Irre zu führen. In diesem Fall der Täter.
»Kuntz«, wandte sich Isenhart daher an den Sohn, »hast du schon einen Blick in die Stube deiner Schwester geworfen?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Dann sieh nach, ob du dort etwas Ungewöhnliches findest – oder ob sich alles wie immer verhält. Vielleicht war der Mörder in ihrem Zimmer.«
Der junge Mann war offenkundig froh, etwas zur Klärung des Verbrechens beitragen zu können. Er nickte und machte sich rasch auf den Weg.
Als seine Schritte verhallten, sah Isenhart Haintz an, der immer noch den leeren Milcheimer in der Hand hielt. Isenhart wollte den Anblick nicht werten, denn er war ja gerade beim Verifizieren, aber es gelang ihm nicht, sein Herz vor dem Bild der Hilflosigkeit, das der Mann abgab, zu verschließen. »Was ist passiert?«
»Meine Lilith wurde ermordet – das seht Ihr doch.«
»Das meinte ich nicht. Wer hat sie gefunden?«
»Na, ich.«
»Und wann?«
»Zur sechsten Stunde«, gab der Mann zur Antwort.
Als sie das Wirtshaus passierten, hatte es zur neunten Stunde geschlagen. Haintz war also vor drei Stunden auf die Leiche seiner Tochter gestoßen.
»Hast du sonst jemanden bemerkt?«
Haintz schüttelte betrübt den Kopf.
»Was hatte Lilith hier zu suchen? Sollte sie das Kleinvieh füttern?«
»Eine meiner Kühe ist trächtig. Wir dachten, sie würde heute Nacht kalben. Deswegen hat Lilith sich hier ein Lager eingerichtet. Um zur Stelle zu sein, wenn es so weit ist.«
Das war eine einleuchtende Erklärung.
»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«, mischte Konrad sich ein und nahm damit die Frage vorweg, die Isenhart auf der Zunge lag.
»Um Mitternacht, da hab ich noch mal nach dem Rechten gesehen und ihr eine Kerze gebracht.«
Sofort hielt Isenhart danach Ausschau und entdeckte die erwähnte Lichtquelle nur sechs Fuß neben dem Leichnam.
»Was?«
»Hast du ihr eine frische Kerze gebracht?«
»Ja.«
»Gießt du deine Kerzen selbst oder kaufst du sie?«, fragte er.
»Die mach ich selbst«, erklärte Haintz.
Für einen Moment gingen Isenhart die Fragen aus. Er begutachtete die junge Tote und konnte den Sinn, den Gott darin sah, sie überhaupt und auch noch auf diese qualvolle Art aus der Mitte ihres Daseins zu reißen, nicht erkennen.
Eine schwer zu bemessende Distanz schob sich zwischen seine Ehrfurcht vor Gott und den Allmächtigen selbst.
»Und Lilith war hier alleine?«
Haintz nickte.
»Hatte sie ein teco-meco mit einem Burschen?«
Haintz sah ihn überfordert an.
»Eine Tacht«, übersetzte Konrad.
Haintz schüttelte heftig den Kopf, die Adern an seinem Hals schwollen vor Erregung an. »Sie war mit niemandem, Lilith war ein gutes Mädchen! Sie hat mit keinem gelegen!«
Isenhart war gewillt, dem Mann zu glauben, aber ausschließen wollte er diese Möglichkeit trotzdem nicht; Anna war mit ihrer Liebschaft auch nicht bei ihrem Vater hausieren gegangen. Wenn Lilith sich mit einem Jungen getroffen hatte, war ihr Vater mit Sicherheit der letzte Mensch auf Erden, der davon erfahren hätte.
Es sei denn, er selbst war derjenige gewesen. Auch diese Möglichkeit zog Isenhart in Betracht, denn sowohl in den ärmsten Bauernfamilien als auch in den Adelshäusern verlor eine ansehnliche Zahl von Töchtern ihre Jungfräulichkeit durch den Vater. Oder den Bruder.
Kuntz, den er im Anschluss getrennt vom Vater befragte, bestätigte im Großen und Ganzen Haintz’ Aussagen. Daraus ergab sich ein Zeitraum von rund sechs Stunden, über den Unklarheit herrschte. Um Mitternacht war Lilith mit einer Kerze versorgt worden, zur sechsten Stunde hatte ihr Vater sie ermordet im Stall vorgefunden.
Es galt nun, den Leichnam zu untersuchen, um den Grund für den Eintritt des Todes festzustellen.
