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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14 375

Vollständige Taschenbuchausgabe der im Gustav Lübbe Verlag erschienenen Hardcoverausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher und Gustav Lübbe Verlag

sind Imprints der Verlagsgruppe Lübbe Titel der englischen Originalausgabe: Cold in the Earth © 1992 by Ann Granger © für die deutschsprachige Ausgabe 1998 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Titelillustration: David Hopkins Lektorat: Stefan Bauer Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: Druck & Grafik Siebel, Lindlar Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck, Berlin Printed in Germany ISBN: 3-404-14375-2

Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Schriftsteller brauchen die ganze Zeit über viel Ermutigung und viel Toleranz. Ich (und natürlich Alan Markby und Meredith Mitchell) möchten uns ganz besonders bei John, Judith und Anne für ihre rückhaltlose Unterstützung bedanken. KAPITEL 1 Laut summend p die Fliege gegen das schmutzige Fenster; sie saß in der Falle. Durch den Spalt am oberen Ende wehten warme Stadtluft und das Brausen des durch Whitehall dröhnenden Verkehrs herein, doch die Fliege schien nicht imstande, ihren Fluchtweg zu entdecken. Immer wieder flog sie gegen dieselbe Stelle auf der Scheibe, immer verzweifelter, weil sie hinaus wollte, und anscheinend immer unfähiger, den Weg zu finden.

»Genau wie ich«, sagte Meredith unüberlegt und laut.

»Verzeihung, Miss Mitchell?« Der Personalchef musterte sie mißtrauisch. Er hatte nicht gern mit Frauen zu tun. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um das zu erkennen. Er war klein und übergewichtig, hatte eine rosige Haut und benahm sich großspurig. Es war ihnen vom ersten Moment, in dem sie sein Büro betreten hatte, nicht gelungen, zu einem Einverständnis zu kommen. Ein Fall von gegenseitiger Abneigung auf den ersten Blick.

»Ich weiß, daß viele Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in meiner Position, die in London arbeiten, unbedingt wieder einen Posten in Übersee haben möchten.«

»Wie recht Sie haben, meine Liebe.« Gönnerhafter Trottel, dachte Meredith.

»Je nun, die Anzahl der Auslandsposten nimmt ab. Kürzungen, Kürzungen überall.«

»Ja, aber gewiß wäre es im Interesse des Amtes, mich so effektiv einzusetzen wie möglich? Nichts von dem, was ich hier tue, ist irgendwie sinnvoll oder erfüllt irgendeinen Zweck.«

»Das würde ich nicht sagen, Miss Mitchell.« Er schlug in der Akte nach, die auf seinem Schreibtisch lag.

»Der Chef Ihrer Abteilung äußert sich sehr anerkennend über Sie. Natürlich ist mir klar, daß Sie früher als britische Konsulin im Ausland der Kapitän Ihres eigenen kleinen Schiffes waren …«

Meredith schnitt eine Grimasse.

»Zweifellos ist ein Schreibtisch in London im Vergleich dazu ein wenig langweilig.« Das kannste ruhig noch einmal sagen, Kumpel, dachte sie und betrachtete verdrießlich seine rot gepunktete Krawatte. Wer hatte ihm die wohl geschenkt? Seine Frau? Sein reiches Tantchen Flo? Hatte er sie selbst gekauft? Sie blickte gerade noch rechtzeitig auf, um in seinen kleinen Augen ein boshaftes Funkeln zu sehen. Sie verstand sehr genau, was es bedeutete. Hier war sie völlig in seiner Macht. Er saß seine Zeit ab, liebte das ruhige Leben. Er beneidete sie um ihren Wunsch nach Unabhängigkeit, Ungewißheit und Herausforderung, gleichzeitig nahm er ihn übel. Zum ersten Mal begann Meredith etwas von dem Streß, dem Druck und der Belastung zu verstehen, die dazu führen, daß eine sonst normale Person an Mord denkt.

»Nun denn«, sagte er und legte die Spitzen seiner plumpen Finger aneinander.

»Haben Sie einen besonderen Grund, der es für Sie erforderlich oder wünschenswert macht, ausgerechnet jetzt einen Auslandsposten anzustreben?«

»Nein«, gestand sie widerwillig.

»Ein Kollege in Übersee hat mir seine Wohnung in Islington überlassen. Davor hatte ich ein Cottage auf dem Land gemietet, doch die tägliche Fahrerei war mir zuviel.«

»Also kein Wohnungsproblem. Sie haben großes Glück, meine Liebe …« Wenn er das noch einmal sagt …

»Persönliche Probleme?« Das klang mißtrauisch. Seiner Überzeugung nach neigten Frauen zu solchen Dingen.

»Nein!« fauchte sie.

»Dann, Miss Mitchell, sehe ich bei Ihnen wirklich keinen Grund für eine bevorzugte Behandlung. Aber seien Sie guten Mutes. Ihre Arbeit auf Ihrem früheren Posten wurde glänzend beurteilt, und Ihr Job hier mag zwar nicht aufregend sein, aber er ist wichtig. Auch die versehen ihren Dienst, die nur dastehen und warten, denken Sie dran.« Jetzt reichte es Meredith. Sie stand auf. Sie war einssiebenundsiebzig groß und überragte seine sitzende Gestalt beträchtlich, was sie sehr befriedigend fand. Er sah ziemlich erschrocken aus.

»Sie mögen ja damit zufrieden sein, bis zu Ihrer Pensionierung hinter Ihrem Schreibtisch vor sich hin zu rosten. Aber ich will raus und etwas tun, bevor ich ins Gras beiße.« Sein rosiges Gesicht verfärbte sich puterrot.

»Ich glaube kaum, daß es sinnvoll ist, dieses Gespräch fortzusetzen«, knurrte er wütend und klappte die Akte zu. Mit dieser Geste schlug er gleichzeitig die Tür für einen Auslandsposten zu, das wußte sie. Wußte auch, daß sie sich das selbst zuzuschreiben hatte. Hol’s der Teufel!

»Nein, das ist es in der Tat nicht!« fauchte sie und stolzierte hinaus. Eingezwängt in einer überfüllten, stickigen U-Bahn, ließ Meredith diese Auseinandersetzung noch einmal an sich vorüberziehen und fühlte nur Zorn und Verzweiflung. Der Zorn richtete sich jetzt nicht auf ihren Gegner, sondern auf sich selbst. Sie hätte es kaum schlechter anfangen können. Ausgerechnet sie, ein Mensch, der viele schwierige Situationen mit Takt und Diplomatie gemeistert hatte. Ich bin erledigt, dachte sie düster. Das bringt mir einen dicken schwarzen Tadel ein. Jetzt krieg ich nie wieder einen Auslandsposten. Bleibe für den Rest meines Lebens Pendlerin. Jemand trat ihr auf den Fuß, und jemand anderes stieß ihr den Ellenbogen schmerzhaft in die Rippen. Oh, aus diesem täglichen Gedränge wieder draußen sein. Oh, irgendwo anders sein, egal wo. Sie bedauerte jetzt, den Mietvertrag für Rose Cottage gekündigt zu haben, obwohl sich das Haus als zu unpraktisch erwiesen hatte. Wenn sie schon nicht in Übersee sein konnte, dann wäre sie gern wieder in einer ländlichen Gegend Englands. Sie dachte an Alan und beneidete ihn. Er lebte in Bamford, einem hübschen kleinen Städtchen, umgeben von ländlichem Frieden und ländlicher Weite, und konnte dort außerdem einen lohnenden Beruf ausüben, der Abwechslung bot und gelegentlich unerwartete Gefahr. Darüber hinaus war es kurz vor Ostern. Frühling auf dem Land bedeutete wirklich neues Leben, das aus der kalten Erde sproß.

Es roch irgendwie merkwürdig im Haus, obwohl – was ihm im Treppenhaus aufgefallen war – jemand im oberen Stock ein Fenster geöffnet hatte. Wahrscheinlich einer der jüngeren Constables, ein armer Kerl, der es nicht gewohnt ist, den äußerlichen Zeichen der Sterblichkeit so nahe zu sein, dachte Alan Markby, als er die knarrende, teppichlose Treppe hinaufstieg, wobei er wegen etwa vorhandener Fingerabdrücke darauf achtete, das Geländer nicht zu berühren. Genauso achtete er darauf, die Wände nicht zu streifen, denn sie waren schmierig und starrten vor Schmutz.

Er erschien erst spät auf der Szene, da man ihn vom anderen Ende seines Bezirks herbeigerufen hatte. Die ersten Arbeiten würden bereits erledigt sein, und die Ambulanz vor dem Haus wartete nur darauf, daß er kam und sich die Leiche ansah, bevor sie weggebracht wurde. Auf der anderen Straßenseite hatte sich eine kleine Gruppe Neugieriger versammelt. Unter ihnen war mindestens ein echter Nekrophiler. Es gab gewöhnlich einen, der das Polizeipersonal aufhielt und nach den gräßlichen Einzelheiten fragte. Manchmal gaben sich die jämmerlichen Widerlinge als Journalisten aus.

Wild. Dem kam der Geruch am nächsten. Birkhuhn oder Fasan, gut abgehangen, mischte sich hier mit Staub, feuchtem Schimmel und allgemeiner Verwesung. Ganz offensichtlich handelte es sich um ein besetztes Haus. Die Reihenhäuser hier sollten abgerissen und durch einen niedrigen Wohnblock ersetzt werden. Das Nebenhaus war noch bewohnt, was sehr nützlich sein konnte, weil der Nachbar vielleicht Auskunft geben konnte. Doch das Haus, in dem er sich aufhielt, hatte theoretisch leergestanden, die unteren Fenster und die Tür waren mit Brettern vernagelt. Trotzdem waren die Hausbesetzer hineingekommen.

Hinter der Tür, am oberen Ende der Treppe, hörte Markby Stimmengemurmel. Er stieß die Tür auf, und die Gesichter wandten sich ihm zu.

»Oh, da sind Sie ja, Sir«, sagte Sergeant Pearce erleichtert. Auch er wollte weg von hier. Der Gestank war in diesem Raum intensiver. An der Tür stand ein junger, schwitzender, grüngesichtiger Constable. Es war heiß und stickig im Zimmer. Durch das warme Wetter hatte der Verwesungsprozeß bei dem Ding auf dem Bett noch schneller eingesetzt.

»Tut mir leid, daß ich so spät komme«, sagte Markby und meinte es ernst, da sie unverkennbar alle litten.

»Dr. Fuller mußte fort, konnte nicht auf Sie warten, Sir. Er hatte noch einen anderen Termin.«

»Ist schon in Ordnung. Ich werde zweifellos von ihm hören.«

»Sie haben ihre Fotos gemacht«, fuhr Pearce fort und wies auf die beiden unglücklichen Polizeifotografen.

»Könnten Sie …«

»Was? O ja, ihr beiden könnt euch trollen.« In ihrer Hast stießen sie in der Tür zusammen und stürmten dann mit ihren Apparaten die Treppe hinunter.

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Markby resigniert. Pearce schlug das Laken zurück, mit dem die Leiche pietätvoll zugedeckt war. Er sagte nichts. Markby sagte:

»Sie muß hübsch gewesen sein – früher.« Sie war nicht älter als ein- oder zweiundzwanzig. Ihre Augen waren starr geöffnet und von mattvioletter Farbe. Sie trug ein schmutziges T-Shirt und an den Knien abgeschnittene, ausgefranste Jeans. Das T-Shirt war hochgeschoben worden, vermutlich von Dr. Fuller, der sie untersucht hatte, und das eingesunkene Fleisch unter den Rippen sah merkwürdig grau aus. Ihr linker Arm war mit dem Handteller nach oben gedreht und von unten bis oben mit roten Flecken, Kratzern und purpurnen Blutergüssen bedeckt, die durch die Sprenkelung der sich zersetzenden Haut allmählich undeutlich wurden.

»Wer hat sie gefunden?«

»Ein Typ von nebenan.« Pearce zeigte auf die Trennwand zwischen den beiden Reihenhäusern.

»Er hat sich um das Haus gekümmert, hatte Angst vor Feuer. Dachte, es stehe leer, und kam nachsehen, wieviel Schaden die letzten Obdachlosen angerichtet hatten. Ach, hier ist die Nadel, lag neben dem Bett auf dem Boden.« Pearce hielt eine Plastiktüte in die Höhe, die eine Injektionsspritze enthielt. Scheußliches Ding, dachte Markby. Laut fragte er:

»Wie lange ist sie schon tot? Hat Fuller einen ungefähren Zeitpunkt genannt?«

»Zwei, drei Tage, nach dem ersten Eindruck.«

»Keine Spur von dem Zeug, das sie sich gespritzt hat?«

»Nein. Es haben noch andere hier gewohnt, sagt der Nachbar, aber in den letzten Tagen war es sehr still im Haus, und er hat gedacht, sie wären alle gegangen. Sieht so aus, als hätten sie, als sie das Mädchen gesehen haben, einen Schreck gekriegt und gemacht, daß sie wegkamen.«

»Wir werden viel Glück brauchen, um sie zu finden«, sagte Markby grollend.

»Es sei denn, der Nachbar hat ein paar Namen gekannt. Unwahrscheinlich.«

»Es ist wirklich komisch, aber sie hat er tatsächlich gekannt …« Pearce zeigte auf die Tote.

»Als ich kam, hat er mir gleich gesagt, daß es Lindsay Hurst ist. Er hatte Lindsay ein paar Wochen lang im Haus ein- und ausgehen sehen und war überrascht, denn ihre Familie ist hier ansässig und durchaus respektabel. Er hätte nie für möglich gehalten, daß Lindsay so enden würde. Das ist alles, was er ausgesagt hat.«

»So etwas ist ja nicht zum ersten Mal passiert. Weiß Ihr Informant, wo die Hursts wohnen?«

»Ja, irgendwo in der Kitchener Close. Die Zahl der Leute, die hier untergekrochen sind, war unterschiedlich. Er hat auch gesagt, er habe sich bei der Polizei und beim Stadtrat beschwert, aber es sei nichts getan worden. Sie wissen, wie schwierig es ist, Hausbesetzer zu vertreiben. Der Stadtrat will sie wahrscheinlich bis zum Herbst dulden, denn dann kommt ohnehin die Abreißkolonne.« Markby brummte etwas.

»Jemand wird in die Kitchener Close gehen und es ihren Eltern sagen müssen. Ich übernehme das, da Sie hier festgesessen und auf mich gewartet haben. Jetzt bin ich an der Reihe, die unangenehme Arbeit zu tun. Alles in Ordnung?«

»Hab mich dran gewöhnt«, sagte Pearce mit einem schiefen Lächeln. Markby sah den Constable an.

»Wollen Sie an die frische Luft?«

»Bitte, Sir.«

»Dann ab mit Ihnen. Sagen Sie den Leuten von der Ambulanz, sie können raufkommen und sie holen.« Nachdem der Constable geflüchtet war, schaute Markby sich noch einmal im Raum um. Das Bett war das einzige richtige Möbelstück, und auch das sah aus, als stamme es von einer Müllhalde. Auf dem Boden stand ein rostiger Campingkocher. Die anderen Bewohner mußten ihn in ihrer Panik zurückgelassen haben. In einer Ecke stapelte sich Abfall – Flaschen, Schachteln, Papier, leere Dosen, noch eine Spritze … Sie würden alles genau untersuchen müssen. Die Furcht des Nachbarn vor Brandgefahr war nicht unberechtigt gewesen. Er mußte an die ehrbaren Doppelhäuser in der Kitchener Close denken, woher das tote Mädchen gekommen war, und fragte laut und staunend:

»Wie hat sie es nur in diesem Dreck ausgehalten? Zu stolz, um nach Hause zu gehen? Oder zu tief gesunken?«

»Ich habe angerufen und sie überprüfen lassen, bevor Sie kamen, Sir. Sie war bereits als Drogenabhängige registriert und wurde mit einer Ersatzdroge versorgt. Doch offensichtlich bekam sie den ›echten‹ Stoff von anderswo. Dr. Fuller sagt, es sieht so aus, als hätte sie eine ordentliche Dosis genommen, und wenn diese leeren Weinflaschen dort drüben bedeuten, daß sie und die andern getrunken haben, hatte sie nicht die geringste Chance.« Pearce machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Man würde doch denken, nicht wahr, daß sie, wenn sie abhängig sind, nicht in einem so ruhigen Provinzkaff wie Bamford rumlungern, sondern in irgendeine große Stadt abhauen, wo das Zeug leichter zu kriegen ist.«

»Ruhig, ja. Provinziell, wahrscheinlich. Aber kein Kaff«, sagte Markby. Er liebte Bamford.

»Es überrascht mich auch nicht. Nichts in diesem Land überrascht mich noch.« Pearce bemühte sich, die Sache positiv zu sehen.

»Häßliche Geschichte, aber einfach und gradlinig in ihrer Art. Ich nehme an, man wird auf gewaltsamen Tod ohne Nennung der Ursache befinden. Als der Anruf kam, dachte ich, wir hätten es mit einem Mord zu tun, doch das trifft nicht zu.« Pearce schlug mit der flachen Hand nach den Fliegen, die sich in der Luft sammelten und bedrohlich summend über dem Bett hingen.

