ÜBER DEN KRIEG DER DRACHEN
»1. Daia ist in ihrer Gesamtheit in sieben Teile gegliedert. Diese alle sind nach Sprache, Einrichtungen und Gebräuchen voneinander verschieden. Gemein ist ihnen nur, dass jedes dieser Reiche von einem Unsterblichen regiert wird, einem Menschen, den die Devanthar wegen seiner Begabungen erwählten und ihm das ewige Leben schenkten.
Von allen Bewohnern der sieben Reiche sind jene auf den Schwimmenden Inseln die friedliebendsten. Sie haben nur wenig Umgang mit den übrigen Völkern. Man erzählt sich unter den Menschenkindern, dass diese Inseln wie große Flöße auf dem Meer treiben und man keine von ihnen zweimal am selben Orte antreffen wird. Diese Einschätzung mag darauf beruhen, dass die Seefahrer der Menschenkinder das offene Meer fürchten, denn sie haben noch nicht gelernt, sich vom Stand der Gestirne lenken zu lassen.
Das kriegerischste der sieben Reiche ist jenes, das Luwien genannt wird. Dort herrscht der unsterbliche Muwatta, dessen Schmiede entdeckt haben, wie das Eisen zu formen ist, was dem Königreiche zu großer Macht auf den Schlachtfeldern verhilft, kämpfen seine Nachbarn doch noch mit Waffen aus Bronze, die gegen das Eisen nicht bestehen können. Die Luwier nennen ihr Reich das große Haus und sie haben es in Kammern unterteilt, womit jedoch nicht Provinzen gemeint sind, sondern die verschiedenen Stände, denen es bei Todesstrafe verboten ist, sich miteinander zu vermischen.
Die tapfersten der Menschenkinder sind ohne Zweifel jene, die dem Waldreich Drus entstammen. Sie lieben den Krieg und leben für ihn. Fast ohne Rüstung, manchmal sogar ganz nackt, nur von ihren bunt bemalten Schilden geschützt, stürmen sie in die Schlacht, wo sie sich einen Gegner suchen, der ihnen an Mut und Tapferkeit gleichkommt. So sterben viele von ihnen an Schwerthieben in den Rücken, da sie an den Geringen unter ihren Feinden einfach vorbeilaufen. Obwohl auch sie einen Unsterblichen haben, ist ihr Königreich nicht nach strengen Gesetzen organisiert, wie etwa Luwien. Oft schließen sich Banden aus verschiedenen Stämmen zusammen, um Nachbarn zu überfallen, Vieh zu stehlen und Schlachtenruhm zu sammeln, denn ein guter Name als Krieger wiegt in ihrem Reich schwerer als Gold. In seltsamem Gegensatz zu ihrer Kriegsliebe stehen die Rituale, die ein jeder, der Blut vergossen hat, vollziehen muss, wenn er in seine Heimat zurückkehrt. So wandern die Recken zunächst zu den Heiligen Hainen in den Geisterwäldern, um vor ihre Ahnen zu treten und die Geister jener, die sie im Felde erschlugen, um Verzeihung zu bitten. Erst danach ist es den Kriegern erlaubt, zu den Ihren zurückzukehren oder bei einer Frau zu liegen.
Der wohl weiseste Unsterbliche ist jener, der über das Königreich Aram herrscht. Und doch war es ausgerechnet an seinem Hofe, dass ein Späher der Albenkinder bis zu höchsten Würden aufstieg. Der Beherrscher aller Schwarzköpfe, wie er von seinen Untertanen genannt wurde, tat sich auch durch seinen Mut auf dem Schlachtfeld hervor; so soll er einst, ganz allein nur durch das Feuer in seinem Blick und sein erhobenes Götterschwert, eine ganze Piratenflotte dazu gezwungen haben, vor ihm die Segel zu streichen. So grundlegend war ihr Sinneswandel, dass aus Mördern und Brandstiftern Priester und ehrenvolle Krieger in der Leibwache des Unsterblichen wurden.
Das geheimnisvollste der sieben Großreiche der Menschenkinder ist sicherlich jenes, das Zapote geheißen wird. Fernab liegt es, von allen Seiten vom Meer umspült und ohne Nachbarn, die seinen Einwohnern Übles wollen. Hier ist der Unsterbliche kein König, wie in den anderen Reichen, sondern ein Priester und sein Thron steht im Gefiederten Haus, wo die Devanthar so häufig zu Gast weilen wie bei anderen Herrschern Provinzfürsten.
Wie Berge erheben sich ihre Tempel über die Wälder und es heißt, sie würden noch tiefer als die tiefsten Wurzeln in den Weltengrund greifen. Nur wenige Reisende kommen in das Land Zapote und seine Bewohner geben ihre Geheimnisse nicht preis. So kennt man nur Gerüchte von einem Wurm oder einer Schlange tief unter den Tempeln. Eine Kreatur, göttergleich, der durch das Blut unzähliger Opfer ewiges Leben geschenkt wird. Es heißt, dass die bedeutendsten der Krieger aus den Wäldern vom Blute der Schlange trinken und von ihrem Fleische gespeist werden, und dass sie sich danach verändern und mit der Macht des heiligen Jaguars kämpfen.
Die wildesten unter den Menschenkindern aber sind die Steppenreiter Ischkuzas. Viele kleine Königreiche haben sie sich untertan gemacht, sie haben Schätze ohne Zahl erbeutet und doch kaum etwas davon mit sich genommen. Für Güter, die sich nicht aus eigener Kraft bewegen, hegen sie nur geringes Interesse. Sie sind der Freiheit verschrieben, unstete Wanderer auf den weiten Steppen. Selbst ihr Unsterblicher residiert nicht in einem Palast oder Tempel. Er regiert am Wandernden Hof und sein Thronsaal ist eine Jurte auf Rädern. Seine Schätze sind die Herden, die ihn begleiten, seine Weiber und Kinder. Da sie nie stillstehen, sind sie unbesiegbar für ihre Feinde, deren Heere sich in der Weite der Steppe verlieren.
Valesia ist vielleicht das schwächste der sieben Reiche, wenngleich sein Kriegsmeister, Arcumenna von Truria, die Grenze nach Drus wohl behütet. Doch dem Unsterblichen von Valesia steht nicht der Sinn nach Kriegen und danach, seine Nachbarn durch mächtige Heerscharen zu schrecken. Er hat sich ganz der Kunst und Schönheit verschrieben und wenn man betrachtet, was er zu erschaffen versuchte, so kann man nicht umhin, einzugestehen, dass auch den Menschenkindern die Gabe zu wahrer Größe geschenkt wurde. Sie offenbarte sich in Selinunt, der Weißen, einer Stadt tief in den Bergen Valesias, die ganz und gar von Marmor und Gold erbaut wurde. Statt Eisenschwertern stellt der Großkönig Künstlern nach und öffnet bereitwillig die Tore seiner Schatzkammern, um sie in allen sieben Reichen werben so lassen. Die kühnsten Baumeister, die besten Bildhauer und Goldschmiede hatte er versammelt, auf dass Selinunt ein Königssitz werde, neben dem selbst die Pracht der Goldenen Stadt auf Nangog verblassen sollte. Ebendieses Selinunt sollte zu jenem Ort werden, an dem die Kinder Albenmarks unauslöschliche Schuld auf sich luden.
2. So verschieden all diese Völker in ihrem Streben und Denken sind, fügten sie sich doch alle, als die Devanthar ihnen durch die Münder der Unsterblichen befahlen, Tausende Menschen nach Nangog zu schicken, um sich die Welt, die von alters her den Kindern der Alben und der Devanthar verboten war, untertan zu machen. Und so begann jener Krieg, der heute der erste Krieg der Drachen genannt wird und in dem die Völker Albenmarks und Daias so unendliches Leid erfahren sollten.«
ÜBER DEN KRIEG DER DRACHEN, BUCH I, SEITE I, FF. VERFASST VON: TALAWAIN, MEISTER DER BLAUEN HALLE, VERWAHRT IN DER BIBLIOTHEK VON ISKENDRIA, IM SAAL DES LICHTES, IN EINER AMPHORE VERGRABEN AN EINEM ORT, DER NUR GALAWAYN, DEM HÜTER DER GEHEIMNISSE, BEKANNT IST
VORBEREITUNG
ER folgte den drei wandernden Kolossen schon eine Weile. Drei dunkle Schemen mitten im Weiß, kaum eine halbe Meile entfernt. Der größte von ihnen bildete den Abschluss der kleinen Gruppe. Er war der Bulle. Der Vater. Er wusste, dass ER hier war. Und er ahnte, dass seiner Familie Gefahr drohte.
Die drei Mammuts verfielen in einen leichten Trott. IHN konnten sie so nicht abschütteln. ER lächelte über diesen verzweifelten Versuch, IHM zu entkommen, und stapfte unermüdlich weiter durch den Schnee. ER hatte die drei ausgewählt, weil sie die vollkommenen Opfer waren. Mondelang hatte ER darüber gebrütet, wie es gelingen mochte, was zu tun SEINE Pflicht war.
Der Bulle hatte plötzlich genug. Er drehte sich IHM zu und kehrte seiner Familie damit den Rücken. Das Mammut ahnte nicht, in welcher Gefahr sie schwebten. Es sah in IHM nur einen Elfen. Zornig hob es den Rüssel und trompetete seine Wut heraus. Die kleinen schwarzen Augen funkelten. Wild entschlossen stürmte das Mammut IHM entgegen. Schnee spritzte unter seinen gewaltigen Füßen auf. Es hatte die gebogenen Stoßzähne drohend gesenkt. In der ganzen Snaiwamark gab es keinen Gegner, den ein ausgewachsener Mammutbulle zu fürchten hatte. Selbst die Trolle rotteten sich zu Rudeln zusammen, wenn sie Jagd auf solch einen Bullen machten.
ER aber war allein. ER lächelte dem anstürmenden Fleischberg entgegen. Einen Augenblick lang war er versucht, SEINE Gestalt zu wandeln. SEIN wahres Äußeres anzunehmen.
Das Mammut war nun weniger als zwanzig Schritt entfernt und der gefrorene Boden erzitterte unter seinem Gewicht.
Gebieterisch hob ER den Arm, griff im Geiste nach der Magie und schleuderte dem Mammut nichts als ein einzelnes Wort entgegen. ER spürte, wie sich das Gewebe des Weltenzaubers rings herum veränderte. Wie die Fäden der Macht zu einem Bündel gesammelt wurden, das den Bullen traf und mitten im Lauf verharren ließ. ER hatte die Lebenskraft des Mammuts in den gefrorenen Boden abgeleitet. Nicht zu viel natürlich. Es sollte nicht sterben. Es sollte stehen und sehen!