Die einzige Wunde, die er fand, war jene, die offensichtlich war. Konrad, der Wirt und dessen Sohn sahen ihm dabei über die Schulter.
»Vielleicht«, sagte Konrad mit gebührender Vorsicht, »wurde sie durch einen Stich ins Herz getötet.«
Isenhart fand sich von dieser These überrascht, weil sie von Konrad stammte und doch eine Menge offener Fragen beantwortete. Beispielsweise, weshalb Liliths Körper frei von einer anderen Verletzung war. Natürlich konnte der Täter sie erwürgt haben, doch dagegen sprachen der Zustand ihrer Augen, die nicht weit aus den Höhlen getreten waren, und ihr nur leicht geöffneter Mund.
Solange es möglich war, hatte er sich vor einer Inspizierung der Wunde gedrückt. Nun war allerdings der Zeitpunkt gekommen, sich Gewissheit zu verschaffen.
»Ich brauche Wasser«, sagte er. Kuntz machte sich umgehend auf den Weg.
»Was soll ich bloß tun?«, wandte Haintz sich mit jammervoller Stimme an sie, »Lilith war meine einzige Tochter, versteht ihr?«
»Das ist ein hartes Los«, bekannte Konrad.
Haintz warf ihm einen dankbaren Blick zu. Endlich jemand, der Verständnis für sein Leid aufbrachte. »Ja«, fuhr er ermutigt fort, »sie war einem Nobile versprochen. Er hat mir drei Kühe für Lilith geboten. Drei Kühe. Die kann ich jetzt natürlich vergessen.«
Das Mitleid, das Isenhart und Konrad eben noch für den Wirt empfunden hatten, wurde von einer leichten Sommerbrise nach draußen getragen. Und von dort kam Kuntz zurück und reichte Isenhart einen Bottich mit Wasser.
Er wusch der Toten sorgsam die Wunde, wobei die Wundränder nun deutlich zutage traten. Der Mörder hatte eine Klinge benutzt, um die Haut zu durchtrennen. Das Messer hatte er dabei von oben nach unten geführt. Isenhart wusste, dass man dabei weniger Kraft aufwenden musste als bei einem Schnitt in entgegengesetzter Richtung. Der klare Schnitt wurde immer wieder durch Einkerbungen im Winkel von neunzig Grad zu beiden Seiten unterbrochen. Auch das ein Beleg für die Abwärtsbewegung. Gradlinigkeit und vor allem Tiefe des Einschnitts ließen darauf schließen, dass der Täter ihr vor diesem Eingriff die Brust abgenommen hatte. Der Amputationsschnitt wiederum war sehr sorgfältig ausgeführt worden.
Er wusste, was er tat.
Der vertikale Schnitt nach der Entfernung der linken Brust bemaß sich auf rund einen Fuß. Im Anschluss daran – oder davor – war dem Opfer von links nach rechts abermals die Haut geöffnet worden. Auf diese Weise ergaben sich vier dreieckige Hautlappen, die mühelos zur Seite geklappt werden konnten, um sich dann den Rippen zu widmen, die unmittelbar darunter verliefen. Die Schnitte waren – bis auf die rechteckigen Einrisse – von einer solchen Gradlinigkeit, dass sie ohne Unterbrechung durchgeführt worden sein mussten. Zu diesem Zeitpunkt konnte Lilith sich also nicht mehr gewehrt haben, ansonsten wäre Isenhart eher auf einen unruhigen Verlauf gestoßen.
Da war sie schon tot.
Isenhart beugte sich tief hinab und inspizierte die Verletzung. Sofort begann der Würgereiz, ihm den Hals hinaufzukriechen.
Er rief sich jene Nacht an der Glems ins Gedächtnis, als er sich beim Abrollen vom Pferd das Knie gestoßen und der Schmerz ihm eigentlich den Gang auf den Steg verweigert hatte. Damals war es ihm gelungen, den pochenden Schmerz einfach beiseitezuschieben. Und so hielt er es nun auch mit dem Würgereiz. Er zwang seinen Geist, den Körper Liliths nicht wahrzunehmen, die Tatsache eines Mordes auszublenden und sich ganz allein der Beschaffenheit der Verletzung zu widmen.
Drei Rippenstücke fehlten. Isenhart inspizierte die Schnittränder. Die Unregelmäßigkeit, die er an den Schnittkanten vorfand, sprach gegen eine ungezackte Klinge. Als Schmied hatte er ein recht genaues Bild davon, womit man dieses Schnittmuster zu erzeugen in der Lage war: mit einer einblättrigen Säge.