»Trifft nicht zu?« fragte Markby kalt.

»Vielleicht nicht nach Ansicht des Coroners. Meiner Ansicht nach hat sie derjenige getötet, der sie mit Drogen belieferte. Und wir müssen ihn finden, bevor noch ein junger Mensch stirbt.«

»Iß auf, Jess. Was du auf deinem Teller hast, ist nicht einmal genug, um einen Spatzen am Leben zu erhalten.«

»Ich habe keinen Hunger, Ma. Hab genug gegessen, ehrlich.«

»Unsinn. Du ißt noch eine Kartoffel, hier!« Unnachgiebig knallte Mrs. Winthrop noch eine Bratkartoffel auf den Teller ihrer Tochter.

»Eine mehr wird dich nicht umbringen.« Jessica Winthrop zuckte wie im Krampf zusammen. Sie schaute auf die Kartoffel hinunter, die in ihrer krossen, fetten Schale rotgolden glänzte und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Neben ihr räumte ihr Bruder Alwyn eifrig eine riesige Portion von seinem Teller ab. Alwyn war ein großer und breiter Kerl und arbeitete hart; kein Wunder, daß er aß wie ein Pferd. Die unerwünschte Knolle anstarrend, fragte sich Jessica, wie sie sie dazu bringen konnte, sich in Luft aufzulösen. Alwyn wischte den letzten Soßenrest mit einem riesigen Brocken Brot ab, warf ihr von der Seite her einen Blick zu und blinzelte. Er wußte, was sie dachte.

»Kannst du noch eine Tasse Tee aus der Kanne melken, Elsie?« fragte George Winthrop, der am Kopfende des Tisches saß – eingezwängt in einen uralten geschnitzten Sessel. Man sah nichts von ihm, außer seinem kahlen Kopf und den Spitzen seiner kurzen, dicken Finger, die sich um die Titel- und die letzte Seite der aufgeschlagenen Zeitschrift Farmers’ Weekly krümmten. Jessica fand, daß ihr Vater, nicht gewohnt, mit Büchern umzugehen, seine Zeitschrift immer so fest umklammerte, als könnte sie ihm ausreißen. Sie war das belesene Mitglied der Familie, ein Unikum unter den Winthrops. Man hatte ihr Anderssein immer toleriert, bis für sie alles schiefgegangen war. Mrs. Winthrop hatte den Deckel einer großen, braunen irdenen Teekanne gehoben und brütete über dem Inhalt wie ein heidnischer Priester über den Innereien eines Opfers.

»Sie braucht noch einen Tropfen Wasser.« Sie stand auf und ging zum Herd. Kaum kehrte sie ihnen den Rücken, gabelte Alwyn hastig die unerwünschte Knolle vom Teller seiner Schwester und aß sie auf, bevor die Mutter zurückkam. Jess lächelte ihm dankbar zu.

»Na also«, sagte Mrs. Winthrop, als sie mit dem frischen Tee zurückkam. Mit einem anerkennenden Nicken schaute sie auf den leeren Teller ihrer Tochter.

»Hast es doch geschafft, sie zu essen. War doch wohl nicht schlimm, oder?«

»Nein, Ma.«

»Wenn du nicht richtig ißt, mein Mädchen, wirst du wieder krank wie – nun ja, wie du’s schon warst.« Jessica sagte nichts. Sie verstanden nicht, was ein Nervenzusammenbruch war, und sie hatte den Versuch aufgegeben, es ihnen zu erklären. Ihrer Ansicht nach wurde ein Mensch krank, weil er nicht genug aß, sich nicht warm genug anzog oder das Pech hatte, sich eine der üblichen fieberhaften Erkrankungen einzufangen. Den Kranken mit Essen vollstopfen und mit Wick einreiben, und all diese Leiden kurierten sich praktisch von selbst. Ein schwächliches und kränkliches Kind, hatte sie, wo immer sie auftauchte, der durchdringende Geruch von Wick umweht. Ihr Bruder hätte sie vielleicht verstanden, doch sie wollte ihn nicht belasten, da er eigene Sorgen hatte. Er hatte nie darüber gesprochen, aber sie fühlte es. Sie hatten einander immer nahegestanden.

»Du liest zu viele Bücher«, sagte ihr Vater, legte seine Farmers’ Weekly beiseite und nahm die Brille ab (von seinem Vater ererbt und gut genug, er brauchte kein gutes Geld für eine neue auszugeben). Er griff nach seinem Becher.

»Das ist der ganze Kummer mit dir und war es schon immer. Nicht genug frische Luft und immer die Nase in einem Buch. Kriegen wir denn heute keinen Pudding?«

»Wart eine Minute, George Winthrop! Es gibt Apfelstreusel, und rümpf ja nicht die Nase, Jessica.«

»Nein, Ma. Soll ich ihn auftragen?« Wenn sie Glück hatte, gelang es ihr vielleicht, sich selbst nur eine winzige Portion auf den Teller zu tun.

»Mach nur. Und hol den Sahnekrug. Er steht auf der Anrichte.« Jessica durchquerte die vertraute bäuerliche Küche. Jeder Winkel, jede Ritze, jeder Trichter, der bei der Anrichte an einem Nagel hing, bis zu den Kupferpfannen an der Wand, waren ein Teil ihrer Kindheitserinnerungen und hatten dazu beigetragen, daß sie der Mensch wurde, der sie jetzt war. Doch die Erinnerungen brachten keine Wärme mit sich. Sie hatte oft ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie für die Steine und den Mörtel ihres Elternhauses nur wenig Zuneigung empfand. Das Leben auf einer Farm hätte Glück und Sicherheit bedeuten sollen, hatte es jedoch nie getan. Sie war so glücklich gewesen, als sie fortging, um ein weit entferntes College zu besuchen. Aber am Ende war sie doch nur wieder hier gelandet. Manchmal hatte sie das Gefühl, mit einem Gummiseil an die Farm gefesselt zu sein. Sie konnte nur bis zu einem gewissen Punkt weglaufen, dann riß es sie wieder zurück. Schlimmer noch, seit ihrer Krankheit machte ihr der Gedanke angst, die Farm zu verlassen, so daß sie zwischen widerstreitenden Gefühlen gefangen war wie zwischen Scylla und Charybdis. Sie wußte genau, daß die Dinge, denen sie in der Außenwelt gegenübertreten mußte, nur kleine Probleme waren; doch sie kamen ihr wie schreckliche Hindernisse vor und ließen es nicht zu, daß sie einen Neubeginn auch nur versuchte. Je länger sie blieb, um so schlimmer wurde es. Doch sie konnte nicht gehen. Nichts von alledem konnte sie ihren Eltern erklären, deren Leben sich um Greyladies Farm drehte und die hier alles fanden, was sie suchten. Sie unterwarfen sich bei allem, was sie taten, den Notwendigkeiten des bäuerlichen Jahres, und die Welt draußen bedeutete ihnen wenig. Sie kannten sie nicht, und sie interessierte sie noch weniger. Nur Alwyn hätte Jessica verstehen können, doch sie sprachen nie darüber. Allein Jamie hatte es geschafft, für immer fortzugehen und draußen ein erfolgreiches Leben zu führen, weit weg von Greyladies. Aber es hatte Jamie nie etwas ausgemacht, Menschen zu verletzen. Jessica wünschte oft, sie hätte etwas von der berüchtigten Rücksichtslosigkeit der Winthrops geerbt. Jamie mußte außer seinem auch ihren Anteil bekommen haben. Jessica zog dicke Küchenhandschuhe an, bückte sich und nahm die große runde Backform mit dem Apfelstreusel aus dem Ofenrohr. Als sie sich aufrichtete, begann im Nebenzimmer das Telefon zu läuten.

»Ich gehe«, sagte Alwyn, stand auf und schob sich an ihr vorbei. Er hatte immer Schwierigkeiten, durch die niedrigen Türen zu kommen, die aus einer weit zurückliegenden Zeit stammten, in der die Menschen viel kleiner waren. Er mußte einen Buckel machen und den Kopf einziehen, um nicht anzustoßen. Jessica stellte das mit Streuseln überbackene Apfeldessert auf die Marmorplatte des Tischs bei der Tür und verteilte mit dem Löffel Portionen auf die blauweißen Teller. Nun ja, auf die blau und gelblich weißen Teller mit den zahlreichen Sprüngen in der Glasur und den abgestoßenen Rändern. Man kaufte auf der Farm kaum einmal etwas Neues.

»Sind doch noch gut, die Teller«, hatte Mrs. Winthrop gemeint, als Jessica vorgeschlagen hatte, sie könnten vielleicht wegen der Hygiene …

»Wenn du sie richtig spülst, machen ein paar Sprünge nichts aus.« Um die Wahrheit zu sagen, so war natürlich für neue Teller ebensowenig Geld da wie für irgend etwas Neues. Während sie dicht neben der offenen Tür arbeitete, hörte sie, was Alwyn nebenan am Telefon sagte. Offensichtlich galt der Anruf ihm, und sie hätte nicht gelauscht, aber etwas in seiner Stimme, etwas beinahe verstohlen Schuldbewußtes, weckte ihre Aufmerksamkeit.

»Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht anrufen«, flüsterte er heiser.

»Ja, ich weiß … Nun, ich hatte noch keine Gelegenheit … Außerdem ist es nicht an mir, etwas zu sagen!« Beim letzten Satz hob sich Alwyns Stimme fast zu einem gedämpften Schrei. Es folgte ein langes Schweigen und dann Alwyns zornige Antwort:

»Ich habe es dir schon einmal gesagt – wenn ich kann.« Der Hörer knallte auf die Gabel, und Alwyn kam mit einem Gesicht zurück, das fast so rot war wie sein Haar.

»Wer war das denn?« fragte seine Mutter.

»Der Wirt vom Fox and Hounds, der wissen wollte, ob ich nächsten Mittwoch beim Darts-Team mitmache. Ich habe ihm schon vor einer Woche oder noch früher gesagt, ich kann ihm nicht garantieren, daß ich wieder spiele.« Jessica trug die Teller mit dem Apfelstreusel zum Tisch und dachte: Alwyn war noch nie ein guter Lügner. Ihre Blicke trafen sich, als sie ihm den Teller hinstellte, und er sah sie herausfordernd an. Sie respektierte seine Privatsphäre und hätte ihn nicht mehr nach dem Telefonanruf gefragt, hätte sie ihn am Nachmittag nicht allein erwischt. Sie hatte der Mutter beim Tischabräumen und beim Abspülen geholfen und war dann hinausgeschickt worden.

»Damit du an die frische Luft kommst, und nimm ja kein Buch mit, mit dem du dich irgendwo verkriechst.« Also hatte sie Sattel und Zaumzeug aus der Scheune geholt und hatte sich aufgemacht, Nelson auf seiner Koppel einzufangen. Dort stieß sie unerwartet auf ihren Bruder, der auf einer niedrigen, bröckelnden Mauer saß, Teil einer Ansammlung von Steinen in der Mitte der Koppel. Ihm zu Füßen lag der Schäferhund Whisky und hechelte mit der rosa Zunge in der Hitze, während er auf Befehle wartete. Alwyn saß vornübergebeugt da, die Arme auf den Knien, tief in Gedanken. Er hatte die kräftigen, sonnenverbrannten Hände locker gefaltet, und der Schirm seiner Tweedmütze beschattete sein Gesicht. Jessica legte Sattel und Zaumzeug auf den Boden und setzte sich neben Alwyn auf die Mauer. Nelson weidete in ihrer Nähe, behielt sie jedoch im Auge, weil er den Sattel gesehen hatte.

»Das Pony ist so verdammt fett«, sagte Alwyn.

»Bald wirst du ihm den Sattelgurt nicht mehr umlegen können.«

»Ich bewege ihn jeden Tag.«

»Frißt sich um Sinn und Verstand. Ein nutzloses, stinkfaules Vieh.«

»Halt den Mund, Alwyn. Das sagst du nur, um mich zu ärgern.« Er grinste, und sie fuhr fort, um es ihm heimzuzahlen:

»Und warum hast du am Telefon so geflüstert? Erzähl mir bloß nicht, daß es der Wirt vom Fox and Hounds war!« Sein Grinsen verschwand, und er machte ein finsteres Gesicht.

»Nein, ’s war Dudley Newman.« Jetzt runzelte sie verblüfft die Stirn.

»Der Baumeister? Was wollte er?«

»Dasselbe, was er wollte, als er vor einiger Zeit hier aufgekreuzt ist.«

»Unser Land kaufen?« Sie warf das lange blonde Haar zurück.

»Dad hat ihm doch gesagt, daß er Greyladies nicht verkauft.« Alwyn knurrte etwas.

»Also warum hat er dich angerufen?« Sie blieb hartnäckig.

»Woher soll ich das wissen?«

»Alwyn! Ich will es wissen. Hast du mit Newman irgendein Komplott ausgeheckt?«

»Nein!« fauchte er.

»Wie könnte ich? Ich habe nicht das letzte Wort. Aber ich habe gesagt, daß ich – wenn Dad es sich anders überlegt – an einem Verkauf interessiert wäre, sofern der Preis stimmt.« Er unterbrach sich, als sei er über seine eigene Courage erschrocken.

»Komm, Jess, warum denn nicht? Du würdest deinen Anteil bekommen, und wir könnten von hier weg.« So offen hatte er mit ihr noch nie über dieses ärgerliche Thema gesprochen.

»Sie würden nicht von hier fortgehen.«

»Nein.« Er seufzte.

»Das würden sie nicht.«

»Und wenn du hinter Dads Rücken mit Dudley Newman kungelst, kommt er bald dahinter. Du kannst nicht gut lügen, Alwyn. Nicht wie Jamie.« Sein Kopf fuhr herum.

»Wieso erwähnst du ihn?«

»Vor ein paar Tagen ist doch ein Brief von ihm gekommen, oder? An Dad und Ma adressiert. Er hat auf dem Küchentisch gelegen, aber Ma hat ihn rasch verschwinden lassen, damit ich ihn nicht sehe.«

»Nicht rasch genug, wie es scheint«, lautete der lakonische Kommentar.

»Kommt er nach Hause?«

»Der Brief war nicht an mich«, sagte er ausdruckslos. Eine Weile saßen sie schweigend da und ließen sich die Sonne auf den Rücken scheinen. Der Hund war, die Nase auf den Pfoten, eingeschlafen, und Nelson, zufrieden, daß er nicht eingefangen und gezwungen werden sollte, sich zu bewegen, hatte sich in die entfernteste Ecke der Koppel verzogen.

»Seltsames altes Gemäuer«, sagte Alwyn plötzlich und schlug mit der Hand auf die bröckelnde Mauer, auf der sie saßen.

»Könnte uns viele Geschichten erzählen, wetten daß?«

»Ich finde diese Ruinen gruselig«, sagte Jessica schroff.

»Denkst wohl, daß ein paar Gespenster aus den alten Steinen herausspringen, ja?« zog er sie auf.

»Würde mich nicht überraschen. Hier ist einmal ein Verbrechen verübt worden.«

»Wie meinst du das?« Er wandte den Kopf und spähte mit einem stechenden Blick seiner grauen Augen unter dem Mützenschirm hervor.

»Der Brand im Versammlungshaus. In dieser alten Ruine.«

»Guter Gott, Mädchen, ich hab mich schon gefragt, wovon du redest«, sagte er wegwerfend.

»Das war kein Verbrechen. Eher ein Unfall.«

»Brandstiftung ist ein Verbrechen.«

»Wer sagt denn, daß es Brandstiftung war? Es ist länger als hundert Jahre her, und niemand weiß es genau. Nur ein bißchen Geschichte, dieses alte Gemäuer, sonst nichts.«

»Es ist ein unheilvoller Ort«, sagte sie leise.

»Ich spüre das Unglück förmlich, es sickert aus den Steinen.«

»Unsinn. Fang nicht an, dir was einzubilden.«

»Es liegt Unheil in der Luft.« Jessica blickte, während sie sprach, über das Feld zu dem Turm der Kirche von Bamford, der am Horizont aufragte.

»Was soll denn das heißen? Manchmal redest du wirklich närrisch daher, Jess. Wenn du anfängst solches Zeug vor Ma zu verzapfen, schleppt sie dich wieder zu Dr. Pringle.«

»Ich habe in der Gazette das mit Lindsay gelesen.«

»Oh, das! Ich wußte nicht, daß du sie gekannt hast.« Alwyn schien verärgert und verunsichert.

»Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich dafür gesorgt, daß die Gazette verschwindet, bevor du sie findest.«

»Ich wünschte, du würdest aufhören, mich zu beschützen!« schrie sie. Er antwortete nicht, und sie fuhr steif fort:

»Wir waren vor Jahren Chormädchen, Lindsay und ich. Sie war ein so fröhliches, freundliches Mädchen. Jetzt ist sie tot und auf so schreckliche Weise gestorben.«

»Denk nicht mehr dran«, riet er ihr barsch.

»Das alberne kleine Ding hat es selbst getan. Hat keinen Sinn, sich deshalb aufzuregen.« Er stand auf, und der Hund wurde wach und wedelte mit dem buschigen Schwanz. Sogar Nelson schien zu merken, daß die friedliche Pause zu Ende war. Er warf den Kopf zurück und wieherte schrill.

