8
Einige Tage vergingen. Mike versuchte, seinen Flirt mit der kleinen Rothaarigen aus der Sparkasse auszubauen. Doch etwas Merkwürdiges passierte: Es machte ihm plötzlich keinen Spaß mehr.
Er stürzte sich in die Arbeit, kümmerte sich aber auch um das Appartement auf Gran Canaria. Ein Tapetenwechsel war fällig. Was ich brauche, sind ein paar niedliche neue Gesichter und was da sonst noch Niedliches drum und dran ist an hübschen Frauen, dachte Mike. Zum Affen mache ich mich jedenfalls nicht. Obwohl sie eben besonders reizvoll ist, mit diesen Wuschellocken, diesem lebhaften Gesichtchen. Und die Figur – oh, là là! Spitzenklasse! Ist eine tolle Frau, diese Renate v. Sorppen. Leider nicht für mich. Sonst hätte sie sich schon gemeldet.
Mit einem Wort: Renate ging ihm nicht aus dem Kopf. Das war für Dr. Kringel eine neue Erfahrung.
Es kam ein trister Tag. Mit sanftem Dauerregen war noch einmal eine Warmfront aufgezogen. Sträucher setzten irrtümlich Knospen an. Vögel stimmten voreilig Frühlingsarien an. Plumpe, schwarze Krähen, die zum Überwintern aus Rußland eingereist waren, fühlten sich wie in der Sommerfrische und krächzten mißtönend, aber voller Behagen, schienen sich etwas zuzurufen – auf Russisch natürlich – und verjagten die Meisen aus Mikes Vogelhäuschen im Vorgarten.
Frau Lange, die Gattin des Kinobesitzers, segelte wie eine stolze Fregatte den Gartenweg entlang und klingelte. Unter dem Arm trug sie ihren molligen, boshaften Zwergschnauzer. Mike seufzte, als seine Sprechstundenhilfe sie meldete.
Die entschiedene Vorliebe, die Frauchen diesem Dr. Kringel entgegenbrachte, teilte Daisy überhaupt nicht. Ja, man konnte sagen, daß dieses allerliebste Hündchen eifersüchtig war und sich größte Mühe gab, ihn zu beißen. Wenn Mike noch bedachte, daß Daisy immer nur ein Vorwand war für den Praxisbesuch seiner Dame, und daß jene Dr. Kringel zwar nicht beißen wollte, aber stets aussah, als wollte sie ihn verschlingen, verlor er jegliches Interesse an diesem Patienten.
»Müllerin, sagen Sie einfach, ich hätte zu einer Geburt weggemußt«, flehte er.
»Ich lüge nicht gern, Herr Doktor.«
»Auch nicht für mich?«
»Nur in besonders schweren Fällen.«
»Nach welchen Gesichtspunkten entscheiden Sie das, Müllerin?«
»Ganz einfach: Dies ist einer!«
Mike hörte Daisy im Wartezimmer kläffen. Dann läutete das Telefon. So ging es einem, wenn man Zwecklügen benutzte. Jetzt würde er bestimmt wirklich über Land müssen.
»Kringel.«
»Amélie Pluttkorten. Lieber Herr Kringel. Eigentlich bin ich natürlich nicht befugt. Aber nach reiflicher Überlegung möchte ich Ihnen doch eine Mitteilung machen …«
Amélie war der Sache, die anfangs soviel Spaß gemacht hatte, nun wirklich etwas überdrüssig geworden. Da hingen plötzlich auf Pluttkorten zwei trübsinnige junge Damen herum.
Renate saß verbissen über ihren juristischen Lehrbüchern und erklärte mehrmals täglich, sie ginge nach München zurück, um ihr Leben dort wieder aufzunehmen, wo sie es unterbrochen hatte. Sie ging jedoch nicht. Sie drohte nur.
Laura hatte sich regelrecht auf Pluttkorten verschanzt. Sie sah blaß und niedergeschlagen aus und schien alle Energie und jeglichen Schwung verloren zu haben. Einmal allerdings hatte sie schon ihren Mantel angezogen, um nach Berckenhof zu fahren.
