10. Kapitel

 

„So langsam könntet ihr euch wieder vertragen. Es nervt langsam.“
„Dich betrifft es ja nicht, also reg dich ab.“
„Natürlich betrifft es mich. Ich habe keinen Bock mehr mich nur mit einem von euch zu treffen. Ich stehe zwischen euch und das kotzt mich an!“
Nina stochert angesäuert in ihrer Eisschokolade. Eine ganze Woche herrscht nun schon Funkstille zwischen Ida und mir. Ich habe Nina alles erzählt, die Geschichte mit Levin und Ida und auch die Sache mit Tim, habe nichts ausgelassen, auch nicht, dass es sich bei Tim um den Bruder von Lilly handelt und was für ein Schreck es war ihn in der Stadthalle zu treffen, wie verwirrt ich seitdem bin.

 

Nina ist eine echte Perle. Sie saß mir im Eiscafé gegenüber, hörte aufmerksam zu und unterbrach nicht ein einziges Mal, während ich eine Stunde ungebremst quatschte und meinen Seelenmüll loswurde. Sie stellte sich weder auf meine Seite noch verteidigte sie Ida, sie nahm es einfach hin. Dass ich auf Tim stehe, fand sie nicht verwunderlich, denn sie kennt ihn. Sie erzählte, dass er einen ziemlichen Auflauf im Ballettstudio angerichtet hatte, als er Lilly letztens vom Training abholte. Er war ins Studio gehechtet, hatte Lilly Bescheid gegeben, dass seine Mutter im Halteverbot stände und sie sich beeilen müsse. Die halbe Ballettklasse hätte Hitzewallungen bekommen und Lilly wurde beim nächsten Training von einigen Mädchen nach ihrem Bruder ausgefragt. „Er hat eine Freundin“, war Lillys einziger Kommentar.

 

Was wissen diese rosa Wattebäusche auf zwei Beinen schon von meinem Tim? Niemand hat ihn aus der Ferne so studiert wie ich. Ich bin mir sicher, er ist auch nicht arrogant, sondern einfach nur schüchtern.

„Solche Schönlinge wie Tim vergisst man lieber von vorneherein, da ist die Konkurrenz zu groß und das mit Ida wird sich schon alles wieder einrenken“, meinte Nina ganz trocken.

 

Garnichts renkte sich ein. Ostermontag aß ich aus Wut den kleinen Schokoladen Hasen, auf dessen Gesicht ich ein Bild von mir geklebt hatte, um ihn Ida zu Ostern zu schenken, selber auf. Immer wieder kontrollierte ich den Nachrichteneingang meines Handys, aber Ida war unsere Freundschaft piep egal. Und Tim? Einfach vergessen nach so einer langen Zeit?

 

Nina hatte nach der Aufführung Trainingspause und sich die letzte Ferienwoche mit uns ebenfalls anders vorgestellt. Zweimal hatte sie mit Ida inzwischen gesprochen, gab mir aber nur spärlichen Input, war ganz neutral.

„Ida hat total überreagiert. Du hättest sehen sollen, wie sie ausgerastet ist“, beschwere ich mich.
„Sagtest du bereits.“
„Ehrlich, ich konnte doch nichts dafür.“
„Sagtest du bereits.“
„Jetzt bist du genervt.“

„Ja, von eurem blöden Streit.“ Nina schaut mich ernst an. „Ich war gestern bei Lilly und habe mit ihrem Bruder geflirtet. Ich finde ihn nämlich auch süß.“
Jetzt haut es dem Fass den Boden aus. Ich kann nichts mehr sagen und schlucke einen Riesenkloss den Hals hinunter.
Ninas Miene bleibt einige Sekunden emotionslos, bevor sie zu lachen anfängt.

Mir fällt ein Stein vom Herzen. „Oh Mann, das habe ich dir im ersten Moment echt abgenommen.“
„Und wie hast du dich gefühlt?“
„Schlecht, Frau Psychologin. Mensch Nina, man merkt, dass deine Mutter Seelenklempnerin ist. Willst du mich jetzt therapieren?“

Idas Mutter ist Therapeutin, sie versucht zerstrittene Paare wieder zusammenzubringen. Auch kein Aushängeschild für sie, dass ihre eigene Ehe gnadenlos gescheitert ist, während sie anderen Leuten für Geld erklären will, wie man eine gesunde Beziehung führt.