»Ich habe zu tun«, sagte Alwyn.

»Versuch ja nicht, mit dem Pony über Hecken zu springen. Mit dem Fett, das es herumschleppt, wird es sie direkt durchpflügen, und ich muß sie dann wieder flicken.«

»Das habe ich nie getan, wie du sehr genau weißt.« Sie schulterte den Sattel und überquerte zielstrebig die Koppel.

»Gespenster, das Unheil«, murmelte Alwyn vor sich hin und versetzte dem nächstbesten halb im Gras vergrabenen Stein des geschwärzten Mauerfundaments einen Tritt.

»Sie gehören ganz einfach zur Farm wie du und ich, Junge.« Der Hund blickte auf, spitzte die Ohren, die Augen wachsam und neugierig.

»Genau wie du und mein verdammtes Ich«, wiederholte Alwyn mürrisch.

»Ich könnte diesen alten Brocken das oder jenes über das Unglücklichsein erzählen. Gib mir eine Schachtel Streichhölzer, und ich brenne mir nichts, dir nichts die ganze verdammte Farm nieder.« KAPITEL 2

»Beton, Asphalt und Ziegel, das wird alles sein, was bleibt«, sagte Alan Markby mißmutig.

»Das ganze Land total verbaut, von Küste zu Küste.« Er gab diese traurige Erklärung sich selbst, als der Wind ihm in das glatte blonde Haar fuhr und wild daran zauste. Erbittert schob er die Hände in die Taschen seines abgetragenen olivgrünen Parkas und betrachtete finster die Szenerie, ehe er sich auf einen Baumstumpf setzte und einen Riegel Schokolade aus der Tasche nahm. Er aß nicht besonders viele Süßigkeiten, aber es war ihm zu mühsam gewesen, sich ein Sandwich zu machen. Er hatte nur die Schokolade in die Tasche gesteckt und war zu seinem Spaziergang aufgebrochen. Er hatte hinaus müssen – hinaus aus dem Büro, hinaus aus dem Revier. Wie Pearce prophezeit hatte, war im Fall Lindsay Hurst bei der gerichtlichen Untersuchung auf gewaltsamen Tod ohne Nennung der Ursache erkannt worden. Markby hatte nichts anderes erwartet. Sie hatten es versucht, aber bisher die Mitbewohner des toten Mädchens nicht gefunden. Und da sie nicht einmal einen einzigen Namen hatten, stand so gut wie fest, daß sie sie nie finden würden. Viel wichtiger war, festzustellen, woher Lindsay die tödliche Drogendosis bekommen hatte. Heroin hatte ihr kurzes Leben beendet, und bis vor kurzem hatten sie in dieser Gegend kaum mit Drogen zu tun gehabt. Wieder hatte Pearce recht behalten. Auf Cannabis stießen sie recht häufig, doch in letzter Zeit waren immer öfter härtere Drogen im Spiel und bereiteten der örtlichen Polizei erhebliche Kopfschmerzen. Stur hatte er das ganze Wochenende an dem Fall gearbeitet, war jedem Hinweis nachgegangen und hatte sein Bestes getan, um Wellen zu schlagen, denn Wellen spülten oft unerwartete Funde an. Diesmal jedoch nicht. Bei den Befragungen in den Pubs, in denen das Mädchen verkehrt hatte, war er auf eine Mauer der Ablehnung gestoßen, niemand hatte helfen wollen. Und selbst wenn sie diesen oder jenen Dealer aus dem Verkehr gezogen hätten, hätte das wenig bewirkt. Sie mußten der Big Boys habhaft werden, die hinter dem schmutzigen Geschäft steckten. Was sie tatsächlich brauchten, war

»der« große Zufall. Doch da mußte schon ein Wunder geschehen, was höchst unwahrscheinlich war. Am Sonntagabend mußte er zugeben, daß sie für den Augenblick alles getan hatten, was sie konnten, und abwarten mußten, ob die Köder, die sie ausgelegt hatten, etwas Nützliches erbringen würden. Er hatte einsehen müssen, daß er müde und griesgrämig war, und hatte sich gezwungen, zuzugeben, daß er, wenn er nach diesem verlorenen Wochenende keine Pause machte, in der nächsten Woche alle anderen zum Wahnsinn treiben würde. Daher hatte er sich am Montag freigenommen und war zu einem Spaziergang über Land aufgebrochen, um sich ein paar neue Ideen in sein müdes Gehirn blasen zu lassen, hatte aber nur festgestellt, daß, von ihm unbemerkt, die Landschaft, die er kannte und liebte, völlig verändert worden war. Hier hatte eine Farm gestanden, die witzigerweise Lonely Farm geheißen hatte. Den Namen hatte man bis in die Tudorzeit zurückverfolgen können. Das Farmhaus war auf uralten Grundmauern erbaut gewesen, und die hohen, schmalen Kamine hatten aus phantasievoll verziertem Backsteinmauerwerk bestanden. Er erinnerte sich gut daran, ebenso wie er sich daran erinnerte, Cowboy gespielt und erstaunte Kühe zusammengetrieben zu haben, die gemütlich das süße Gras abgefressen hatten; auch Räuber und Gendarm hatten sie zwischen den Hecken gespielt. Alles war von Bulldozern niedergewalzt worden. Felder – von Generationen liebevoll bebaut, die Szenerie seiner Knabenabenteuer – verschwunden. Rechter Hand konnte er gerade noch die Dächer von Greyladies, der nächstliegenden Farm, ausmachen, die den Bauunternehmern noch nicht zum Opfer gefallen war, und linker Hand sah man am Horizont einen winzigen verschwommenen Fleck, Witchett Farm, die auch den Kampf gegen die vordringenden Fluten von Asphalt und Ziegeln aufgenommen hatte. Die Landschaft, an die er sich erinnerte, schien nur noch ein Traum. Vor ihm dehnte sich, soweit das Auge reichte, narbige Erde in alle Richtungen. Die großen Bäume lagen, von Maschinen entwurzelt und die Wurzeln in die Luft streckend, wie gefallene, mitleiderregende Riesen da, verstümmelt und ihrer Arme beraubt. Jene, die zwar gestürzt waren, sich aber noch mit ein paar Wurzeln an die verwüstete Erde klammerten, versuchten frisches Frühlingsgrün sprießen zu lassen, traurige kleine Ranken mit jungen Blättern an Stämmen, die große, klaffende Wunden hatten. Was man nicht zerstört hatte, war schrecklich entstellt. Der Fluß, in dem er gefischt hatte, war begradigt, verbreitert, umgeleitet und in ein Betonkorsett gezwängt worden, damit er ja nicht in sein natürliches Bett zurückfand. Die Weiden, die ihn überschattet hatten, waren verschwunden. Eine neue Straße führte ungefähr eine halbe Meile geradeaus und stieß dann jäh gegen einen Erdhügel. Wo er und seine Freunde sich in altehrwürdigen Eichen Baumhäuser und Höhlen unter Brombeersträuchern gebaut hatten, standen halbfertige Häuser, verloren unter dem Himmel jagender Wolken. Das Dröhnen schwerer Maschinen beleidigte seine Ohren. Ein Saatkrähenschwarm lärmte, vielleicht auf der Suche nach seinen verschwundenen Nestern, über seinem Kopf und flog dann, ein Gestöber schwarzer Schwingen, einem neuen Zuhause entgegen – dahin, wo die Bauarbeiter noch nichts zerstört hatten. Markby seufzte, dann hellte sich seine Miene auf. Vor ihm und ein Stückchen unterhalb des niedrigen Hügels, auf dem er saß, fuhr ein grauer Wagen mit Heckklappe langsam und vorsichtig die halbfertige Straße entlang. Er hielt an, und der Fahrer stieg aus. Ein kleiner braunweißer Hund, der aussah wie ein Jack-Russell-Terrier, sprang ebenfalls aus dem Wagen und begann scheinbar ohne Sinn und Zweck auf dem Asphaltstreifen hin- und herzurasen, tauchte dann in einen Graben ein und verschwand. Der Fahrer griff in den Wagen, zog einen großen Bogen Papier heraus, den er nicht ohne Schwierigkeiten auf der Motorhaube ausbreitete. Der Wind fing sich darin und drohte das Papier wegzuzerren. Es wölbte sich und schlug dem Mann ins Gesicht, während er versuchte, es zu studieren. Der Beobachter konnte sich sehr gut vorstellen – wenn er es auch nicht hörte –, wie der andere fluchte. Markby lächelte. Er steckte den Rest des Schokoriegels in die Tasche und stand auf. Sogar aus dieser Entfernung hatte er Herrn und Hund erkannt und stieg, auf dem nassen Gras und dem aufgeweichten Boden ausrutschend, den Hügel hinunter. Unten angelangt suchte er sich seinen Weg über die aufgewühlte Erde, und als er in Rufweite war, wölbte er die Hände vor dem Mund und rief:

»Steve!« Der Mann mit der Karte blickte auf, hob voreilig eine Hand und winkte. Der Wind nutzte seine Chance. Das Papier wurde weggerissen und tanzte, von Steve Wetherall verfolgt, wie närrisch die Straße entlang. Patch, der Hund, flog wie ein Gummiball aus dem Graben und raste auf seinen kurzen Beinen hinter den beiden her, ganz offensichtlich der Meinung, daß dieses herrliche Spiel ausschließlich für ihn inszeniert wurde. Markby wartete am Wagen, bis Steve zurückkam – fluchend, keuchend und mit feuerrotem Gesicht, aber immerhin die kläglich zerdrückte und schmutzig gewordene Karte umklammernd. Er schmiß sie in den Wagen und warf die Tür zu.

»Was machst du denn hier draußen?« fragte er heiser, als er sich aufrichtete.

»Ich gehe spazieren.« Markby bückte sich zu Patch hinunter, der näher trottete, einen Freund erkannte, grinsend und mit heraushängender roter Zunge an ihm hochsprang; seine Pfoten tätowierten dabei Markbys Hose freigebig mit Schlamm.

»Ich werfe einen letzten Blick auf die Überreste dessen, was einst eine blühende Landschaft war, ehe du und deine Helfershelfer auch noch das letzte Stück umgraben und mit einer Ladung Beton zuschütten.«

»Fortschritt, mein Alter, das ist der Fortschritt. Die Menschen müssen irgendwo wohnen.«

»Nicht hier, das müssen sie nicht. Meiner bescheidenen Meinung nach ist das ein riesiges Geschwür. Bamford war einmal ein hübsches, kleines Marktstädtchen. Du und deine Bauunternehmer-Freunde haben schon fast alles kaputtgemacht. Hier war früher Lonely Farm. Weißt du noch, Steve? Du mußt es wissen! Erinnerst du dich denn nicht mehr an die Zeit, als wir beide bei den Brombeersträuchern gespielt und im Fluß kleine Fische gefangen haben?« Wetherall schnaubte verächtlich.

»Sentimentales Geschwafel. Ja, ich erinnere mich. Natürlich stimmt es mich traurig, das alles verschwinden zu sehen. Aber die Zeiten ändern sich. Intelligente Menschen ändern sich mit ihnen. Manche werden natürlich nie erwachsen und spielen ihr Leben lang Räuber und Gendarm.« Steve warf Markby einen bedeutsamen Blick zu.

»Geld spricht, meinst du. Der Preis für das Land, das ist es. Die Leute lockt das schnelle Geld.«

»Nein, so ist es nicht – nicht ganz.« Steve drehte sich um und zeigte mit einer umfassenden Geste zum Horizont.

»Farmer gehen im ganzen Land pleite. Viele können es gar nicht erwarten, ihre Farmen aufzugeben, und beten praktisch darum, daß jemand kommt, der ihnen eine guten Preis für ihr Land bietet, um es zu erschließen. Gib nicht den Planern, Architekten und Bauunternehmern die Schuld. Schuld sind die Zinssätze, die gestrichenen Subventionen, die Milchquoten, der Rinderwahnsinn, Traberkrankheit oder Salmonellen – alles eben, was die Preise drückt oder ins Bodenlose fallen läßt – , ganz zu schweigen von der Plackerei tagein, tagaus und der Einsamkeit der modernen Farmarbeit. Weißt du, wie viele Farmer an Depressionen leiden? Vor fünfzig Jahren war eine Farm eine blühende Gemeinde, beschäftigte zig Arbeiter und bot ihren Familien Unterkunft. Jetzt werden die meisten von einem Mann und seiner Frau betrieben, unterstützt von einem Hund und einem PC.«

»Du kannst mir nicht einreden, daß es bei allen so ist.«

»Nein, bei allen natürlich nicht. Es ist wie in anderen Betrieben auch. Einer scheitert, ein anderer hat Erfolg. Nur keine Sorge, es werden noch immer genug Farmen übrig sein, nachdem Planer und Baumeister vorbeigezogen sind. Schau mal dort drüben – Witchett Farm. Sie gehört Mrs. Carmody. Die wird nie aufgeben. Und Greyladies Farm – auch die Winthrops werden – durchhalten. Obwohl ich den Verdacht habe, daß Alwyn verkaufen würde, wenn er könnte.«

»Ich habe Alwyn seit Urzeiten nicht mehr gesehen«, stellte Markby fest.

»Seinen Bruder Jamie auch nicht. Als Kinder waren wir dicke Freunde.«

»Jamie ist schon vor Jahren abgehauen und arbeitet irgendwo im Ausland. Alwyn als der ältere hat den kurzen Strohhalm gezogen und mußte bleiben. Das Mädchen ist vor nicht allzulanger Zeit auch wieder nach Hause gekommen. Ich denke nicht, daß es ihnen sehr gutgeht. Früher haben sie Mastrinder gezüchtet, aber die Preise sind so gefallen, daß es sich nicht mehr rechnete. Jetzt züchten sie Schafe, doch der Erfolg hält sich in Grenzen. Das Pech klebt an den Winthrops.«

»Ist Mrs. Carmody auf der Witchett Farm erfolgreicher?«

»Sie hat einen großen Teil ihres Landes als Weideland verpachtet. Außerdem ist sie alleinstehend. Greyladies muß jetzt alle Winthrops ernähren – außer Jamie.« Markby seufzte und kickte einen Stein vor sich her.

»Hör zu«, sagte Steve beschwichtigend,

»wir bauen hier eine hübsche Wohnsiedlung, in der du bestimmt selbst gern wohnen würdest. Gehobenes Wohnen. Häuser für leitende Angestellte, jedes einzelne individuell ausgeführt, mit einer Doppelgarage. Von Landschaftsgärtnern entworfene offene, weitläufige Grundstücke. Wir lassen Bäume pflanzen. Und es wird ein kleines, für den Verkehr weitgehend gesperrtes Einkaufsviertel geben.« Er lachte gutgelaunt.

»Sogar du wirst dich gezwungen sehen, deine Worte zurückzunehmen.«

»Erzähl mir nichts. Ich will es nicht wissen.«

»Du bist ein schrecklicher alter Miesmacher. Ach, übrigens, ich habe gehört, daß deine Freundin – die beim Außenministerium arbeitet – abgehauen ist und dir den Laufpaß gegeben hat. Kann ich ihr nicht übelnehmen.«

»Sie ist weder abgehauen, noch hat sie mich verlassen, noch ist Meredith meine Freundin in dem Sinn, den du meinst.« Steve kicherte anzüglich.

»Laß das gefälligst bleiben«, sagte Markby kampflustig.

»Ist deine – hm – Freundin in einem anderen Sinn ins Ausland gegangen?«

»Nein, sie sitzt an einem Schreibtisch im Außenministerium. Sie möchte gern ins Ausland, man hat ihr jedoch keinen Posten angeboten. Das Cottage hat sie aufgegeben, weil sie das Pendeln leid war.«

»Siehst du sie oft?«

»Nicht oft.« Nein, nicht annähernd oft genug. Vielleicht konnte er sie überreden, ein paar Tage herunterzukommen. Vielleicht über Ostern, auch wenn er arbeiten mußte. Was er brauchte, war ein Vorwand … Finster betrachtete Markby den riesigen Bagger, der schlingernd über das offene Gelände fuhr.

»Was macht der Kerl? Wühlt er noch ein bißchen mehr Boden auf?« Steve blickte in die angegebene Richtung.

»Oh, ich habe ihnen vorige Woche gesagt, sie sollen die Gräben für die Fundamente hier einen Meter zwanzig tief ausbaggern. Zum Glück bin ich heute morgen hergekommen und habe es nachgeprüft. Sie haben nur neunzig Zentimeter ausgehoben. Was schlimmer ist, ich fürchte, dort unten gibt es irgendwo eine weiche Stelle. Das kommt im Lehmboden manchmal vor, deshalb ist es um so wichtiger, für das Fundament tief genug zu graben. Heute nachmittag soll der Beton gegossen werden, also habe ich Sean gesagt, er soll sich gefälligst in Bewegung setzen und noch einmal dreißig Zentimeter tiefer baggern. Wenn dieser verdammte Hersey seine Arbeit richtig getan hätte …« Steve drehte sich um.