Durch das Loch, das der Mörder damit verursacht hatte, passte die Faust eines Mannes. Unterhalb der Rippenbögen stieß Isenhart auf ein Wirrwarr aus Muskeln, Sehnen, Blut und Organen, deren glatte Oberflächen von tiefrot bis violett-blau schimmerten. Hier war er mit seinem Latein am Ende.
Isenhart hatte keinerlei Vorstellung von dem genauen Aussehen eines Herzens. Es war Gottes Kindern aufs Strengste verboten, sich ein Bildnis ihres vom Allmächtigen entworfenen Inneren zu machen. Ganz zu schweigen von den Vorgängen, die sich dort abspielten.
Doch die Größe und Stoßrichtung der äußeren Verwundung wie auch der Durchbruch der Rippenbögen wies auf das Herz hin. Exakt derselbe Umstand, auf den Walther von Ascisberg bei der Untersuchung von Annas Leichnam gestoßen war. Nur, dass damals kein Horizontalschnitt durchgeführt worden war und der Täter die Rippenbögen mit einem schweren Gegenstand – einem Stein etwa – aufgebrochen haben musste.
Das Surren der Fliegen, die sich ein ums andere Mal vorwagten, zehrte an Isenharts Konzentration. Er ließ von der Wunde ab und stand auf. Ihm war schwindelig.
»Können wir sie jetzt beisetzen?«, fragte Kuntz.
Isenhart schüttelte den Kopf. Eines hatte er noch vergessen. Also kniete er sich vor das tote Mädchen und drückte ihre Beine ein wenig auseinander. Danach warf er ihr das Kleid zurück und war froh, es ohne Unterbekleidung zu finden.
Plötzlich spürte Isenhart eine kräftige Hand auf seiner Schulter.
Es war Haintz, dessen Gesichtszüge äußerst gespannt waren. »Was macht Ihr da?«
»Ich untersuche den Schoß deiner Tochter«, gab Isenhart so sanft wie möglich zurück, »und ich werde mir …«
Weiter kam er nicht. Der Wirt riss ihn mit einem tierischen Brüllen hoch, packte ihn, und sie beide stolperten und krachten zu Boden. Die Hühner stoben gackernd davon.
»Nichts wirst du!«, brüllte Haintz, und in seiner Stimme entlud sich all sein – monetär begründetes – Leid über den Verlust der Tochter.
Zwei kräftige Hände hoben ihn mit spielerischer Leichtigkeit empor und warfen ihn so schwer gegen die Wand, dass das Stroh aus dem darüberliegenden Stockwerk herabrieselte und Haintz kurz der Atem geraubt wurde. Es war Konrad, der sein Gesicht sehr nah an das des Wirtes führte. Sein Unterkiefer zitterte unkontrolliert. Isenhart war erst wenige Male Zeuge dieses Phänomens gewesen, das einen unmittelbar bevorstehenden Gewaltausbruch ankündigte.
Das aber mit biblischer Sicherheit. Dies schien nun auch Haintz zu spüren, der ergeben die Arme sinken ließ, weil er sich diesem Wachmann aus Spira nicht gewachsen fühlte.
»Mein Freund wird jetzt untersuchen, ob sich jemand an deiner Tochter vergangen hat«, sagte Konrad mit vor Wut vibrierender Stimme, »und wenn du ihn noch einmal anfasst, brech ich dir die Hände.«
Dann wandte er sich von Haintz ab, der erbleicht an der Wand stehen blieb.
Isenhart fühlte sich unweigerlich an seine eigene Reaktion erinnert, als Walther von Ascisberg sich damals, vor fünf Jahren, darangemacht hatte, den Intimbereich Annas zu inspizieren.
Aus der Scheide des Mädchens war kein Blut ausgetreten. Wie es einst sein Mentor getan hatte, spreizte nun auch Isenhart das Geschlecht der Wirtstochter. Am Eingang der Vagina stieß er auf ein gefurchtes, rosarotes Gewebe, das von kreisförmigem Aufbau war. Obwohl es seine erste bewusste Begegnung mit einem Jungfernhäutchen war, konnte Isenhart es doch als solches bestimmen. Und soweit er es beurteilen konnte, war es intakt.
Der Mörder hatte sie nicht defloriert und daher nicht missbraucht.
Sein einziges Interesse hatte dem Herzen gegolten. Wie bei Anna. Und wie bei Anna stellte sich sofort die Frage: Wozu?
Was lag ihm an dem Herz?