»Ich kann nicht nur in Renates Sachen gehen. Sie sind mir auch viel zu kurz«, sagte sie.
Amélie Pluttkorten hielt sie zurück.
»Nichts überstürzen«, warnte sie. »Es läuft alles sehr gut. Bei erstklassigen Verschwörungen muß man auch ein wenig Geduld haben, liebes Kind. Soviel ist sicher: Ein Eberhardt v. Bercken will eine ebenbürtige Frau. Wir wissen jetzt von Ihrem Bruder, daß Herr Bercken Sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hat, als Sie noch dachten, die Runde sei an Sie gegangen. Diese Runde aber müssen Sie jetzt gewinnen. Sonst hat das ganze Spiel keinen Sinn gehabt. Wollen Sie mir nicht vertrauen?«
Und Laura ergriff die Hand der alten Dame und zog sie ehrerbietig an die Lippen.
Zu Renate aber sagte Amélie: »Was in deinem Krauskopf vorging, wußte ich schon nicht, als du noch ein kleines Mädchen warst. Auf jeden Fall hat es mit diesem Tierarzt-Casanova zu tun, der zugegebenermaßen wirklich sehr charmant ist. Das sieht auch eine alte Frau wie ich. Möchtest du mich vielleicht einweihen?«
»Großmutter, es ist mir peinlich«, erklärte Renate. »Ich werde zurück nach München gehen – und fertig.«
Da setzte sich Amélie v. Pluttkorten sehr gerade in ihrem Sessel auf, nahm die Schultern noch entschiedener zurück und sagte: »Also, bitte! Dann tu es aber auch. Hast du schon einen Flug gebucht?«
Renate blickte ihre Großmutter aus schimmernden Augen an.
»Du wirfst mich raus?!«
»So würde ich es nicht nennen. Ich sorge nur dafür, daß du einen Entschluß faßt.«
Renate wischte sich energisch zwei Tränen aus den Augenwinkeln.
»Aber ich bin verliebt in den Windhund!«
»Und bei ihm zu Kreuze kriechen möchtest du nicht?«
»Ph! Das fehlte noch! Ich bin kein loser Schmetterling, und schon gar kein Prachtexemplar für seine Schmetterlingssammlung. Und darauf würde es hinauslaufen, wenn ich mich mit ihm einließe.«
Amélie Pluttkorten sah ihre widerspenstige Enkelin fest und ernst an.
»Dann solltest du in der Tat deinen Koffer packen. Ich nehme an, daß Herr Düsing dich zum Flughafen fahren wird, wenn du ihn drum bittest.«
»Laß doch den Verwalter. Ich leiste mir ein Taxi.«
Großmutter zog die Brauen hoch. »Du hast es ja.«
»Ich spar's wieder ein.«
»Und wie, mein Kind?«
»Indem ich mir die teuren Stiefel nicht leiste, die ich mir eigentlich kaufen wollte.«
Großmutter Pluttkorten staunte: »Eine verblüffende Sparmethode! Und jetzt kümmere dich um deinen Flug. Ist besser so.« Als Laura hörte, daß Renate wegfahren wollte, war sie sehr niedergeschlagen. »Ich werde Sie auch verlassen, Frau v. Pluttkorten«, sagte sie. »Herr v. Pluttkorten, Sie waren wirklich äußerst freundlich zu mir. Auch ich werde meine Zelte hier abbrechen. Natürlich werde ich noch zu meinem Bruder fahren. Aber daß ich in Engenstedt meine Steuerberatungspraxis aufmachen werde, glaube ich nicht mehr. Nach allem, was vorgefallen ist. Zuerst will ich aber Renate mit meinem Wagen zum Flughafen bringen.«
Amélie sprang aus ihrem Sessel auf. »Um Himmels willen, liebe Laura, das werden Sie ganz gewiß nicht tun. Sagen Sie meinetwegen, Ihr Auto sei kaputt.« Sie blickte ihren Mann an, der amüsiert lächelte. »Na ja, Wilhelm, auf eine kleine Notlüge mehr oder weniger kommt es jetzt doch auch nicht mehr an.«
Laura richtete ihren Blick erwartungsvoll auf die gewitzte alte Dame.