„Nur ein kleiner Denkanstoß, damit du dich vielleicht auch in Ida reinversetzen kannst. Ich will mich ja nicht in euren Streit einmischen, aber übermorgen fängt die Schule wieder an und ich säge die alte Eiche in der Mitte nicht durch, bloß weil zwei Dickschädel sich im Moment nicht riechen können. Also sprecht euch endlich aus.“
„Du verstehst das nicht.“
„Ach ja, richtig. Ich bin ja nur das kleine Tanzmäuschen, was außer Ballett nichts anderes im Kopf hat.“ Jetzt wird Nina grantig.
„Quatsch, so meine ich das nicht“, gebe ich kleinlaut von mir.
„Manchmal nervt mich das Training auch ohne Ende. Alles verpasse ich. Ich war noch nie im MC, ich habe nie Zeit, auch nicht für einen Freund.“
„Aber du liebst doch den Tanz.“
Sie zuckt die Achseln. „Ja, schon. Aber während ihr neue Leute kennenlernt, euch Baguettes reinhaut und um Jungs streitet, hänge ich ständig zwischen lauter Mädchen und muss mir jedes Stück Schokolade verkneifen. Als alte Jungfer will ich auch nicht enden.“
So habe ich das noch nie gesehen. Nina schwärmte eine Zeit für Jurij, den Neffen von Frau Zagrowa. Frau Zagrowa war wegen eines Magenleidens mehrere Wochen im Krankenhaus, Jurij sprang als Lehrer ein. Ida und ich staunten Bauklötze, dass sich Nina für einen richtigen Mann interessierte. Immerhin war Jurij mindestens zwanzig. Nina behauptete steif und fest, er wäre nicht schwul und träumte schon von einem gemeinsamen Leben mit ihm auf der Bühne. Sie Dornröschen, er der Prinz, sie Odette, er Siegfried, sie Giselle, er Prinz Albrecht. Es gab unzählige Varianten in ihrem Märchentraum. Aber Frau Zagrowa kam wieder und Jurij ging zurück in die Ukraine.

 

Für mich war völlig klar, Nina würde sich niemals für normal sterbliche Jungs interessieren. In ihrem Zimmer hängen überall Bilder von einem italienischen Balletttänzer mit Namen Roberto Bolle, einem Primoballerino, der selbst in diesen lächerlichen glänzenden Herrenganzanzügen und in Strumpfhosen total sexy aussieht, perfekt definierter Körper, ein makelloses Modelgesicht. Nina hat die Messlatte schon verdammt hoch angesetzt. Bei ihr kann nur einer landen der beim Pas de Deux eine gute Figur macht,- dachte ich zumindest bisher.

 

Und jetzt stelle ich fest, dass sie nicht anders denkt wie wir.
Mein schlechtes Gewissen meldet sich wieder. „Tut mir leid, dass ich die ersten drei Akte von Schwanensee verpasst habe. War schon blöd von uns. Und das alles wegen ein bisschen Singstar und einen Streit mit Ida.“
Nina winkt ab. „Schwamm drüber. So toll war die Vorstellung auch wieder nicht und unser geliehener Siegfried war echt schlecht. Wir hatten ja mal wieder keinen gescheiten Typ für die männliche Hauptrolle. Bei uns gibt es nur Weiber. Der Zickenkrieg im Studio ist schon schwer zu ertragen und jetzt zicken auch noch meine Freundinnen rum.“ Sie schielt und schneidet eine lustige Grimasse.

„Okay, okay. Ich verspreche dir, ich werde Montag den ersten Schritt tun. Aber wehe, Ida hat die Sache mit Lauras Handy rumerzählt, das wäre echt link von ihr.“

 

Erster Schultag nach den Osterferien. Ich werde Tim sehen, ich werde mich mit Ida wieder vertragen. Ob er heute im Bus ist? Nervös trippele ich von einem Bein auf das andere und atme tief durch, als ich in den Bus steige. Tims Arschloch-Freund sitzt direkt an der Tür und tippt mit gesenktem Kopf auf seinem Handy herum. Der hat mir gerade noch gefehlt. Finster schlängele ich mich durch die Reihen und bin bemüht, so schnell wie möglich an ihm vorbeizukommen, ohne auf mich aufmerksam zu machen. Zwei Reihen hinter ihm ist ein letzter Platz frei. Tim wird sich zu seinem Freund stellen und ich kann ein wenig spionieren.