Das Mammut vermochte keinen einzigen Muskel mehr zu bewegen. Jede bewusste Bewegung war ihm unmöglich. Nur sein Herz schlug noch. Seine Lungen füllten sich mit Luft und gaben sie wieder frei. All jene Dinge, die sein Körper unbewusst tat, waren von dem Zauber unberührt geblieben. Doch alles, wozu man Willen aufbringen musste, war dem großen Bullen unmöglich geworden. Dabei war sein Wille keineswegs gelähmt. ER konnte den starren dunklen Augen des Tiers ansehen, dass es sich seiner Hilflosigkeit völlig bewusst war. Wie klar so eine Kreatur wohl zu denken vermochte? Das war nebensächlich, rief ER sich zur Ordnung.
ER sprach ein weiteres Wort der Macht und zwang die Kuh und das Junge zu sich. Gemächlich trotteten die beiden zu IHM herüber und ER konnte ihre Angst riechen. Sobald ER sie aus SEINEM Bann entließe, würden sie in blinder Panik davonstieben.
ER berührte die Kuh. Ihr dichtes braunes Fell war von Eis verkrustet. Sie gab einen jämmerlichen Laut von sich, fast wie ein Wimmern.
So viel Fleisch, dachte ER, und sammelte SEINE Kraft. ER würde alles Unwesentliche lösen und wieder eins mit den Elementen werden lassen.
Das Wort, das ER rief, fühlte sich fremd an auf SEINER Zunge. Ebenso wie die Kräfte, nach denen ER nun griff. ER hatte die Magie der Devanthar studiert. Die Silberschale. Die Kräfte, die sie in Nangog und Daia nutzen. Diese Zauber waren erschreckend fremd. Ganz anders als jede Magie, die in Albenmark gewoben wurde. ER zog einen Teil SEINER Macht aus der Lebenskraft der Kuh. Sie stieß erneut diesen erbärmlichen klagenden Laut aus. Zauberweber, die ihr Ziel weniger klar vor Augen gehabt hätten, hätten sich davon vielleicht das Herz erweichen lassen. ER aber versetzte ihr einen Schlag mit der flachen Hand und entfesselte die geballte Kraft. Nebel schien sie einzuhüllen. Aber er war nicht weiß. Schmutzig-rote Dunstschlieren umspielten die Kuh. Sie zitterte am ganzen Leib. ER vermochte ihre Schmerzen nur zu ahnen. Sie löste sich auf. In die kleinstmöglichen Bestandteile. Feiner als jener Staub, den man an einem hellen Tag im Sonnenlicht tanzen sah. Alles Unwesentliche fiel von ihr ab. Fast alle Materie wogte davon über die vereiste Einöde. Das Wasser ihres Leibes verwandelte sich in Eiskristalle. Schwefel, Eisen, Kalk. All das kehrte zurück zu seinem Ursprung. Fuhr tief in die Erde hinab.
Der wimmernde Laut war längst verstummt. Als die letzten Schlieren von einer sanften Brise davongetragen wurden, war fast nichts geblieben. Das Fell des Bullen und des Kalbs waren mit feinem Raureif überzogen. Ein Stein, so klein, dass ER ihn in SEINER Hand verbergen könnte, lag im zerwühlten Schnee.
Neugierig bückte sich der Zauberweber. ER war überrascht, wie leicht der Stein in SEINER Hand wog. Keine magische Aura umgab ihn. Er sah aus wie ein gewöhnlicher graubrauner Felssplitter. Und doch wohnte in ihm große Macht. Die Essenz der Mammutkuh war in ihm gebunden. Alles, was sie ausgemacht hatte – ihre Lebenskraft, ihre Seele. All das war befreit vom beliebigen fleischlichen Beiwerk. Sie war in diesen Stein gebannt. Herausgerissen aus dem Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Sie war ganz SEIN. Oder verloren für alle Zeit, wenn ER den Stein fortwarf. Niemand würde ihn wiederfinden können. Wenn man nicht um sein Geheimnis wusste, dann unterschied er sich in nichts von unzähligen anderen Felssplittern.
ER ballte seine Faust um den Stein und war unschlüssig, was ER damit tun sollte. Ihn behalten und erforschen? Versuchen, sich seine Macht zu erschließen?
ER sah zu dem Bullen und war überrascht, wie viel Gefühl sich in den Augen eines Tieres spiegeln konnte. Trauer und maßloser Zorn. Sollte ER den Mammutbullen aus seinem Bann entlassen, der Koloss würde IHN in den Boden stampfen. Zermalmen.
In den Augen des Kalbs sah ER nichts als blanke Angst.
»Kann ein Tier lieben?« ER trat jetzt dicht vor den Bullen hin und spürte seinen warmen Atem im Gesicht. »Sie ist für eine große Sache gegangen, weißt du? Auf ihre Art hat sie geholfen, unsere Welt zu retten.« ER zwang den Bullen, vor IHM niederzuknien.
Das Mammut kämpfte gegen SEINEN Willen an. Die großen Augen waren so weit aufgerissen, dass man einen von blutigen Adern durchzogenen weißen Kranz rings um die Iris sehen konnte.
»Poeten haben sich den blumigen Satz ausgedacht, dass man seine Geliebte stets im Herzen trägt.« ER hatte das Mammut nun ganz auf den Boden gezwungen. ER befahl ihm, sich auf die Seite zu legen. Dabei strich ER über die hohe Stirn des Tieres. Deutlich spürte er den starken Schädelknochen. ER schloss die Augen. Konzentrierte sich auf das warme Fleisch unter dem Fell. Auf das Blut, das in den dünnen Adern pulsierte. Auf den Knochen. Sah die wabenartige Struktur mit der glatten Kalkoberfläche vor sich und spürte die Höhlung unter der Stirn. Gutartige Knochentumore wucherten dort. Die Höhlung war groß genug.
ER konzentrierte sich und berührte die Stirn ganz leicht mit den Fingern. Fell, Haut und Fleisch wichen vor der Berührung zurück. Selbst der Knochen öffnete sich unter seiner Hand. ER legte den kleinen Stein, die Essenz des Lebens der Mammutkuh, in die Stirnhöhle. SEINE Gedanken ließen die Knochentumore wachsen. Wie ein Schmuckstück fassten sie den Stein ein und hielten ihn an seinem Ort.
Langsam zog ER die Hand zurück. Knochen, Fleisch, Haut und Fell kehrten an ihren Platz zurück. Nicht ein Tropfen Blut war geflossen.
»Ich fürchte, sie wird dir für den Rest deines Lebens nicht mehr aus dem Kopf gehen«, sagte ER mit einem süffisanten Lächeln.
Dann trat ER von dem Bullen zurück und betrachtete SEIN Werk mit etwas Abstand. Der Eingriff hatte keinerlei Spuren hinterlassen. Jetzt kam es noch darauf an, wie sehr sich das magische Gefüge verändert hatte. ER atmete langsam aus, ließ alle Anspannung von sich fließen und öffnete SEIN Verborgenes Auge. Es war gelungen! Die magische Aura des Bullen war zwar leicht gestört, würde sich aber wieder fügen. Der Stein aber blieb SEINEM Blick verborgen.
Dort, wo die Mammutkuh gestorben war, war die Symmetrie im Fluss der magischen Kräfte stark verändert. Selbst ein Schüler, der zum ersten Mal sein Verborgenes Auge öffnete, hätte die Veränderung bemerkt. Auch das war ganz in SEINEM Sinne.
Überaus zufrieden zog ER sich von den beiden Tieren zurück.
BEI DEN FLAMINGOS
Mit der Dämmerung sank weißer Nebel aus den Wäldern um den See und es wurde stiller über dem dunklen Wasser. Lyvianne ließ den Blick über die verwunschene Landschaft gleiten. Tausende Flamingos standen im seichten Wasser bei den Sandbänken. Weiß und rosa, auf langen Stelzenbeinen. Ihr Geschnatter erstarb. Mit dem Nebel und der Dämmerung senkte sich Frieden über die Vogelkolonie. Es war ein guter Ort zum Sterben.
Die Elfe drückte den kleinen Jungen an ihre Brust. Achtzehn Monde hatte sie sich ihm geschenkt. Achtzehn Monde voller Freude und Hoffnung. Und Sorge. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn in dieser Zeit verlassen, als ihr Meister sie zu sich rief. Sie war schweren Herzens gegangen, hatte von der Welt abgeschieden sein wollen. Ganz ihrem Sohn gehören wollen. Sie hatte einen Zauber um ihn gewoben, um ihn vor den Tieren des Dschungels zu verbergen und einen magischen Schlaf auf ihn gelegt. Er hatte sie nicht vermisst. War eingeschlummert, als sie ging, und erst erwacht, als sie zurückkehrte. Und dennoch hatte sie es als einen Verrat empfunden. Sie hatte doch ganz ihm gehören wollen.
Er gluckste vergnügt und merkte nicht, wie schwer ihr das Herz war. Lyvianne hatte ihm keinen Namen gegeben. Diesen Fehler hatte sie nur beim ersten Mal begangen.
Sie strich ihm über den Kopf. Es war ein Kopf wie ihrer. Der Schädel war nach hinten ein weniger länger als normal. Nichts, was auf den ersten Blick auffiel, aber sie hatte es gleich bei der Geburt bemerkt. Lyvianne wusste, dass es eine Folge der Geburt sein konnte. Er war schwer auf die Welt gekommen. Nicht weit von hier in einer Hütte, die sie für sie beide gebaut hatte. Sie war dort allein gewesen.
Lyvianne dachte an all das Blut auf dem gestampften Lehmboden. An ihr Glück, als sie ihn sich auf die nackte Brust gelegt hatte und seine besondere Schädelform sah.
»Mingo …«, sagte er leise. Er mochte die großen Vögel. Einige von ihnen blieben das ganze Jahr über hier. Aber so viele wie jetzt versammelten sich nur am See, wenn die Zeit der Wanderung gekommen war.
»Mingo«, sagte auch sie und kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals. Sie drückte den Jungen fest an sich und ihre Rechte lag jetzt auf seiner Brust. Sie spürte den schwachen, unregelmäßigen Herzschlag. Lyvianne hielt ihr Verborgenes Auge geschlossen. Sie wusste nur zu gut um seine Aura. Und um ihre Hilflosigkeit. Sie hatte die Kunst der Drachen erlernt und war auf den dunklen Pfaden Matha Nahts gewandelt. Sie war eine Zauberweberin, aber ihrem Sohn konnte sie nicht helfen. All ihre Macht würde ihn nicht retten. Er war schwach. Er genügte in keinster Weise ihren Ansprüchen. Nicht körperlich und noch weniger in seiner Veranlagung zur Magie. Er würde niemals einen Zauber weben können.