»Sie meinen … Sie meinen, wegen Mike und Renate … da könnte man noch etwas machen, bei diesen beiden Dickköpfen?«
»Dickköpfe sind eine Sache, verliebte Herzen eine andere. Also, abgemacht?«
Laura strahlte auf.
»Natürlich!«
So bedauerte Laura heuchlerisch, daß sie ihre Freundin leider, leider nicht fahren könne. Die Großeltern und Laura stellten sich zum Winken neben dem Taxi auf. Da kam auch eilig der Verwalter aus dem Wirtschaftstrakt. Und der Azubi, der gerade die Gänseschar versorgt hatte, stürzte herbei und vergaß das Gatter zu schließen. Während das Taxi anfuhr und auf das breite Sandsteintor zuglitt, brach der Ganter mit seinen Gänsedamen unter entsetzlichem Geschnatter und Gekreische aus. Flügelschlagend rauschte die wilde Jagd ein Stück hinter der Taxe her. Es war eine malerische und sehr lautstarke Vertreibung aus dem Paradies, die Fräulein v. Sorppen hier zuteil wurde.
Laura sah ihrer Freundin traurig nach. Alles hatte so übermütig und hoffnungsvoll begonnen. Jetzt waren die schönen Pläne gescheitert. Was konnte Frau v. Pluttkorten noch ausrichten?
Ganz anders verhielten sich Amélie und Wilhelm v. Pluttkorten. Sie ließen die Szene auf sich wirken, blickten sich kurz in die Augen – und lachten Tränen.
Dann stieß Amélie ihren Wilhelm ganz leicht mit dem Ellenbogen an. Sie hatten gemeinsam ein glückliches Leben verbracht und brauchten nur winzige Zeichen zu ihrer Verständigung.
Beide gingen nebeneinander ins Haus. Er immer noch sehr gerade und wuchtig, sie mit der Anmut eines jungen Mädchens.
Amélie stürzte förmlich zum Telefon, wählte und sagte: »Amélie Pluttkorten. Lieber Herr Kringel. Eigentlich bin ich natürlich nicht befugt. Aber nach reiflicher Überlegung möchte ich ihnen doch eine Mitteilung machen …«
Er atmete scharf ein. »Oh, ich höre …«
»Meine Nichte ist soeben zum Flughafen aufgebrochen. Sie wirkte sehr niedergeschlagen, muß irgend etwas sehr Unerfreuliches erlebt haben. Sie geht zurück nach München. Da Sie sich aber so gut mit ihr verstanden haben – jedenfalls gewann ich diesen Eindruck –, dachte ich, daß Sie vielleicht … ich meine, ein junger Mann weiß da möglicherweise besser zu raten, gar zu trösten … Wenn Sie also … Hannover-Langenhagen, Sie wissen ja …« Amélie hörte nur noch: »Verzeihung«, und – klack! – hatte Herr Dr. Michael alias Mike Kringel das Gespräch beendet.
»Müllerin, ein dringender Fall!« rief er und jagte zu seinem Auto. Beim fünften Versuch sprang es an. Mike stand der Schweiß auf der Stirn. Unterwegs kam er nacheinander an eine geschlossene Bahnschranke, in einen Konvoi der Bundeswehr und in das Gefolge zweier großer Lastwagen, von denen einer den anderen bei stark ansteigender Straße etwa mit Tempo zehn überholte und so die Straße blockierte, bis sich ein netter, kilometerlanger Stau gebildet hatte.