 

„Am Friedhof.“

Er steigt ein, oh mein Gott. Nach der Tim-Oster-Diät bin ich völlig ausgehungert. Poch, poch, poch, jeder Kardiologe würde mir jetzt blutdrucksenkende Mittel spritzen. Tim begrüßt Arschloch per Handschlag und plaudert mit ihm. Worüber ist nicht rauszukriegen, dafür sitze ich zu weit entfernt.

„Mozartstrasse.“

Da steht der blonde Engel. War ja klar, dass die heute auch noch auftaucht. Lea! Mein persönlicher Alptraum hat jetzt einen Namen. Ihr Pferdeschwanz tanzt im Wind, fröstelnd presst sie ihre Tasche vor den Körper. Der Aprilmorgen ist noch knackig kalt. Von meinem Beobachtungsposten versuche ich die Szenerie mitzukriegen. Er redet mit Arschloch und dreht nicht mal den Kopf zu ihr. Lea wirkt unsicher, schaut ein paar Mal in seine Richtung, Arschloch hebt kurz die Hand zum Gruß. Sie grüßt verspannt zurück, blickt erwartungsvoll zu Tim, der ignoriert sie. Ich bin mit einem Mal hellwach. Ein interessantes Intermezzo, was sich da live und in Farbe vor mir abspielt. Sollte die große Liebe etwa so schnell wieder abgekühlt sein? Ich habe es ja gewusst, sie ist nicht die Richtige für ihn. Schadenfroh grinse ich in mich hinein. Der Tag fängt gut an, jetzt muss ich nur noch die Sache mit Ida in die Bahn kriegen.

 

In der Schule werde ich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ida spricht kein Wort mit mir. Hocherhobenen Hauptes stolziert sie, auf dem Weg zum Klassenzimmer, an mir vorbei.

„Hallo. Lebst du auch noch?“, werde ich dafür von Laura begrüßt. „Schade, dass ihr so dringend weg musstet vorletzten Samstag, aber Notfälle gehen natürlich vor. Besonders einem tat es leid, dass er sein Match nicht zu Ende bringen konnte.“ Vielsagend zwinkert Laura mir zu. „Kannst dir ja sicher denken, wer.“ Dann wird sie von jemand aus ihrer alten Klasse abgelenkt. „Ich muss da mal hin, bis gleich.“

 

Ida sitzt mit versteinerter Miene an unserem gemeinsamen Tisch. Geräuschvoll lasse ich mich auf meinem Stuhl nieder, sie wendet sich ab, zeigt mir die kalte Schulter. Nina kommt, klopft auf die Tischplatte, flötet einen fröhlichen „guten Morgen“, und setzt sich hinter uns. Ein Bleistift bohrt sich in meinen Rücken. „Nun mach schon“, soll das heißen, „du hast es versprochen.“

„Hey Ida“, starte ich meinen Versöhnungsversuch. Ida dreht sich weg und rückt mit dem Stuhl nach links. Ich lege meine Hand auf ihre Schulter, aber sie schüttelt sie wie ein paar fiese Flöhe ab. Weitere Worte sind hier wohl überflüssig. Versöhnung im Keim erstickt, Versuch gescheitert.

„Dann bock doch weiter“, schimpfe ich und rücke lautstark mit meinem Stuhl nach rechts.

„Na toll“, seufzt Nina hinter uns.

 

Nach der Doppelstunde Englisch versuche ich in der ersten großen Pause unter der alten Eiche erneut mein Glück. Ida vertilgt mit trotziger Miene ihr Käsebrot und denkt nicht mal daran es mir leicht zu machen. Immerhin geht sie mir nicht ganz aus dem Weg.
„Würdest du jetzt wenigstens mit mir reden oder soll ich mich in die nächste Höhle verkriechen?“, unterbreche ich nach geschlagenen zehn Minuten die unerträgliche Stille. Nina hat sich inzwischen resigniert in ihr Buch vertieft, linst jetzt aber neugierig über den Buchrand hinweg.

„Jetzt hör mal…“, weiter komme ich nicht. Laura und Judith schlendern zu uns rüber.

„Hey, wir wollen nach der Schule auf einen Sprung ins MC. Montags habe ich keine Lernhilfe, das muss ich ausnutzen. Habt ihr Lust mitzukommen?“

„Och, ich weiß nicht. Da müsste ich erst zuhause Bescheid geben“, antworte ich.

