12.
n jener Nacht an der Glems drängte Simon Rubinstein darauf, Wilbrands Männer anzugreifen. Isenhart sah ihn noch vor sich, wie er sich im Sattel zu Walther von Ascisberg hinabbeugte. Das Licht des Mondes wurde vom Kettenhemd des Juden reflektiert; Isenhart schätzte es auf knapp zwanzigtausend Glieder. Keine Sonderanfertigung.
»Er rechnet nicht mit uns«, wisperte Simon. Um ihn herum saßen stumm die Ritter, die er rekrutiert hatte, Augen und Waffen blitzten auf, ihre Pferde bogen die Hälse nervös nach links und nach rechts. Zwei der Söldner hatten sogar ihren Pferden Kettenhemden umgelegt. Lediglich deren Augen, die aus dem metallischen Geschirr starrten, erinnerten Isenhart daran, dass er es nicht mit Wesen aus Metall zu tun hatte.
»Der Abt hat bestimmt 300 Männer gegen uns geführt«, mischte Isenhart sich ein, als er spürte, wie Walther wankelmütig wurde und einen Ausritt in Betracht zog, »die meisten sind Brabanzonen.«
Keiner sagte etwas, aber das Verharren der kampfbereiten Männer war umso gesprächiger: Niemand wollte ernstlich gegen eine Überzahl dieser Brabanter Soldritter anreiten.
Simon Rubinstein befahl zehn Männer zur Nachhut, und das sollte sich als bitter nötig erweisen. Nur zwei Stunden später trafen Wilbrands Ritter nordöstlich von Ascisberg bei Fügingen ein, wo sie in einen Hinterhalt gerieten, den Rubinsteins Nachhut ihnen dort bereitete. Zwei Gefolgsleuten des Abtes gelang die Flucht, ihre drei Gefährten wurden erschlagen.
Wilbrand von Mulenbrunnen, der die Brabanzonen morden, vergewaltigen und plündern ließ, um ihnen die Laune nicht zu verderben oder sie gar gegen sich aufzubringen, erhielt weitere zwei Stunden später Kunde von diesem wenig erquicklichen Zusammentreffen. Während der eine Ritter mit stiller Zustimmung des anderen Überlebenden die Nachhut auf fünfzig Gepanzerte aufblähte, war für den Abt nur eine Information von Bedeutung: Fügingen.
Es hatte ein erstes Zusammentreffen an einem Übergang der Glems gegeben, einem Nebenarm der Enz. Folgte man dem Lauf der Enz, gelangte man nach Fügingen. Verband man diese beiden Stellen im Geiste zu einer Linie und führte diese fort, landete man unweigerlich in Spira.
Unter Sigimunds Gesinde fand sich niemand mit einer Verbindung dorthin. Aber es gab einen guten Freund des Fürsten von Laurin, der in Spira seine Wurzeln hatte, obwohl er einen Großteil seines Lebens an der höchsten Erhebung der Gegend verbracht hatte: Walther von Ascisberg.
Dieser lenkte sein Pferd mit größtmöglicher Sorgfalt über die Handelsstraße, während die Trage, auf der der ohnmächtige Konrad von Laurin festgebunden worden war, zwei gleichmäßige Linien im frischen Schnee hinterließ. Walther war bemüht, jede Erschütterung und damit jede Unebenheit des Weges zu vermeiden, um den neuen Herrn von Laurin, den er hinter sich herzog, zu schonen.
Einmal erst hatte er das Meer gesehen, diese unfassbare Menge an Wasser, in jeder Hinsicht unbegrenzt. Dieser Teil der Schöpfung flößte ihm tiefen Respekt ein, er konnte nicht benennen, wann in seinem Leben er sich jemals näher zu Gott gefühlt hätte. Bis zu den Knien in dieses Land aus Wasser zu stapfen, war, als spürte er den Atem des Allmächtigen.
Walther hatte sich anschließend auf einen Felsblock gesetzt und die Wellen beobachtet, die wieder und wieder, mal stärker, mal schwächer, aber stets unermüdlich auf den Sand schlugen. Nie ließen sie nach, nie kamen sie zur Ruhe; die Bewegung war der Kern ihres Wesens.
Irgendwann bemerkte er schräg hinter sich eine vertraute Gestalt. Es war der junge Sigimund von Laurin. Schon damals wortkarg. Er fragte nicht, was sein Freund Walther da trieb, er sah es ja: Walther beobachtete die Wellen. Da sie das Immergleiche vollführten, stumpfte Sigimunds Interesse an ihnen recht zügig ab.
»Was ist so außergewöhnlich?«, fragte er schließlich.
Walther benötigte einige Augenblicke, um sich zu sammeln, bevor er antwortete. »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte er ehrfürchtig.
»Jetzt schon«, lautete Sigimunds knapper Kommentar.
Walther war durchaus für die Lakonie des Freundes empfänglich, dieses Mal jedoch nicht. »Es ist wie ein Lebewesen«, sagte er ruhig, »es riecht, es bewegt sich, aber es wird nicht müde. Und hört vielleicht auch nie auf zu sein.«
Er erschauerte ein wenig bei seinen Worten, denn sie beinhalteten nicht weniger als die Nichtigkeit seiner Existenz.
»Alles hört auf zu sein. Irgendwann.«
Walther von Ascisberg schaute sich über die Schulter, sah seinem Freund in die Augen. »Vielleicht«, erwiderte er mit Bedauern, »ja, vielleicht. Aber wenn es einmal so weit ist, wenn das Meer erstarrt und seine Ränder sich nicht mehr als Wellen ans Ufer werfen, dann bin ich überzeugt davon, dass ein großer Schmerz über die Menschen kommt.«
»Was für ein Schmerz soll das sein?«
»Einer, der nicht auszuhalten ist.«
Sigimund hatte die Worte einen Moment lang auf sich wirken lassen, dann genickt, sich abgewandt und seinen Freund nicht länger behelligt.
Daran musste Walther denken, als die Nachhut wieder zu ihnen aufschloss und er erfuhr, was sich bei Fügingen ereignet hatte.
Wie Wilbrand von Mulenbrunnen war auch er in der Lage, aus vergangenen Ereignissen die richtigen Schlüsse für zukünftige zu ziehen. Dem Abt war mit ziemlicher Sicherheit klar, wohin er die Flüchtlinge hatte führen wollen – nach Spira. Sich dort um einen Unterschlupf zu kümmern, war Walthers Plan gewesen, doch erschien ihm Spira nun nicht länger sicher. Dort würde man zuerst nach dem jungen Laurin suchen.
Natürlich konnte er ihn – sofern er nicht bald starb, wonach es im Augenblick eher aussah – weit weg schaffen, nach Flandern beispielsweise oder ins Dänische Königreich, wo er ein Unbekannter war. Aber die Entfernung und der Schutz, den Walther zu mobilisieren in der Lage war, ergaben stets dieselbe Summe. Man hätte Konrad ins ferne China schaffen können, wo man kaum nach ihm suchen würde. Wenn doch, war es Walther aber unmöglich, ihn dort zu schützen. In Spira wiederum würde man Konrad schneller finden, aber hier besaß Walther wiederum ausreichende Verbindungen, um den letzten Laurin abzusichern.