Sie würde es wieder versuchen, in zwei oder drei Jahren vielleicht, wenn die Wunden auf ihrer Seele zu Narben geworden waren. Er war ihr elftes Kind. Drei waren Zauberweber geworden und einer obendrein ein talentierter Mörder. Ihr Volk brauchte noch viele Zauberweber! Jede Elfe schuldete der Zukunft Kinder.
»Mingos schlafen«, stellte ihr Sohn zufrieden fest und gähnte. Dabei umklammerte er mit der Linken eine ihrer Haarsträhnen. Er hatte recht. Die meisten Vögel hatten den Kopf ins Gefieder gesteckt.
Nebel wogte nun über dem See. Er zog die Vögel ins Ungewisse. Löschte das Rosa und verschmolz mit dem Weiß. Lyvianne schloss die Augen. Sie spürte die Wärme des Kindes. Es war ein gutes Gefühl. Er vertraute ihr unendlich. Morgens, wenn sie sich über sein Bettchen beugte und er schon wach war, lächelte er sie so unbeschreiblich glücklich an … Niemand sonst lächelte so. Nicht einmal ihre Liebhaber, wenn sie nach der ersten Nacht auf gemeinsamem Lager erwachten.
»Möchtest du bei den Flamingos schlafen?«
Er nickte, ein wenig überrascht. Er hatte sie oft danach gefragt. Jedenfalls hatte sie es so verstanden. Plötzlich war sie unsicher. In allem … Er war so klein. Sie verstand ihn so wenig. Kaum eine Handvoll Worte sprach er. Meistens musste sie erraten, was er meinte. Aber sie war überzeugt, dass ihr das meistens ganz gut glückte.
»Sie werden gut auf dich aufpassen.« Lyviannes Stimme stockte nur leicht, als sie sprach. Sie durfte jetzt nicht schwach werden.
Lautlos trat sie zum Ufer hinab. Sie hatte ihre Kindheit in den Wäldern des Südens verbracht. Sie brauchte keinen Zauber, um mit den Schatten zu verschmelzen und sich unbemerkt den Vögeln zu nähern.
Sie suchte den Magnolienbaum, dessen Wurzeln vom Wasser unterspült waren. Hier war der See hüfttief und das letzte Abendlicht verlieh dem Nebel einen rosafarbenen Schimmer. Der Ruf eines Marabus erklang ganz nah. Lyvianne mochte die großen, kahlköpfigen Aasfresser nicht. Sie lebten in einer kleinen Kolonie in einem der Bäume am anderen Ufer. Nestplünderer waren sie. Allein ihr Anblick widerte die Elfe an.
Sie strich ihrem Sohn über das seidenglatte Haar. Sein Atem ging regelmäßig. Er war an ihrer Brust eingeschlafen. Lautlos stieg Lyvianne in das lauwarme Wasser. Schwarzer Schlamm schmiegte sich an ihre Füße. Ihr Verborgenes Auge öffnete sich. Gegen ihren Willen! Sie sah das feine Netzwerk leuchtender Fäden, das alles durchdrang, die Auren, die jedes Lebewesen umfingen. Auch die Aura ihres Sohnes. Sie blinzelte unwillig. Das unerwünschte Bild verschwand.
Die Elfe setzte ihre Füße mit Bedacht – ganz sacht, sodass kein verräterisches Plätschern die Flamingos aufschreckte. Sie wirbelte den Schlamm auf. Nicht schlimm! Im schwindenden Licht war das Wasser ohnehin schon dunkel.
Sanft küsste sie ihren Jungen auf die Stirn. Er regte sich im Schlaf, gab einen unwilligen Laut von sich, öffnete aber nicht die Augen. Lyvianne ging langsam in die Knie. Das Wasser kroch an ihr empor. Es durchnässte ihr Kleid. Als seine Füße nass wurden, murrte ihr Sohn. Dann öffnete er die Augen. Diese wunderschönen grauen Augen mit den kleinen braunen Sprenkeln darin. Er sah sie überrascht an und lallte schlaftrunken. Er hatte keine Angst. Ein Speichelfaden hing ihm aus dem Mundwinkel und troff auf ihre Brust.
Sie ging tiefer in die Knie. Er schüttelte sich ein wenig unbehaglich, obwohl das Wasser angenehm warm war. Als er versuchte, höher zu rutschen, streichelte Lyvianne ihm über den Kopf und drückte ihn ein wenig zurück. Sie schloss die Augen und kniete ganz nieder.
Zwei oder drei Herzschläge lang geschah nichts. Dann bäumte er sich in ihren Armen auf. Sie hielt ihn fest an sich gepresst, die Augen noch immer geschlossen. Er drückte seine kleinen Hände gegen ihre Brust und bog den Rücken durch. Luftblasen zerplatzten neben ihrem Hals auf dem dunklen Wasser. Er zerrte an ihrem Kleid. Griff nach ihren Schultern. Sie öffnete die Augen. Sah die zarten, mit schlammigem Wasser benetzten Hände, die sich ihr verzweifelt entgegenstreckten.
Die Finger zuckten. Der kleine Körper in ihren Armen erschlaffte. Der Herzschlag wurde langsamer … Und setzte aus. Sie hielt ihn immer noch fest umschlungen. Tränen traten ihr in die Augen. Es war notwendig gewesen. Der Junge war schwach gewesen. Er hätte ohnehin nur ein paar Jahre gelebt. So war seine Seele frei. Sie konnte wiedergeboren werden, einen besseren Leib als fleischliche Hülle finden und eine bessere Mutter, als sie es war.
Sie stieß ihren Sohn von sich. Träge trieb er im Wasser davon.
Lyvianne richtete sich auf. Der aufgewühlte Schlamm wogte in dunklen Wolken davon. Inmitten des Dunkels glitt ihr Sohn. Eine leichte Strömung zog ihn hinaus auf den See.
Die Flamingos standen still, ihre Köpfe im Gefieder vergraben. Sie hatten nicht bemerkt, dass der Tod zu ihrem See herabgestiegen war. Aus dem Wald drangen die vertrauten Geräusche der Nacht. Einige Zwerggazellen näherten sich zögerlich dem Ufer. Wachsam die Köpfe gereckt.
»Du wirst bei den Flamingos schlafen, wie ich es dir versprochen habe.« Die Worte kratzten wie Glas in Lyviannes Kehle. Sie musste an die kahlköpfigen Marabus denken. Sie würden ihn finden, und bei dem Gedanken wurde ihr übel. Sie würde die Aasfresser töten. Jetzt! Lyvianne flüsterte ein Wort der Macht. Sie unterwarf sich das magische Netz, das alles durchdrang. Sie konnte die großen Vögel in dem Baum am anderen Ufer spüren. Sie würde den See nicht durchwaten müssen. Sie konnte ihnen ihre Lebenskraft entziehen. Einem nach dem anderen.
Es würde völlig lautlos geschehen.
So lautlos, wie ihr Sohn gestorben war.
EIN GRAB IM HIMMEL
»Das hat noch niemand vor Euch getan, Erhabener.« Juba gab sich alle Mühe, diplomatisch und sachlich zu bleiben, aber ihm war deutlich anzumerken, dass ihm der Sinn nach drastischeren Worten stand.
Artax tat die Bemerkung mit einer lässigen Handbewegung ab. »Was heißt das schon?«
»Das heißt, dass es manche als eine Beleidigung auffassen könnten.«
Der Unsterbliche hielt inne und der ganze Tross, der ihm auf der weiten Prachtstraße folgte, kam mit etwas Verzögerung zum Stehen. Hier in der Goldenen Stadt hatte sich vieles verändert. Das Hofzeremoniell war erstickend! Nie konnte er sich frei bewegen. Immer umgaben ihn Priester, Leibwächter, Bittsteller, Würdenträger, Konkubinen, Sklaven, Vorkoster … Ein ganzes Heer war ständig um ihn herum und alle Augen ruhten nur auf ihm. Er konnte nicht einmal furzen, ohne dass Schmeichler und Ohrenbläser zu tuscheln begannen.
In Ruhe zu furzen ist wahrlich von Bedeutung. Tu es doch einfach, du Bauer.
Halt dich aus meinen Gedanken heraus, du … du Mörder.
Auch du hast gemordet, du heuchlerischer Philanthrop. Du hättest die Krieger aus Ischkuza auch kampfunfähig machen können, ohne sie zu töten. Aber es ist ein ganz besonderes Gefühl, Leben auszulöschen. Es kann besser sein als eine gute Liebesnacht. Und du willst es wieder tun, nicht wahr? Weshalb sonst übst du dich jeden Tag im Kampf? Hinter all deinem edlen Getue bist auch du eine mordende Bestie. So wie wir alle. Seit diesem Kampf keimt in uns die Hoffnung, dass eine Zeit kommen wird, in der wir uns sehr gut verstehen werden.
»Erhabener? Soll ich dem Gefolge befehlen, zum Palast zurückzukehren? Habt Ihr Euch besonnen?«, fragte Juba.
»Nein!« Er war einfach stehen geblieben. »Los, weiter!«, rief er so laut, dass es jeder in seinem Tross hören konnte. Er würde noch verrückt werden. Ständig wurde er nach irgendetwas gefragt, sollte Urteile fällen in Streitigkeiten zwischen Provinzfürsten, die zu Kleinkriegen innerhalb seines Reiches zu eskalieren drohten, Erbfolgeauseinandersetzungen des Adels schlichten, Kindern hochgeborener Hofschranzen über den Kopf streicheln, weil sie das angeblich vor Krankheiten schützte. Todesurteile bestätigen, Kornpreise festsetzen und sich entscheiden, welches von drei neuen Gewändern er zum abendlichen Festschmaus tragen wollte. Immer wollte irgendjemand etwas von ihm. Drei Tage war er nun schon im Palast, und noch immer war er nicht dazu gekommen, die Elfe im Weltenmund beisetzen zu lassen. Und dann noch dieser Aaron! Kaum eine Stunde verging, in der er sich nicht wünschte, wieder zurück in seinem Stall zu sein. Die Tür zu schließen, das Gesicht in dem warmen, staubigen Fell der Ziege zu verbergen und später vielleicht in der Dorfschenke einen sauren, aber billigen Wein zu trinken. Ein paar ruhige Worte mit Ashot, Tigran und Narek zu wechseln. Bauern mit demselben Leben und denselben Träumen wie er. Er dachte an die herrliche Stille auf seinem Hof bei Nacht, das Leben, so einfach in seinen Anforderungen, die Zukunft so klar umrissen. Erst die Arbeit, dann das Weib, Kinder vielleicht, und eines Tages das ergraute Haupt in ihrem Schoß und Frieden im Herzen, wenn sie gemeinsam auf ein langes, entbehrungsreiches, aber glückliches Leben zurückblicken würden. Die Abgeschiedenheit der Felder war auch ein Glück gewesen. Hatte Raum gelassen, im Rauschen der Ähren zu schwelgen, mit bloßen Füßen durch taunasses Gras zu stapfen und kleine Träume zu träumen, deren Erfüllung allein in seinen kräftigen, fleißigen Händen lag. Traurig senkte er den Kopf. All das war vergangen. Er würde seine Hütte hier auf Nangog und seine Freunde Ashot, Tigran und Narek, daheim in Belbek, niemals wiedersehen. Und seine einfache, aber fleißige und herzensgute Traumfrau Almitra, der er ein Heim hatte bereiten wollen, würde einem anderen Mann Kinder schenken und ihn niemals kennenlernen. Weil es den Artax, der auf sie gewartet und von ihr geschwärmt hatte, nicht mehr gab. Nein, dachte er da, und der Knoten in seiner Kehle löste sich ein wenig, das war so nicht richtig. Es gab ihn noch, den alten Artax. Den Unbeugsamen, der sich Ziele setzte und sie erreichte, langsam, Schritt für Schritt. Nur die Ziele waren andere geworden. Und er durfte sich nicht von ihnen abbringen lassen, indem er sich in sentimentalen Erinnerungen verlor. Sogar Almitra gab es noch, auch wenn sie in seinen Träumen nun manchmal die Züge Shayas trug. Artax straffte die Schultern, sah Juba fest in die Augen und setzte sich dann erneut in Bewegung. Der Tross folgte ihm.