Als Kind hatte Isenhart einmal einen Stock in den Fluss gehalten und mit Erstaunen festgestellt, wie das Holz unterhalb der Wasseroberfläche jäh eine andere Richtung annahm, ganz so, als wäre es an dieser Stelle angebrochen. Doch als Isenhart den Stock aus dem Wasser zog, war er intakt und gerade.
Es war neben den Bäumen, die das Laub abwarfen, das zweite Mysterium der Natur, auf das er stieß. Während er im Laufe der Jahre eine – ihn befriedigende – Erklärung für die absterbenden Blätter fand, blieb ihm das Phänomen des jäh gebogenen Stockes weiterhin ein Rätsel.
Eines aber spürte er damals, an diesem Tag, an dem er den Stock an die hundert Male ins Wasser schob und wieder hervorzog, es war ein zwiespältiges Gefühl. Ihm wurde die Begrenztheit seiner Intelligenz bewusst, der enge Raum, einem Käfig gleich, in dem sie auf und ab schritt, in dem sie jeden Winkel kannte und doch nur einen einzigen Tropfen des Ozeans erfasst hatte.
Das war niederschmetternd, denn seine Lebensjahre würden nicht ausreichen, das Meer des Wissens zu erschließen. Andererseits – woher auch immer diese Gewissheit herrührte – war Isenhart felsenfest davon überzeugt, für die Krümmung des Stocks eine Erklärung zu finden. Nicht gleich, denn er war noch ein Kind. Aber ganz gewiss innerhalb der Lebensspanne, die der Herrgott für ihn vorgesehen hatte.
Daran erinnerte er sich, während er neben dem Leichnam der unglücklichen Wirtstochter kniete. Das Bedürfnis des Mörders nach dem Herzen erschloss sich ihm nicht, aber er war sich sicher, innerhalb der Zeit, die ihm gegeben war, eine Antwort darauf zu finden.
Beurteile nichts, bevor du es nicht von allen Seiten betrachtest hast.
Das waren Walthers Worte gewesen. In einem anderen Zusammenhang, sicher. Aber sie waren auch auf diese Situation anwendbar, denn Isenhart befand sich noch immer auf der Suche nach der todbringenden Verletzung. Endete sie erfolglos, würde sich damit der Stich ins Herz als die zwingende Erklärung bewahrheiten.
Also wendete er die Tote, sodass sie nun auf dem Bauch lag. Ein Blick genügte, um die Unversehrtheit ihres Rückens festzustellen. Kein getrocknetes Blut im Leinen wies auf eine Stichwunde hin, die zum Tod geführt hatte.
Nur ein Fleck an ihrem Haaransatz ließ Isenhart stutzen. An dieser Stelle war das blonde Haar eine Spur dunkler. Nass. Vorsichtig fuhr er der Toten mit zwei Fingern durchs Haar und spürte, wie seine Haut dabei benetzt wurde. Er führte sie zur Nase und atmete einen eigenartigen Geruch ein.
Er war frei von Salz, weshalb es sich nicht um Schweiß handeln konnte. Und die Feuchtigkeit auf Isenharts Finger war transparent. Dieser Umstand ließ ihn wie das Fehlen von Eisengeruch auch Blut als Quelle ausschließen.
Aber woher sollte es stammen? Das Stroh war knochentrocken, ebenso das Dach des Stalls, es hatte seit Tagen, vielleicht Wochen nicht mehr geregnet. Also unterzog er den Haaransatz der Leiche einer näheren Betrachtung. Sanft strich er das Haar an jener Stelle zu beiden Seiten, um den Ursprung der Feuchtigkeit zu entdecken. Er stieß auf zwei winzige, schwarze Löcher in Liliths Schädeldecke. Etwa drei Fingerbreit oberhalb des Haaransatzes, genau dort, wo der Hinterkopf eines jeden Menschen zu seiner auffälligsten Wölbung neigte.
Die Löcher befanden sich in symmetrischer Anordnung. Isenhart griff nach einem Strohhalm und führte ihn sehr langsam in das linke Loch ein. Es dauerte nicht lange, bis er auf leichten Widerstand stieß. Dabei trat wieder Flüssigkeit aus.
Jäh zuckte das Bild des Brabanzonen durch seinen Kopf, den er in Sophias Kammer erschlagen hatte, den Riss im Kopf des Mannes, durch den die gräuliche Masse trat – das Gehirn.
Isenhart schluckte, er zog den Halm zurück.