Und dessen Überleben hatte im Augenblick höchste Priorität. Sigimund war tot, für ihn konnte er nichts mehr tun. Seit Isenhart es ihm an der Glems nur mit einem Blick berichtet hatte, schwiegen für Walther die Wellen, und das Meer hörte auf zu sein.
In den frühen Morgenstunden des 25. Dezembers erreichten sie unbehelligt Bruchsal, das unter dichtem Nebel lag. Schon von fern ereilte sie der Hall der Kirchenglocken, die das Volk, das heute die Arbeit ruhen ließ, in das Gotteshaus riefen. Denn es war der Tag der geweihten Nacht, der Wintersonnenwende und des Jahreswechsels.
Isenhart hatte die vor Fieber entkräftete Sophia vor sich aufs Pferd genommen, den linken Arm schützend um ihren Hals und ihre Oberarme gelegt. So ritt er bald anderthalb Stunden, Marie neben sich, die sich kaum noch auf ihrem Pferd zu halten vermochte.
Sein Arm war erstarrt, Sophia in den Erschöpfungsschlaf gefallen, und Isenhart folgte seinem Mentor und hatte dabei stets einen Blick auf Konrad, der kein einziges Mal erwachte. Er stöhnte und seufzte lediglich hin und wieder in seiner tiefen Bewusstlosigkeit.
Die Feier der Geburt des Gottessohnes und der dichte Nebel waren ihre Garanten für eine nahezu unbemerkte Durchquerung des Ortes. Als Walther sicher zu sein glaubte, dass ihnen niemand folgte, hörten sie jedoch erst die Hufe und dann das Schnaufen eines Pferdes, das einen Gewaltritt hinter sich gebracht haben musste.
Vier von Simons Rittern wendeten ihre Rösser und legten die Lanzen an. Doch dann schälte sich, einer Zwiebel gleich, die Schicht um Schicht ihr Innerstes preisgab, Vater Hieronymus aus den Nebelschwaden und nahm immer mehr Gestalt an.
Erleichterung ergriff sie ohne Ausnahme. Walther, der stets auf Distanz zu dem Geistlichen geblieben war, Hieronymus, der Walther seit jeher mit Skepsis begegnet war, und selbst Isenhart, der sich die Anzahl der erlittenen Rohrstockhiebe über alle die Jahre gemerkt hatte – zweihundertneunundvierzig –, sie alle waren von Freude über dieses Wiedersehen erfüllt.
Hieronymus lief zu Konrad, kniete sich neben ihn in den Schnee, öffnete seine schlaffe Hand und legte jenen Splitter hinein, von dem er immer noch glaubte, er stamme vom Kreuz Christi. Dieser Holzspan hatte Konrad von Laurin unversehrt aus dem Kreuzzug heimkehren lassen, mit Gottes Hilfe würde er ihn auch aus dem Niemandsland zwischen Diesseits und Jenseits zurückführen.
Nördlich von Bruchsal traf eine Bauernfamilie eine göttliche Fügung, wie sie später ihren Kindern und noch viel später ihren Kindeskindern berichten sollte. Eine Schar von Rittern traf zur geweihten Nacht auf dem Hof ein. Deren Pferde leerten die Tränken und fraßen nahezu den gesamten Heuvorrat, den der Bauer für den Winter angelegt hatte.
Dafür und für den Umzug in die klirrend kalte Scheune, in der die einfachen Leute eine Woche zubringen sollten, wurde die Familie reichlich entlohnt. Erst von einem dünnen grauhaarigen Mann, später von einem Herrn in Rüstung, einem Juden. Es hatte den Anschein, als wüssten diese beiden Männer nichts von den Zuwendungen des jeweils anderen, und der Bauer war nicht so dumm, sie darauf anzusprechen. Dafür überließen sie den Fremden ihr Haus und schworen, niemandem gegenüber ein Wort über ihre Anwesenheit zu verlieren.
Der dünne grauhaarige Mann, bei dem es sich um Walther von Ascisberg handelte, ließ Konrad und Sophia ein Lager direkt neben dem einzigen Ofen herrichten. Sophia, der ihre nassen roten Haare am Kopf klebten, fiel ebenso wie Marie sofort in einen tiefen Schlaf.
»Sie braucht trockene Decken«, wies Walther Isenhart an, der sich bereitwillig zu dem Dutzend Ritter, das in einigem Abstand lagerte, begab und um Leinen bat. Mit den vier Bahnen grober Reiterdecken, die die Männer erübrigten, wickelten Walther und Isenhart das Mädchen ein.
»Aber ihr ist warm«, gab Isenhart zu bedenken.
»Was sie heimgesucht hat, soll über ihre Haut aus dem Körper gedrängt werden, damit die vier Säfte wieder ins Gleichgewicht geraten«, erklärte Walther von Ascisberg, bevor er sich Konrad zuwandte. Nach der Inspektion der Wunde zögerte er.
Isenhart hockte neben ihm und befeuerte den Ofen mit Holz, das noch nicht komplett getrocknet war und sich deshalb in beißenden Qualm verwandelte. Gleichwohl entging ihm das Innehalten seines Lehrers nicht. Als er ihn fragend ansah, wich Walther dem Blick des jungen Schmieds nicht aus.
Konrad hatte sehr viel Blut verloren und seine Gesichtshaut infolgedessen die wächserne Durchlässigkeit Sterbender angenommen. Die Wunde war verheerend – falls Konrad genesen sollte, wäre es ein Wunder. All das musste von Ascisberg nicht aussprechen, Isenhart las es in seinem Blick schneller, als sein Gehör es erfasst hätte.
Er war in der Behandlung von Fleischwunden nicht bewandert. Und Heilkräuter sowie deren Wirkung waren ihm nur durch Walthers Unterricht bekannt. »Was braucht Ihr?«, fragte er deshalb.
»Unsere Fürsprache«, antwortete Hieronymus, der nahezu lautlos an sie herangetreten war, »Konrad braucht jetzt unsere Gebete.« Mit diesen Worten hockte er sich an Konrads Kopfseite auf den Boden und wischte ihm mit dem Saum seines Umhangs den Schweiß von der Stirn. »Vater«, intonierte er, »der du bist im Himmel …«
»Nicht jetzt«, unterbrach Walther ihn knapp. Hieronymus schaute verdutzt auf und begegnete dem Blick des gelehrten Mannes, dessen Antlitz ebenso wie das eigene von den Vorkommnissen der letzten Tage gezeichnet war.
»Wollt Ihr mir das Gebet untersagen?«, brauste Hieronymus auf, dessen Worte es trotz des kräfteraubenden Ritts nicht an Angriffslust missen ließen.
Walther von Ascisberg atmete einmal tief durch.
»Ihr glaubt wohl nicht an die Heilkraft des Gebets«, legte Vater Hieronymus nach.