Ida schüttelt den Kopf. „Ne, heute eher nicht.“

„Judith und ich gehen auf jeden Fall. Levin wird übrigens auch da sein.“ Die Info war eindeutig, Laura zwinkert mir zu, flaniert mit Judith eingehackt weiter und ich werde ein bisschen rot.

 

Es klingelt zum Pausenende. Ida rafft ihre Sachen zusammen und zischt mir böse zu, „du kannst ja hingehen zu deinem Levin.“ Dann dampft sie ab und lässt uns einfach stehen.

Nina legt ihren Arm um meine Schulter, „die wird sich schon wieder einkriegen. Ich hätte mir das MC ja auch gerne endlich mal von innen angeschaut und euren tollen Levin sowieso.“

„Es ist nicht unser Levin und meiner schon gar nicht. Vergiss es, wenn wir gehen, spricht sie nie wieder ein Wort mit uns.“

 

Ida zieht ihr Schweigegelübte die restlichen Schulstunden durch und taucht in der zweiten großen Pause ab. Langsam finde ich ihr Getue albern und beschließe mich lieber auf das Schulende und auf Tim zu freuen. Es ist Montag! Bingo!

 

Angesichts des peinlichen Zwischenfalles vor den Osterferien, versuche ich an der Haltestelle unsichtbar zu bleiben. Arschloch wird mich nicht nochmal auf dem Silbertablett präsentieren. Ich stelle mich neben einem bulligen Mädchen aus der Achten, die breiter als groß ist und einen perfekten Sichtschutz bietet. Wenn ich vorsichtig nach hinten wippe, kann ich an ihr vorbei die Ampel beobachten, ohne dass ich auffalle.

 

Tim trägt heute eine dunkle Jeans, ein graues Sweatshirt und Chucks und hat Arschloch im Schlepptau. Sie platzieren sich unmittelbar neben meinem menschlichen Paravent. Was für ein taktischer Schachzug! Wenn Bullenmädchen sich bewegt, rücke ich unauffällig nach, bleibe schön in ihrem Windschatten.

„Was ist denn nun mit Lea?“, richtet Arschloch das Wort an Tim.

„Keine Ahnung, ich lass das mal auf mich zukommen.“

Neugierig spitze ich die Ohren. Zu sehr brenne ich auf Details seines Liebesauses. „Ich bin es, die für dich bestimmt ist. Du willst es dir nur nicht eingestehen“, denke ich. Ida und ich haben uns eine Zeit lang eingebildet, dass wir über telepathische Fähigkeiten verfügen. Ein Artikel in einer Mädchenzeitschrift behauptete, dass verwandte Seelen via Gedankenübertragung miteinander kommunizieren können. Da wir immerhin Blutsschwestern und allerbeste Freundinnen sind, waren wir fest davon überzeugt, bei uns muss es funktionieren. Viele Stunden saßen wir uns stumm gegenüber und versuchten uns telepathisch auszutauschen, was natürlich nicht klappte. Auch nicht während Mathearbeiten, so sehr wir uns auch anstrengten. Alles Humbug! Aber vielleicht sind übersinnliche Schwingungen rein durch die Kraft der Liebe möglich. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen und versuche Verbindung zu Tim aufzunehmen. „Sie ist die Falsche. Du liebst eine andere, sie ist blond und viel zu klein, aber sie versteht dich besser als jeder andere Mensch auf der Welt.“

Mein sehr gläubiger Opa meint immer, mit ein wenig Gottvertrauen nimmt alles im Leben seinen richtigen Lauf. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt gläubig bin. Dennoch habe ich sicherheitshalber bei der Kommunion meiner kleinen Cousine eine Kerze angezündet und mir Tim gewünscht. Schaden kann es ja nicht. Der liebe Gott wird auch für die kleinen Nöte und Wünsche seiner Schäfchen Verständnis haben. Immerhin habe ich fünfzig Cent für die Kerze gespendet.

 

Plötzlich beugt sich Bullenmädchen schwerfällig nach vorne, öffnet ihren Rucksack, wobei sie ihren gewaltigen Hintern in die Höhe streckt. Mein Schutzschild bin ich los. Wie ein Hase auf freiem Feld stehe ich zum Abschuss bereit. Schnell gehe in die Knie, versuche mich weiter hinter ihr zu verstecken, sie kramt weiter, hält dann in ihrer Bewegung inne und dreht ihr Mondgesicht zu mir.