Die beiden Löcher waren kreisrund. Bei einem Sturz, folgerte Isenhart, hatte Lilith sich diese Verletzung nicht zugezogen, dafür wirkten die Frakturen mit ihren nahezu glatten Rändern zu unnatürlich. Der Täter, schloss Isenhart, hatte als Mordinstrument eine Art langen Nagel verwendet und ihn der Unglücklichen weit in den Hinterkopf getrieben. Zu dem zweiten Stich konnte er sich nur veranlasst gefühlt haben, weil die Wirtstochter nach der ersten Attacke noch am Leben war. Was wiederum den Schluss zuließ, dass der zweite Stich der tödliche gewesen war. Außer, es handelte sich um eine Waffe mit zwei symmetrisch angeordneten Spitzen.
Ein Schatten legte sich über die Tote, den Konrad verursachte, weil er neben ihn getreten war und mit seinem Rücken einen jener Lichtstrahlen abfing, die durch die Ritzen der Holzmauer fielen.
»Was hast du gefunden?«
Isenhart legte es ihm auseinander. Der Mörder hatte Lilith mit zwei Stichen in den Hinterkopf getötet, bevor er sich darangemacht hatte, ihr das Herz zu entnehmen.
Da sie beide kurz verharrten, kehrten die unzähligen Fliegen zurück. Isenhart vollführte eine hektische Geste, um sie zu verjagen. Dann drehte er den Körper der Toten mit Konrads Hilfe wieder auf den Rücken.
»Sie hat ihrem Mörder vertraut, oder sie wurde im Schlaf getötet.«
Isenharts Schlussfolgerung rief drei erstaunte Gesichter hervor.
»Wieso?«, fragte Kuntz.
»Weil man deiner Schwester zweimal in den Hinterkopf gestochen hat, um sie zu töten. Wenn es ein Fremder war, hat er sie wahrscheinlich im Schlaf umgebracht. Aber das glaube ich nicht.«
Den Grund für seine Vermutung nannte er nicht; Anna ging den Wirt und dessen Sohn nichts an.
»Ich kann nicht glauben, dass es jemand war, den Lilith gekannt hat«, stieß Haintz hervor, bei dem dieser Gedanke für einige Aufregung sorgte.
»Nun ja«, entgegnete Isenhart sanft, »es war Nacht. Deine Tochter kam zwischen Mitternacht und der sechsten Stunde ums Leben. Irgendwann innerhalb dieser Zeitspanne hat der Mörder sie aufgesucht. Was also soll sie bewogen haben, ihm den Rücken zuzuwenden, wen sie ihm misstraut hat?«
Das leuchtete auch den anderen ein.
Isenhart kam noch ein weiterer Gedanke, der vielleicht erklärte, weshalb der Täter seine Attacke recht ungehindert hatte ausführen können. Möglicherweise hatte er sie mit Hanfseilen gefesselt, sodass ihr eine Gegenwehr versagt blieb. Als Isenhart seine Augen auf die Handgelenke der Toten richtete, konnte er allerdings keinerlei Blutergüsse feststellen. Dafür fiel ihm aber etwas anderes auf: Liliths linke Hand war geöffnet, die rechte fest geschlossen. Die schmutzigen Nägel der Finger hatten sich schmerzhaft tief in den Handballen getrieben.
Beim Versuch, ihr die Hand zu öffnen, um das Geheimnis der Faust preiszugeben, kam ihm die Leichenstarre in die Quere. Sosehr er sich auch bemühte, die Finger nach außen zu biegen, es gelang ihm nicht. Isenhart begriff, dass er all seine Kraft aufwenden und ihr die Fingerglieder brechen musste. Was per se schon eine wenig angenehme Vorstellung war, erhielt durch die Anwesenheit von Vater und Bruder eine besonders unangenehme Note.
Sein geschärfter Blick kam Isenhart unerwartet zu Hilfe, als er feine, rote Linien erkannte, die aus der geschlossenen Hand hervorlugten. Vorsichtig zog er daran und brachte einen kleinen Haarbüschel zum Vorschein, den er ins Licht hielt, während das Geräusch der Hufe zweier Pferde, die sich näherten, an seine Ohren drang.
Rote Haare.
Sie hat mit ihrem Mörder gekämpft.
Konrad beugte sich zu den Haaren hinab, und als Isenhart das bemerkte, reckte er sie ihm entgegen.
»Sie hat sich gewehrt«, stellte Konrad leise fest, warf aber im gleichen Atemzug dem Freund einen unsicheren Blick zu, der nun nickte: »Hat sie.«
In diesem Augenblick traten zwei Männer in den Stall.