»Das tue ich«, erwiderte Walther, wobei Isenhart zur Kenntnis nahm, dass sein Lehrer die Kunst beherrschte, beim Lügen nicht zu erröten, »aber ich glaube, Konrads Wunde gehört behandelt. Ich glaube, Fürsprache beim Herrn und Versorgung der Verletzung sind kein Widerspruch. In diesem Punkt kann ich wohl Eure Zustimmung erhoffen.«
»Das könnt Ihr«, antwortete Hieronymus vorsichtig, denn er rechnete damit, von Walther von Ascisberg aufs Glatteis geführt zu werden.
»Gut«, sagte dieser, »ganz gleich, was uns trennen mag, gibt es eines, was uns eint: Konrad. Ist es nicht Euer innigster Wunsch, ihn noch nicht gehen zu lassen?«
»Natürlich ist es das.«
»Dann wollen wir unsere Kenntnisse für ihn einen. Ich kümmere mich um seine Wunde. Und Euch bitte ich um das, was ich nicht leisten kann: Weiht dieses Haus, Hieronymus. Weiht es mit Hoffnung.«
Hieronymus blinzelte. Meinte von Ascisberg es ernst? Oder hatte er soeben ein geschicktes Netz gesponnen, in dem er sich alsbald verheddern würde? Denn natürlich gab es nichts, was Walther tun konnte. Konrads Heilung lag allein in Gottes Hand. Ganz gleich, welcher Behandlung von Ascisberg ihn unterziehen würde. Andererseits, sagte Hieronymus sich, konnte es nicht schaden, wenn dieses klaffende, blutige Loch in der Hüfte des Stammhalters gleichzeitig von Menschenhand versorgt wurde. Überdies raubte ihm die Sanftmut, mit der Walther das Wort an ihn richtete, jeglichen Zorn aus seinem Herzen, der – wie der Geistliche nur zu genau wusste – der Eifersucht entsprang.
Also nickte er, erhob sich und ging vor die Tür, um das Haus zu weihen. »Hoffnung«, hatte Walther von Ascisberg gesagt. Hieronymus wusste sehr genau, worauf der Mann damit anspielte: grün. Grün war die Hoffnung.
Bei einer geringfügigeren Verletzung hätte Walther die offenen Gefäße mit einem glühenden Eisenstab versengt, um die Blutung zu stillen. Denn nach der Lehre des Galenos war der Verlust des zweiten Saftes – Blut – so immens, dass das Gleichgewicht der Säfte über eine Unausgewogenheit hinausging und Konrads Leben an einem Faden aus brüchigem Hanf hing.
Doch hatte die Lanze van Heydens seine Hüfte auf ganzer Länge durchbohrt. Und das Innere des Menschen glich fast noch einem unberührten Eiland, wie Walther einmal mit einer Spur Bedauern in der Stimme festgestellt hatte. Niemand konnte eine verlässliche Aussage darüber treffen, wie es dort aussah.
Nun, es gab im Zuge von Hinrichtungen und vor allem Schlachten die grässlichsten Verletzungen, die dem aufmerksamen Betrachter einen kurzen Blick in das Innere gewährten, bei Vierteilungen etwa oder wenn einem Krieger die Hand oder gar der Arm abgeschlagen wurde. Doch was der eilige Blick erhaschte, war nur die Form. Partiell war also die Anordnung der Organe bekannt, ihre Funktionsweise aber oder gar ihr Zusammenwirken mit den anderen Organen konnte sich niemandem erschließen.
Walther hätte das Schüreisen durch jenen Weg führen müssen, den die Lanze zuvor genommen hatte. Und er fürchtete, dass er dabei mehr Schaden als Nutzen hervorrufen würde.
Aus diesem Gedanken war das Zögern entstanden, das Isenhart bemerkt hatte.
Gemeinsam säuberten sie die Wunde mit Wasser und Wein, bevor sie sie mit Mehl und Butter füllten, was sie in ausreichender Menge auf dem Proviantpferd mit sich führten. Mehl und Butter, erklärte von Ascisberg seinem verdutzten Schüler, würden die offenen Gefäße verklumpen und damit die Blutung stillen. Nach etwas Ruhe würde der Körper neues Blut entwickeln – wo auch immer das geschah –, und dies würde wieder zu einem Gleichgewicht der Säfte führen.
Isenhart desinfizierte eine Nadel in der Ofenglut, doch Walther beließ es bei einem eng gewickelten Verband. Er wollte sichergehen, dass die Blutung zum Stillstand kam und sich kein Wundbrand oder eine andere Komplikation ergab, bevor sie die Ein- und Austrittswunde vernähten.
Während der ganzen Prozedur erwachte Konrad nicht aus seiner tiefen Ohnmacht.
»Und nun holen wir Vater Hieronymus und bitten den Allmächtigen zusammen mit ihm um Beistand«, sagte Walther.
Als Isenhart und er vor die Tür traten, beendete der Geistliche soeben seine Arbeit, die darin bestand, das Haus des Bauern mit Tannenzweigen zu schmücken.
Isenhart konnte seinen frischen Atem in der Luft sehen, der in den Nebel überging, der sie nach wie vor umgab. Hieronymus wäre allerdings nie in den Sinn gekommen, ein Gotteshaus mit den Zweigen zu versehen, da es sich um einen heidnischen Brauch handelte, der sich aber während der geweihten Zeit immer noch einiger Beliebtheit erfreute. Man sagte den Zweigen übernatürliche Kräfte nach, die die Menschen in der geweihten Nacht gegen böse Geister schützten und dem Haus, an dem man sie anbrachte, Hoffnung, Gesundheit und Wachstum bescherten; all das, was Konrad von Laurin dringend nötig hatte.
»Vater«, wandte sich Walther mit müder Stimme an Hieronymus, »es ist jetzt alles bereit zum Gebet. Gerne möchte ich mit Euch für Konrad Fürbitte bei unserem Herrn halten.«
Beides, die Sanftmut seiner Worte und der ehrliche Respekt in Walthers Augen, ließen die lang andauernde Eifersucht, die Hieronymus empfunden hatte und die auch jetzt noch sein Blut wallen ließ, als kleinmütig erscheinen. Deshalb trat er an Walther heran, nahm dessen Hände in seine und sagte: »Ich bin sicher, kein Medicus hätte die Verletzung meines neuen Herrn mit mehr Geschick und Vorsicht behandelt als Ihr, Walther von Ascisberg. Die Treue, mit der Ihr gerade heute zum Haus Laurin standet, hat mir die Augen geöffnet. Ich möchte Euch von Herzen danken.«
So weit Isenharts Erinnerung reichte, hatte er seinen Lehrmeister noch nie so überrascht gesehen. Und obwohl er sich dagegen sträubte, trafen Isenhart die Worte ins Herz.
Der Geistliche löste seine Hände von denen Walthers und trat ein.