„Was soll das? Willst du mich verarschen oder was?“, zetert sie los.

Ich fuchtel bittend mit den Händen, deute ihr an leise zu sein, aber sie motzt weiter. „Blöde Kuh, warum tänzelst du die ganze Zeit um mich herum? Soll das witzig sein?“

„Nein“, flüstere ich und stelle mich schnell wieder hin. Es ist vorbei, Tim und Arschloch sind von dem Gekeife auf uns aufmerksam geworden. Bullenmädchen hat endlich gefunden was sie sucht. Sie zieht ihr Portemonnaie aus dem Rucksack, richtet sich ungelenk wieder auf und stapft wutschnaubend zum Kiosk. Ich springe schnell einen Schritt zurück um keine Kollision mit ihr zu riskieren.
Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu und schnauft. „Dein Gesicht merk ich mir.“

Arschloch grinst breit und schäbig. „Neue Frisur? Steht dir.“

Ich flüchte ebenfalls Richtung Kiosk, versuche meine normale Gesichtsfarbe wiederzuerlangen. Kann man noch tiefer sinken?

 

Zuhause gebe ich mich meiner momentanen Lieblingsbeschäftigung hin: Ich liege chillend und träumend mit meinem Ipod im Bett. Ich bin fast eingeschlafen, als mich jemand leicht anstubst. Sicher Mama, was will die denn schon wieder von mir? Ich hasse es, wenn sie unangemeldet in meinem Zimmer auftaucht. Etwas mehr Privatsphäre wäre wünschenswert. Ich öffne die Augen und bin völlig baff, als Ida vor neben mir hockt.

 

Überrascht setze ich mich auf und entledige mich der Ohrstöpsel. Sie sieht verweint aus.
„Scheiße alles, alles scheiße“, schluchzt sie.

„Mann, bin ich froh, dass du hier bist.“ Zum Glück, endlich hat sie sich eingekriegt.

„Ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht mit Levin zu singen. Ich wollte doch gar nichts von ihm“, sage ich mein Sprüchlein auf, dass ich mir schon für die Schule zurecht gelegt hatte und nicht losgeworden bin.
„Ach Levin, der…“ winkt Ida mit einer abfallenden Handbewegung ab. „Klar, ich war sauer, super enttäuscht, aber eigentlich habe ich selber gemerkt, dass ich keine Chance bei ihm habe. Er stand von Anfang an auf dich, ich wollte es bloß nicht wahrhaben.“
„Wegen einem Typen würde ich nie unsere Freundschaft aufs Spiel setzen. Wirklich, es tut mir leid.“ Kleinlaut beichte ich, „mich hat noch nie ein Junge richtig angebaggert. Vielleicht bin ich deswegen ein klitzekleines bisschen darauf eingegangen. Ich fand ihn auch irgendwo süß. Aber ich wollte das eigentlich nicht, ehrlich.“

„Ich war ziemlich blöd zu dir, tut mir leid“, gibt Ida gequält zu.

„Ach, längst vergessen.“

„Ich bin dir nach unserem Streit noch nachgelaufen, aber du hast mich nicht bemerkt. Dann habe ich es mir anders überlegt und bin nach Hause gefahren. Den anderen habe ich erzählt, Nina hätte angerufen und wir müssten dringend zur Unterstützung hin. Ich habe mich mit den anderen auch nicht mehr getroffen. So ohne dich wäre ich mir blöd vorgekommen.“
Ich bin erschrocken, als sie fürchterlich zu weinen anfängt.

„Ist doch okay, Schwamm drüber, vergessen, weine doch nicht mehr.“

„Ich heule doch nicht deswegen“, jault Ida. „Bei mir bricht alles zusammen, deswegen konnte ich den Streit zwischen uns auch nicht mehr ertragen. Stell dir vor, Julia von nebenan hat mir erzählt, dass Florian im Skiurlaub eine Freundin hatte.“

„Flori?“

„Ja, sie ist so alt wie wir, eine aus seinem Skiclub. Er geht fest mit ihr. Seit einer Woche ist er aus dem Urlaub zurück und hat noch nicht einmal bei mir geklingelt. Jetzt weiß ich warum. Das Arsch!“

Ich bin ein wenig baff. Florian hat Ida bisher völlig kaltgelassen. Florian war eben Florian, der Kumpel von nebenan, Idas Alibi Freund für alle Fälle, mehr nicht.