Der Jüngere ging voran. Er trug wie sein Begleiter feinstes farbiges Leinen, das sich nahezu perfekt den Formen seines Körpers anpasste. Er wischte die schwarzen vollen Strähnen aus seinem blassen Gesicht, das ein wenig feminin wirkte. Weiche Züge, in deren Zentrum sich zwei blaue hellwache Augen befanden, die wirkten, als könne ihnen rein gar nichts entgehen.
Sein Begleiter war bestimmt doppelt so alt, und obwohl auch er teuer betucht war, ließ doch das Ende seines Hemdes, das an der Seite aus dem Wams hing, wie auch das ungepflegte Haar, das sich unter einem flachen Hut in alle Richtungen kräuselte, auf einen Mann schließen, der seinem Äußeren mit einer Spur Nachlässigkeit begegnete. Was Isenhart nicht unsympathisch war, da es ihn an Walther von Ascisberg erinnerte.
Die Augen des Jüngeren hefteten sich umgehend auf das tote Mädchen, das er in einer Mischung aus Mitleid und Interesse musterte.
Der Ältere warf nun auch einen Blick auf den Leichnam. »Ich bin Günther von der Braake«, sagte er mit einer angenehm sonoren Stimme, »Medicus der Stadt Spira. Man hat nach mir und meinem Sohn Henning verlangt.«
Kurz waren die anderen irritiert.
»Das … muss ein Irrtum sein«, befand Haintz schließlich und deutete mit dem Kopf in Isenharts und Konrads Richtung, »da sind schon zwei Wachmänner aus Spira.«
Henning deutete zur Begrüßung ein Nicken an, das Konrad und Isenhart erwiderten.
»Wir waren nur zufällig hier«, klärte Konrad auf.
Günther kniete sich neben die tote Lilith, um sie näher zu inspizieren. »Ist das deine Tochter, die ermordet wurde?«
»Ja«, brachte Haintz hervor, »aber der Wachmann da hat sie schon untersucht.«
Günther und sein Sohn richteten ihre Augen auf Isenhart. Henning mit einer gewissen Neugier, Günther mit einer leichten Herablassung, die sich auch in seinen Worten spiegelte: »So. Und was habt Ihr herausgefunden? Dass das arme Kind tot ist?«
Henning blinzelte kurz, was wiederum Isenhart nicht entging. Die Haltung des Vaters war ihm offenbar unangenehm.
»Eine Kleinigkeit mehr schon«, erwiderte Isenhart ruhig.
»Nämlich?« Günther von der Braake stellte die Frage, ohne ihn anzusehen. Im Augenblick galt seine ganze Aufmerksamkeit der großen Verletzung im Bereich des Brustkorbs.
»Ihr Mörder hat sie mit zwei Stichen in den Kopf getötet. Die Wunden findet Ihr im Nacken.«
Günther stutzte kurz, fuhr dann aber mit der Inspektion des Leichnams fort.
»Es ging ihm nicht um Begierde, das arme Mädchen ist unberührt, sie trägt ihr Hymen noch.«
Es war, als stünde die Zeit still, selbst das Vieh im Stall schien sich für Augenblicke nicht zu regen. Die beiden von der Braakes verharrten gleichzeitig in ihren Bewegungen, um im Anschluss Isenhart eingehend zu mustern. In ihren Blicken lag Überraschung.
»Sagtet ihr nicht, Ihr seid Wachmann zu Spira?«, fragte Henning.
Isenhart sollte sich noch oft an ihr erstes Zusammentreffen erinnern, an diese Hoffnung in Hennings Blick, die er erst wenig später einzuordnen wusste. »Ich sagte es nicht«, antwortete Isenhart, der aufgestanden war, »aber ich bin es.«
Günther von der Braake hatte, sichtlich beeindruckt, seine Leichenschau unterbrochen. Wie sein Sohn klebte auch er an den Lippen dieses schmalen, fast unscheinbaren Wachmannes.
»Und was noch?«, fragte Günther.
»Er wollte ihr Herz«, fuhr Isenhart fort, »die Gradlinigkeit von Horizontal- und Vertikalschnitt, mit der er die Haut geöffnet hat, belegt, dass sein Opfer zu diesem Zeitpunkt bereits tot war.«
Henning konnte nicht anders, er musste schmunzeln. Sein Vater war ein weit gereister, gebildeter Mann, der sein Handwerk nicht nur in Britannien und Paris, sondern auch in Bagdad, Konstantinopel und Jaffa erlernt hatte. Dass nun ein einfacher Wachmann aus einer Leichenschau dieselben Rückschlüsse zu ziehen vermochte wie Günther von der Braake, konnte diesem kaum behagen.