Von Ascisberg warf Isenhart noch einen staunenden Blick zu, bevor er folgte. Dann stutzte er und wandte sich um, weil er Isenharts Zögern bemerkte. »Was ist mit dir?«
»Ich bleibe noch draußen.«
Walther wollte schon nach dem Grund fragen, aber etwas an Isenhart, an seiner Haltung, seinem Blick, sagte ihm, er würde keine Antwort erhalten. Daher nickte er und wollte sich abwenden, als Isenhart doch noch etwas sagte. »Wusstet Ihr, dass ich nicht der Sohn von Ida und Chlodio bin?«
Walther von Ascisberg hatte diese Frage über all die Jahre fast mehr als alles andere gefürchtet. Und sich doch gegen alle Wahrscheinlichkeit der widersinnigen Hoffnung hingegeben, sie würde ihm vielleicht – mit etwas Glück – nie gestellt werden.
Nun war es so weit. Lange hatte er Gelegenheit gehabt, sich darauf einzustellen und zu wappnen. Trotzdem fanden ihn Isenharts Worte unvorbereitet.
Er warf kurz einen Blick zu Boden, um sich zu sammeln, bevor er dem jungen Schmied in die Augen schaute. »Wer hat das behauptet?«
»Chlodio.«
Walther von Ascisberg runzelte die Stirn. »Vielleicht hat er es gesagt, um dich nicht an der Flucht mit Konrad zu hindern. Vielleicht hat er gehofft, du würdest deswegen keine Rücksicht auf ihn nehmen.«
Isenhart schüttelte ganz leicht den Kopf. Andere bewegten ihr Haupt dabei mehrmals nach links und rechts. Isenhart dagegen hatte die Angewohnheit, ihn nur ein einziges Mal zwei Fingerbreit nach beiden Seiten zu schwenken. »Er hat keine Rücksicht genommen.« Eine Prise Bitterkeit schwang in den Worten des jungen Schmieds mit.
»Hat er denn gesagt, wer dein leiblicher Vater ist, Isenhart?«
»Nein.«
Eine gewaltige Erleichterung durchströmte Walther. Natürlich: Chlodio wusste nicht, wer Isenharts Vater war. Aber die Hebamme hatte noch ein Jahr gelebt, gut möglich, dass sie sich etwas zusammengereimt und es unters Gesinde gebracht hatte. Und von dort war es erfahrungsgemäß nicht mehr weit bis zur Schmiede.
Diese Möglichkeit hatte stets bestanden. Diese eine Möglichkeit.
Die beiden anderen Möglichkeiten hatte Walther damals umgehend ausgeschlossen, und das tat er auch heute, hier in Bruchsal, während Isenhart ihn erwartungsvoll ansah. Die eine war Chlodio selbst gewesen, dem die Sache eventuell keine Ruhe hätte lassen können und der hätte Erkundigungen einholen können über seinen Ziehsohn. Allerdings erschien Walther Sigimunds Wahl, die damals auf Chlodio gefallen war, in diesem Sinne als gut, denn Chlodio war ein Phlegmatiker, er würde niemals die Initiative ergreifen und sich auf die Suche nach der wahren Identität Isenharts machen.
Die andere Möglichkeit war Sigimund von Laurin. Sigimund wusste um Isenharts Herkunft. Aber Sigimund hatte mit Sicherheit zeit seines Lebens keine Silbe darüber verloren. Zu brisant war die Angelegenheit, die der Herr von Laurin nun mit ins Grab genommen hatte.
Der einzige Hüter des Geheimnisses um Isenharts Herkunft war nun also Walther selbst. Und der verschwand im Inneren des Hauses.
Isenhart schloss die Tür.
Walther betete aufrichtig, selbst einige der Ritter, die Simon Rubinstein zu ihrem Schutz zurückgelassen hatte, gesellten sich dazu. Sie beschworen den Herrgott, diesen guten Mann, der da vor ihnen im Stroh lag und schwer atmete, noch nicht zu sich zu rufen.
Als sie sich endlich zur Ruhe betteten, die Lippen trocken und aufgesprungen von all den gemurmelten Fürbitten, dunkelte es bereits. Sophia erwachte, ihr Zustand hatte sich gebessert. Nachdem sie ihren Bruder in Augenschein genommen hatte, dessen Kopf in Maries Schoß lag, die ihm unermüdlich den Schweiß vom Gesicht tupfte, erkundigte sie sich nach Isenhart.
Draußen trafen sie auf niemanden, das Gehöft lag verlassen da, der Nebel war nicht gewichen.
»Isenhart«, rief Sophia, doch die Antwort blieb aus. Walther spähte in den dichten Nebel auf der Suche nach einer Silhouette. Erfolglos.
Sie stießen in den Stallungen beim Durchzählen auf vierzehn statt auf sechzehn Pferde.
»Zwei fehlen«, stellte Sophia fest, »es müssten sechzehn sein.«
»Richtig«, antwortete Walther und wollte umkehren, als ihn die Erkenntnis über Sophias Leistung einholte und mitten in der Bewegung verharren ließ. Er sah sie verblüfft an. »Woher weißt du das?«
»Weil wir sechzehn Personen sind. Die zwölf Ritter, Vater Hieronymus, Ihr …«
»Das meinte ich nicht«, unterbrach von Ascisberg, »woher kannst du rechnen, Sophia?«
»Ich hab’s mir beigebracht«, erwiderte das Mädchen. Walther von Ascisberg wusste nicht, worüber er mehr erstaunt sein sollte, über die Tatsache an sich oder über die Beiläufigkeit, mit der Sophia sie ohne jeden Stolz feststellte.
»Und warum?«
»Ich wollte rechnen können.«
Walther kniff vor Zerknirschung wegen seiner unüberlegten Frage, die ihn wie einen Trottel dastehen ließ, kurz die Augen zusammen. Natürlich hatte sie es erlernt, um rechnen zu können, der Grund ihrer Bemühungen lag auf der Hand.
Noch dazu kursierte diese und jene Geschichte über Sophia mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen. Man sagte ihr das zweite Gesicht nach. Vielen Leuten im Hause Laurin war sie nicht geheuer. Einige böse Zungen behaupteten, ein Blick von ihr genüge, die Lebenszeit um ein Jahr zu verkürzen.
Walther von Ascisberg besaß eine ungefähre Ahnung von der Unzulänglichkeit seines Geistes. Ihm war bewusst, dass es noch viele Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die sich dem Bestreben seines Verstandes, sie zu erfassen, entzogen – oder die ihm schlicht nicht bekannt waren. Was also sprach gegen die – vielleicht gottgewollte – Gabe, die Zukunft schauen zu können?
Ihm war sie nicht gegeben, leider. Möglicherweise war an den Gerüchten aber etwas dran, möglicherweise besaß Sophia diese Fähigkeit.
»Kannst du Isenhart jetzt sehen?«
Sophia richtete den Blick auf ihn, ihre grünen Augen musterten ihn offen, aber mit dem Ernst einer erwachsenen Frau. »Ich kann es nicht erzwingen«, erwiderte sie, als gebe sie Auskunft über das Wetter, »ich träume von Dingen. Manche treten ein, viele nicht.«
Von Ascisberg empfand wegen dieser Worte eine seltsame Beruhigung. Sophia war nicht in der Lage, ihre Gabe bewusst einzusetzen. Walther vermochte nicht zu sagen, warum, aber dieses Bekenntnis erleichterte ihn. Alles über dieses Phänomen schien gesagt, aber dann stutzte er doch. Ihm war ein ungeheuerlicher Gedanke gekommen.