»Hättest du in einer halben Stunde Lust auf ein Pint?«

»Aber gern. Wo?«

»Fox and Hounds oben an der Hauptstraße? Wenn ich hier fertig bin, nehme ich dich mit.« Der Bagger war näher gekommen, doch jetzt verstummte das dröhnende Motorengeräusch. Sean kletterte vom Fahrersitz. Markby sah uninteressiert zu. Er vermutete, daß der Fahrer auf ein Hindernis gestoßen war.

»Was macht er denn?« sagte Steve vor sich hin.

»He!« brüllte er und gestikulierte zu der entfernten Gestalt hinüber. Der Arbeiter beugte sich über etwas, richtete sich plötzlich auf und kam schwerfällig auf sie zugelaufen, beide Arme in einer merkwürdig flehenden Geste erhoben. Ein vertrautes, unangenehmes Frösteln lief Markby das Rückgrat hinunter. Er wappnete sich seelisch und körperlich und machte einen Schritt vorwärts. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf: O Gott, nicht noch eine, nicht so schnell! Als der Mann näher kam, sahen sie, daß sein Gesicht aschfahl und verzerrt war. Seine Lippen arbeiteten, als wolle er rufen oder schreien, sei jedoch nicht fähig dazu. Markby wurde an einen Wasserspeier in einer alten Kirche erinnert, den Mund aufgerissen in einem stummen Angstschrei, erstarrt für alle Ewigkeit. Sean erreichte sie, stolperte auf den letzten Metern, und beide stürzten auf ihn zu, um ihn zu stützen.

»Mr. Wetherall«, stieß er keuchend hervor und sackte gegen sie. Sie richteten ihn auf.

»Schon gut, Sean«, fuhr Steve ihn an.

»Reiß dich zusammen. Was ist passiert?«

»Es – es ist da hinten, Sir – der Bagger hat es ausgegraben … Ich hab was gesehen – ich hab’s gesehen … Heilige Mutter Gottes …« Sean riß sich los, fuhr herum und klappte zusammen wie ein Taschenmesser.

»Er muß sich übergeben«, sagte Markby schnell.

»Bleib mit ihm hier. Ich seh mal nach.« Noch während er sprach, begann er auf den Bagger zuzulaufen. Er wußte, was er finden würde. Was er nicht wußte, war, in welchem Zustand es sein würde, und er begann sich, während er lief, gegen das Schlimmste zu wappnen. War es vor langer Zeit beerdigt worden, war es vielleicht sauber, nur ein Gerippe. Vielleicht war es sogar historisch, seit ein paar hundert Jahren tot. Ab und zu hoben Bagger wichtige Gräber mit Schmuck aus der Bronzezeit oder Waffen aus, oder sie entdeckten römische Friedhöfe. In einem solchen Fall mußten die Arbeiten gestoppt werden, und die Archäologen kamen. Solche Verzögerungen kosteten ein Vermögen und wurden von den Bauunternehmern höchst ungern und mit großer Bestürzung gesehen. Und wenn Wertgegenstände dabeiwaren, kam es gewöhnlich zu einem Gerangel wegen der Besitzverhältnisse und ob es sich um einen Schatzfund handelte, solche Dinge eben. Wenn es andererseits noch nicht lange dort begraben und nur zum Teil verwest war und sich grünlich braun verfärbt hatte … Markby wünschte, er hätte die Schokolade nicht gegessen. Sean durfte sich übergeben, aber von einem Polizisten wird Haltung erwartet – wenigstens in der Öffentlichkeit. Er warf einen Blick auf die Erde. In Sand oder Kies verwesten Leichen schnell. In Feuchtgebieten dauerte es länger, manchmal blieben sie sogar erhalten. Dieser Boden bestand aus klebrigem Lehm. Nach Luft schnappend, blieb er stehen, ging dann langsam weiter und schaute in den halb ausgehobenen Graben. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine rekonstruierte Befestigung aus der Bronzezeit. Der Graben lief um alle vier Seiten eines Rechtecks herum. Sean hatte eben erst begonnen, ihn tiefer auszuheben. Keinen ganzen Meter entfernt hatte der stählerne Rachen des Baggers aus der Erde geholt, was Sean so in Panik versetzt hatte und zur Hälfte aus den metallenen Hauern heraushing. Ein nackter Mann, schlammverschmiert, der Kopf blutig, sehr tot. Nun, das war keine antike Begräbnisstätte, war nicht einmal besonders alt. Der Leichnam war, wie Markby erleichtert feststellte, noch überhaupt nicht in Verwesung übergegangen. Die Farbe war gut, nicht einmal so wächsern weiß, wie das Leichen an sich haben, die lange im Wasser gelegen haben, und wo diese Leiche gelegen hatte, war der Boden sehr feucht. Sie lag mit dem Gesicht nach oben und dem Kopf nach unten im Rachen des Baggers. Markby bückte sich und hob ein schlammfleckiges Handgelenk. Es fiel schlaff wieder hinunter, die Totenstarre hatte sich schon wieder gelöst. Der Mann war also doch nicht erst seit ein paar Stunden tot. In diesem kalten Schlamm hatte die Totenstarre vielleicht länger angehalten. Die Autopsie würde es an den Tag bringen, doch es sah so aus, als sei die Leiche vor mindestens sechsunddreißig Stunden hier begraben worden. Markby richtete sich auf, der Wind fuhr ihm wieder durch das Haar und ließ seinen wasserdichten Parka flattern. Er schaute sich um. Wer dieses Grab auch gegraben haben mochte, sie hatten diese Stelle ausgesucht, weil sie geglaubt hatten, der Aushub sei beendet. Sie waren hinuntergestiegen, hatten ein flaches Grab ausgehoben, ihren Mann beerdigt und erwartet, daß der Graben sehr bald mit Beton aufgefüllt werden würde, bis er mit dem umliegenden Land plan war. Neunzig Zentimeter Betonfundament und darunter begraben der Mann. Es würde auch nicht lange dauern, dann würden auf dem Fundament Ziegelmauern hochgezogen und ein Haus dastehen. Niemand hätte jemals geahnt, was für ein grausiges Geheimnis in seinem Fundament verborgen war. Aber all das hatte sich durch Steves Anordnung, noch einmal dreißig Zentimeter tiefer zu graben, verändert. Stirnrunzelnd überlegte Markby. Heute war Montag. Die Bauleute hatten am Freitag bestimmt früher mit der Arbeit aufgehört, um das Wochenende bei ihrer Familie oder in einer Kneipe zu verbringen. Vorher hatten sie den ursprünglichen Graben ausgebaggert. Nehmen wir einmal an, dachte Markby, diese Beerdigung hat Freitag nacht oder sehr früh am Samstagmorgen stattgefunden. Die Totengräber brauchten Licht, um zu arbeiten. Sie? Ja, sie. Die Arbeit kann nicht nur von einem einzelnen erledigt worden sein. Außerdem mußte der Tote hierher transportiert werden … Auf dieser verfluchten neuen Straße waren bestimmt keine Spuren zu sehen, doch vielleicht waren sie an irgendeiner Stelle über offenes Gelände gefahren oder hatten ihre furchtbare Last getragen, und dieser weiche Boden war mit einem Gewirr von Reifen- und Stiefelspuren übersät. Markby fuhr herum, als Steve keuchend näher kam. Der Architekt blieb stehen, als er die Leiche sah, gab ein ersticktes Gurgeln von sich und flüsterte dann:

»O Gott …«

»Alle Arbeiten müssen sofort abgebrochen werden«, sagte Markby energisch.

»Niemand darf das Gelände betreten. Wo ist der Polier? Verdammt, diese idiotische Maschine hat wahrscheinlich die Reifenspuren niedergewalzt, wenn es welche gegeben hat. Wir brauchen Abgüsse von den Reifen deines und aller anderen Wagen, die zur Baustelle gehören. Hast du irgendwo Pfähle und Seile, mit denen wir das Gelände provisorisch absperren können.«

»J-ja …« Steve versuchte mühsam, sich zusammenzureißen. Patch kam angerannt und flitzte weiter. Steve machte einen Hechtsprung und nahm den kleinen Hund auf die Arme.

»Ich bringe Patch nur ins Auto. Gott, Alan, wer ist das?«

»Keine Ahnung. Erkennst du ihn nicht? Sieh ihn dir an, wenn du kannst.« Steve schluckte und schob sich seitlich vor. Er musterte das schlammverschmierte Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Nein – hab den Typ noch nie gesehen. Wo ist seine Kleidung?« Markby schaute sich um. Schlamm, Gräben, Brombeergestrüpp … Wo waren die Sachen des Leichnams? Konnten überall sein.

»Setz dich mit dem Polier in Verbindung. Er heißt Hersey, nicht wahr? Er soll seine Leute fragen, ob einer von ihnen zufällig Lumpen oder Kleidungsstücke gesehen hat, egal, wie dreckig oder zerrissen. Und sie sollen dafür sorgen, daß niemand mehr die Baustelle betritt.« Wir müssen den Fluß absuchen, dachte er, und auch die umliegenden Wäldchen, Felder und Wiesen. Meilenweit. Laut fragte er:

»Ist da, wo der Leichnam liegt, die weiche Stelle im Boden, die du zu sehen glaubtest?« Steve blinzelte. Er war sehr blaß. Patch wand sich in seinen Armen.

»J-ja, mehr oder weniger. Der Lehm sieht nicht so kompakt aus.«

»Mit anderen Worten gelockert?«

»Nun – ja … Aber ich dachte nur … Mir ist natürlich nicht im Traum eingefallen, daß jemand da unten gegraben haben könnte – ein – Grab! Weiche Stellen sind in diesem Boden nichts Ungewöhnliches.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte Markby.

»Ich geb dir ja keine Schuld. Gott sei Dank, daß du darauf bestanden hast, tiefer zu graben, denn sonst hätten wir ihn nicht gefunden.«

»Nein, das hätten wir nicht. Derjenige, der ihn begraben hat, dachte, einen narrensicheren Weg gefunden zu haben, um den Toten loszuwerden, und fast wäre es ihm gelungen.«

»Hast du ein Telefon im Wagen?« Zwei Tote in sechs Tagen, dachte Markby grimmig. Gewiß, ein Unglück kam selten allein, aber er hoffte, daß das Sprichwort

»Aller guten oder schlechten Dinge sind drei« diesmal nicht zutraf. Zwei waren vorläufig genug. Wenigstens gab es keinen Zweifel, wie der Coroner über diesen Todesfall urteilen würde. War jemand eines natürlichen Todes gestorben, zog man ihm nicht die Kleider aus und begrub ihn nicht heimlich da, wo er im Beton eingemauert werden würde. Diesmal hatten sie einen handfesten Mordfall, und keine juristische Haarspalterei konnte das beschönigen. Patch, der mit ihm im Wagen war, sprang auf und versuchte ihm das Gesicht abzulecken.

»Laß das!« befahl Markby und schob ihn sanft beiseite, während er telefonierte, genaue Einzelheiten durchgab, den Arzt und ein Team der Spurensicherung an den Fundort der Leiche beorderte. KAPITEL 3

»Hallo, Alan«, sagte Dr. Fuller vergnügt.

»So sieht man sich wieder. Sie scheinen sie ja überall zu finden. Wir müssen uns gelegentlich privat treffen, damit unsere Zusammenkünfte nicht allzu einseitig werden. Warum besuchen Sie uns nicht wieder mal? Ellen würde sich sehr freuen – wir planen eine unserer kleinen Soireen. Einen Abend mit Johann Sebastian Bach.« Markby murmelte etwas und schnüffelte. Er verabscheute den Geruch in diesem Raum, süß, Übelkeit erregend, Formaldehyd oder etwas Ähnliches. Er verabscheute diese ganze geschrubbte Sauberkeit und die glänzenden Glasflaschen.

»Das ist eine interessante Leiche, die Sie da gefunden haben«, sagte Fuller, der eine angenehm klinische und positive Einstellung zu seiner Arbeit hatte.

»Und an einem interessanten Platz. Ich finde diese Gummistiefel-Jobs oft faszinierender als die üblichen.« Fuller ließ nichts an sich herankommen. Fuller hatte Frau und Kinder. Fuller kam nach dem Dienst nicht in ein leeres Haus. Markby sah mürrisch zu, als der Pathologe sich an den Schreibtisch setzte, einen Aktenordner aufschlug und mit flinken, oh, so sauber geschrubbten Fingern eine Seite nach der anderen umblätterte. Er begann leise zu pfeifen, und Markby glaubte ein Fragment von Vivaldi zu erkennen. Fuller war ein begeisterter Geiger – wenn auch Amateur. Seine Frau spielte Klavier. Jedes seiner begabten, entnervend artigen Kinder spielte ebenfalls ein Instrument. Sie gaben Musikabende für Freunde. Markby, der so unmusikalisch wie möglich war, hatte mit Mühe einen dieser Abende durchgestanden und keine Lust, mit einem zweiten traktiert zu werden.

»Als ich dort hinauskam und ihn sah«, sagte Fuller,

»dachte ich zuerst, Sie hätten eine Opfergabe gefunden.«

»Sie haben was gedacht?« rief Markby verblüfft. Fuller hatte manchmal einen etwas seltsamen Humor. Bei seinem Beruf konnte man vielleicht erwarten, daß er eine Vorliebe für schwarzen Humor hatte; aber das schien selbst für Fuller eine merkwürdige Bemerkung.

»Menschenopfer in den Fundamenten eines neuen Gebäudes zu begraben, war im Altertum ein weithin beliebtes Ritual«, sagte Fuller mit ungehörigem Vergnügen.

»In diesem Land war es noch zu Zeiten der Tudors üblich, eine Katze oder einen Hund unter der Schwelle eines neuen Hauses einzubuddeln. Er ist reine Neugier – aber wissen Sie schon, wer unser Knabe ist?«

»Nein. Was können Sie mir sagen?« drängte Markby ungeduldig, weil er hinaus wollte. Opfer – er kam sehr gut ohne sie und ohne Fullers Leichenhallenwitze aus.

»Weiß, männlich, zwischen dreißig und fünfunddreißig. Das Haar schon ausgedünnt. Kein Übergewicht, auch keine Anzeichen von übermäßigem Genuß. Guter körperlicher Zustand. Ich meine, er hat sich fit gehalten.«

»War er so fit wie etwa ein Profi-Sportler oder einfach wie ein Typ, der regelmäßig Squash spielt oder so was?«

»Spekulationen sind nicht mein Ding, Alter. Er hat sich einfach fit gehalten. Lassen Sie mal sehen. Alte Blinddarmnarbe. Gebiß oft repariert – mehrere Zähne mit Gold überkront. Hat nicht mit den Händen gearbeitet. Schöne, weiche, gut manikürte Hände.«

»Fachmännisch manikürt, meinen Sie? Er hat sich die Nägel nicht selbst gepflegt?«

»Ich habe keine Ahnung, Alan. Wie sollte ich auch? Glauben Sie, ich sitze in Schönheitssalons herum?«

»Gut, gut. Wann und wie wurde er getötet?«

»Er wurde am Montagmorgen gefunden. Ich würde sagen, er ist irgendwann am Freitagabend gestorben. Die Totenstarre ist veränderlich, kann innerhalb von wenigen Stunden auftreten und zeigt sich zuerst in den Kiefermuskeln und den Augenlidern, deshalb sollten diejenigen, die anwesend sind, wenn ein Mensch ins Gras beißt, ihm sofort Augen und Mund zumachen. Wenn er vor seinem Tod irgendeinen Streit hatte, tritt die Starre schneller ein. Aber es kann zwölf Stunden dauern, bis der ganze Körper erfaßt ist. Wird er in sehr kalter Erde begraben, kann es den Prozeß verlängern, doch als der Bauarbeiter ihn ausgegraben hat, hatte sich die Totenstarre schon völlig gelöst. Am Rücken hat er deutlich erkennbare dunkle Totenflecken, die dadurch entstehen, daß das Blut nach unten fließt und die tieferen Blutgefäße verstopft. In diesem Fall haben sie sich auf dem Rücken gebildet, weil er mit dem Gesicht nach oben begraben wurde. Sie sind übrigens nicht zu verwechseln mit Blutergüssen, die durch die Einwirkung von Gewalt entstehen. Die Verwesung hat jedoch noch nicht eingesetzt. Das erste Anzeichen zeigt sich gewöhnlich am Unterleib. Ich würde sagen, er ist nicht später als in den frühen Morgenstunden des Samstags und nicht früher als, oh, acht oder neun Uhr am Freitagabend gestorben. Tut mir leid, genauer kann ich es nicht sagen.«

»Dann am wahrscheinlichsten Freitag abend.« Markby schaute zum Fenster und auf den Parkplatz dahinter.

»Vermutlich haben sie ihn vor Tagesanbruch begraben, als es nicht mehr ganz dunkel, aber auch noch nicht hell war. Bei Tageslicht wäre es zu riskant gewesen. Sie hätten gesehen werden können. Zwar wird am Wochenende nicht gearbeitet, aber viele Leute nehmen die Gelegenheit wahr, noch einmal hier spazierenzugehen, bevor alles unter Asphalt verschwindet. Ich hab’s um meiner Missetaten willen getan und hab mir das hier aufgehalst.« Er seufzte. Fuller seufzte aus Mitgefühl ebenfalls, summte aber noch immer vor sich hin.