Als Mike sich endlich wieder freigekämpft hatte, drückte er ordentlich auf die Tube. Seine launische Kutsche puffte und stotterte, daß es nur so eine Art hatte. Jeden Augenblick rechnete Mike mit einer Panne. Doch es kam anders, und zwar in Gestalt eines Polizisten auf einem Motorrad, der ihn wegen überhöhter Geschwindigkeit aufschrieb und zur Kasse bat.
Als er wie durch ein Wunder den Flughafen erreicht hatte und zum Schalter gejoggt war, erfuhr er, daß alle Passagiere nach München sich schon im Warteraum befänden.
Vollkommen aufgelöst stürzte er zum Informationsschalter, und dann ertönte wenig später mit diesem sonderbar hohlen Klang, als spräche eine gepflegte Roboterlady vom Himmel, der Satz: »Frau Renate v. Sorppen, Sie werden zur Information gebeten!«
Da stand nun Mike Kringel und war sehr mitgenommen von der Fahrt. Er war gar kein kühler Ladykiller mehr, sondern eher der Prinz im Märchen, der für seine Prinzessin allerhand Abenteuer bestanden hatte.
Angestrengt blickte er in die Richtung, aus der sie kommen mußte. Plötzlich sprach hinter ihm ein klägliches Stimmchen: »Mike …«
Er drehte sich um. Renate stand da mit Sack und Pack.
»Warum hast du dein Gepäck nicht aufgegeben?« fragte er. Das war nun sicher nicht der Spruch, mit dem ein verliebter Mann die Frau seiner Träume begrüßt.
»Ich konnte mich einfach nicht entschließen …«, murmelte sie kleinlaut.
»Die Passagiere nach München werden zur Abfertigung gebeten«, schnurrte die Roboterlady vom Flughafen-Olymp. Aber da lagen Renate und Mike einander schon in den Armen.
»Du wirst die Maschine verpassen«, flüsterte Mike nach einem langen Kuß.
»Nehm ich eben eine andere«, gab sie atemlos zurück.
Sie strahlten sich an.
»Ich weiß auch schon, wohin«, sagte Mike. »Wir buchen beide den Bungalow auf Gran Canaria. Ab sofort beziehe ich Ferienwohnungen nur noch in Begleitung einer bildhübschen und süßen jungen Frau. Und zwar immer mit derselben. Mit meiner eigenen Frau natürlich. Das heißt, wenn sie will. Willst du?«
»Und was werden all die anderen Frauen dazu sagen?«
Mike warf sich so richtig voll angeberisch in die Brust. »Sie werden damit fertig werden müssen. Sie hatten ihre Chance und haben sie nicht genutzt.«
»Ich nutze sie!« rief Renate. »Ich nutze sie, Mike Kringel, und ich fühle mich wundervoll dabei.«
Sie mußten sich unbedingt noch einmal küssen. Es ging nicht anders. Dauerte auch sehr lange, bis ein schriller Pfiff sie auseinanderfahren ließ. Drei Knirpse hatten sich neben ihnen aufgebaut und feixten sie an. Der Kleinste sagte: »Muß Liebe schön sein!«
Mike lachte und sagte: »Stimmt. Das hab ich bisher noch gar nicht gewußt … Komm, Renate, mein Schatz. Wir haben viel zu tun. Erst Hochzeit, dann Gran Canaria. Diesmal muß alles seine Ordnung haben.« Arm in Arm gingen sie zu Mikes Wagen. Mike trug den Koffer. Schließlich war seine künftige Frau keine Emanze!
»Was meinst du, könnten Laura und Eberhardt nicht unsere Trauzeugen sein?« fragte Renate.
Mike wiegte bedenklich den Kopf. »Glaub ich nicht. Die beiden sind ja wie Hund und Katze«, sagte er. Er drehte den Startschlüssel und trat auf den Gashebel. Diesmal sprang der Wagen sofort an. »Er mag dich!« stellte der glücklichste aller Männer fest. Renate und er hatten ein riskantes Spiel gespielt. Er war der Sieger.
»Ich mag ihn auch«, scherzte Renate, die glücklichste aller Frauen. Sie hatten ein gewagtes Spiel gespielt. Die Siegerin hieß Renate Sorppen.