»Manches tritt ein, vieles nicht«, wiederholte er. Sophia nickte. Walther fixierte sie regelrecht. »Aber du weißt, welche eintreten und welche nicht«, vermutete er.
»Ja.«
Von Ascisberg spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken kroch. Die Furcht vor so einem Talent stieß ihn ab, die Neugierde zog ihn an. »Von Isenhart hast du nichts geträumt?«
Sophia unterbrach den Blickkontakt, um für einen Moment in sich zu gehen. »Doch«, bekannte sie dann, »aber das wird erst später geschehen.«
Walther spürte, wie seine Kehle trocken wurde. »Und was wird mit ihm geschehen?«
»Ich weiß nicht genau. Es sind nur Bilder.«
»Was zeigen sie?«
»Isenhart steht auf einem Fährfloß.«
»Und sonst nichts?«
»Nein.«
Die letzte Antwort kam zu zögerlich, um der Wahrheit zu entsprechen. Walther wollte nachhaken, aber bei Sophias Anblick erlebte er dieselbe Ahnung wie schon zuvor mit Isenhart: Er konnte ihr an der mit Sommersprossen gesprenkelten Nasenspitze ablesen, dass sie ihm keine weitere Antwort zuteillassen würde.
Er atmete tief durch. Hätte der Allmächtige ihn doch nur mit dieser Gabe ausgestattet! Plötzlich schoss ihm eine Eingebung durch den Kopf. »Hast du auch von mir geträumt?«
Sophia nickte.
»Auch von meinem Tod?«
»Ja.«
Walther schluckte. Er war hin- und hergerissen, doch schließlich siegte seine Wissbegier. »Was hast du gesehen?«
»Einen jungen Mann, nicht Euch. Seine Augen waren herausgeschnitten.« Die Vorstellung daran durchlief den kleinen, schmalen Körper in Form eines Zitterns.
»Sterbe ich durch Gewalt?«
»Nein.«
Dieses Mal kam die Antwort zu schnell, um wahr zu sein.
An Walthers Sattel, der neben seinem Pferd an der Wand hing, entdeckten sie einen kleinen Fetzen Leinen. Biduum hatte jemand mit Ruß darauf gekritzelt.
»Was steht da?«, fragte Sophia.
Walther von Ascisberg verspürte Erleichterung darüber, dass sie sich nicht auch noch das Lesen beigebracht hatte. »Zwei Tage«, antwortete er. Sie mussten es nicht aussprechen, zwischen ihnen herrschte stilles Einvernehmen über die Frage, wer diese Nachricht hinterlassen hatte.
Man benötigte etwa einen Tag von hier bis Spira – oder bis zur Burg Laurin. Und einen weiteren, um nach Bruchsal zurückzukehren. Was hatte Isenhart vor?
»Zwei Pferde«, murmelte Sophia, die in Gedanken offensichtlich derselben Frage nachging.
»Er will jemanden herholen«, vermutete von Ascisberg.
Sophia nickte. Ihr Blick fiel auf die Hühner, die neugierig die Hälse nach ihnen reckten. »Henrick«, sagte sie leise.
Falls Sophias Vermutung zutraf – und einiges sprach dafür, dass das der Fall war –, vermochte Walther dem jungen Mann, der Isenhart inzwischen geworden war, nicht zu helfen. Konrads Zustand war bedenklich, Walther konnte Bruchsal nicht verlassen, ohne das Leben des jungen Stammhalters aufs Spiel zu setzen. Und Isenhart wusste das.
Walther von Ascisberg erwog, drei Ritter nach Isenhart auszusenden, verwarf diesen Einfall aber sofort wieder. Mit Sicherheit hatte Wilbrand von Mulenbrunnen nach dem Zusammenstoß seiner Männer an der Glems und dem Hinterhalt bei Fügingen ein schlagkräftigeres Kontingent entsandt. Denn man stellte keine Ritter gegen die des Abtes, wenn es nicht etwas Wertvolles zu schützen gab. Walther nahm an, dass Wilbrand sehr genau wusste, wen sie in Sicherheit zu bringen gedachten.
Dieses Kontingent aus Mulenbrunner Rittern suchte nach Konrad – nicht nach Isenhart. Dessen Chance, ihnen auszuweichen oder sie mit einem Trick zu umgehen, stand also gut. Noch dazu war Konrad von Laurin weit davon entfernt, sich selbst verteidigen zu können. Isenhart dagegen blieb immerhin noch die Möglichkeit, sich seiner Haut zu erwehren, wenn es hart auf hart kam.
Schweren Herzens beschloss Walther daher, dass es nichts gab, was er für ihn tun konnte.
Tatsächlich begegnete Isenhart den Häschern Wilbrands mitten in der Nacht in Höhe von Bretten. Er sah ihre Fackeln früh genug, um sich mit den beiden Pferden ins Unterholz zu schlagen und dort abzuwarten, bis sie ihn passiert hatten.
Isenhart zählte an die vierzig Mann. Und hoffte inbrünstig, die List, die Walther und Simon Rubinstein ersonnen hatten, möge funktionieren. Denn die zwölf Ritter, die der Jude zu Konrads Bewachung bei Bruchsal zurückgelassen hatte, wären bei einem Aufeinandertreffen mit dieser gepanzerten Schar, die nun wieder zusehends in der Dunkelheit verschwand, hoffnungslos unterlegen.
Vorsichtig führte er die Pferde zurück auf die Handelsstraße und setzte seinen Weg nach Südosten fort. Erst seitdem sich Konrad und Sophia in relativer Sicherheit befanden, war ihm Henrick wieder eingefallen. Ein wenig spät, wie er beschämt feststellte. Aber seinem Bruder, wie er ihn wider besseres Wissen immer noch nannte, war es in den vergangenen Jahren fast immer gelungen, sich vor anstrengender Arbeit zu drücken. Möglicherweise hatte er sein Geschick in diesem Zusammenhang auch bei der Erstürmung der Burg anwenden können und so sein Leben gerettet.
Simon Rubinstein hatte mit den knapp dreißig Rittern, die ihn noch begleiteten, rechtzeitig die Bruchsaler Kirche erreicht. Sie platzten in die Messe, baten unüberhörbar um Proviant für den verletzten Konrad von Laurin und fragten so viele Leute wie möglich nach dem Weg nach Worms.
Simon nahm dabei die Rolle Konrads an. Mit einer Kapuze über dem Kopf waren seine Züge für die Kirchengänger nur erahnbar. Er saß leicht zusammengesackt auf seinem Pferd. Und als sie nach Spira aufbrachen, wusste jedes Kind in Bruchsal, dass der verletzte Konrad von Laurin Zuflucht in Worms suchte.
Doch hatte Walther von Ascisberg richtig vorhergesagt, dass diese eine Finte nicht ausreichen würde, um Wilbrand zu blenden.