»Habt ihr seine Kleidung gefunden? Noch nicht? Es ist schwierig, eine Leiche auszuziehen.«

»Das ist mir klar. Sie haben ihn getötet und wahrscheinlich ausgezogen, um alle Hinweise zu beseitigen, für den Fall, daß etwas schiefging und er entdeckt wurde. Dann haben sie seine Leiche an den Ort transportiert, wo er gefunden wurde, noch bevor die Totenstarre ganz eingetreten war. Sie könnten ihn von weither gebracht haben. Bisher haben wir keinen einzigen Hinweis darauf, wo er starb. Wie sieht es mit der Todesursache aus?«

»Schauen wir mal …« Tam-ti-tam-tam.

»Nun, er hat mit unserem Freund, dem berühmten stumpfen Gegenstand, ein paar sehr heftige Schläge auf den Rücken und auf den Kopf bekommen, die ihm hier und hier« – Fuller hielt eine Röntgenaufnahme gegen das Licht und zeigte mit dem Kugelschreiber auf zwei Stellen –

»den Schädel eingedrückt und aufgeknackt haben wie eine Nuß. Was zu heftigen Blutungen im Gehirn geführt hat.«

»Man hat ihn also buchstäblich zu Tode geprügelt.«

»Nein.« Fuller sah, wie überrascht Markby war, und wiederholte:

»Nein. Er muß zunächst bewußtlos gewesen sein, aber hätte man ihn beizeiten ins Krankenhaus gebracht, hätte er vielleicht gerade noch gerettet werden können. Ich sage vielleicht, doch die Chance wäre sehr gering gewesen. Ohne medizinische Behandlung und eine sofortige Operation wäre er an den Verletzungen bestimmt gestorben. Technisch gesehen ist er aber nicht daran gestorben, weil etwas anderes ihn vorher umgebracht hat.« Er legte die Röntgenaufnahme ordentlich in den Ordner zurück und richtete die Papiere mit pedantischer Genauigkeit aus. Markby wurde nervös.

»Kommen Sie, rücken Sie schon damit raus.« Der Pathologe sagte ruhig und beinahe vergnügt:

»Er hatte deutliche Erdspuren in der Lunge.« Schweigen. Markby fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und drängte sie zurück. Er fühlte auch noch etwas anderes, atavistisch und rein instinktiv – die Erregung eines uralten Schreckens; Entsetzen bei der Vorstellung dieses furchtbarsten aller Schicksale.

»O Gott«, sagte er schwach.

»Sind Sie ganz sicher?«

»O ja. Erde in der Lunge und den Nasengängen. Zweifellos eingeatmet. Die forensischen Tests werden es Ihnen bestätigen, aber ich bin ziemlich sicher, Sie werden feststellen, daß es sich um dieselbe Erde wie in seinem Grab handelt.« Fuller klappte die Akte zu.

»Wurde lebendig begraben, fürchte ich. Nicht der geringste Zweifel. Er ist in seinem Grab erstickt.«

»Komm schon, Alan«, drängte Laura.

»Lang endlich zu. Paul hat Stunden in der Küche verbracht, um das zu zaubern.« Markby starrte auf seinen Teller und versuchte vergeblich, die würstchenähnlichen Formen zu identifizieren, die unter einer dunklen Bratensoße lauerten.

»Alouettes sans têtes«, sagte Paul, professioneller Autor von Kochbüchern und Moderator kulinarischer Sendungen, der keine Gelegenheit versäumte, an Familie und Freunden zu üben.

»›Kopflose Lerchen‹ heißt es wörtlich übersetzt – Wurstmasse, Zwiebel und Pilze in hauchdünne Kalbfleischschnitzel eingerollt, gekocht in einer Pilz- und Weinsoße.«

»Es riecht natürlich köstlich«, versicherte Markby seinem Schwager.

»Und es sieht – hm – interessant aus. Aber ich habe heute ein schreckliches Erlebnis gehabt.«

»Komm schon«, befahl seine Schwester.

»Denk nicht mehr an deine Polizeiarbeit.« Markby starrte finster auf seinen Teller.

»Nimmst du es mir sehr übel, wenn ich das ein andermal esse, Paul? Kannst du’s einfrieren oder so?«

»Kein Problem. Ich sag dir was – iß ein bißchen Siruppudding.«

»Auch ich habe mit schlimmen Dingen zu tun«, sagte Laura hartnäckig.

»Anwälte haben auch oft Streß. Ich habe gelernt, den Beruf zu vergessen, wenn ich nach Hause komme.«

»Ja, nun, du hast deine Familie –«, begann Markby unklug. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, war ihm klar, wie unklug es gewesen war, doch es war zu spät. Laura packte die Gelegenheit beim Schopf. Ihr Thema war altbekannt.

»Wenn du mich fragst, Alan, bläst du hier Trübsal, seit Meredith nach London gezogen ist. Sie fehlt dir. Sei ehrlich.«

»Ja, sie fehlt mir. Doch das hat mir nicht den Appetit verdorben, Laura. Daran ist etwas anderes schuld, ehrlich.«

»Mag sein, aber ich habe Augen im Kopf. Um Himmels willen, schluck deinen Stolz runter, ruf sie an und lade sie für ein paar Tage ein.«

»Das hat nichts mit meinem Stolz zu tun«, sagte Markby verärgert.

»Doch, das hat es. Dein männliches Ego ist verletzt. Wenn sie mich gern hätte, wäre sie nicht weggegangen, etc., etc … Glaub ja nicht, daß ich nicht begreife, was im Kopf eines Mannes vorgeht. Hör zu, sie hat einen wichtigen und verantwortungsvollen Posten und konnte nicht dauernd zwischen hier und London pendeln – es war einfach unmöglich. Man hat ihr eine Wohnung angeboten, und sie hat sie genommen. Das heißt nicht, daß sie dir den Laufpaß gegeben hat.«

»Laura –«, begann Markby und verstummte frustriert. Paul klapperte in der Küche laut mit Geschirr. Etwas fiel hinunter, und der Koch fluchte.

»Wie geht es den Kindern?« fragte Markby, entschlossen, das Thema zu wechseln.

»Alles okay. Emma hat eine Zahnspange bekommen, und Vicky ist vom Rad gefallen. Matthew ist schlecht in der Schule, will nur Fußball spielen – dem Baby geht es gut.«

»Ich glaube nicht«, sagte Markby ernst,

»daß ich eine Familie will. Ich wollte nie Kinder. Als ich mit Rachel verheiratet war, wollte ich keine. Und da wir keine bekamen, hat sich das von selbst erledigt.«

»Du würdest anders denken, wenn du ein Kind hättest.«

»Ich bin zu alt, um jetzt noch mit so etwas anzufangen.«

»Unsinn. Wie alt ist Meredith?«

»Laura – das darf doch nicht wahr sein! Von einer solchen Beziehung war zwischen uns nie die Rede.« Paul streckte den Kopf durch den Türspalt herein.

»Der Pudding ist mir runtergefallen. Ich habe das meiste vom Boden aufkratzen müssen. Sag bitte, daß du lieber Eiscreme willst.«

»Um die Wahrheit zu sagen, ich hätte lieber nur eine Tasse Kaffee«, sagte Markby energisch. Laura stützte die Ellenbogen auf den Tisch, und ihr Kinn ruhte auf ihren verschränkten Fingern. Das lange blonde Haar umrahmte schmeichelnd ihr Gesicht, und vor kurzem hatte sie ihre Brille gegen Kontaktlinsen eingetauscht. Wie hübsch sie ist, dachte Markby, und was für eine geglückte Verbindung von Schönheit und Intelligenz. Und er wünschte, sie hätte nicht den Tick, ihn unbedingt mit Meredith verheiraten zu wollen. Nicht, daß es nicht auch sein liebster Traum gewesen wäre, doch es gab Probleme. Sie Laura erklären zu wollen war verlorene Liebesmüh.

»Tut mir leid, das Abendessen ist ein ziemliches Fiasko!« Wieder erschien Pauls Kopf im Türspalt.

»Ich hab den Pudding in den Abfall geworfen. Kaffee kommt gleich. Käse?«

»Nein, danke. Tut mir leid, daß ich deiner französischen Küche keine Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte.«

»Macht nichts. Aber Laura und ich dachten, wir wären dir ein anständiges Essen schuldig – als Dank im voraus gewissermaßen, daß du dich in den nächsten zehn Tagen um unser Haus kümmerst, während wir verreist sind.« Markby blickte auf und starrte ihn mit unverhohlenem Entsetzen an.

»O Alan!« rief Laura.

»Du hast es vergessen.«

»Himmel, ja, es tut mir leid.«

»Wir haben schon vor einer Ewigkeit gebucht. Ich habe dir erklärt, daß wir auf unserem Campingplatz nur einen Stellplatz bekämen, wenn wir vor Ostern reisten. Wir kommen am Dienstag nach Ostermontag zurück. O Alan, ich verlasse mich auf dich.«

»Jetzt fällt es mir wieder ein. Doch es ist zu lange her, daß du es mir gesagt hast. Ich hab’s einfach vergessen. Du hättest mich erinnern sollen. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde in diesen zehn Tagen schon Zeit finden, um herüberzukommen und nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Aber bedenke, daß wir bis über beide Ohren in Arbeit stecken – zwei Leichen innerhalb einer Woche, und der Mann wurde zweifelsfrei ermordet.« Laura seufzte.

»Ich habe gehofft, daß du mehr als nur einmal herüberkommst. Doch ich verstehe, wenn du zu tun hast, hast du zu tun. Es ist nur so, daß in dieser Straße so oft in leere Häuser eingebrochen wurde – nun, das weißt du wohl selbst am besten. Susie Heyman von nebenan würde das Haus im Auge behalten, aber sie ist nur zu Besuch hier und wüßte in einem Notfall bestimmt nicht, was sie tun sollte. Außerdem hat sie eine Teilzeitarbeit auf der amerikanischen Militärbasis. Ich würde sie nur ungern fragen. Eigentlich habe ich ja gehofft, daß du für die zehn Tage zu uns ziehst, hier schläfst.«

»Ehrlich, Laura, das geht nicht. Ich müßte rumlaufen und allen eine neue Telefonnummer geben, und die Hälfte würde sie verlieren oder vergessen, und ich kann im Moment keine zusätzliche Verantwortung brauchen. Ich muß zu Hause sein. Dann ist da noch das neue Gewächshaus in meinem Hintergarten. Der Bau und die Pflanzen haben mich ein Vermögen gekostet, und ich kann nicht einfach abschwirren und alles stehen- und liegenlassen. Die Temperatur muß ständig überwacht werden. Ich habe einen kleinen Ölofen hineingestellt …« Er unterbrach sich, denn weder Laura noch Paul waren Gärtner, und er konnte nicht erwarten, daß sie ihn verstanden. Laura hatte einen geistesabwesenden Blick bekommen.

»Was wir brauchen ist ein Haus-Sitter ähnlich einem Babysitter. Jemanden, der gern zehn Tage Urlaub machen, hier einziehen und es sich gemütlich machen würde. Sie könnte sich hier wie zu Hause fühlen.«

»Sie?« fragte Paul.

»Nun, ich habe selbstverständlich an Meredith gedacht«, sagte Laura schlicht.

»Sie ist in London, Weib!« heulte Markby auf.

»Sie hat diesen verantwortungsvollen Job im Foreign Office, von dem du mir vorhin erzählt hast.«

»Sie ist seit fast drei Monaten in London. Ich wette, sie wäre begeistert, wenn sie Gelegenheit hätte, ein paar Tage auf dem Land zu verbringen. Vielleicht hat sie für Ostern keine Pläne und könnte den Aufenthalt hier mit ihrem Osterurlaub verbinden. Ich könnte sie anrufen und fragen.«

»Untersteh dich!« sagte ihr Bruder grimmig.

»Dann rufst du sie an und fragst sie.«

»Auf keinen Fall. Nicht einmal im Traum würde ich so was tun! Ehrlich Laura, manchmal benimmst du dich verdammt unmöglich. Meredith bitten, herzukommen, um für dich das Haus zu hüten? Ich frage dich – warum sollte sie das überhaupt wollen?«

»Oh, das weiß ich nicht«, sagte Laura mit einem engelhaften Lächeln.

»Einfach, um zu helfen, weißt du, und um ein paar Tage Urlaub zu machen. Ein bißchen Tapetenwechsel. Oder was Ähnliches.« KAPITEL 4 Als Markby an diesem Morgen aufstand, hatte er gewiß nicht beabsichtigt, Meredith anzurufen. Nicht, daß er den Vorschlag seiner Schwester vergessen hätte, aber, sagte er sich, während er duschte, es kommt nicht in Frage.

»Sie wird ablehnen«, sagte er laut, als er sich rasierte. Oder, schlimmer noch, sie sagte vielleicht sogar zu, um Laura einen Gefallen zu tun, mit der sich Meredith großartig verstand, und nicht, um ihn wiederzusehen. Danach wurde seine Argumentation so verdreht, daß er aufgab. Denn außerdem hatte er es, abgesehen von den Ermittlungen über Lindsays Tod, die noch nicht abgeschlossen waren, mit einem Mord zu tun, der ihm schwer auf der Seele lag. Anders als in Lindsays Fall, bei dem die Leiche rasch identifiziert werden konnte, waren sie der Identität des toten Mannes keinen Schritt nähergekommen. Niemand war erschienen, um ihn zu identifizieren. Seine Personenbeschreibung stimmte mit keiner der als vermißt gemeldeten Personen überein. Die Erde in den Nasengängen und der Lunge stammte aus dem Grab, genau wie es der Pathologe vorhergesagt hatte. Nichts wies darauf hin, wo der Mann angegriffen und niedergeknüppelt worden war. Die Fußabdrücke im Schlamm waren peinlich genau abgenommen, protokolliert und zu den Akten gelegt worden. Sie schienen alle von Gummistiefeln oder festen ledernen Arbeitsschuhen zu stammen. Einige hatte man schon aufgespürt und ausgeschlossen. Übrig blieb eine Sammlung anderer, die vermutlich nie gefunden werden würden. Wie Steve Wetherall gesagt hatte, wurde eine Baustelle von allen möglichen Leuten aufgesucht, die dort meist Gummistiefel trugen. Von Vertretern der Baufirmen, von Landvermessern, Männern vom Straßenbau und den Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerken, von der British Telecom, vom Gemeinderat und verschiedenen Wachhunden des Baugewerbes. Darüber hinaus von den Fahrern der Materiallaster und all jenen Besuchern, potentiellen Käufern und gelegentlichen Spaziergängern wie Markby selbst.

»Wenn du Stiefelabdrücke willst«, sagte Steve,

»hier findest du sie.« Eine Untersuchung von Reifenprofilen hatte nichts ergeben, nur die meisten von jedem Verdacht befreit. Für Markby ein Beweis, daß der Tote mit einem Fahrzeug auf der neuen Straße hierhergebracht und dann vom Wagen zur Begräbnisstätte getragen worden war. Unter den zahlreichen Stiefelabdrücken waren auch die der Männer, die ihn getragen hatten. Aber welche waren es? Logisch wäre gewesen, wenn man nach tiefen Abdrücken gesucht hätte, nach den Abdrücken von Männern, die eine schwere Last getragen hatten. Aber auf Baustellen tragen unzählige Männer schwere Lasten. Es gab die unterschiedlichsten Abdrücke – von flachen Dellen bis zu viel tieferen, richtigen kleinen Gruben im Schlamm. Am Sonntagabend hatte es stark geregnet, und das war auch nicht gerade hilfreich gewesen. Der Regen hatte die neue Straße sauber gewaschen und vieles verwischt oder verschmiert. Er hatte noch einmal mit Sean Daley gesprochen, der den Leichnam ausgegraben hatte, und mit Jerry Hersey, dem Polier. Daley war noch immer verstört gewesen, und eine klare Aussage von ihm zu bekommen war ein Ding der Unmöglichkeit. Bevor er begonnen hatte, den Graben tiefer auszubaggern, war ihm nichts Besonderes aufgefallen. Ein Graben war wie der andere. Man zeigte ihm ein Foto des Toten, und prompt fing er an zu zittern. Markby sagte ihm, er solle sich zur Verfügung halten, damit sie ihn jederzeit erreichen konnten. Dann ließ er ihn mit seinem Jammer allein. Die Unterredung mit Hersey war ähnlich ergebnislos verlaufen. Hersey war von Natur aus kein hilfreicher Mensch. Offensichtlich mißbilligte er die Anwesenheit der Polizei auf der Baustelle und die unumgängliche Arbeitsverzögerung. Nach der allgemeinen Sicherheit außerhalb der Arbeitszeit befragt, hatte er das als persönliche Kränkung empfunden.

»Wir können den verdammten Bauplatz nicht rund um die Uhr bewachen. Wir sperren die Maschinen in das umzäunte Grundstück da drüben, damit keiner sie klaut. Was erwarten Sie denn? Einen Elektrozaun und Wachhunde?« Markby war zu dem bewußten Grundstück mit dem hohen Drahtzaun und dem abgeschlossenen Tor hinübergegangen.