Eberhardt v. Bercken dagegen fühlte sich gar nicht als Sieger. Ich habe meinen Ehrenstandpunkt verteidigt, dachte er. Schön, meine Ehre habe ich behalten, aber Laura habe ich verloren. Mike macht keinen Finger krumm, um mir zu helfen. Frau v. Pluttkorten hält mich nur hin. Laura selber wird offenbar überhaupt nicht gefragt. Natürlich, eigentlich gibt uns niemand eine Chance.
»Jetzt reicht's aber!« rief Eberhardt laut und schlug mit der flachen Hand so heftig auf den Schreibtisch, daß Arco wie ein geölter Blitz von seinem Lieblingsplatz darunter hervorschoß.
»Es reicht! Ich fahre hin!« schmetterte sein Herrchen drohend. »Jawohl. Ich lasse mich doch nicht zum Kasper machen! Die alte Dame Pluttkorten spielt ja Katz und Maus mit mir. Die will sich bloß rächen, weil ich nicht zu ihrer albernen Abendgesellschaft gekommen bin. So eine rachsüchtige Person!«
Eberhardt ging augenblicklich die Treppe hoch in sein Schlafzimmer. Lauras Räume hatten im anderen Flügel gelegen. Es zog ihn fast magisch dorthin. Vielleicht hing noch ein wenig von ihrem Duft in der Luft. Ja, ein wenig Duft – das war alles, was geblieben war in seinem Leben.
Eberhardt zog sich sorgfältig an: grauer Anzug, Krawatte, schwarze Schuhe, passende Socken. Als er in den Spiegel schaute, schüttelte er den Kopf. Kam doch nicht in Frage, daß er extra feingemacht als eigener Brautwerber auftrat. Er wollte so aussehen, wie Laura ihn kannte. Basta. Er zog die ›Stadtsachen‹ wieder aus und warf sie achtlos aufs Bett. Dann verwandelte er sich in die Figur zurück, die ihm auch selber am vertrautesten war. In den Gutsherrn v. Bercken.
Nachdem er sich einmal entschlossen hatte, gab es kein Halten mehr. Er nahm den Achtzylinder-Wagen und brauste los. Doch inzwischen hatte sich etwas Seltsames begeben. Fast im selben Augenblick, in dem Eberhardt seinen Entschluß gefaßt hatte, war auch in Laura eine Entscheidung herangereift. Eberhardt Bercken hätte sich längst melden müssen! Schließlich war er ein Kerl, kein Jüngling und kein Weichling. Wenn er sich einfach so abspeisen ließ, dann konnte es mit seinem Interesse für sie nicht weit her sei.
Wahrscheinlich war er nicht von ungefähr so lange allein geblieben. Hier und da ein Abenteuer, und sonst wollte er seine Ruhe haben.
Laura klopfte an Frau Pluttkortens Salon. Amélie las in ihrem Lieblingsbuch: ›Der Taugenichts‹ von Eichendorff. Mit schönen Illustrationen.
»Ich fahre nach Berlin zurück«, sagte Laura traurig. »Ich werde mich dort selbständig machen. In einer Großstadt kann man sich leicht aus dem Wege gehen. Aber hier würde ich Herrn von Bercken doch immer wieder treffen.«
»Oh, das würde ich an Ihrer Stelle aber nicht tun«, sagte Amélie.
Laura schürzte ein wenig trotzig die Lippen.
»Es ist das beste. Meine Sachen werde ich mir von Berckenhof nach Berlin schicken lassen. Frau Paulsen macht das sicher gern. Wir haben uns recht gut verstanden …« Jetzt schwankte ihre Stimme doch ein bißchen. Sie dankte Amélie und Wilhelm v. Pluttkorten herzlich. Als sie vom Hof fuhr, schwiegen die Gänse. Es war ein leiser Abgang.
Eigentlich hätte sie Eberhardt in seinem Auto treffen müssen, wenn sie die normale Straße genommen hätte. Sie machte jedoch noch einen kleinen Umweg.