Am Abend erreichte der Trupp Spira, wo die Männer sich erneut auf alle erdenklichen Arten bemerkbar machten – dieses Mal gab einer der Ritter vor, Konrad von Laurin zu sein –, um in Richtung Worms abzureisen und dies auch jeden wissen zu lassen.
Kaum hatten sie die Stadt hinter sich gelassen, sandte Rubinstein sechs der Söldner zurück. Zwei von ihnen nach Spira selbst, in dessen Gassen und vor allem Wirtshäusern sie Ausschau nach Verfolgern halten sollten. Mit demselben Auftrag ritten zwei weitere Ritter zu dem Gut Tutenhoven, südlich von Spira, das Walther von Ascisberg zeitweise bewohnte und wo sie von einer nahe gelegenen Anhöhe aus beobachten sollten, ob Wilbrands Männer sich dort blicken ließen.
Diese vier Männer erhielten die Weisung, sich nicht zu erkennen zu geben und die Männer des Abtes auf gar keinen Fall in einen Kampf zu verwickeln.
Die letzten beiden Soldritter schließlich schickte Simon Rubinstein nach Worms, um dort nach einem geeigneten Nachtquartier zu suchen, das den Stammhalter und vierzig Ritter aufnehmen könnte. Sie waren angehalten, mit möglichst vielen Wirten und Stadtvätern zu sprechen und nach zwei Tagen wieder abzureisen.
Simon selbst folgte der alten Römerstraße, die Spira mit Worms verband. Am Folgetag erreichten sie Mannenheim, ein kleines, unbedeutendes Dorf, an dem Rhein und Neckar aufeinandertrafen. Bei Fischern und Bauern erkundigten sie sich nach dem Weg in Richtung Worms, bevor sie in nördlicher Richtung weiterzogen und etwa die Hälfte der Wegstrecke nach Worms zurücklegten. Dort zahlte Simon Rubinstein die Männer aus und entließ sie, bevor er sich abseits der Römerstraße über Spira zurück nach Bruchsal begab.
Langsam sehnte er sich nach dem Ofen in seiner Stube, so sehr hatten die Winternächte ihm zugesetzt.
Offenbar verfingen die falschen Fährten bei Wilbrands Männern, die man in Spira antraf, aber auch auf dem Gut Walthers, das sie verwaist vorfanden. Zuletzt sichtete man sie bei Mannenheim und hörte von einigen, die ohne Erfolg nach dem Nachtlager in Worms suchten, in dem Konrad von Laurin sich aufgehalten haben sollte.
Auch Wilbrand von Mulenbrunnen erreichten die verschiedenen Nachrichten über die Fluchtroute, die vermutlich Walther von Ascisberg geplant hatte.
Aber irgendwo zwischen Mannenheim und Worms verlor sich die Spur von Konrad von Laurin. Alle Nachforschungen verliefen im Sande. Es war, als habe der Erdboden ihn verschluckt.
Vermutlich, dachte Wilbrand, waren sie bis nach Frankreich geflohen, um dort unterzutauchen, wo der Einflussbereich des Abtes endete.
»Es gibt einen unter ihnen, den man Isenhart nennt«, hatte Wilbrand seinen Männern mit auf den Weg gegeben, »tötet ihn nach Möglichkeit nicht, sondern schafft ihn zu mir.«
Es war derselbe Befehl, den er auch den Brabanzonen vor dem Sturm auf die Burg Laurin erteilt hatte. Doch blieb Isenhart ebenso unauffindbar wie der Stammhalter.
Der Morgen war durchdrungen von trockener Kälte, am Himmel fand sich keine Wolke, und Isenhart genoss die Wärme der Sonnenstrahlen, die sich auf sein Gesicht legten. Vor ihm erhob sich der Ascisberg.
Ein Turmfalke, den er zuvor nicht bemerkt hatte, hob die Schwingen. Als Isenhart sich ihm bis auf zwanzig Fuß genähert hatte, stieß er einen spitzen, hellen Schrei aus und glitt von dem Ast, auf dem er ausgeruht hatte. Mit nur vier, fünf Flügelschlägen erhob er sich in die Luft und tat keinen weiteren Schlag mehr, sondern schwebte wie von unsichtbaren Kräften getragen am Himmel entlang.
Isenharts Blick folgte dem Falken aufmerksam. Die Erde gehörte den Menschen, der Himmel den Vögeln, so stand es schon in der Heiligen Schrift geschrieben.
Bruchsal mochte etwa fünf Meilen entfernt sein. Legte man zugrunde, dass selbst ein geübter Wanderer zwei Stunden benötigte, um eine Meile zurückzulegen, war Bruchsal im Laufe eines Tages kaum erreichbar, mit dem Pferd kostete es ihn an die acht Stunden. Nach Spira doppelt so viel.
Isenhart orientierte sich an zwei Bäumen in der Landschaft, die der Turmfalke im Segelflug hinter sich ließ. Isenhart schätzte grob die Geschwindigkeit des Vogels und berechnete die Zeit, die dieser bis nach Bruchsal benötigen würde: kaum mehr als eine Stunde. Wäre er in der Haut dieses Falken, überlegte Isenhart, könnte er binnen zwei Stunden Spira erreichen.
Und wie schnell wären wohl fliegende Menschen im Heiligen Land?
Er lachte über sich, lachte laut über diesen absurden Gedanken, bis der Ascisberg ihm mit dem Echo seines Lachens antwortete und er verstummte.
Fliegende Menschen – das war nicht nur absurd, es war vermessen und wider die Natur. Wenn Gott gewollt hätte, dass sie mit den Vögeln fliegen, hätte er den Menschen mit Flügeln ausgestattet.
Gerne hätte er seinen Geist noch in diesen für ihn jungfräulichen Gefilden schweifen lassen, aber nun erreichte Isenhart eine Erhebung neben dem Ascisberg, die ihm freie Sicht auf die Burg Laurin gestattete. Und jeden Gedanken über das Fliegen davonfegte.
Obwohl von etlichen Fußspuren aufgewühlt und zertreten, kennzeichnete das dunkel gewordene Rot des Blutes, das im Weiß des Schnees noch zu sehen war, den Ort, an dem Anna ermordet worden war.
Als Isenhart sein Pferd unter der Eiche anhielt, verflog der Hauch des Mitleids, das er für Alexander von Westheim empfunden hatte. Er ließ sich aus dem Sattel gleiten und war froh, endlich festen Boden unter den Füßen zu spüren. Er kniete nieder, senkte seine Hand und nahm mit zwei Fingern einige Eiskristalle auf, die auf seinen Fingerkuppen zu rotem Wasser zerschmolzen.
Isenhart roch daran, aber es stieg ihm nur der Duft von Eisen in die Nasenlöcher. Das Blut hätte ebenso gut von einem Tier stammen können. Er legte die Finger auf die Zunge und schmeckte es. Ihm war nicht klar, wie sich das Wunder ereignen sollte, auf das er hoffte. Gab es einen Ritus, der es ihm erlaubte, Anna aus dem Jenseits zu erlösen? Sie in die Arme zu schließen und ihre warmen Lippen auf den seinen zu spüren?