„Du stehst doch eigentlich gar nicht so richtig auf Flori, oder?“, hacke ich nach.

Ida zerrt ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnauft geräuschvoll hinein.

„Ich weiß auch nicht so genau. Als Julia eben da war, musste ich plötzlich heulen. Er hat jetzt eine Freundin, so richtig, weißt du?“

„Vielleicht hat sie ihm ja das Küssen beigebracht“, versuche ich zu scherzen, worauf Ida noch heftiger jammert.

„Sorry“, entschuldige ich mich zerknirscht.

„Das ist ja noch nicht das Schlimmste“, erzählt sie weiter. „Meine Eltern haben sich entschieden neu anzufangen.“

„Aber das ist doch super.“

„Nichts ist super“, Idas Stimme nimmt eine hysterische Höhe an. „Für ihren Neuanfang haben sie sich etwas ganz tolles ausgedacht.“ Ida äfft die dunkle, ernste Stimme ihres Vaters nach. „Wir brauchen neuen Wind, müssen neue Wege gehen, aktiver werden. In den Sommerferien fahren wir nach Österreich und haben schon ein paar nette Wandertouren von unserer kleinen Pension am Wilden Kaiser ausgearbeitet.“
Oh je! Das bedeutet Höchststrafe! Seit ich denken kann, fährt Ida mit ihren Eltern jeden Sommer nach Torbole an den Gardasee. Wie habe ich sie bisher darum beneidet. Während sie mir letztes Jahr von den vielen segelnden, gutaussehenden Italienern erzählte, die sie mit „Ciao Bella“ anmachten, verbrachte ich den üblichen Urlaub am holländischen Strand, dessen Highlight die tägliche Portion Frikandel Spezial war. Aber Badeurlaub an der holländischen Küste gewinnt ganz klar gegen Wanderurlaub in den Bergen, selbst wenn wir letztes Jahr mit Pulli am Strand sitzen mussten, weil es zu kalt war.
„Wie können sie mir das antun? Nach Österreich! Was soll ich denn da drei Wochen? Mit den Kühen flirten? Almdudler Limo trinken?“

„Vielleicht ist das ja ganz nett“, starte ich den zaghaften Versuch die Sache positiv zu sehen.

Ihre Stimme wird schriller. „ Nett? Was soll an den scheiß Bergen nett sein? Und dann auch noch Ösiland, wo Florian seine Liebste gefunden hat. Da werde ich im Urlaub ja jeden Tag dran erinnert. Ich hasse die Berge, ich hasse Knödel, ich hasse Mozartkugeln und ich hasse Wandern!“ Sie heult unablässig weiter und redet sich in Rage. „Da laufen nur Seppels und Josefs und Franzels rum. Wie die da schon reden. Grüß Gott und Habe die Ehre. Und Nino? Den sehe ich jetzt auch nicht wieder. Erst reden meine Alten ewig nicht miteinander und statt sich nach ihrer Versöhnung mal bei mir zu entschuldigen, haben sie nichts Besseres zu tun, als mein Leben zu zerstören.“ Sie unterbricht ihren Wutrausch und schlägt dann leisere Töne an. „Du, wir lassen nie wieder einen Jungen zwischen uns kommen, einverstanden?!“

„Einverstanden, Riesenehrenwort. Wegen einem Typen würde ich doch nie meine allerbeste Freundin verlieren wollen.“ Mir fällt ein Stein vom Herzen.

„Jetzt darfst du dreimal raten wie Floris Angebetete heißt.“ Ida zieht eine Fratze.

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?“

„Anna!“

„Anna? Die Freundin von Lea?“ japse ich. Es ist um meine Fassung geschehen, Idas Miene hält sich auf, ihre Mundwinkel zucken und dann kichert sie ebenfalls.

„Ja, genau. Die beste Freundin von Lea. Lea und Anna, zwei ganz unsympathische Tucken.“

Wir kugeln auf meinem Bett herum und strampeln albern wie ein paar Babys mit den Beinen.

 

Nachdem wir uns wieder eingekriegt haben, machen wir es uns gemütlich und ich hole die letzten Schokoladenvorräte von Ostern heraus.

„Länger hätte ich die Funkstille zwischen uns nicht mehr ausgehalten. Außerdem muss ich dir unbedingt alle Neuigkeiten von Tim erzählen und dann überlegen wir, wie wir Anna aus dem Weg räumen können.“