Der verfolgte mit den Augen die Schnittlinien und nickte. »Der Mörder hat die Rippen durchtrennt«, hielt er fest.
»Dazu hat er sich wahrscheinlich einer Säge bedient«, ergänzte Isenhart, »Ihr seht es an der Schnittkante. Eine Klinge hätte die Knochenstruktur an den Rändern nicht so aufgerissen, wie Ihr es hier vorfindet.«
Erneut führte diese Einlassung zu einer Zäsur bei der Untersuchung der Toten.
Und als sein Vater den Blick zu ihm wandte, bemühte Henning sich, kein Lächeln erkennen zu lassen. »Fehlt ihr das Herz?«, fragte er.
Sein Vater nickte.
»Warum sollte der Mörder es an sich genommen haben?«
Die Frage richtete Henning von der Braake dieses Mal direkt an Isenhart, der ein Achselzucken andeutete.
»Das weiß ich nicht«, bekannte er.
Endlich etwas, was dieser Wachmann nicht zu beantworten in der Lage war, dachte Henning. Und war doch zugleich eingenommen von der uneitlen Direktheit, mit der Isenhart sich zu seinen Grenzen bekannte.
Günther von der Braake erhob sich. »Mich wundert, dass wir uns in Spira noch nicht begegnet sind«, stellte er fest.
»Ich bin nur mit Wachdiensten betraut«, antwortete Isenhart.
Seine natürliche Zurückhaltung weckte das Interesse des Medicus und seines Sohnes.
»Gibt es noch etwas, was Ihr über den Mord herausgefunden habt?«, fragte Günther. Sein Ton, seine ganze Haltung hatte jede Spur von Herablassung verloren.
»Nur das hier«, antwortete Isenhart und hielt ihm den Büschel roter Haare entgegen.
»Rote Haare«, konstatierte Günther von der Braake, »und weiter?«
»Die Wirtstochter hielt sie in ihrer Hand umklammert. Sie wird sich gewehrt haben.«
»Also hat der Mörder rote Haare«, schloss Henning.
Kurz zog, einem angenehmen Geruch gleich, Stille durch den Stall.
»Da war einer«, brach Haintz das Schweigen mit aufgeregter Stimme, »ein Gast mit roten Haaren.«
Sein Sohn nickte: »Er ist sehr früh abgereist.«
Er deutete an das Ende des Stalls: »Dort stand sein Pferd.«
Während Günther von der Braake und Konrad diese Stelle in Augenschein nahmen, sahen Isenhart und Henning dazu keinerlei Veranlassung, wie sie beide mit einem Seitenblick feststellten. Eine leere Stelle war eben eine leere Stelle.
»Wohin wollte er reisen?«, richtete Isenhart exakt die Frage an die Wirtsleute, die auch Henning auf der Zunge gelegen hatte.
»Über den Rhein und dann hinunter nach Regensburg«, antwortete Kuntz.
Eine Anspannung ergriff sie alle. Isenhart, der neben Henning stand, nahm wahr, wie der Sohn des Medicus sich ein wenig versteifte.
»Wann ist er von hier verschwunden?«, fragte Henning.
»Gegen fünf, würde ich sagen«, antwortete Kuntz.
»Dann hat er sieben Stunden Vorsprung«, stellte Konrad fest, »wenn er sich beeilt hat, kann er schon Bruchsal hinter sich gelassen haben.«
Niemand widersprach.
»Hat er die Zeche geprellt?«, wollte Isenhart wissen.
Kuntz schüttelte den Kopf. Sein Vater kramte zwei Kupferpfennige hervor, aber bis auf Isenhart nahm sie keiner näher in Augenschein. Er streckte die Hand nach ihnen aus, aber Haintz schloss die Finger und zog seine Hand wieder zurück. Empörung lag in seinem Blick.
»Ich glaube«, mischte Henning von der Braake sich ein, »der Wachmann Isenhart wollte sie nur ansehen.«
Haintz blinzelte kurz, dann siegte die Verlegenheit und er errötete. Anschließend reichte er Isenhart die Pfennige, der einen von ihnen ins Licht hielt.
»Worms«, stellte er fest, »der Mörder war in Worms.«
Henning runzelte die Stirn. »Woher wollt Ihr das wissen?«
Isenhart trat an ihn heran und reichte ihm den Pfennig. »Worms hat das kaiserliche Recht zur Münzprägung«, er deutete auf den Pfennig, »der Bischofsstab. Nur die Münzpräge zu Worms kennzeichnet ihre Münzen damit.«
Henning senkte die Hand, sein Blick traf den Isenharts. Ein Mensch mit einem derartigen Assoziationsvermögen war ihm bis dahin noch nicht begegnet, obwohl er in vielen, einsamen Stunden diesbezüglich etliche Gebete zum Herrgott gesandt hatte.