Er hätte einfach befehlen können, die Elfe beizusetzen, aber er traute seinen Höflingen nicht. Die einfachen Diener waren ihm treu ergeben. Aber die Satrapen und Provinzadeligen hätte er am liebsten davongejagt. Sie sponnen Intrigen. Vielleicht wollten einige ja wirklich sein Bestes, so wie Juba. Aber er bezweifelte das. Immer öfter hatte er den Verdacht, dass sie ihn mit Absicht so beschäftigt hielten, weil sie hofften, er würde so seine Begräbniszeremonie vergessen. Vielleicht steckte doch Juba dahinter. Oder ein ganzer Trupp von seinen übergewichtigen Beratern, Kämmerern und wie sie sich alle nannten. Jeder um ihn herum führte einen hochtrabenden Titel. Ihn machte das alles müde. Am liebsten hätte er nicht mehr Leute um sich, als in eine Dorfschenke passten. Eine Handvoll Berater, denen er trauen konnte.
Du kannst niemandem trauen. So ist das als Unsterblicher. Jeder kommt mit Hintergedanken zu dir. Sie alle wollen nur eines – mehr Macht. Allein darum geht es.
Artax war sich sicher, dass Aaron ihn ohne Unterlass gehässig angrinsen würde, wenn er noch ein Gesicht hätte, und manchmal sah er dieses Gesicht im Schlaf vor sich, dicht vor dem seinigen. Dann wachte er auf, rang um Luft und es dauerte eine Weile, ehe er seinen rasenden Herzschlag wieder beruhigt hatte. Das alles machte ihn so müde. Selbst nachts fand er keine Ruhe. Wenn er den Harem nicht besuchte, kam es zu Streitereien unter den Frauen. Manche schienen zu vermuten, dass ihm Shaya gefallen hatte. Jedenfalls neigten, seit sie am Ankerturm angelegt hatten, einige seiner Gespielinnen dazu, sich wie eine Ischkuzaia zu kostümieren und ihre Augen mit breiten Ringen schwarzer Schminke einzufassen. Keine von ihnen sah ihr ähnlich. Keine von ihnen wusste, dass das, was ihn an sie band, ein Traumbild war, das sie nicht erahnen und daher auch niemals erfüllen konnten. Sie spürten, dass Shaya ihm gefiel. Ja, die Prinzessin gefiel ihm nicht nur, sie belagerte seine Gedanken. Und er ließ es gern geschehen. Er brauchte den Harem nicht. Die Frauen ahnten wohl nicht, dass die Distanz zwischen ihnen und ihm umso größer wurde je mehr sie versuchten, sich bei ihm einzuschmeicheln. Nur eine von ihnen war anders. Eine von den dreien aus der ersten Nacht. Aya. Sie hatte einen rebellischen Geist, vermutete er. Sie hatte etwas an sich gehabt … Ihre Art, ihn zu necken. Ihre Blicke. Ja, wenn er eine von all den Haremsdamen erwählen würde, dann sie. Klug war es, sie alle möglichst wenig zu beachten! Er hatte wahrlich genug Sorgen. Er sollte sich nicht noch mit Haremsgeschichten herumschlagen! Auf gewisse Art, war der Harem der gefährlichste Ort, an den er gehen konnte.
Artax musste plötzlich lächeln. Das Schicksal scherzte mit ihm. Irgendwo oben am Himmel gab es gewiss einen Gott, der sich vor Lachen den Bauch hielt, wenn er zu ihm herabblickte. Vielleicht war es sogar der Löwenhäuptige. Es war sicherlich amüsant, Zeuge seines unablässigen Gejammers zu sein. Früher war all sein Denken darauf ausgerichtet gewesen, eine gute Frau gewinnen zu können. Jetzt hatte er zu viele Frauen! Und sie durchschauten ihn – nicht bis ins Letzte vielleicht, aber sie durchschauten, was er vor den Augen aller anderen zu verbergen suchte. Tiefer als irgendjemand sonst hatten sie verstanden, dass sich bei ihm mehr verändert hatte als nur sein Auftreten. Sie kannten ihn und Aaron besser als irgendjemand sonst. Sie wussten um all jene Merkmale, die sich nicht durch einen Sturz verändert haben konnten und nun doch verschieden waren. Auch wenn der Devanthar es geschafft hatte, dass sein Antlitz, seine Körpergröße und die Proportionen völlig mit denen Aarons übereinstimmten, war die Anpassung doch nicht vollkommen geworden. Seine Konkubinen hatten bemerkt, dass seine Muttermale verändert waren. Dass ihm jetzt plötzlich Haare in den Ohren sprossen, seine Zehen dafür aber unbehaart waren. Und auch pikantere Aspekte seiner Anatomie waren einer Verwandlung unterworfen gewesen. Es gab wohl kaum einen Ort, an dem Gerüchte so schnell die Runde machten wie in einem Harem. Und auch wenn die Gemächer seiner Frauen für Höflinge nicht ohne Weiteres zu betreten waren, bedeutete das nicht, dass Geheimnisse dort gut verwahrt waren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Geschichten sich ausbreiten würden. Artax wusste nicht, was er dagegen unternehmen sollte. Artax wusste, welche Lösung Aaron für dieses Problem gewählt hätte. Er hätte all seine Weiber dem Wolkentod übergeben und sich neue Gespielinnen zugelegt.
Stimmt. Und ob du es glaubst oder nicht, es wäre eine menschenfreundliche Lösung. Aus Haremsgeschwätz dieser Art könnte ein Bürgerkrieg erwachsen, wenn irgendein machtgieriger Satrap oder Priester den Eindruck gewinnt, dass du ein Betrüger bist. Das würde zu Zehntausenden Toten führen. Du kannst die Mädchen auch jetzt noch umbringen lassen. Noch ist es nicht zu spät.
Artax hob das Haupt und schaute zum Himmel hinauf. Ob der Löwenhäuptige ihn eines Tages von der Stimme befreien würde? Er seufzte. Jetzt war nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Nun galt es, Aarons Mörderin die letzte Ehre zu erweisen. Hörst du mich, mein Plagegeist? Ich werde deine Mörderin durch dieses Begräbnis zur Heldin machen und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst!
Bist du da sicher?
Artax entschied sich, Aaron zu ignorieren. Er blickte voraus und konzentrierte sich auf das, was er sah. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Aaron sich schwerer zu Wort melden konnte, wenn er es schaffte, seine eigenen Gedanken zu bündeln und sich nicht ablenken zu lassen. Er würde sich die Landschaft ansehen und sich gleich ganz auf die Feierlichkeiten des Totenrituals konzentrieren.
Das Ende der Prachtstraße war fast erreicht. Zu beiden Seiten erhoben sich jetzt mächtige Statuen der Devanthar. Manche erinnerten mehr an Ungeheuer als an Götter. Insbesondere jener mit dem Keilerkopf und den Krallenhänden, der leicht gebückt stand. Artax war überzeugt, dass jeder der Devanthar sich jede Gestalt, die ihm beliebte, zu geben vermochte. Warum traten dann einige von ihnen als Ungeheuer auf? Manche Weisen behaupteten, diese Körper seien schon ein großes Zugeständnis an die Menschen, denn die eigentlichen Gestalten der Devanthar seien ebenso fremd wie die Wolkensammler oder die geheimnisumwobenen Grünen Geister Nangogs.
Artax blickte zu dem Ebermann auf. Was verbarg sich hinter ihm, wenn diese Erscheinung dazu angetan war, ein angenehmer Anblick zu sein? Oder hinter der Erscheinung der Sturmruferin mit dem Haar aus lebenden Schlangen? Dem gedrungenen Götterschmied, behaart wie ein Affe und mit Armen, die ihm bis zu den Knien hinabhingen? Im Vergleich zu ihnen wirkte der Löwenhäuptige edel und majestätisch. Es hieß, sie seien einander alle gleichgestellt. Keiner von ihnen erhebe sich über den anderen. So wie die Unsterblichen.
Erst am Ende der steil ansteigenden Prachtstraße, die geradewegs in den Himmel hinein zu führen schien, bot sich Artax ein Blick auf den Weltenmund, jenen gewaltigen Krater, dessen gegenüberliegendes Ende mit dem Blau des Himmels verschwamm. Ein Abgrund, der hinab in die tiefsten Tiefen Nangogs führte. Niemand hatte je den Grund des Kraters erreicht. Er war eine klaffende Wunde in der Welt, und zahllose Geschichten rankten sich um ihn. Eine besagte gar, es sei der weit geöffnete Mund einer schlafenden Riesin.
Aus dem Dunkel des Kraters erhoben sich vereinzelt Berge und schroffe Zinnen. Säulen wie versteinerte Baumstämme lagen durcheinander. An manchen Stellen vermochte man auch verwitterte Treppen auszumachen. Bogengänge brachen durch Felswände und verschwanden im Nichts. Und all dies verlor sich schließlich im Dunkel des Abgrunds.