Eberhardt donnerte mit Schwung aufs Pluttkortensche Anwesen. Ein hübsches Mädchen fragte wohlerzogen an der Tür, wen sie melden dürfe.
»Bercken! Ich möchte die gnädige Frau sprechen! Und zwar sofort!« schrie Eberhardt ungeachtet seiner wirklich sehr guten Erziehung.
»Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen? Die gnädige Frau …«, begann die Kleine.
»Ich will nicht Platz nehmen«, brüllte Eberhardt in Rage.
»Oh, Herr v. Bercken, ich habe bereits versucht, bei Ihnen anzurufen«, sagte da Amélie v. Pluttkorten. Sie sah dem aufgebrachten Herrn vom Berckenhof ernst in die Augen. Er hatte allen Grund, wütend zu sein. Ihr waren die Fäden der Intrige entglitten. Ja, Amélie war ratlos. »Sie ist weg. Nach Berlin zurück. Geben Sie jetzt nur nicht auf«, sagte sie.
»Wann ist sie weggefahren?«
»Noch nicht lange her.«
»Nach Berlin, sagten Sie? Nicht erst zu Mike Kringel?«
»Er war gar nicht zu Hause. Nein, direkt nach Berlin. Das heißt …«
»Ja?!«
»Das heißt, jetzt fällt mir's ein, sie sagte noch etwas, einen Namen … sie wollte sich verabschieden … von …«
»Von Dannyboy!« sagte da Wilhelm, der leise in die Tür getreten war.
Eberhardt zögerte nicht eine Sekunde. »Dannyboy!« rief er, »Dannyboy!« Er lachte laut auf. Ahnungslose Betrachter mußten den Eindruck gewinnen, daß dieser Herr ziemlich, sogar ganz erheblich geistig verwirrt war. Er machte auf dem Stiefelabsatz kehrt und rannte zu seinem Wagen.
Dannyboy! Er wußte, wohin er zu fahren hatte. Das letzte Stück lief er zu Fuß. Und dann sah er Laura.
Sie stand auf der Pferdekoppel und hatte die Arme um den Hals eines eleganten Rappen geschlungen. Tränen tropften auf sein Fell. Er stampfte ungeduldig und schien eher etwas ratlos zu sein.
Nein, es war nicht Dannyboy, den sie hier festhielt, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Es war Luxor. Ihr Luxor! Oh, sie mußte wieder träumen! Ja, natürlich, denn nun stand auch noch Eberhardt Bercken neben ihr und sah sie zärtlich und wild zugleich an.
»Ich habe das schon einmal geträumt. Das von Luxor und von dir«, sagte sie mit Piepsstimmchen.
»Aber diesmal träumst du nicht, mein Liebling«, sagte Eberhardt. »Du weißt doch: Träume, die das Schicksal sendet, werden immer wahr.«
Laura schien zu erwachen. Sie blickte Eberhardt an. Ihre Augen schimmerten tief veilchenblau.
»Wie kommt Luxor hierher?«
»Ich habe ihn aus Berlin kommen lassen. Du hattest mir ja verraten, wo in Lübars er stand. Und mein Gestüt hat einen vertrauenerweckenden Namen. ›Dein‹ Bauer hatte keine Bedenken, als ich ihn bat, Luxor auf die Reise zu schicken. In deinem Namen natürlich, Laura. Es sollte eine Überraschung für dich werden.«
»Ja, das ist eine Überraschung. Ich bin so glücklich!«
»Nur Luxors wegen, Laura?«
»Weil mein Traum wahr wird, Eberhardt. Der Schicksalstraum.«
Er trat dicht zu ihr und gab Luxor einen kleinen Klaps. Der gesellte sich erleichtert zu den anderen Pferden.