»Er kann die Pfennige für einen Handel in der Hammaburg erhalten haben, von einem Franken, der die Münzen zum Tausch von einem Iberer bekommen hat«, wandte Günther von der Braake ein.
Henning war gespannt auf die Antwort des Wachmannes.
»Möglich«, antwortete der, »aber nicht wahrscheinlich.«
»Einen Namen hatte dieser Gast nicht?«, fragte Henning den Wirt.
»Aberak von Annweiler«, antwortete Haintz, aber niemandem war dieser Name geläufig.
»Hat er ein Wort darüber verloren, was seine Profession ist?«, fragte Günther von der Braake.
»Nein, aber er wollte in Regensburg Seide kaufen.«
Keiner der Anwesenden stutzte wegen dieses Ansinnens. Obwohl eine Route der Seidenstraße, von China ausgehend, nach gut 800 Meilen in Konstantinopel am Goldenen Horn endete, war es für einen Händler durchaus möglich, die kostbaren Seidenfasern in der bayerischen Hauptstadt zu erwerben.
»Also ist er Händler oder Weber«, schloss Henning von der Braake.
»Und er hat nur einen Arm«, ließ Haintz sie wissen und fügte, als er in vier verblüffte Gesichter sah, eine Spur verlegen hinzu: »Hatte ich das noch nicht gesagt?«
Sie überließen Haintz und Kuntz das Waschen der Toten und gaben den Leichnam Liliths zur Beerdigung frei.
Einig über die Monstrosität dieses Verbrechens – keiner von ihnen hatte je etwas Abscheulicheres gesehen, wie sie einander versicherten, wobei Isenhart und Konrad es mit einem beifälligen Nicken bewenden ließen –, beschlossen sie, Aberak von Annweiler zu verfolgen.
»Er wird sich über die Handelsstraße über Mulenbrunnen nach Cannstatt bewegen«, mutmaßte Günther von der Braake. Konrad und Isenhart genügte ein kurzer Blick, um festzustellen, dass ihnen dasselbe durch den Kopf schoss.
»Wenn wir über Helibrunna reiten«, warf Isenhart ein, »kürzen wir den Weg nach Cannstatt um fast ein Drittel ab. Vielleicht erreichen wir es gleichzeitig.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Henning.
Isenhart nickte: »Seid ihr mit dem Satz des Pythagoras vertraut?«
Der Medicus und sein Sohn waren mehr als erstaunt.
»Ein wenig«, antwortete Henning vorsichtig.
»Gut. Die Route von Spira nach Mulenbrunnen und von dort nach Cannstatt dürfte grob den zwei Katheten eines Dreiecks entsprechen. Der Weg von Spira nach Cannstatt über Helibrunna ist dann die Hypotenuse – also kürzer.«
Konrad bedauerte, in Walther von Ascisbergs Unterricht nicht besser aufgepasst zu haben.
Henning musste lachen. »Ihr seid der eigenartigste Wachmann, der mir je begegnet ist, Isenhart«, stellte er fest, in seinen Augen lag Sympathie. »Aber ich glaube«, fuhr er dann mit ernsterer Miene fort, »wir sollten keine der beiden Routen wählen. Wäre ich Aberak von Annweiler, würde ich dem Vater meines Opfers niemals sagen, wohin mein Weg mich führt. Von Annweiler muss damit rechnen, dass man ihm folgt. Wenn er klug ist, reist er in die entgegengesetzte Richtung.«
Isenhart verspürte bei diesen Worten eine erfrischende Ergriffenheit. Henning von der Braakes Einlassung ließ die Beweglichkeit seiner Gedanken im Ansatz erahnen. In Isenhart keimte die Hoffnung, neben Walther von Ascisberg einen weiteren Menschen getroffen zu haben, dem es vielleicht auch ein Genuss war, seinen Geist ungehindert schweifen zu lassen.
»Annweiler liegt am Fuß des Trifels«, brach Konrad von Laurin das Schweigen, »und wenn er nach dorthin unterwegs ist, könnte er den Schutz von Spiras Stadtmauern für eine Übernachtung suchen.«
Das Schweigen, das Konrad daraufhin entgegenschlug, bestätigte die Richtigkeit seiner Gedanken. Also stiegen sie auf ihre Pferde und nahmen den Rückweg nach Spira in Angriff.