Vom Grund des Kraters stieg ein beständiger warmer Wind auf. Blickte man über den weiten Krater, so sah man Dutzende großer Vögel. Zumindest erschienen sie einem Betrachter, der es nicht besser wusste, auf den ersten Blick so. Es waren Helden und Fürsten der sieben Großreiche; Gefährten der Unsterblichen, die auf Nangog den Tod gefunden hatten. Und welcher Ort wäre passender für Recken gewesen, die jahrelang auf den Palastschiffen gereist waren, als im Himmel beigesetzt zu werden?
Eine weite Treppe führte vom Ende der Prachtstraße über den Kraterrand hinab zu einer steinernen Zunge, die etwa hundert Schritt tiefer lag. Es war der einzige Felsvorsprung an der steil abfallenden Kraterwand. Sieben goldene Masten, von denen die Banner der Unsterblichen im warmen Aufwind wehten, waren der einzige Schmuck der ansonsten nüchtern gehaltenen Terrasse. Eine kleine Gruppe von Priestern stand um ein Fluggerüst versammelt. Der Leichnam der Elfe war unter den vier Schritt langen, fast dreieckigen Himmelssegler geschnallt, ihre Arme waren weit vom Körper gestreckt. Sie war bereit für ihre letzte Reise.
Ein Fanfarenstoß erklang, als Artax den ersten Schritt auf die Treppe tat. Der Wind spielte mit seinem Umhang. Er trug die Rüstung, die die Devanthar für ihn erschaffen hatten, den schimmernden Maskenhelm unter den linken Arm geklemmt. Feierlich schritt er die Treppe hinab, gefolgt von seinem vielhundertköpfigen Hofstaat. Der Hohepriester des Palastschiffes führte die Priesterschar an, welche die Elfe auf ihre letzte Reise vorbereitet hatte. Er erwartete Artax mit steinerner Miene. Der Alte gehörte zu denen, die sich lautstark gegen dieses Spektakel ausgesprochen hatten.
»Sie gehört nicht an diesen Ort, Erhabener«, sagte der Priester mit mühsam beherrschter Stimme. »Sie wollte Euren Tod und bei allem Respekt, Erhabener, einiges, was ich früher an Euch schätzte, scheint tatsächlich gestorben zu sein.«
Artax entschied, ihn für den Augenblick zu ignorieren. Dieser Narr! Aaron hätte ihn für solche Worte ermorden lassen. Er aber würde es dabei bewenden lassen, ihn zu verbannen und sich eine besonders abgelegene und besonders aufsässige Provinz für den Alten auszusuchen.
Die Elfe war in ein sauberes Leinengewand mit gelber Stickerei an Kragen und Ärmeln gekleidet. Ihre Wunden hatte man vernäht und die Narben unter Wachs und dicken Schichten aus Schminkpuder verborgen. Das Haar der Toten war zu Zöpfen geflochten und nach hinten gesteckt. Artax beugte sich so weit vor, dass er den Branntwein riechen konnte. Sie war zwar gewaschen worden, doch musste der Branntwein während der Zeit, die man sie in einer großen Amphore an Bord des Wolkenschiffes gelagert hatte, tief in ihren Leib eingezogen sein.
Ihre smaragdgrünen Augen waren trüb. Das geschminkte Gesicht wirkte puppenhaft. »Du warst tapfer«, sagte er leise und strich ihr über das Haar. Prüfend musterte er die Lederverschnürung. Sie war unter einen Flugrahmen aus Leinen und Bambusrohr geschnallt. »Sie hat kein Recht, hier zu sein«, zischte der Hohepriester erneut. »Sie ist eine Meuchlerin. Ehrlos. Eine Drachensklavin. Eine …«
Ein Blick von Artax brachte den Alten zum Schweigen. Doch das Gift seiner Worte hatte gewirkt. Deutlich konnte der Unsterbliche in den Gesichtern der übrigen Priester lesen, dass sie ebenfalls dachten, was nur der Alte auszusprechen wagte.
»Ja, sie ist eine Elfe«, sagte Artax mit volltönender Stimme, sodass er in weitem Umkreis deutlich zu vernehmen war. »Sie kam, um mich zu töten. Allein hat sie mein Palastschiff angegriffen und ihr Leben gewagt. Ich verneige mich vor so viel Tapferkeit, auch wenn sie ein Feind ist.« Artax verbeugte sich tief und war sich deutlich bewusst, dass dies auch jene, die weit hinten auf der Treppe standen, sehen konnten. All die, die seine Worte nicht hören würden. »Sie hat den höchsten Preis für ihre Tollkühnheit bezahlt. Wir sind die Arami, die Kinder der geflügelten Sonne. Unser Reich ist groß. So groß wie der Ruhm unser Kriegstaten. Es waren Götter, nicht Menschen, die uns letztlich Grenzen gesteckt haben. Aber wie groß sind unsere Herzen? Wie ist es um unseren Ruhm bestellt, wenn wir den Mut unserer Feinde nicht loben können? Sind wir dann letztlich nicht nur die Bezwinger von Feiglingen und Mördern? Selbst unter den tapfersten unserer Krieger hätten es nur wenige dieser Elfe gleichgetan. Und auch ich wage von mir nicht zu behaupten, dass ich den Mut gehabt hätte, ganz allein ein Wolkenschiff anzugreifen. Deshalb gebührt ihr mein Respekt. Und damit hat sie sich ihren Platz an der Seite all jener Helden verdient, die wir hier den Lüften übergeben haben. « Artax wandte sich an die Priester. »Und nun – ehrt sie! Lasst sie fliegen!«
Eine Gruppe jüngerer Priester trat unter die Schwingen des Flugrahmens und hob ihn an den Bambusstangen behutsam an. Dann liefen sie auf den Rand der Terrasse zu. Dumpfer Trommelschlag begleitete ihre Schritte, bis sie am Abgrund abrupt stehen blieben und mit gemeinsamem Schwung den Segler dem Himmel übergaben.
Der Flugrahmen stürzte. Beklommen verfolgte Artax, wie die Elfe in steiler Abwärtskurve einem Felsgrat im Krater entgegenraste. Dort konnte man im Geröll ausgeblichene, mumifizierte Körper erkennen und zersplitterte Flugrahmen, von denen noch Leinenfetzen flatterten. Die Reste anderer Helden, die im Tod gescheitert waren. Wer dort abstürzte, dem hatten die Götter alle Gunst abgesprochen. Ganz gleich, was er im Leben geleistet hatte, aller Ruhm wurde zu Asche, wenn man dort unten an den Felsen zerschellte.
Artax war sich im Klaren darüber, dass auch er als von den Göttern verdammt erscheinen würde, wenn die Elfe dort auf den Felsen ihr Grab fand und nicht wie die übrigen, wahren Helden in den Lüften. Kurz blickte er auf zu den Flugrahmen, die träge im warmen Aufwind des Kraters segelten. Manche flogen für Jahre, hieß es. Es gab eine eigene Priesterschaft in der Goldenen Stadt, die nichts weiter tat, als den Flug der Helden zu beobachten. Je länger sie sich in der Luft hielten, desto größer wurde ihr Ruhm.
Der Flugrahmen der Elfe streifte eine Felsnase. Ein Flügel brach. Bis zur Terrasse, auf der es totenstill war, konnte Artax das Bersten hören. Der Flugrahmen kippte seitlich weg, überschlug sich in rasendem Sturz und zerschellte schließlich mit lautem Getöse. Der Leichnam aber stürzte weiter, bis er ganz aus dem Blickfeld verschwand.
»Die Götter dulden keinen Frevel!«, rief der alte Hohepriester, und Zorn und Triumph rangen in seiner Stimme um die Oberhand. »Auch nicht von einem Unsterblichen!«
Ein goldenes Licht flackerte im Abgrund, dort wo die Elfe in den Schatten der Felsen verschwunden war. Im gleichen Augenblick ertönte oben auf der Treppe, die zur Terrasse hinabführte, Lärm. Artax wandte sich um. Krieger mit hohen Bronzehelmen, auf denen rote Federnester wehten, stiegen die Treppe hinab. Manche von ihnen drängten mit ihren Speeren grob sein Gefolge zur Seite. Die beiden Leoparden, die von seinen Tierwärtern mitgeführt wurden, fauchten. Auf Festzügen wie diesem führte er immer einen halben Zoo hinter sich her.
Sein Besucher hingegen hatte nur Krieger mitgebracht. Der Anführer der Störenfriede war unverwechselbar, ein hochgewachsener Mann mit Maskenhelm, der statt eines Umhangs ein Löwenfell über seinen Schultern trug. Der Kopf des Löwen ruhte auf dem Helm. Die stählerne Gesichtsmaske war von gelblichen Fängen umrahmt. Muwatta, der Erzkönig, der Herrscher der Luwier, stieg die Stufen hinab.
»In den Staub mit dir, Frevler«, brüllte er. Der geschlossene Helm ließ seine Stimme blechern erklingen.
Die Himmelshüter scharten sich schützend um Artax. Juba drängte sich an seine Seite. »Ich gäbe meine rechte Hand, wenn ich diesen Mistkerl über dem Abgrund segeln sehen könnte. Er nutzt jede Gelegenheit zum Streit. Ihr wusstet das, Erhabener.«
»Du spuckst auf die Ehre der Helden Luwiens. Du forderst mich heraus, immer wieder«, brüllte Muwatta von der Treppe hinab und seine Stimme überschlug sich dabei vor Zorn.
»Du bist es, der den Frieden der Toten durch sein kriegerisches Gehabe stört, Muwatta«, entgegnete Artax mit lauter, aber ruhiger Stimme, aber Muwatta ließ sich nicht beschwichtigen. »Hattest du gehofft, dass ich so wie andere deine Unbotmäßigkeit stillschweigend hinnehmen würde? Dass ich vor dem Herrn aller Schwarzköpfe kusche? Deinen Kopf will ich, Aaron! Deinen Kopf. Ich werde dir in deine durchtrennte Kehle pissen und dich hinab in den Krater schleudern, wo dein Fleisch zwischen dem der anderen falschen Helden vertrocknen wird. Kein Kind wird je mehr deinen Namen der Schande tragen. Du wirst …«
Einer der Leoparden aus Artax’ Gefolge zerrte fauchend an seiner Kette.
Muwatta legte die Hand auf sein Schwert. Seine Wachen senkten drohend die Speere.
Artax zog blank und streckte dem Erzkönig sein Schwert entgegen. »Komm herunter und lass dein Schwert für dich sprechen, wenn du der Held bist, für den du dich ausgibst.«
»Tut das nicht, Erhabener!«, zischte Juba. »Es heißt, er habe mehr als tausend Männer in Zweikämpfen erschlagen.«
»Und du glaubst, dabei ging es mit rechten Dingen zu? Dem werde ich den Kopf vor die Füße legen!« Entschlossen ging Artax dem Unsterblichen entgegen. Muwatta hatte den Vorteil, die Sonne in seinem Rücken zu haben. Artax war leicht geblendet. Aber er vertraute auf das Kampfgeschick Aarons und seinen eigenen Mut. Ein halbe Drehung im Kampf und dieses Problem hätte sich erledigt.