»Werden hier alle Geräte gesichert? Alle Schaufeln, Spitzhacken und so?« Hersey antwortete mürrisch, ja, das sei der Fall.

»Sonst würde über Nacht alles geklaut.« Das bedeutete, daß derjenige, der das Grab ausgehoben hatte, seinen eigenen Spaten und sein eigenes Werkzeug mitgebracht hatte, und es hatte wenig Sinn, die zu untersuchen, die zur Baustelle gehörten. Der Form halber bat Markby Sergeant Pearce, sie sich anzusehen, doch er wußte, daß die meisten seit dem Wochenende wieder benutzt worden waren, und wenn auf einem der Geräte Blutspuren gewesen wären, waren inzwischen alle verwischt. Hersey, der Pearce auf den Fersen folgte, protestierte lauthals und ausdauernd und bestand darauf, daß von Freitag nachmittag bis Montag früh alles weggeschlossen gewesen war.

»Sie werden hier nicht finden, was Sie suchen. Wir müssen arbeiten und können keine Bullen brauchen, die uns ständig vor den Füßen rumtanzen. Es ist nicht meine Schuld, daß der Typ in den Graben geraten ist. Ich hab ihn verdammt nicht hineingelegt. Wie lange soll das so weitergehen? Was, glauben Sie, werden Sie hier finden? Aber das kann ich Ihnen schon jetzt sagen. Erde, sonst nichts. Und wie sollen wir ohne Werkzeug auch nur eine einzige Ziegelwand hochziehen? Wenn Sie also mit ihnen fertig sind, Sherlock« – Hersey beschloß seine Wortflut mit einem Abstecher in die Ironie –,

»wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn Sie verschwinden und uns in Ruhe weiterarbeiten lassen täten.« Hersey würde zum Problem werden. Er konnte ihre Ermittlungen nicht verhindern, doch erleichtern würde er sie auch nicht gerade. Es gab ein Dutzend subtiler Möglichkeiten, ihnen Sand ins Getriebe zu werfen, und Hersey kannte alle. An seinem Schreibtisch betrachtete Markby jetzt das Foto, das an andere Polizeieinheiten weitergegeben werden und jedem gezeigt werden mußte, der den Toten vielleicht identifizieren konnte. Es war ganz offensichtlich die Fotografie einer Leiche. Sie war gesäubert und in Ordnung gebracht worden, aber es war dennoch der Kopf eines toten Mannes. Gefühl, Ausdruck, die flackernden Wechsel leidenschaftlichen Lebens ausgelöscht, war der Kopf nur noch eine Maske aus Papiermaché mit geschlossenen Augen. Die Wangen waren eingesunken. Das Gesicht sah wahrscheinlich schmäler als zu Lebzeiten des Mannes aus. Markby war einmal gerufen worden, sich die sterblichen Überreste eine bekannten Playboys anzusehen, der, wie manche gesagt hätten, nicht zu früh gestorben war. Markby war aufgefallen, wie würdevoll die Leiche aussah. Der Tod hatte alle Spuren des ausschweifenden Lebens gelöscht, die Ringe unter den Augen geglättet und die Lider über Pupillen geschlossen, die, vom Laster gezeichnet, nur noch matt geschimmert hatten. Die roten Lippen waren blaß geworden, und etwas wie Friede hatte den Ausdruck übersättigten Weltüberdrusses verdrängt. Auch dieses Gesicht war ein totes Gesicht. Es war leer, sagte einem nichts. Es gab Kulturen, in denen der Priester bei der Beerdigung seine Ansprache an den Toten richtete, der im Kerzenschein im offenen Sarg lag. Die Fragen des Priesters konnten nie etwas anderes sein als rhetorisch. Wenn die dahingeschiedene Seele die Antwort auf das Rätsel des Todes gefunden hatte, würde sie sie keinem Lebenden je verraten. Trotzdem – da war etwas an diesem Gesicht, etwas, das Markby nicht in Worte fassen konnte. Irgend etwas nagte an ihm. Er wünschte, er käme dahinter, was es war. Er saß an seinem Schreibtisch und studierte das Foto des Opfers gute fünf Minuten. Dann schaute Sergeant Pearce durch die halb offene Tür herein und räusperte sich taktvoll.

»Ein Mr. Newman von der Baufirma möchte Sie sprechen, Sir.« Mit gesenkter Stimme fügte Pearce hinzu:

»Ihm sitzen die Bauherrn im Nacken. Sie haben eine Strafklausel im Vertrag. Er war heute morgen auf der Baustelle, und als er gesehen hat, was dort los ist, hat er Schiß gekriegt. Ich glaube, die Arbeiter streiken und arbeiten streng nach Vorschrift. Und Hersey hat gemeckert.«

»Ach, wirklich?« Markby legte das Foto mit der Bildseite nach unten in den Ablagekorb.

»Bringen Sie Mr. Newman herein, ja?« Newman war eine sehr erfolgreiche einheimische Firma, aber Markby hatte den Bauunternehmer nie persönlich kennengelernt und blickte neugierig auf, als ein stämmiger Mann mit schütteren Haaren energisch den Raum betrat. Die zurückhaltende Wachsamkeit in seinen Augen stimmte nicht mit seinem selbstbewußten Auftreten überein. Er reichte Markby über dem Schreibtisch die Hand.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Chief Inspector. Ich hoffe, wir können die Sache heute klären. Seit Montag wurde auf der Baustelle noch kein Strich getan, und ich bin überzeugt, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das kostet – von den Unannehmlichkeiten abgesehen. Unser Arbeitsplan läßt uns keinen Spielraum.«

»Auf der Baustelle sind wir fertig«, sagte Markby freundlich. Er war aufgestanden, um Newman zu begrüßen, setzte sich jetzt wieder und zeigte auf einen dicken Ordner, der auf seinem Schreibtisch lag.

»Wir haben unsere Fotografien, die Ergebnisse der Bodentests und die Berichte über Reifen- und Fußabdrücke. Sie können mit der Arbeit wieder anfangen.«

»Ja, ja, das weiß ich zu schätzen – es geht um die Belegschaft.« Newman rieb sich ruckartig die Hände. Er trug einen breiten Goldreif – einen Ehering? Nein, es ist die falsche Hand, dachte Markby.

»Natürlich ist mir klar, daß Sie Ihre Arbeit tun mußten, aber Ihre Leute haben jeden Mann einzeln vernommen, und – nun ja – einige haben sich darüber sehr aufgeregt.«

»Oh! Warum denn das? Das waren doch nur ein paar routinemäßige Fragen.« Einen Moment lang wirkte Newman erschrocken und beeilte sich, den falschen Eindruck zu korrigieren, den er unwissentlich erweckt hatte.

»Ja, natürlich. Ganz offensichtlich hatte keiner etwas damit zu tun – aber ich meine, o verdammt, ein paar mögen eben keine Polizisten, Chief Inspector. Hören Sie, Sie müssen begreifen, wie das ist …«

»Ich bin weder Finanzbeamter«, sagte Markby freundlich,

»noch arbeite ich bei der Sozialhilfe.«

»Bei uns gibt es derartigen Unsinn nicht – ich meine, den Unsinn, auf den Sie anspielen«, fuhr Newman auf.

»Auf keiner unserer Baustellen. Wir haben keine Schwarzarbeiter, und die Leute führen ihre Steuern und Versicherungsbeiträge pünktlich ab. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Ich meine nur, daß polizeiliche Ermittlungen sie nervös machen. Die Bauherrn drängen darauf, daß es keine Verzögerung gibt. Sie wissen doch, wie es ist, die Banken sitzen ihnen im Nacken, und deshalb sitzen sie dem Baumeister im Nacken …«

»Und deshalb dachten Sie, Sie müßten mir auf die Finger sehen?« fragte Markby mild.

»Nein – oder doch, ja. Offen gesagt, ich fürchte, daß ein paar von den Leuten kündigen werden. Die Baustelle ist durch diese Sache in einen schlechten Ruf gekommen, und Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, wie abergläubisch manche Männer sind. Einige irische Arbeiter arbeiten immer zusammen auf derselben Baustelle. Sie fahren als Gruppe durch das Land, von einer Baustelle zur anderen. Wenn einer kündigt, folgen die andern vielleicht seinem Beispiel. Daley – Sean Daley, der Baggerführer, ist schon abgehauen.«

»Er ist was?« fragte Markby bestürzt.

»Wir brauchen ihn bei der Leichenschau. Wir haben ihm gesagt, daß er hierbleiben muß. Wohin, zum Teufel, ist er gegangen? Hat er die Gegend verlassen?«

»Das ist möglich«, sagte Newman unglücklich.

»Niemand von uns hat gewußt, daß er hier noch gebraucht wird. Aufhalten hätten wir ihn sowieso nicht können. Wir hätten es Ihnen sagen müssen, das ist mir klar, aber ich habe einfach nicht daran gedacht, und ich hatte vorher auch keine Ahnung, daß er gehen wollte … Er fährt einen alten Ford Capri, wenn Ihnen das was hilft. Ich erinnere mich, ihn bei den Wohnwagen gesehen zu haben. Einige der Männer hausen in einem kleinen Wohnwagenpark, ungefähr eine Viertelmeile von – von dem Unglücksort entfernt.«

»Sie meinen, von dem Platz, wo der Tote gefunden wurde?«

»Ja – einer von den andern, er heißt Riordan, hat sich mit Daley einen Wohnwagen geteilt, und als ich heute morgen da war, hat er mir erzählt, daß Daley Alpträume hatte, seit er das – das Ding ausgegraben hat. Er hat ständig daran gedacht und konnte nicht einmal essen. Riordan hat er gesagt, daß er’s nicht mehr aushält. Er ist schon ganz früh am Morgen ins Büro der Baustelle gegangen und hat gesagt, er hört auf. Als ich kam, war er schon weg. Er hätte aber eine Nachsendeadresse dalassen müssen, weil er bestimmt noch Lohn zu bekommen hat. Doch darüber müssen Sie mit dem Baustellenleiter sprechen.« Markby machte sich eine kurze Notiz: Pearce mußte sich sofort um Daleys Verschwinden kümmern.

»Übrigens«, sagte er,

»da wir gerade beim Thema sind, Sie könnten uns helfen, wenn Sie Ihrem Polier sagen, daß er ein bißchen entgegenkommender sein soll. Nicht, daß wir ihn verdächtigten, verstehen Sie, aber er erleichtert uns unsere Arbeit nicht gerade, wenn er sich dauernd beschwert und sich weigert, uns auch nur ein Minimum an Unterstützung angedeihen zu lassen.«

»Oh, Jerry Hersey«, sagte Newman voller Unbehagen.

»Das ist ein schwieriger Kerl, unser Jerry. Ich will sehen, was ich tun kann.«

»Gut. Jetzt frage ich mich, ob Sie etwas dagegen hätten, sich eine Fotografie anzusehen, Mr. Newman?« Wachsamkeit wurde in den Augen des Bauunternehmers zu Schreck, und Markby fügte beschwichtigend hinzu:

»Schon gut, es ist nicht grausig.«

»Ja, nun – gut, in Ordnung –«, sagte Newman widerwillig. Markby griff nach dem Foto im Ablagekorb und legte es vor seinem Besucher auf den Schreibtisch. Newman betrachtete es, holte, bevor er den Kopf schüttelte, ein Taschentuch heraus und betupfte sich die Lippen. Was man

»grausig« nennt, hängt eben davon ab, wie vertraut man mit gewaltsamem Tod ist, dachte Markby. Polizisten entwickelten eine hohe Toleranz gegen unangenehme Anblicke; Newman hatte vermutlich überhaupt noch nie etwas mit einem Toten zu tun gehabt.

»Nie gesehen«, sagte er heiser.

»Von Steve Wetherall habe ich erfahren, daß die Leiche nur ausgegraben wurde, weil die Fundamente tiefer ausgebaggert werden sollten.«

»Ja – am Nachmittag sollte der Beton in den Graben gegossen werden.«

»Demnach hat derjenige, der den Leichnam dort vergrub, erwartet, daß er binnen achtundvierzig Stunden unter gut einem Meter Beton liegen und später darauf ein Haus stehen würde.«

»Häuserpaare, Doppelhaushälften auf dieser Baustelle. Vier Schlafzimmer und zwei Bäder, eins en suite.« Newman fügte die letzten Worte automatisch hinzu und sah dann leicht verlegen aus.

»Entschuldigen Sie – ich versuche nicht, Ihnen eins zu verkaufen.« Seine Stimmung wurde noch gedrückter.

»Das ist nicht die Publicity, die für Käufer ein Anreiz wäre, Schlange zu stehen. Begreifen Sie den Standpunkt der Bauherrn? Sie werden jetzt Glück haben, wenn sie neue Kunden finden. Leute, die Interesse gezeigt, sich aber noch nicht vertraglich gebunden haben, werden jetzt abspringen. Wer wird denn noch ein Haus kaufen wollen, das auf diesen Fundamenten steht? Sie werden uns wahrscheinlich sagen, wir sollen die Baugruben wieder auffüllen, Gras darüber wachsen lassen und ein offenes Erholungsgebiet daraus machen. Dem Geld können sie nachwinken. Die Bauherrn sind nicht glücklich, Chief Inspector, wahrhaftig nicht, und sie tun so, als ob alles meine Schuld war.« Markby nahm die Worte mit einem Nicken zur Kenntnis.

»Sind Ihnen jemals Fremde aufgefallen, die sich auf der Baustelle herumgetrieben haben?«

»Chief Inspector, Sie waren draußen, kennen die Anlage. Es sind ständig irgendwelche Leute da – ein paar potentielle Käufer, ein paar neugierige Anwohner, die wissen möchten, was wir vorhaben, und ihre Neugier mit einem Nachmittagsspaziergang verbinden. Man kann die Leute nicht fernhalten. Nein – besonders aufgefallen ist mir niemand. Sie werden Hersey fragen müssen.«

»Das haben wir getan. Und alle Arbeiter. Alle sagen ungefähr das gleiche wie Sie eben. Niemand erinnert sich an diesen Mann.«

»Da haben Sie’s«, sagte Newman ein bißchen vage.

»Also nehme ich an, daß Sie mit uns fertig sind.«

»Vorläufig ja. Ich kann nicht versprechen, daß wir nicht wiederkommen.« Markby schaute seinem Besucher sehr direkt in die Augen.

»Das ist eine Morduntersuchung.«

»Ja, ja, natürlich. Natürlich werden wir – werde ich Sie in jeder Hinsicht unterstützen. Es ist ja nur, weil die Männer sich aufregen. Ich möchte nicht, daß noch jemand aufhört.« Als Newman gegangen war, rief Markby nach Pearce.

»Fahren Sie ins Baustellenbüro, und stellen Sie Nachforschungen über den Fahrer Sean Daley an. Trotz allem, was wir ihm gesagt haben, hat er heute früh seine Arbeit hingeschmissen. Vielleicht können Sie rausfinden, wohin er wollte und ob er eine Nachsendeadresse hinterlassen hat. Er fährt einen alten Ford Capri. Gehn Sie zum Wohnwagenparkplatz runter, wo die Männer wohnen, und fragen Sie Riordan – er hat mit Daley zusammengewohnt – und alle anderen, ob Daley etwas über Freunde oder Verwandte gesagt hat, zu denen er will.«

»Sie werden nichts sagen«, antwortete Pearce finster.

»Auch dann nicht, wenn sie was wissen. Sie machen den Mund nicht auf.« Er sah zu, als Markby in den wasserdichten grünen Parka schlüpfte.

»Ich fahre zu zwei Farmen raus, Greyladies Farm und Witchett Farm. Sie liegen zu beiden Seiten des Erschließungsgebiets.« Er nahm die Fotografie in die Hand und wedelte damit herum.

»Der Knabe ist nicht vom Himmel gefallen. Es gibt in diesem Gebiet etwa ein Dutzend Straßenbaustellen und Wohnanlagen, an denen gebaut wird. Wie kommt es, daß die Totengräber sich ausgerechnet diese ausgesucht haben? Im Hinblick auf die Hauptstraße liegt sie alles andere als günstig. Man muß über eine Landstraße fahren und dann in diese neu gebaute Straße einbiegen. Wer sich hier in der Gegend nicht auskennt, findet die Baustelle nicht so leicht. Wer ihn auch begraben haben mag, hat gewußt, daß hier gebaut wird. Vielleicht waren sie schon vorher da, haben sich umgesehen, sich die Stelle ausgesucht und den Fortgang der Arbeiten beobachtet. Dann haben sie sich ausgerechnet, wann ungefähr der Beton gegossen werden würde. Wenn sie hier waren, hat jemand sie, ein Auto oder sonst irgend etwas gesehen.« Man merkte Pearce an, daß er seine Zweifel hatte.