Er wäre blind und nackt über die gesamte Erdscheibe marschiert, wenn das der Preis dafür gewesen wäre. Aber das Blut roch nicht nur, sondern schmeckte auch nach Eisen und machte ihm klar, dass er nicht mal mehr einen Teil von Anna heraufbeschwören konnte. Nicht ihren Geruch, nicht ihren Geschmack. Die süßlichen Brennnesseln.
Der sanfte Bogen, den ihr Hals beim Pilzesammeln schlug, ihr staunendes Gesicht, wenn er von der Artusrunde sprach und ihr dabei der Mund halb offen stand, was ihr auf unerklärliche Weise nichts von ihrem Liebreiz nahm, die Anmut ihres Gesichts im Schlaf oder die Behändigkeit, mit der sie über einen Bach sprang, oder all die Tonarten, in denen sie seinen Namen aussprach, mal tadelnd, mal einem Seufzer gleich und nie, nie ohne bedingungslose Zuneigung.
All diese Momente waren nur noch Spiegelungen seines Geistes und würden mit seinem eigenen Tod für immer verloren sein.
Er atmete tief durch, dann erhob er sich.
»Henrick.«
Keine Antwort. Isenhart stand leicht gebückt in dem Hühnerstall und wisperte den Namen des jungen Mannes, als dessen Bruder er aufgewachsen war. Die obere Begrenzung des Stalles erlaubte ihm keine aufrechte Haltung.
»Was treibst du da, du Kretin?«
Isenhart fuhr herum.
Am Eingang des Stalls stand ein Plünderer, bärtig, mit zerlumpten Kleidern. Die Pupillen des Mannes flogen unstet hin und her, als sei hier ein Schatz verborgen, den er nicht sehen konnte. »Bist du stumm?«
»Nein«, erwiderte Isenhart leise, »ich schaue mich nur um.«
»Umschauen? Wonach? Die Hühner sind doch längst weg.« Misstrauen hatte sich in die Stimme des Mannes geschlichen. Verheimlichte dieser junge Mann etwas vor ihm? Etwas, das er nicht zu teilen gedachte?
In diesem Augenblick erschien Wilbrand von Mulenbrunnen im Burghof, auf dessen Grund die Leichen aufgereiht worden waren. Zwölf Reihen aus Leibern, Jung und Alt, Mann und Frau.
Er schritt sie ab, inspizierte die Gesichter.
Er sucht Konrad, dachte Isenhart. Um ihn herum wurde die Burg geplündert, aber nicht geschleift. Niemand war damit beschäftigt, die Burgmauern abzutragen.
»Willst du mir wohl Antwort geben, du Taugenichts? Oder gehörst du zu den Laurins, hm? Gehörst du zu den Laurins?«
Sofort war Isenharts Aufmerksamkeit wieder bei dem Mann, der nun in der Tür zum Stall stand und ihn voller Argwohn beglotzte. »Nein«, erwiderte Isenhart mit der Miene eines Simpels, »muss man das, um hier sein zu dürfen?«
Der Plünderer grinste breit und entblößte anstelle von Schneidezähnen eine Reihe brauner Stummel. »Gott, bist du dumm«, stellte er fest, »was suchst du hier? Sag’s mir!« Er trat noch einen Schritt vor.
»Eier«, erwiderte Isenhart und tastete nach dem Dolch, mit dem er bereits Rogier van Heyden getötet hatte. Wenn dieser Trampel ihn weiter bedrängte, würde er ihn töten müssen. Leise – wie auch immer er das anstellen sollte.
»Pah«, stieß der hervor, »Eier?«
»Ja«, bekräftigte Isenhart angespannt.
Der Mann trat in den Stall, Isenhart umschloss den Knauf der Stichwaffe.
»Lass den Dolch stecken«, flüsterte der Plünderer. »Du bist Isenhart, nicht wahr?«
Isenhart erstarrte, nur seine Hand bewegte sich und zog die Klinge zwischen Gürtel und Leinen hervor.
»Henrick ist bei seinen Hühnern, direkt unter uns«, fuhr der Mann leise fort, »du musst ihn hier wegschaffen. Und ich kann dir dabei helfen.«
Isenhart zögerte. »Wer bist du?«
»Gunther. Ich habe die Eier in Grüningen verkauft.«
Isenhart steckte den Dolch an seine Stelle zurück. Henrick hatte ihm von Gunther erzählt. Die Identität des Mannes konnte er unter diesen Umständen schwerlich überprüfen. Er musste ihm vertrauen und auf das Beste hoffen.
Tatsächlich hatte Henrick ganze zwei Tage mit seinen Hühnern unter der Erde zugebracht, nur durch die Holzröhren mit Luft versorgt. Wie Isenhart vermutet hatte, war Henrick nach dem Fall des Tores das Risiko für Leib und Leben zu groß erschienen. Auch die Sorge um die mühsam gezüchteten Cochins, die bei der bevorstehenden Plünderung höchstwahrscheinlich in die Hände eines debilen Grobians fallen würden, waren ihm ein Graus.
Also begab er sich zu ihnen und wisperte beruhigend auf sie ein, wenn sie aus Panik und Stress ihr Gefieder zerrupften. Unruhig wanderten sie umher, über ihn hinweg, zwei Hennen gerieten miteinander in Streit, und obschon der Lärm, den sie dabei verursachten, höchst verräterisch war, hatte Henrick es nicht übers Herz gebracht, einer von ihnen den Hals umzudrehen.
Nachdem Isenhart und Gunther vorsichtig die Ränder des Verschlags freigelegt hatten, hoben sie die Decke der Grube an. Die Hühner wandten die Köpfe ab und Henrick kniff die Augen zusammen, weil sich das Tageslicht mit schmerzhaftem Gleißen in seinen Kopf bohrte.
Das Federvieh hüpfte und flatterte aus der Grube, die es vor den hungrigen Mägen der Brabanzonen bewahrt hatte.
Sobald seine Augen sich einigermaßen an das Tageslicht gewöhnt hatten, schloss Henrick außer sich vor Freude seinen Bruder in die Arme und dankte dem Herrn, dass dieser Isenhart verschont hatte.
Als sei es nicht schon schwierig genug für sie beide, unter den Augen Wilbrands das Weite zu suchen, weigerte Henrick sich selbstverständlich, auch nur einen Schritt ohne die Hühner zu tun. Die neue Hühnerzucht, die Isenhart ihm in Aussicht stellte, war Henrick kein rechter Trost. Er wollte nicht irgendwelche Hühner, er wollte diese. Mit jedem Wort, mit dem Isenhart und auch Gunther ihn beschworen, um seines Lebens willen endlich Einsicht zu zeigen, nahm Henricks Haltung trotzigere Formen an. Arme und Beine versteiften sich, er presste die Kiefer aufeinander. Als Gunther schließlich laut wurde, weil ihm seinen Worten zufolge noch nie so ein bockbeiniger Dickschädel begegnet war – ein Pleonasmus, wie Isenhart erkannte –, bereitete Isenhart der Auseinandersetzung ein Ende, indem er sich zwei Hühner schnappte und damit loszog.