Auch der Luwier hatte sein Schwert gezogen, und Leibwächter und Höflinge wichen erschrocken zurück. Niemand war je Zeuge eines Duells zwischen zwei Unsterblichen geworden, denn die Devanthar hatten ihre Schützlinge strengen Regeln unterworfen. Einander mit gezogenem Schwert zu begegnen war ein Verstoß gegen die Gebote der Götter. Artax war sich dessen bewusst, aber Muwatta hatte ihm keine Wahl gelassen. Wenn er jetzt nicht entschlossen gegen den Erzkönig vorging, dann würde er sein Gesicht verlieren. Und vielleicht auch sehr bald seine Herrschaft. Er würde sich von diesem Großmaul nicht alles entreißen lassen. Er, Artax, der Bauernsohn, der zum Unsterblichen geworden war, würde die Welt verändern – oder an diesem Mittag am Rand des Weltenmundes verbluten.
Muwatta war groß und trug eine ganz ähnliche Rüstung wie er. Nur das Löwenfell gab ihr eine persönliche Note. Mit wildem Kampfschrei stürmte der Luwier die Treppe hinab und Artax hatte das Gefühl, dass ihm das Blut in den Adern zu Wasser wurde. Er hob sein Schwert, um den ersten Hieb zu parieren. Seine eigene Bewegung kam ihm unglaublich langsam vor. Kreischend fuhren die Klingen übereinander und Funken stoben von dem mit bläulichen Wellenmustern überzogenen Stahl. So heftig war der Hieb, dass Artax in die Knie brach. Schmerz stach durch seine Gelenke. Er musste lockerer sein, musste auf das Wissen Aarons vertrauen, das er in sich aufgenommen hatte, statt sich blindlings seiner Angst auszuliefern.
Welchen Grund hätten wir, gewinnen zu wollen?
Du wirst dein Gesicht verlieren, wenn Muwatta uns umbringt. Vielleicht auch alles Übrige. Wenn ein Unsterblicher sich als sterblich erweist, wird der Löwenhäuptige vielleicht einen ganz neuen Auserwählten an unseren Platz setzen. Einen, in dem auch du nicht mehr fortlebst.
Verdammt!
Es war das erste Mal, dass Aaron die Fassung verlor — was Artax nicht beruhigte, denn alleine würde er den Luwier nicht bezwingen. Artax sah die dunkeln Augen Muwattas triumphierend hinter seiner Maske funkeln. »Ist das alles, was du zu bieten hast, Wurm?« Der Hüne versetzte ihm einen Tritt gegen die Brust.
Artax stürzte nach hinten, rollte über die Schulter ab und Muwattas Schwert klirrte dicht neben ihm auf den Boden. Die Klinge hatte seinen Kopf um kaum zwei Fingerbreit verfehlt. Ein Aufschrei ging durch die Menge.
Mit einem Satz kam er auf die Beine, aber noch bevor er einen festen Stand fand, rammte ihm der Luwier den Ellenbogen gegen die Brust, sodass er erneut zurücktaumelte. Artax begriff, dass er der brachialen Gewalt seines Gegners wenig entgegenzusetzen hatte. Taumelnd suchte er nach dem Gleichgewicht. Oben auf der Treppe, im Gefolge des Erzkönigs, ertönte Gelächter. Die Art, wie der Herrscher Luwiens kämpfte, sollte seine Demütigung noch vervollständigen. Es war kein Duell zwischen Unsterblichen. Es sah aus, als würde ein Bauer von einem Krieger verprügelt.
Gut beobachtet. Lass mich frei. Überlass mir deinen Körper, dann werden wir für dich siegen.
Nein, dachte Artax. Nein. Er wusste, dass er so nur eine andere Niederlage erleiden würde. Eine schlimmere als den Tod. Wenn Aaron ihn einmal beherrschte, würde er sich niemals wieder zurückziehen.
Wenn du es nicht tust, dann sterben wir. Verdammt, lass mich frei!
Der Erzkönig attackierte mit einem wuchtigen Schlag, der auf seinen Bauch zielte. Artax machte einen wenig eleganten Hüpfer nach hinten. Die Klinge schrammte über seinen Leinenpanzer, ganz nah der Stelle, wo der Schwerthieb der Elfe die obersten Stoffschichten zerteilt hatte. Artax führte einen Hieb gegen das Handgelenk von Muwattas Schwerthand. Der Luwier wich mit einer lässigen Drehung aus und antwortete mit einem Rückhandschlag, dem Artax nur durch einen weiteren plumpen Hüpfer entgehen konnte. Das Lachen wurde lauter. Er sollte vorgeführt werden – und ihm war nun völlig klar, dass der Luwier kein Geck war, der zur Belustigung seines Hofes Schaukämpfe mit halb betäubten Gegnern durchgeführt hatte, oder Schwertmeistern, die um das Leben ihrer Familien fürchten mussten, wenn sie es wagten, ihn zu besiegen. Muwatta war wirklich ein Krieger, und er war wirklich gut. Falls er eine Schwäche haben sollte, dann allenfalls die, dass er sich offensichtlich schon jetzt als Sieger in diesem Duell sah. Und nüchtern betrachtet hatte er allen Grund dazu.
Der Luwier machte einen Ausfall und trieb Artax, der nur mit Mühe den Hagel von Schwerthieben parieren konnte, weiter vor sich her. Artax’ Arme waren taub vom Abblocken der kraftvollen Hiebe. Manchmal versuchte er, die Schwertstreiche abgleiten zu lassen, indem er seine Klinge leicht schräg hielt, statt sich mit aller Kraft gegen die Angriffe zu stemmen und sie zu blocken. Das schonte zwar seine Kräfte, aber Muwatta war fast schon übermenschlich geschickt. Jeder andere wäre aus dem Gleichgewicht geraten, wenn so wuchtige Schläge einfach abgelenkt wurden. Er jedoch schaffte es gelegentlich, sogar mit einem Gegenangriff zu reagieren.
Ihr beider Atem ging inzwischen keuchend. Artax hatte sich heftig auf die Zunge gebissen. Der metallische Geschmack von Blut füllte seinen Mund und er fühlte sich zu Tode erschöpft.
Ein Stich zielte auf sein Herz. Ein beleidigend plumper Angriff, den er mit einem kurzen Hieb ablenkte. Bald hätte er nicht mehr die Kraft dazu. Ihr Kampf währte noch nicht lange und Artax war beileibe kein Schwächling. Er konnte den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten. Doch dieses Duell erforderte eine andere Art von Kraft. Er konnte mit einer Hacke stundenlang gegen einen zähen Lehmboden ankämpfen, aber zu töten war nie sein Geschäft gewesen. Und er fand keinen Gefallen daran, ganz gleich, was Aaron ihm einzureden versuchte.
Artax parierte einen Hieb, der ihm fast die Waffe aus der Hand riss. Muwatta war wie ein Berg und seine Schwerthiebe prasselten wie eine Lawine auf ihn herab. Wenn er überleben würde, dann höchstens, weil Muwatta ein Missgeschick unterlief. Aber er war viel zu geübt … Es sei denn …
Artax versuchte nicht mehr, sein Keuchen zu unterdrücken oder zu dämpfen. Er trug dummerweise keinen Helm. Den hielt Juba noch immer im Arm. Aber gegen die Klinge der Devanthar würde der Helm ohnehin kaum nutzen. Ihre beiden Schwerter waren mit Zaubern durchwoben, die sie Metall so leicht wie faules Laub durchdringen ließen. Muwatta hatte den Nachteil, dass er ein eingeschränktes Gesichtsfeld hatte. Die Maskenhelme waren zwar meisterlich gearbeitet und lagen perfekt auf dem Gesicht auf, dennoch sah man ohne Helm besser und der Kopf war beweglicher.
Artax wich jetzt den Hieben des Luwiers aus, indem er auf ihn zuging und versuchte, seitlich an ihm vorbeizuhuschen. Dabei verkürzte er die Kampfdistanz, sodass Muwatta seine Hiebe nicht mehr mit voller Wucht führen konnte. Der Luwier reagierte, indem er seinen Körpereinsatz erhöhte. Er stieß mit den Ellenbogen nach ihm, versuchte sogar zu treten. Er unterwarf sich keinerlei Ehrenkodex. Sein Kampf kannte nur ein Ziel: den Sieg. Und für ihn war offensichtlich unwesentlich, wie er siegte.
Artax fing sich einen Ellenbogenstoß gegen den Kopf, als er erneut nah in Kontakt ging. Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen, aber im Reflex riss er sein Schwert hoch, bevor Muwatta ausweichen konnte. Es war sein erster Treffer. Nur ein flacher Schnitt, dicht über der Armschiene des Luwiers, doch Muwatta war der erste von ihnen, der blutete.
Gemurmel wurde unter seinen Höflingen laut. Er war noch nicht verloren!
Der Luwier reagierte auf die Wunde mit einem verächtlichen Schnauben. »Ist das alles? Ist das wirklich alles? Die leidenschaftlicheren unter meinen Gespielinnen, vergießen mehr von meinem Blut, wenn wir uns lieben.«
Artax sparte sich seinen Atem. Er schüttelte den Kopf. Noch immer glommen Lichtpunkte vor seinen Augen. Er fühlte sich leicht benommen. Muwatta hatte ihn hinter dem Ohr getroffen.
»Bringen wir es zu Ende«, sagte der Luwier nun erschreckend ruhig. Er stürmte nicht mehr vor, sondern näherte sich mit Bedacht. Er täuschte einen Ausfall an.
Artax reagierte nicht.
Muwatta kam noch etwas näher. Er war jetzt nur noch eine Klingenlänge entfernt. Die Spitze seines Schwertes deutete auf Artax’ linke Brust, dicht über seinem Herzen.
Artax wusste, dass dies der letzte Schlagabtausch wurde. Der Luwier würde ihn schlachten. Er war der bessere Schwertkämpfer und der kleine Schnitt hatte ihm seine Überheblichkeit genommen. Wenn er mit Bedacht vorging, dann war er nicht zu besiegen. Es gab nur noch eine verzweifelte, letzte Möglichkeit.
Artax warf sich nach vorne. Ohne jede Vernunft, wie es schien. Geradewegs in die wartende Klinge des Luwiers. Das Schwert durchdrang seinen Leinenpanzer, schnitt durch Muskeln und schrammte über eine Rippe hinweg. Schmerz rollte wie eine tödliche Welle über ihn hinweg. Er schrie auf, ging in die Knie.