»Sie hätten doch ganz offen auf der Baustelle auftauchen und sagen können, sie wollten ein Haus kaufen. Niemand würde das merkwürdig finden. Sie hätten nach Bauplänen, Terminen und sogar danach fragen können, wie die Häuser gebaut werden.«

»Wenn ich jeden befragen muß, der irgendwann einmal auch nur in der Nähe der Baustelle war, werde ich das tun«, sagte Markby grimmig. KAPITEL 5 Trotz seiner Schwierigkeiten und Sorgen kam es Markby, als er über Land fuhr, so vor, als sei dies ein englischer Apriltag vom Feinsten. Kristallenes Sonnenlicht und ab und zu ein Regenschauer ließen die Grünstreifen am Straßenrand funkeln und Diamanten auf der nassen Straße tanzen. Die Hecken waren frisch begrünt, und die Vögel flatterten und zwitscherten in den Zweigen, wo sie nach Nistplätzen suchten. Er wünschte, er hätte Zeit, anzuhalten und den possierlichen Sprüngen der jungen Lämmer zuzusehen. Markby ging vom Gas und beobachtete die Schafe über einen Zaun hinweg. Sie gehörten vermutlich den Winthrops. Es war schon einige Zeit her, daß er auf Greyladies Farm gewesen war, und er stellte fest, daß er sich auf den Besuch freute. Er hatte die Abzweigung erreicht, an der eine Holztafel an einem mit Schlamm bespritzten Pfahl verkündete: Nur zur Farm. Um dieser Mitteilung Nachdruck zu verleihen, war der einspurige Heckenweg von den Reifen schwerer Nutzfahrzeuge zernarbt und reichlich mit Mist bestreut. Langsam fuhr Markby weiter. Die Böschungen auf beiden Seiten waren hoch, und soweit er sehen konnte, gab es keine Ausweichstellen. Wenn ihm ein anderes Fahrzeug entgegenkam, mußte er im Rückwärtsgang bis zur Straße zurücksetzen. Zum Glück kam ihm niemand entgegen, aber er scheuchte ein Eichhörnchen auf. Es erschrak und rannte ein ganzes Stück vor ihm her, bis es die Böschung hinaufhuschte und sich auf eine alte Eiche rettete, die sich mit knorrigen Ästen gefährlich über den Heckenweg neigte. Er hielt an, streckte den Kopf aus dem Fenster und spähte in die Zweige hinauf, aber das Eichhörnchen war verschwunden und beobachtete ihn wahrscheinlich aus seinem Versteck. Es kam ihm so vor, als sehe der alte Baum nicht besonders sicher aus, und die Äste hingen ziemlich tief. Von den hoch beladenen Erntewagen hatten sich Heu- oder Strohhalme darin verfangen. Er fragte sich, warum die Winthrops den Baum nicht zurückgeschnitten hatten. Der Weg gabelte sich unerwartet, und als er um die Ecke bog, stand er direkt vor dem Tor der Farm. Er fuhr in den Hof und stellte den Wagen neben einer halb fertigen Scheune ab, die unter einem Wellblechdach gegen Wind und Wetter offen war. Er hörte Schafe, die sich gegenseitig klagend anblökten, stützte die Arme auf eine der niedrigen, halbfertigen Mauern, schaute hinein, und geisterhaft grauweiße Gesichter starrten zurück.

»Guten Morgen, Ladys«, sagte er höflich. Sie hörten auf zu kauen und glotzten ihn an. Markby drehte sich um und stellte fest, daß auch er beobachtet wurde – von einem ungepflegten Collie mit einer wölfisch spitzen Schnauze, mit unsteten Augen und unverkennbar unfreundlichem Benehmen.

»Hallo, Junge«, sagte Markby mit einer Selbstsicherheit, die er nicht empfand.

»Ich bin nicht hinter deinen Freundinnen her.« Mit gesenktem Kopf machte der Hund einen vorsichtigen Schritt nach vorn, mißtrauische, rot umrandete Augen musterten Markby, dann wich der Hund wieder zurück. Er schien darüber nachzudenken, wie er am besten hinter den Eindringling kam, um ihn, bis Hilfe kam, in einer Ecke festzunageln. Zum Glück nahte die Hilfe schon.

»Whisky!« rief eine Mädchenstimme. Der Hütehund drehte sich um, wedelte und führte einen unterwürfigen Begrüßungstanz auf, wand und krümmte sich, signalisierte mit dem Schwanz noch immer Freundschaft, wollte auf das Mädchen zulaufen, um es zu begrüßen, und wollte es aber auch wieder nicht

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie. Nun, da sie hier war, schien der Hund die Verantwortung für den Farmhof einem ihm übergeordneten Wesen zu übertragen. Er zog sich in einen geschützten, sonnigen Winkel zurück, ließ sich auf einen dort für ihn ausgebreiteten Sack plumpsen, legte die Wolfsschnauze auf die Pfoten und beobachtete Markby weiterhin aus rotgeränderten Augen. Sie mußte ungefähr vier- oder fünfundzwanzig sein, vermutete Markby. Er schätzte sie nicht so sehr nach dem Augenschein, sondern nahm an, daß es sich um Jessica Winthrop handelte, die, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, jetzt etwa in diesem Alter sein mußte. Sie sah jünger aus. Ein blasses, hübsches, aber unglücklich wirkendes Mädchen mit langem blondem Haar, das so glatt war wie Zwirnsfäden, wie die alten Leute auf dem Land es nannten. Sie war schmal und zierlich, ungefähr einszweiundsechzig groß, trug eng sitzende Reithosen, hohe Reitstiefel, einen Pullover und darüber eine ärmellose marineblaue Steppweste. Sie war mit einem Stück Seil in der Hand eben aus dem Stall auf der gegenüberliegenden Hofseite gekommen. Jetzt drehte sie sich um und zog leicht an dem Seil. Hufgeklapper wurde laut, und es erwies sich, daß das Seil am ledernen Zaumzeug eines stichelhaarigen Ponys mit geflochtener Mähne befestigt war. Es trat blinzelnd ins Sonnenlicht und schaute über die Schulter des Mädchens zu Markby hinüber. Das Mädchen drehte sich auch um; beide beobachteten ihn und warteten.

»Sie sind Jessica, nicht wahr?« fragte Markby, durch die prüfenden Blicke von Mädchen, Pony und Hund leicht nervös geworden.

»Ich bin Alan Markby – Chief Inspector Markby vom Revier in Bamford. Alwyn und ich sind früher mal miteinander in die Schule gegangen. Ich nehme an, Sie erinnern sich nicht mehr an mich. Sie waren damals ja noch ein Winzling.« Sie lächelte nicht.

»Alwyn ist nicht hier und Dad auch nicht. Sind beide draußen und kontrollieren ein paar Schafe. Was wollen Sie?«

»Nun, ich …« Er unterbrach sich merkwürdig verlegen.

»Ist Ihre Mutter hier?« Bevor sie antworten konnte, rief eine andere, herbere und selbstsicherere Frauenstimme:

»Jess?«

»Mrs. Winthrop?« rief Markby zurück.

»Ich bin Alan Markby. Darf ich kurz mit Ihnen sprechen?« Das struppige Pony warf den Kopf zurück und schnaubte, stampfte mit den Hufen und strebte wieder in den Stall. Jessica wandte sich von Markby ab, um sich mit ihrem Tier zu befassen.

»Mit Ihnen möchte ich auch reden, Jessica, wenn Sie Zeit haben«, sagte Markby.

»Es dauert keine fünf Minuten.«

»In Ordnung«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.

»Ich bringe nur Nelson in seine Box zurück.« Mrs. Winthrop war aus dem Haus getreten, und ihre zunächst mißtrauische Miene wurde freundlicher.

»Ah! Wir haben Sie nicht erwartet. Wollen Sie mit unserem Alwyn sprechen?«

»Mit Ihnen allen. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten, wäre ich Ihnen dankbar.«

»Dann kommen Sie am besten mit in die Küche. Ich habe Gebäck im Rohr, kann es nicht allein lassen.« Während er ihr in die Küche folgte, fragte sich Markby, nach welcher Seite der Familie Jessica wohl schlug. Der alte Winthrop war von der Natur in jeder Hinsicht großzügig ausgestattet worden, Alwyn über einsachtzig und Jamie ein brauchbarer Rugbyspieler gewesen. Mrs. Winthrop war klein, aber stämmig – so breit wie hoch, dachte er belustigt. Sie hatte kurze, von einer zu starken Dauerwelle unschön gekrauste graue Haare und trug einen Nylonoverall. In der Küche roch es köstlich nach Selbstgebackenem.

»Setzen Sie sich, Alan«, sagte sie munter.

»Jess! Laß bloß den Hund draußen. Es stiehlt sich heimlich herein, wenn es kann, dieses Tier.« Für Markby fügte sie als Erklärung hinzu:

»Er weiß, daß er nicht ins Haus darf.«

»Überhaupt nie?«

»Nein – is’n Hütehund. Gehört ins Freie.« Markby sagte:

»Ich verstehe.« Er war nicht überrascht, daß der Collie nicht ins Haus durfte. Er war ein zottiges Tier und war ihm halb wild vorgekommen – und die Küche war makellos sauber. Mrs. Winthrop bückte sich vor dem Herd und streckte ihm die in Nylon gehüllte Kehrseite entgegen. Sie nahm das Blech mit den kleinen Teekuchen aus dem Rohr und kippte das goldschimmernde, herrlich duftende Gebäck auf den Tisch.

»Ich wette, Sie hätten gern eine Tasse Kaffee, Alan. Hätten Sie auch Appetit auf ein Stück Gebäck, heiß, mit Butter bestrichen?«

»Ja, bitte«, sagte er prompt und so begeistert wie ein Kind. Sie freute sich offensichtlich.

»Kommt sofort. Jess, steh du nicht rum, Mädchen, und guck Löcher in die Luft. Mach den Kaffee.« Das Mädchen war so leise und unauffällig in die Küche geschlüpft, wie der Collie es getan hätte, hätte er die geringste Chance gehabt. Markby ertappte sich dabei, daß er sie beobachtete, während sie die Tassen aus dem walisischen Küchenschrank nahm. Sie sah Markby nicht an. Schien den festen Vorsatz gefaßt zu haben, es nicht zu tun. Sie war entweder schüchtern oder nervös – was hatte Steve ihm erzählt? Etwas von einem Nervenzusammenbruch? Mrs. Winthrop stellte ein Glas mit selbstgemachter Marmelade und einen Teller vor ihn auf den Tisch.

»Schade, daß Sie nicht eine halbe Stunde früher hier waren, dann hätten Sie Alwyn und meinen Mann noch erwischt. Wenn Sie Lust auf einen Marsch querfeldein haben, kann ich Ihnen sagen, wo sie sind.« Er brach einen der Kuchen auf, der so heiß war, daß er sich die Fingerspitzen verbrannte, und bestrich ihn dick mit Butter. Sie schmolz sofort und wurde von dem krümeligen Teig aufgesaugt, der zu glänzen begann.

»Das ist nicht schlimm, ich kann wiederkommen. Oder wenn einer von den beiden in die Stadt kommt und eine Minute Zeit hat, soll er sich bei mir im Revier sehen lassen …« Markby redete fast unverständlich mit vollem Mund.

»Alwyn und George sind am Donnerstag beide in der Stadt. Sie bringen die Schafe aus der Scheune auf den Markt. Nur werden sie wahrscheinlich zuviel zu tun haben, um zu Ihnen aufs Revier zu kommen. Ist es wichtig?«

»Ja und nein. Ich habe ein paar Routinefragen. Sie haben von dem Toten gehört, den man auf der Baustelle gefunden hat – da, wo früher die Lonely Farm war?« Jessica brachte ihm den Kaffee, doch als sie die Tasse abstellte, tat sie es so linkisch, daß Kaffee auf das Wachstuch schwappte.

»Du hast wirklich zwei linke Hände«, sagte ihre Mutter und wischte den Kaffee auf.

»Ihre Hose hat hoffentlich nichts abbekommen, oder, Alan?«

»Nein – Glück gehabt. Danke für den Kaffee, Jessica. Das ist eine ausgezeichnete Marmelade, Mrs. Winthrop.« Schamlos hatte er sich eines zweiten Kuchens bemächtigt. Wahrscheinlich zog er sich dadurch eine Magenverstimmung zu, doch jetzt wollte er genießen und erst hinterher an die Folgen denken. Oh, du köstliche dunkelpurpurne Marmelade aus schwarzen Johannisbeeren, so fest, daß er sie mit dem Löffel als richtigen Brocken aus dem Glas holte und auf dem Kuchen zerdrücken mußte, ehe er sie streichen konnte.

»Ich gebe Ihnen ein Glas mit, wir haben Unmengen davon. Schwarze Johannisbeeren hat es letztes Jahr im Überfluß gegeben. Dieser Mord war eine böse Sache. Es ist Ihr Job, ihn zu untersuchen, nicht wahr?«

»Ja, ich leite die Untersuchung. Muß meine Sünden damit abbüßen. Sie erinnern sich nicht, am Freitagabend etwas Ungewöhnliches gesehen oder in der Nacht etwas gehört zu haben? Einen Wagen? Stimmen? So was eben.«

»Zum Glück schlafe ich wie ein Stein«, sagte sie.

»Und wie steht es mit Ihnen, Jessica?«

»Ich schlafe nicht sehr gut«, sagte das Mädchen.

»Aber gehört habe ich auch nichts. Whisky hat nicht gebellt. Er würde einen Fremden melden.« Sie unterbrach sich abrupt, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden oder habe sich schlecht benommen, und warf ihm einen gehetzten Blick zu.

»Verflixter Köter«, sagte Mrs. Winthrop in ihrer schroffen Art.

»Hätten Sie beide etwas dagegen, sich ein Foto anzusehen?« fragte Alan unsicher. Er schaute zuerst das Mädchen und dann die Mutter an.

»Ich möchte niemanden aufregen – es ist kein besonders beängstigendes Bild, aber wir versuchen festzustellen, wer er war.«

»Oh …« Mrs. Winthrop sah ihre Tochter an.

»Werfen wir also einen Blick darauf.« Markby holte sein Foto heraus und reichte es ihr. Sie fischte in der Tasche ihres Overalls nach ihrer Brille, setzte sie sich auf die Nasenspitze und blickte an der Nase entlang durch die Gläser.

»Nein, ich könnte nicht behaupten, daß ich den Burschen kenne.« Sie zögerte und streckte dann die Hand mit dem Bild aus.

»Kannst es dir ruhig ansehen, Jess. Brauchst keine Angst zu haben.« Markby beobachtete das Mädchen, als es das Foto entgegennahm. Er schämte sich für seine Arbeit, wie so oft, wenn er es mit nervösen Zeugen zu tun hatte. Er mußte ihnen wie ein Ungeheuer vorkommen. Dieses Mädchen war ganz offensichtlich nicht ganz – nun, zu sagen, es sei nicht ganz richtig im Kopf, wäre ungerecht und übertrieben gewesen. Doch unverkennbar war mit ihr nicht alles so, wie es sein sollte. Er fragte sich, ob sie wegen ihres Zustands in ärztlicher Behandlung war. Sie nahm das Foto jedoch ziemlich gelassen entgegen und sagte nach einem kurzen Blick darauf:

»Ich weiß nicht, wer das ist.«

»In Ordnung. Danke, daß Sie es sich angesehen haben.« Markby steckte das Bild wieder ein und wandte sich seinem Kaffee zu. Er hatte nicht erwartet, daß sie den Verstorbenen erkannten, und hatte noch mehr das Gefühl, daß er sie völlig sinnlos beunruhigt und bei dem Mädchen wahrscheinlich eine Nervenkrise ausgelöst hatte. Schuldbewußtsein überwältigte ihn.

»Wenn Sie Jess nicht mehr brauchen«, sagte Mrs. Winthrop ruhig, aber in dem ihr eigenen Feldwebelton,

»würde sie, glaub ich, gern hinausgehen und ihr Pony striegeln.«

»O ja, natürlich – tut mir leid, daß ich Sie von Ihrer Arbeit abgehalten habe, Jessica.«

»Schon gut …« Das Mädchen stand in seiner linkischen Art auf und flüchtete mit einem Satz aus der Küche. Mrs. Winthrop rührte in ihrem Kaffee und betrachtete die konzentrischen Kreise, die sich an der Oberfläche bildeten.

»Seit sie wieder zu Hause ist, geht es ihr viel besser, unserer Jess. Das ist jetzt ein Jahr her.«

»Sie war an einer Pädagogischen Hochschule, nicht wahr?«

»Ja, aber ihr Studium hat sie beendet. Hat Examen gemacht, ihr Praktikum gemacht und eine Anstellung bekommen. Doch sie war schon immer nervös, auch als kleines Mädchen. Sie wurde krank, mußte alles aufgeben und ist nach Hause zurückgekommen. Aber jetzt geht es ihr viel besser.«

»Wie schade, daß sie ihren Beruf aufgeben mußte. Aber ich freue mich, daß sie allmählich drüber hinwegkommt. Alwyn kommt am Donnerstag auf den Viehmarkt, ja?« Er störte hier. Er war Polizeibeamter, der seine Arbeit tat, und das hätte ihm schon seit langer Zeit nicht mehr peinlich sein sollen. Doch hier drängte er sich in einen privaten Kummer, und das Bewußtsein, daß er das tat, kränkte sein Anstandsgefühl.