Eberhardt zog sie an sich und beugte sich zu ihr hinunter. »Ich brauche gar nicht zu träumen, Liebste«, sagte er sanft. »Du bist mein Schicksal. Alles, was ich will, bist du.«
Er küßte sie. Ihre Augenlider und ihre Wangen waren salzig von Tränen. Dann drückte er seinen Mund auf ihre süßen Lippen, und diesmal gaben sie weich nach. So standen sie lange, ineinander versunken. Bis Eberhardt stutzte. Jemand zupfte an seiner Jacke. Er löste sich von seiner geliebten Laura, und dann lachten sie beide.
Dannyboy suchte in der Tasche seines Herrn nach Zucker. Auch die anderen Tiere drängten hinzu. Luxor warf den Kopf nickend vor und zurück wie ein feuriges Zirkuspferd.
»Ihr beiden schwarzen Teufel«, scherzte Eberhardt. »Könnt ihr uns denn nicht in Ruhe küssen lassen?« Doch er sorgte dafür, daß alle fündig wurden, und Laura half ihm dabei.
Arm in Arm gingen sie zum Herrenhaus. Das letzte Wölkchen verschwand gerade am Horizont. Breit brach die Sonne in langen Streifen durch die Kiefern und Tannen im Park. Ein Eichhörnchen turnte an einer Buche. Dohlen raschelten im Laub und pickten aufgeregt nach Würmern, wenn sie sich beobachtet fühlten.
»Es ist wunderschön«, sagte Laura leise.
»Das alles schenke ich dir, mein Liebling. Auch den Wald, soweit du blickst. Die Tiere. Das Haus. Und mich natürlich.«
Er trug sie die Stufen empor und über die Schwelle in die große Diele. Dort hatte sich Frau Paulsen aufgebaut. »Na so was«, rief sie. »Da bin ich aber konserviert!«
»Konsterniert, meinen Sie«, berichtigte Eberhardt gütig.
»Quatsch«, stellte Frau Paulsen klar. »Ich bin einfach platt. Aber das sage ich Ihnen: Zur Hochzeit brauch ich unbedingt 'ne Kochfrau extra!« Und sie rauschte hinaus. Die Herrschaften verstanden es einfach nicht, wenn man ein bißchen verbindlich mit ihnen redete.
Arco begrüßte inzwischen seine Lieblingsdame, als sei sie von einer Nordpol-Expedition zurückgekehrt. Und so ganz unrecht hatte er ja wohl auch nicht. Leider nahmen die beiden nur beleidigend flüchtig Notiz von ihm und seiner springend und winselnd vorgetragenen Freude. So streckte er sich erst einmal gemütlich lang aus. Irgendwann würden sie einen so netten, lustigen Hund schon wieder dringend brauchen. Er kannte seine Menschen.
»Wir sollten Frau v. Pluttkorten anrufen«, schlug Laura nach einiger Zeit vor, in der sie höchstens einen Meter weitergekommen waren. »Sie ist doch sehr an unserem Glück beteiligt.«
Er führte sie ins Herrenzimmer. Gerührt sah sie, daß überall Blumen in verschwenderischer Pracht die Vasen schmückten. Auf dem Schreibtisch stand eine weiße Orchidee mit einem ganz zarten lavendelfarbenen Filigran in den einzelnen Blüten.
»Unsere Glücksblume«, lächelte er.
Frau v. Pluttkorten kam gleich an den Apparat. Sie hatte bereits sehr auf einen Anruf gehofft. Renate und Dr. Kringel waren ein Paar. Jetzt meldete sich das zweite Paar. »Sie werden doch mit Ihrem Gatten zur Hochzeit kommen, nicht wahr?« bat Eberhardt. Laura ergänzte: »Sie haben soviel Kummer mit mir gehabt. Wie soll ich Ihnen danken?«
»Gar nicht, liebes Kind«, sagte Amélie v. Pluttkorten. »Was habe ich schon getan? Ich habe in meinem Leben eins erkannt und mich danach gerichtet: Die Moden ändern sich. Aber die Gefühle der Menschen sind heute noch dieselben wie damals, als mich mein geliebter Wilhelm zur Frau nahm.«