Muwatta sah fassungslos auf ihn herab. Seine Klinge war gebunden. Artax nahm alle verbleibende Willenskraft zusammen, riss sein Schwert hoch und rammte es dem Luwier schräg von unten zwischen die Schenkel, dort, wo keinerlei Rüstung ihn schützte. Blut spritzte Artax ins Gesicht.
Muwattas Augen schienen aus seiner stählernen Maske quellen zu wollen. Er stieß einen Schrei wie ein todwundes Tier aus. Dann sank auch er in die Knie. Die Bewegung verursachte einen Ruck in dem Schwert, das in Artax’ Schulter steckte. Ihm klappte der Kiefer hinab. Geifer und Blut rannen ihm über das Kinn.
Muwatta kniete nun vor ihm. Dem Luwier war das Schwert aus den Händen geglitten. Artax griff nach dem Dolch, der im Gürtel des Erzkönigs steckte. Er zog die Klinge und setzte die Spitze in die schmale Fuge zwischen Maskenhelm und Brustpanzer. »Du wirst am gleichen Ort wie die Elfe dein Grab finden!«, stieß er hervor.
Er drückte den Stahl durch die Fuge, doch da wurde sein Arm zurückgerissen. Mit solcher Kraft, dass er auf den Rücken stürzte.
Ihm wurde schwarz vor Augen.
Als er blinzelnd wieder zu sich kam, fühlte er warmes Blut über seinen Hals laufen. Seine Hand lag in einer Pfütze. Auch Blut? Verschwommen sah er eine geflügelte Gestalt über sich. Eine Frau mit scharf geschnittenem schönen Antlitz, gerahmt von langen, schwarzen Locken. Eine Frau, zu schön, um ein Mensch zu sein. Die mächtigen schwarzen Schwingen erhoben sich hoch über ihren Kopf.
Ich weiß, wer du bist, Bauer. Und ich werde dich zermalmen!, dröhnte es in Artax Kopf. »Du hast gegen die Gesetze von Göttern und Menschen verstoßen, Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe«, sprach sie nun für alle vernehmbar. »Du hast das Schwert gegen einen Unsterblichen erhoben. Die Klinge, mit der du gefrevelt hast, wird die Klinge sein, mit der du gerichtet wirst.«
Aus den Augenwinkeln sah Artax Muwatta am Boden liegen. Einige seiner Leibwächter kauerten neben ihm. Sie hatten Streifen von ihren Umhängen gerissen und versuchten seine Blutung zu stillen. Der ganze Boden war voller Blut.
Artax sah sein Schwert ein Stück entfernt in einer roten Pfütze liegen. Die Waffe des Luwiers steckte ihm noch immer in der Brust. Vielleicht eine Handbreit über seinem Herzen.
Die Geflügelte streckte die Hand aus und wie von Geistern bewegt erhob sich Artax’ Schwert. Es schwebte zur Devanthar. Selbst im Zorn sah sie überwältigend schön aus. War das ihre wahre Gestalt? Warum wählten so viele von ihnen Tierköpfe, wenn sie auch so wundervoll aussehen konnten?
Die Geflügelte griff nach der schwebenden Waffe. Sie trat vor Artax und setzte ihm einen Fuß auf die Brust. Der steife Leinenpanzer knirschte auf dem Steinboden unter dem Gewicht der Devanthar. Mit anmutiger Bewegung hob sie die Klinge.
Artax war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Selbst wenn er es gekonnt hätte, wäre er liegen geblieben. Verzückt blickte er in das Gesicht der Devanthar. Er konnte nicht mehr klar denken. Er empfand es als eine Ehre, von dieser geflügelten Göttin hingerichtet zu werden.
»Halt!«, rief eine Stimme wie ein Donnerschlag, und plötzlich war der Löwenhäuptige da. Artax wusste nicht, woher er gekommen war. Dicht hinter dem Platz, an dem er stand, lag die Mauer der Terrasse.
»Du wirst nicht verhindern, dass hier Recht gesprochen wird, Bruder«, entgegnete die Geflügelte mit befehlsgewohnter Stimme.
»Wir beide sind der Wahrheit verpflichtet. Deshalb wird heute gar kein Urteil gefällt.« Der Löwenhäuptige warf seiner Schwester etwas vor die Füße. Kleine graue Metallstücke, die mit dumpfem Ton auf den Steinboden prallten. »Blei. Es war in die Bambusrohre des Flugrahmens gefüllt und in die Kleider der Toten eingenäht. Es gab kein Gottesurteil. Noch bevor die Elfe über den Terrassenrand gestoßen wurde, stand fest, dass sie keinen Platz unter den toten Helden einnehmen würde. Wie mir scheint, wäre das ganz im Sinne Muwattas gewesen.«
»Oder jedes anderen, den der Hochmut Aarons erzürnt hat!«, entgegnete die Geflügelte scharf.
»Das werden wir nicht heute entscheiden«, sagte der Löwenhäuptige etwas versöhnlicher. Die beiden Devanthar maßen einander stumm mit Blicken. Artax war sich sicher, dass sie miteinander in Gedanken sprachen. Doch worum immer es gehen mochte, man vermochte auf dem ebenmäßigen Gesicht der Geflügelten keine Regung abzulesen.
Schließlich traten beide im selben Augenblick einen Schritt zurück. Der Löwenhäuptige kniete neben Artax nieder. Du bist ein noch größerer Narr, als ich gedacht hatte, erklang dessen Stimme in Artax’ Kopf. Zugegeben, ein mutiger Narr. Aber du solltest es dir nicht zur Angewohnheit machen zu siegen, indem du das Schwert des Gegners mit deinem Fleisch bindest.
Artax lächelte schwach. Ihm war sehr kalt. Immer wieder verschwamm ihm das mächtige Löwenhaupt vor Augen. Die Raubtieraugen hielten ihn gefangen.
Schlaf nicht ein, wenn du noch einmal erwachen willst.
Der Devanthar legte ihm die Hand auf die Brust. Wärme durchfloss seine Glieder, aber er fühlte sich noch immer unendlich schwach. Seine Augenlider flatterten.
Der Göttliche zog das Schwert aus der Wunde und der Schmerz raubte Artax die Sinne. Dunkelheit umfing ihn. Ein neuer Schmerz holte ihn zurück. Kleine Rubine funkelten in der Mähne des Löwen. Es war kein Geschmeide – es war Blut. Sein Blut.
Artax spürte seinen Leib nicht mehr. Etwas im Blick des Löwenhäuptigen beunruhigte ihn. Der Devanthar machte sich Sorgen um ihn. Um ihn, den Sohn eines Bauern!
Du bist dem Tod näher als dem Leben.
Artax wollte fragen, wie es Muwatta ging, aber er hatte weder die Kraft zu sprechen, noch gelang es ihm, den Kopf zu drehen. Er war gefangen vom Blick der bernsteinfarbenen Augen des Löwenhäuptigen.
Der Luwier ist nicht so schwer verwundet wie du. Allerdings hast du ihn entmannt und das wird ihn den Kopf kosten. Meine Schwester wird einen anderen finden, der im Verborgenen an Muwattas Stelle tritt, so wie du Aaron ersetzt hast. Ein Unsterblicher, der die Heilige Hochzeit nicht vollziehen kann und mit einer Weiberstimme spricht, wäre in Luwien untragbar.
»Wer …« Blut floss ihm aus dem Mundwinkel. Zu sprechen war unmöglich.
Wer das Blei in die Bambusrohre gefüllt hat? Der alte Priester. Er wollte dich bloßstellen. Er glaubte, so könne er dich für die Zukunft gefügiger machen. Allerdings hat er es nicht allein getan. Alle Priester hier auf der Terrasse waren daran beteiligt. Sogar die Novizen. Sie sind eine korrupte, machtgierige Bande. Du kannst nicht ohne sie regieren. Das einfache Volk braucht einen Götterkult. Etwas, woran sie glauben, wozu sie aufschauen. Etwas, wovor sie niederknien können. Selbst im kleinsten Dorf gibt es Schreine und Altäre, und es braucht die Priesterschaft, die ihnen vorgaukelt, sie seien die Brücke zu uns. Du brauchst diese Priester, damit dein Volk zufrieden ist. Aber du solltest ihnen Zügel anlegen. Sonst werden sie dir Zügel anlegen, Artax. Falls du überlebst.
Artax dachte an Muwatta. Wenn sein Schicksal wirklich besiegelt war, dann würde es wenigstens Frieden geben. Vielleicht war der nächste Muwatta weniger heißblütig und unbedacht.
Du bist ein Träumer. Der nächste Erzkönig hat gar keine andere Wahl, als diese Fehde wieder aufzugreifen. Du hast ihn gedemütigt. Das Duell muss erneut ausgetragen werden. Doch nun nach den Regeln, die für Unsterbliche gelten. Es wird eine Feldschlacht geben. Jeder von euch bietet fünfzigtausend seiner besten Krieger auf. In drei Jahren werden sich die Heere Luwiens und Arams auf der Ebene Kush begegnen, und dann wird der Streit entschieden. Der Verlierer wird eine bedeutende Provinz an den Sieger abtreten. Damit erst endet der Streit. Es wird keine Belagerungen geben. Kein endloses Hin und Her, bei dem beide Reiche immer weiter ausbluten. Nur eine einzige Schlacht wird die Entscheidung bringen.
Artax wurde übel. In seinem Geiste sah er ein endloses Feld voller Leichen. Das war es nicht wert. Das war völlig verrückt! Das…
Du bist ein Unsterblicher! Wenn du einen Streit mit deinesgleichen beginnst, dann ist das nicht mit einem Duell wie diesem hier entschieden. Dann werden sich Großreiche duellieren. Und das geschieht auf dem Schlachtfeld. War die Elfe das wert? Oder deine Vorstellung von Ehre?
Er musste überleben, dachte Artax verzweifelt. Er musste dieses Unheil abwenden!
Das liegt nicht mehr in deiner Macht. Meine Schwester und ich haben es soeben beschlossen. Der Streit zwischen Luwien und Aram wird auf dem Feld von Kush beigelegt werden. Nichts kann dies mehr abwenden. Dir bleiben drei Jahre, dein Heer vorzubereiten. Du hast mehr Krieger, doch in dieser Schlacht wird die Überzahl dir keinen Vorteil bringen. Muwattas Männer sind besser ausgebildet und ausgerüstet. Viele von ihnen besitzen eiserne Waffen. Deine stärkste Waffe sind deine Streitwagengeschwader. Doch deine Streiter kämpfen noch mit Bronzewaffen. Die Luwier werden sie zu Tausenden dahinschlachten. Wer immer dir diese Elfe geschickt hat, wäre sicherlich verblüfft, in welchem Ausmaß sie die Geschicke zweier Großreiche beeinflusst hat.