Kaum hatte er die ersten Schritte zurückgelegt, hellte Henricks Miene sich auf. »Wo bringst du sie hin?«
»Nach da hinten«, erwiderte Isenhart ungerührt, »da dreh ich ihnen den Hals um.«
Jegliches Blut wich aus Henricks Gesicht. Und mehr hatte Isenhart auch nicht bezweckt.
»Nur ein Scherz, Henrick. Nur ein kleiner Scherz.«
Isenhart nutzte den einzigen Vorteil, über den sie verfügten: die Kenntnis über den Grundriss der Burg. Natürlich hatten die Brabanzonen das Haus Laurin in einer bestimmten Reihenfolge geplündert, sie orientierten sich dabei an der Hierarchie der Werte. Zunächst ging es um Geld, Schmuck und teure Rüstungsteile wie Plattenpanzer und Kettenhemden. Im Anschluss folgten die Tiere, allen voran die Pferde. Für den Gegenwert eines einzigen Rosses musste ein Bauer ein Jahr arbeiten. Wer keines mehr an sich bringen konnte, versuchte sich einen Maulesel zu sichern. Dann ein Schwein oder eine Ziege. Und je länger sie die Burg nach allem durchstreiften, was ihren Reichtum steigern konnte, desto mehr Dinge kamen infrage, weil sie beim Verkauf ein ähnliches Entgelt erzielen würden.
Steigbügel oder Sporen, auf die sie in der Schmiede stießen, konnten zwar nicht den Wert einer Ziege aufwiegen, dafür waren sie aber leichter zu transportieren und mussten nicht mit Futter und Wasser versorgt werden.
Mit etwas Glück, so Isenharts Überlegung, würden sie also dort, wo für Plünderer am meisten zu holen war, nun niemanden mehr antreffen. Dementsprechend orientierte er sich an den Räumen und Gängen, in denen Wilbrands Soldritter mit ihrer Plünderung begonnen hatten – den Gemächern der Familie Laurin.
Auf diese Art erreichten sie den Fluchtstollen und an dessen Ausgang dann die beiden Pferde, die Isenhart dort zurückgelassen hatte.
Gunther verließ die Burg über das rußgeschwärzte Portal, vor dem die verbrannten Brabanzonen auf die Größe kleiner Kinder zusammengeschrumpft waren. Ein paar barmherzige Männer hatten sie zu einem kleinen Haufen gestapelt und waren nun dabei, sie zu verscharren.
Gunther war mit einem Karren aus Grüningen hierhergeeilt, den er ihnen nun überließ, wofür Henrick ihm schweren Herzens drei seiner jüngsten Hühner überlassen musste, denn vermutlich, so meinte Gunther, würden sie sich in ihrem irdischen Dasein nicht mehr begegnen und Henrick damit ein Leben lang sein Schuldner bleiben, ein Zustand, der Henrick – so gut kenne er ihn – ganz gewiss schwer zu schaffen machen würde. Um ihm das zu ersparen, nahm Gunther die Hühner bereitwillig an und wünschte ihnen viel Glück.
Das hatten sie tatsächlich, denn bis auf einen Radbruch gelangten sie in den kommenden zwei Tagen ohne Schwierigkeiten nach Bruchsal, wo sie fast zeitgleich mit Simon Rubinstein an dem Bauerngehöft eintrafen.
Unter der Führung des Juden ließen sie den Ort nach sieben Tagen hinter sich, obwohl Konrad immer noch eine Mischung aus Blut und Eiter aus der Wunde floss. Simon wie Walther fürchteten das Risiko der Entdeckung, das mit jedem Tag ihres Aufenthalts wuchs. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand hier vorstellig wurde, um den Bauern auszufragen.
Rubinstein leitete sie zu drei einsamen Gebäuden in Rheinnähe, die südwestlich von Spira lagen und verlassen waren. Obwohl es gelungen war, Wilbrands Männer ins Leere laufen zu lassen, war Spira selbst zu diesem Zeitpunkt kein sicheres Pflaster für Konrad. Fraglos würden die Mulenbrunner Ritter im Auftrag des Abtes auch in den kommenden Wochen die Gegenden um die angebliche Fluchtroute herum durchkämmen.
Also bot sich jener verlassene Ort an, auf den sie von einer Anhöhe aus freien Blick hatten. Die drei Häuser waren in einer Art Halbkreis angeordnet, sodass sich zwischen ihnen wie von selbst ein Hof ergab, auf dem man eine alte Eiche hatte stehen lassen. Dieses kleine Stück Land, das Isenhart beim ersten Anblick als von Gott verlassen erschien, wurde Heiligster genannt.
Niemand verirrte sich zufällig hierhin, denn unweit des Hofes versperrte der Rhein den Weg nach Westen. Als Besucher war daher nur jemand zu erwarten, der Heiligster zum Ziel hatte. Und weil die Gebäude seit vielen Jahren verwaist waren und Plünderer alles hatten mitgehen lassen, was nicht niet- und nagelfest war – selbst die Fensterläden fehlten –, mussten sie vorerst mit niemandem rechnen.
Das Anwesen samt Ackergrund gehörte zum Besitz der Familie Rubinstein. Simon entschloss sich, all das Konrad von Laurin als Lehen zu überlassen.
Selbstredend gehörte Heiligster Rubinstein nicht offiziell, denn er war Jude, und wie jedes Kind wusste, war ein Adliger jüdischen Blutes nicht denkbar; ebenso wenig wie ein Grundbesitzer, der nicht dem Adel angehörte. Alles lief daraus hinaus, dass Juden kein eigenes Land besitzen konnten.
Urkundliche Erwähnung als Besitzer Heiligsters hatte daher einst Feist von Ascisberg in den Registraturen Spiras gefunden. Mit dem Geld, das die Familie Rubinstein ihm anvertraut hatte, hatte er jenen Kauf getätigt, der Simons Vater verboten gewesen war – und überließ ihm das Land.
So, wie Simon Rubinstein diesen Landstrich, der urkundlich in den Besitz Walthers von Ascisberg übergegangen war, de facto aber ihm gehörte, nun Konrad von Laurin zu überlassen gedachte.
»Ist mit der Bereitstellung der Ritter, die Ihr gewünscht habt, mit der Eskorte hierher und der Übergabe von Heiligster als Lehen an Konrad von Laurin das Emicho-Versprechen abgegolten?«
»Das ist es«, antwortete Walther, »und es ist mehr als das.«
»Meine Familie steht damit nicht mehr in Eurer Schuld?«, hakte Simon Rubinstein nach.
»Im Gegenteil. Ich stehe in Eurer.«
Ihre Blicke begegneten sich, während sie nebeneinander auf ihren Pferden saßen.
»Wir schulden einander nichts, Walther«, ergriff Simon das Wort, »wollt Ihr mir darauf Eure Hand geben?«
Die Großmut des Juden imponierte Walther von Ascisberg, der die dargebotene Hand schüttelte.
Damit war es beschlossen.