Das würde nicht geschehen, schwor sich Artax. Und ihm war schrecklich klar, dass er zuerst eine Göttin besiegen musste, wenn er es verhindern wollte.
EIN GANZ BESONDERER KÄFER
Nandalee blickte zu dem Drachen, der mit dem Kopf nach unten von der Decke hing. Ihr Meister sah albern aus! Und ihn schien das nicht im Mindesten zu stören! Die übrigen Schüler waren ganz in ihre Meditation versenkt, nur sie selbst schaffte es wieder einmal einfach nicht, in Harmonie mit sich und der Welt zu sein. Sie hatte wieder versucht, sich auf die Jagd zu konzentrieren, das Gefühl in sich zu erwecken, das sie gehabt hatte, wenn sie in den verschneiten Wäldern Carandamons auf die Pirsch gegangen war. Manchmal gelang es ihr. Meistens jedoch nicht. Wie schon so oft musste sie auch jetzt wieder an den Troll denken, der ihr Leben verändert hatte. Sie wusste, dass diese Gedanken ihr inneres Gleichgewicht störten, doch je mehr sie versuchte, sich gegen diese Gedanken zu sperren, desto sicherer kamen sie.
Nandalee wusste nicht, wie sie sich helfen sollte. Und ihr verdammter Meister half ihr auch nicht! Wenn er ein Lehrer war, dann musste er doch sehen, was in ihr vorging. Warum unternahm er nichts?
Sie erhob sich und streifte zwischen den anderen Schülern durch die Felsnische. Sie bewegte sich lautlos und versuchte die anderen nicht zu stören. Natürlich wäre es besser gewesen, einfach sitzen zu bleiben. Aber sie konnte nicht. Sie musste sich bewegen. Dieses ewige Sitzen machte sie noch wahnsinnig. Sie hatte kein Talent! Was musste sie tun, damit der Drache das einsah und sie endlich ziehen ließ?
Eine Bewegung auf dem Boden weckte ihre Aufmerksamkeit. Ein dicker schwarzer Käfer kämpfte sich über das Spiralmuster, das in den Boden geschnitten war. Statt den eingeschnittenen Linien zu folgen, kletterte er quer über die Erhebungen zwischen den Rillen, was ihn viel Kraft zu kosten schien. Neugierig kauerte sich Nandalee neben den Käfer und sah ihm auf seinem Weg zu. Sein Hinterleib schimmerte metallisch grün. Der Halsschild war schwarz. Die kleinen Fühler, die aus seinem Kopf wuchsen, verdickten sich nach vorne, sodass sie wie kleine Keulen aussahen. Er machte einen robusten Eindruck. Er war ein Dickkopf, und sie mochte ihn dafür.
Wieder und wieder erklomm er die steinernen Rillen des Reliefs und arbeitete sich dem Abgrund entgegen. Konnte er ihn sehen? Und wie war er hierhergekommen?
Nandalee verstellte ihm mit einem Finger den Weg. Der Käfer wich aus und schwenkte wieder auf seine alte Richtung ein. Was er wohl dachte? Konnten Käfer denken?
Sie beobachtete den Rhythmus, in dem seine gegliederten Beine gegen die Rillen ankämpften. Er war ausdauernd. Ihn zu beobachten stimmte sie friedlicher. Der Käfer schien mit sich und seiner Welt völlig im Einklang zu sein, obwohl er so einen schweren Weg zu gehen hatte. Einige Schwünge der Spiralmuster führten direkt zum Abgrund. Wahrscheinlich wollte er von dort fliegen. Er erschien Nandalee zu gedrungen, als dass er sich leicht in die Lüfte erheben konnte. Er brauchte einen Absprungpunkt.
Plötzlich, ohne dass sie es gewollt hätte, veränderte sich ihre Sicht. Ihr Verborgenes Auge hatte sich geöffnet und die Magie der Welt breitete sich vor ihr aus. Der Käfer verströmte Harmonie. Sie konzentrierte sich auf ihn. Er könnte es so viel einfacher haben, wenn er einen anderen Weg einschlug. Sie sollte ihm helfen. Sie könnte ihn auf die Hand nehmen. Oder …
»Du solltest deinen Weg ändern«, flüsterte sie. Der Käfer müsste nur bei der übernächsten Rille in die Bahn einschwenken, statt weiterzuklettern. »Vertrau mir«, sagte sie eindringlich. »Du musst einen anderen Weg einschlagen.«
Gebannt beobachtete sie ihn, dabei dachte sie an den Weg, den er gehen sollte. Deutlich erkannte sie einen spinnwebdünnen Lichtfaden, der sie nun mit dem Käfer verband. Der Faden wurde ein wenig heller und begann zu vibrieren.
Der Käfer schwenkte ein! Er hatte sie gehört! Nein, natürlich nicht … Es war ihre Magie, mit der sie ihn beeinflusst hatte. Nicht die Worte. Hatte sie es wirklich geschafft? Oder war es nur ein Zufall?
»Geh in die benachbarte Rille!«, wisperte sie, eindringlich jetzt. Immer noch sah Nandalee das magische Netz, das die Welt durchdrang. Und besonders deutlich sah sie das Band aus Licht, das sich zwischen ihr und dem dicken Käfer spannte.
Als habe er ihre Worte verstanden, wechselte er in die benachbarte Rille. Die Farbe seiner Aura veränderte sich. Ein Rotton schlich sich in das satte Gelbgold. Offenbar regte sich der Kleine auf. Es tat ihr leid. Zurück, dachte sie. Geh zurück auf den einfachen Weg in der Rille!
Das Rot in der Aura wurde stärker, als der Käfer gehorchte.
Ihr könnt also einen Mistkäfer von seinem Weg abbringen. Ich gratuliere zu diesem Triumph des Willens, Dame Nandalee!
Ertappt zuckte Nandalee zusammen. Sie war so sehr in dieses Spiel vertieft gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie sich der Drache näherte.
Ist das die Art von Zaubern, die Ihr künftig weben wollt? So könnt Ihr viel Macht erlangen.
»Ich wollte ihm nicht schaden.«
Auf mich macht er den Eindruck, nicht sehr glücklich zu sein.
»Aber ich habe ihm doch einen besseren Weg gewiesen. Er wird es viel leichter haben, so zum Abgrund zu gelangen und davonzufliegen. «
Ihr habt ihm seine Freiheit genommen. Und obwohl er nur ein Käfer ist, hat er das deutlich gespürt.
»Das sagt der Richtige! Ich bin auch nicht freiwillig hier.«
Habe ich Euch etwa hierhergebracht? Der Drache legte seinen Kopf schief und bleckte die Zähne zu einem Raubechsenlächeln. Es steht Euch frei zu gehen, Dame Nandalee.
»Dazu müsste ich fliegen können!«
Es steht Euch frei, es zu erlernen.
Noch ehe sie sich bewusst wurde, was sie tat, ballte sie die Faust und reckte sie dem Meister entgegen. Ihr Verborgenes Auge hatte sich geschlossen. Deutlich sah sie die feinen Schuppenringe um die Augen des Drachen. Da waren Falten. Er wirkte melancholisch.
Ihr könntet viel von dem Käfer lernen, Dame Nandalee.
Seine Worte waren wie Öl auf Feuer. »Du findest, ich bin dem Käfer ähnlich!«, schnaubte sie.
Bedauerlicherweise nicht. Wäret Ihr ihm ähnlich, wäre Euer Leben in der Balance und Ihr könntet leichter jenen Weg finden, der Euch eine Zauberweberin werden ließe.
»Der Käfer steht in deinen Augen also über mir! Was bin ich für dich? Ein Stück Dreck?«
Ein zerrüttetes Herz, das seid Ihr, mein Kind.
Ihre Wut verrauchte so plötzlich, dass sie einen Augenblick lang argwöhnte, der Drache habe einen Zauber gesponnen. Ein zerrüttetes Herz, das seid Ihr. Die Worte des Meisters hallten in ihren Gedanken wider, obwohl der Drache nicht mehr zu ihr sprach. Ihr traten Tränen in die Augen. Sie schämte sich. Und dann wurde sie erneut wütend, sich vor dem Drachen so schwach zu zeigen. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen und wischte die Tränen fort.
Wisst Ihr, was das Wunderbare an diesem Käfer ist, Dame Nandalee?
»Nein«, entgegnete sie übellaunig.
Wisst Ihr überhaupt, was für ein Käfer das ist?
Sie antwortete nicht. Ihre Unwissenheit war offensichtlich. Was interessierten sie schillernde Käfer! Käfer wie diesen gab es in Carandamon gar nicht. Wie sollte sie ihn kennen!
Ihr müsst entschuldigen, wenn ich in meiner Wortwahl nun etwas drastischer werde, meine Liebe, aber manchmal versteht man die Wahrheit besser, wenn sie sich nicht hinter schönen Phrasen verbirgt. Dieser Käfer ist ein Mistkäfer. Manche nennen ihn auch etwas vornehmer Pillendreher. Natürlich ist er nicht freiwillig hier. Ich habe ihn von einem Besuch bei einem meiner Brüder mitgebracht. Für Euch, Nandalee. Hier auf nacktem Fels zu leben, wo man keine Exkremente findet, ist für ihn wahrscheinlich eine arge Qual. Er frisst Exkremente, wisst Ihr. Und er kommt bestens damit klar. Er sammelt sie auch für seinen Nachwuchs. Er dreht sie zu Kugeln, die ein Vielfaches seines eigenen Gewichtes betragen. Darin legen die Weibchen ihre Eier ab und die Jungen werden in eine Welt geboren, in der sie vor lauter Exkrementen das Tageslicht nicht sehen. Ihr ganzes Leben dreht sich um Scheiße! Hört sich ein bisschen an wie Euer Leben im Moment, nicht wahr? Aber wisst Ihr, was wirklich faszinierend ist? Die Männchen rollen die Kugeln aus Mist, die von so erdrückendem Gewicht sind, mit ihren Hinterbeinen. Sie blicken dabei nach vorn in die Sonne.
Sie haben das Beste aus ihrem Leben gemacht. Lernt von ihnen. Wenn Ihr den Mist in Eurem Leben schon nicht loslassen könnt, packt ihn wenigstens hinter Euch, dass er Euch nicht andauernd den Blick auf die Zukunft versperrt.
Nandalee sah ihn an. Fassungslos, zornig, nachdenklich, erstaunt. Lange Zeit schwieg sie, stand einfach nur da und hielt seinem Blick stand.
Dann lachte sie.