»Sie können sich drauf verlassen.«

»Wenn ich nicht vorher noch einmal herkomme und er keine Zeit hat, mich aufzusuchen, gehe ich zu ihm auf den Markt.« Die Vorstellung, noch einmal auf der Greyladies Farm zu erscheinen, bereitete ihm keine Freude mehr.

»Ich sag’s ihm. Wollen Sie auch mit George sprechen? Den beiden das Foto zeigen?«

»Ja.«

»Ich sag’s ihnen.« Sie stand auf, stämmig, tüchtig, nüchtern.

»Jetzt hole ich Ihnen nur noch die Marmelade.«

Witchett Farm empfing ihn ganz anders. Mrs. Carmody kam über den Hof gelaufen, um ihn zu begrüßen, als er aus dem Wagen stieg. Sie trug eine Männercordhose, einen wunderschönen handgestrickten Pullover mit einem komplizierten Muster und ein rotes Halstuch. Scharlachroter Lippenstift, achtlos aufgetragen, das Haar aufgesteckt, mit ein paar losen Strähnen, die ihr Gesicht einrahmten.

»Hallo, Alan!« rief sie ihm mit dröhnendem Bariton entgegen.

»Sind Sie wegen des Toten hier?«

»Ja, bin ich. Ich werde nicht allzuviel von Ihrer Zeit beanspruchen.«

»Zeit? Davon hab ich genug. Kommen Sie rein.« Diesmal wurde er nicht in die Küche, sondern in ein unordentliches Wohnzimmer geführt, in dem sich schon ein Spaniel und zwei Katzen aufhielten und in dem viel zu viele Möbel standen. Im Kamin flackerte und knisterte fröhlich ein Feuer. Die Flammen spiegelten sich in dem auf Hochglanz polierten, altmodischen Kaminschutz und in dem Kaminbesteck aus Messing mit seinen Utensilien, Schürhaken, Pinsel, Zange und der kleinen Schaufel.

»So etwas habe ich ja seit Jahren nicht mehr gesehen!« rief Markby.

»Es ist älter als ich«, sagte Mrs. Carmody.

»Es war schon da, als ich noch klein war. Hab immer damit gespielt.« Sie setzte eine Katze vom Sofa auf den Boden, klopfte energisch die Kissen, und eine mit Tierhaaren vermischte Staubwolke flog auf.

»Setzen Sie sich«, forderte sie Markby auf.

»Ich habe Sie erwartet«, fuhr sie fort, als er saß, kraulte den Spaniel, machte in Richtung der vertriebenen Katze eine um Entschuldigung bittende Handbewegung, die hochmütig ignoriert wurde.

»Oh? Wieso denn das?« Markby blickte mit lebhaftem Interesse auf.

»Es lag auf der Hand, daß Sie früher oder später kommen würden, um herumzufragen, oder? Aber eigentlich habe ich einen von Ihren Jungs erwartet, nicht Sie selbst. Ich freu mich, daß Sie mich für so wichtig halten.«

»Da ich Sie mein Leben lang kenne«, sagte Markby lächelnd,

»war es angenehm, einen Vorwand zu haben, herauszukommen und Sie zu besuchen, auch wenn es ein dienstlicher Besuch ist. Wie kommen Sie zurecht, Dolly?«

»Recht gut. Im Winter hab ich’s ein bißchen auf der Brust. Werde eben alt, das ist es. Gehöre langsam zum alten Eisen.«

»Sie? Niemals!« bestritt er, und sie brach in lautes Gelächter aus. Markby zeigte ihr das Foto.

»Ist das der Tote? Kann Ihnen nicht sagen, wie er heißt, wenn es das ist, was Sie wollen. Tut mir leid.« Das klang bedauernd. Noch einmal betrachtete sie das Bild sehr sorgfältig, runzelte die Stirn.

»Nein«, wiederholte sie kopfschüttelnd. Noch eine Haarsträhne löste sich aus ihrem Knoten.

»Ich kenn ihn nicht.«

»Nie jemanden in der Gegend gesehen, der eine flüchtige Ähnlichkeit mit ihm hatte? Als er noch lebte, hat er wahrscheinlich ein bißchen anders ausgesehen.« Mrs. Carmody hatte ihm das Foto zurückgegeben und sah ihn jetzt nachdenklich an.

»Nein, doch letzte Woche hat jemand nachts hier rumgeschnüffelt.«

»Ja?« Er beugte sich eifrig vor. Endlich!

»Aber ich hab ihn nicht gesehen. Das heißt, ich hab ihn gesehen und auch wieder nicht. Es war, lassen Sie mich mal überlegen, letzten Donnerstag. Nachts. Ich war aufgeblieben, um fernzusehen, und ging ein bißchen später als üblich ins Bett. Kaum war ich eingeschlafen, wachte ich plötzlich wieder auf. Ich hörte die Pferde in ihren Boxen wiehern und stampfen. Sie gehören nicht mir. Ich habe jetzt keine Rinder und Pferde mehr. Aber ich verpachte die Felder als Weideland an andere Leute, und zwei oder drei Pferdebesitzer stellen ihre Tiere bei mir unter. Ich miste die Ställe aus und füttere die Gäule, und Jessica Winthrop kommt fast jeden Tag rüber und hilft mir. Das arme Kind, hat keinen Funken Leben in sich, wissen Sie.«

»Ja, ich war eben drüben auf der Greyladies Farm …« Er wollte ihre Erzählung nicht unterbrechen, doch sie war ohnehin in Gefahr, vom Thema abzuschweifen.

»Und Sie haben vermutet, daß sich ein Eindringling hier herumtrieb?«

»Ich bin aus dem Bett aufgestanden und hab meinen alten Morgenmantel angezogen. Natürlich, der Hund ist hier, aber sie ist stocktaub, beinahe vierzehn Jahre alt, deshalb kann ich mich nicht drauf verlassen, daß sie was hört. Dann hab ich den Kopf aus dem Fenster gesteckt. Es war eine ziemlich klare Nacht am letzten Donnerstag, wie Sie sich noch erinnern werden. Aber um richtig was zu sehen, hätte sie noch klarer sein müssen. Direkt beim Hofeingang entdeckte ich einen Schatten, der sich bewegte. Ich hab gerufen und ihn gefragt, was er da unten macht, und da ist er verschwunden. Dann hab ich mich richtig angezogen, eine Taschenlampe genommen und bin hinuntergegangen, um nachzuschauen, ob mit den Pferden alles in Ordnung war.«

»War das nicht ein bißchen unbesonnen, Dolly?« sagte Markby besorgt. Sie mußte über sechzig sein.

»Wenn ich mich davor fürchten würde, hier allein zu leben, Alan, dann sollte ich’s nicht tun. Ich hab mein ganzes Leben hier verbracht. Ich war das einzige Kind meiner Eltern, und als ich heiratete, ist mein Mann hergekommen, und wir haben die Farm von den Alten übernommen. Wenn ich hier weggehe, dann mit den Füßen voraus in einer hölzernen Kiste. Die Stalltür war jedenfalls noch fest verschlossen, und es gab keine Anzeichen dafür, daß jemand versucht hatte, einzudringen. Ich kontrollierte die Fenster im Haus und hab mir gesagt, es war wahrscheinlich ein Landstreicher, der eine Scheune zum Schlafen suchte oder es vielleicht auf ein Huhn abgesehen hatte. Seit die neuen Prüfvorschriften wegen der Salmonellen eingeführt wurden, habe ich nur noch ein paar Hennen und den alten Hahn. Es hat keinen Sinn, sich noch Hühner zu halten, um Eier zu verkaufen. Lohnt sich nicht mehr. Aber ein paar halte ich noch für mich selbst, ich mag ein frisch gelegtes Ei zum Frühstück. Aber es gab im Hühnerstall kein Gezeter. Wäre es ein Fuchs gewesen, hätte der alte Hahn einen Höllenlärm gemacht. Nein, es war schon ein Kerl, aber mehr als eine Gestalt habe ich nicht gesehen.«

»Und später haben Sie niemanden mehr gesehen oder gehört?« Sie schüttelte den Kopf. Markby steckte das Foto wieder ein. Zwei Schritte vorwärts, einen zurück. Es war jedoch ein – wenn auch recht dürftiger – Hinweis.

»Danke«, sagte er.

»Das hat mir sehr geholfen.« Mrs. Carmody stand auf und ging zu einer sehr hübschen frühviktorianischen Anrichte. Sie öffnete die kleine Tür und bückte sich.

»Ich glaube, Sie könnten jetzt einen Tropfen Scotch vertragen. Sagen Sie nicht, daß Sie im Dienst sind. Außer uns beiden ist ja keiner da, und ich genehmige mir jetzt ganz bestimmt einen Schluck.«

»Schön, schön, ich trinke mit.« Er sah zu, als die bernsteinfarbene Flüssigkeit mit leisem Gluckgluck aus der Flasche ins Glas floß.

»Hier, trinken wir auf den Toten, wer der arme Teufel auch gewesen sein mag«, sagte Mrs. Carmody.

»Ex.«

»Der Alte«, sagte Sergeant Pearce zu Woman police constable Jones,

»hat die Farmer übernommen, und ich muß zu den Bauleuten.«

»Du willst wieder auf die Baustelle?« fragte Miss Jones.

»Dann nimm deine Gummistiefel mit.«

»Ich hoffe, er hat seine mitgenommen«, sagte Pearce grinsend. Als er auf der Baustelle eintraf, schien auf den ersten Blick alles wieder völlig normal. Doch bald stellte er fest, daß das eine Illusion war. Das Gelände um den Graben, in dem man den Toten gefunden hatte, war noch immer mit Seilen abgesperrt und verlassen. Niemand ging auch nur in die Nähe, und es war klar, daß es nicht etwa aus Respekt vor den polizeilichen Ermittlungen geschah. Es war ganz einfach so, daß der Ort in einem urzeitlichen Sinn tabu geworden war. Für die Männer, die diese Häuser bauten, bedeutete es Tod, wenn man sich auf diesen Platz wagte. Vor zweitausend Jahren hätte man den Ort mit Totenschädeln auf Pfählen und den zerfledderten Resten von Opfergaben gekennzeichnet. Heutzutage lagen da nur eine leere Getränkedose und – sehr seltsam – ein kleiner Strauß Himmelschlüssel. Pearce runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Bauarbeiter Blumen hierher gelegt hatten. Wer in aller Welt hatte es dann getan? Jemand, der den Mann gekannt hatte, der hier begraben werden sollte, es bisher aber unterlassen hatte, sich zu melden und ihn zu identifizieren? Pearce machte sich eine Notiz, um Markby Bescheid zu sagen.

»Ich weiß nicht, was wir mit diesem Grundstück anfangen sollen«, sagte der Baustellenleiter, als Pearce ihn in seinem Unterschlupf aufgespürt hatte.

»Ich habe Newman gesagt, wir müßten andere Arbeiter einstellen. Die wir jetzt haben, gehen nicht einmal in die Nähe des Grundstücks. Nein, Daley hat uns keine Nachsendeadresse gegeben. Hatte eine Todesangst, der arme Kerl, und konnte nicht schnell genug von hier weg. Fragen Sie auf alle Fälle Joe Riordan. Ich glaube, Sie finden ihn unten bei den Wohnwagen.« Der Baustellenleiter zögerte.

»Sie werden feststellen, daß er ein bißchen verschlagen ist. Ich meine nicht aufsässig wie Hersey, nur – Sie werden es ja selbst sehen. Sie müssen ihn festnageln.« Pearce nahm die Warnung zur Kenntnis und marschierte quer über die Baustelle, schwerfällig in den Stiefeln vorwärtsstapfend, die er eigens zu diesem Zweck mitgenommen hatte. In der Nacht hatte es stark geregnet, und der schwere, klebrige Lehm blieb an den Sohlen und Absätzen der Wellingtons haften, wurde immer mehr, bis Pearce unbeholfen und steifbeinig auf Füßen weiterging, die in zwei Lehmklumpen steckten. Er mußte lächerlich aussehen, und genauso fühlte er sich. Der Wohnwagen-Parkplatz war wenig anziehend, die Wohnwagen selbst schäbig und verrostet. An einer improvisierten Leine hingen Wäschestücke, und zwischen den Wohnwagen parkten da und dort Autos. Unmengen anderer Dinge lagen herum: Propangasflaschen, weggeworfene Mineralwasserflaschen aus Plastik, leere Pappkartons und schwarze Plastikmüllsäcke, die aufgeplatzt waren und deren Inhalt verstreut herumlag. Daneben ein übelriechender Toilettenblock. Pearce rümpfte angewidert die Nase und murmelte:

»Pfui!« Jemand anders fand das Ganze auch unmöglich. Als Pearce näher kam, hörte er in einer heftigen Auseinandersetzung erhobene Stimmen.

»… bringt den verdammten Platz in Ordnung!« brüllte die eine, die Pearce als die von Jerry Hersey erkannte. Seine Stimmung rutschte auf Null. Er hatte mit Riordan sprechen wollen, bevor Hersey spitzkriegte, daß die Polizei wieder da war.

»Dafür bin ich verdammt nicht zuständig!« bellte eine andere Stimme zurück. Herseys Antwort war derart, daß sogar Pearce, dem schon so mancher anschauliche Ausdruck zu Ohren gekommen war, zusammenzuckte.

»Mensch!« stieß er hervor. Er kam um die Ecke eines Wohnwagens und stand dem Polier gegenüber, der sich mit in die Seiten gestemmten Armen und hinter der Hornbrille wütend funkelnden Augen vor Joe Riordan aufgebaut hatte. Riordan lehnte in der offenen Tür des Wohnwagens, in dem er mit Daley gehaust hatte, bis Daley getürmt war. Der Arbeiter war ein großer und breiter Mann mit rotem Gesicht, mächtigen Schultern, einem Bierbauch und tätowierten Unterarmen. Er trug Cordhosen und ein schmutziges ärmelloses Unterhemd, aus dem ein beachtlicher Pelz aus Brusthaaren herausschaute. Beide Männer blickten auf, als Pearce erschien. Hersey spuckte seitlich aus.

»Wollen Sie zu mir oder zu ihm?« fragte Riordan und zeigte mit einer verächtlichen Kopfbewegung auf Hersey.

»Zu Ihnen, Mr. Riordan, wenn Sie einen Moment Zeit haben«, sagte Pearce höflich.

»Bin der Polizei immer gern zu Diensten«, sagte Riordan freundlich und, wie Pearce vermutete, nicht wahrheitsgemäß. Er zeigte auf den Innenraum seines Trailers.

»Wollen Sie nicht reinkommen?« Hersey knurrte und stapfte davon.

»Dieser Mann«, sagte Riordan,

»ist ganz schlicht und einfach ein Schweinehund. Nennt sich Polier. Ich hätte bessere Arbeit geleistet als er, und wenn man mir eine Hand auf den Rücken gebunden hätte. Ziehen Sie die Stiefel aus, bevor Sie reinkommen.« Dankbar befreite Pearce sich von seinem gewichtigen Schuhwerk und betrat den Wohnwagen. Drinnen war es warm, ziemlich sauber und recht ordentlich.

»Ich mach uns eine Tasse Tee«, sagte Riordan.

»Wollen Sie einen Tropfen von irgendwas in den Ihren?«

»Nein, danke«, sagte Pearce hastig.

»Nur Tee. Ich bin wegen Sean Daley hier.«

»Er ist weg, hat man Ihnen das nicht gesagt?«

»Wir haben es eben erfahren. Wissen Sie zufällig, wohin er wollte?«

»Nein«, sagte Riordan einfach. Er nahm einen zischenden Kessel von seinem kleinen Propangaskocher und goß das kochende Wasser in eine emaillierte Teekanne. Dann rührte er das Gebräu energisch mit einem Tischmesser ohne Griff um und schüttete das fertige Getränk in zwei große Becher.

»Hat er denn nicht einmal angedeutet, daß er weg wollte?« Pearce nahm den Becher entgegen.

»Er hätte nämlich bleiben sollen. Wir brauchen ihn bei der Leichenschau. Er hat die Leiche gefunden.«

»Und hat einen Knacks gekriegt«, sagte Riordan, griff zu seinem Flachmann und goß ein ordentliches Quantum daraus in seinen Becher. Starker Whiskygeruch erfüllte die Luft.

»Er ist immer wieder schreiend aufgewacht. Ich konnte nicht schlafen. Hab selber nur einen leichten Schlaf.«

»Hat er Verwandte, zu denen er gegangen sein könnte?«

»Er kam aus der Grafschaft Cork«, sagte Riordan gelassen.

»Sie meinen, er ist nach Irland zurückgegangen?«

»Ich meine gar nichts. Vielleicht ja, vielleicht nein, was weiß denn ich?«

»Hat er hier im Land niemanden, zu dem er gegangen sein könnte?«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, er stammt aus Cork.«

»Verdammt«, sagte Pearce mürrisch und nahm unvorsichtig einen Schluck Tee.

»Verdammt!« wiederholte er heftiger; er hatte sich die Zunge verbrüht.

»Haben Sie sich verbrannt?« Riordan unterbrach sich, den Becher halb erhoben; an seinen Tätowierungen traten die Venen hervor. Er trank ausgiebig und anscheinend unempfindlich. Muß einen gußeisernen Schlund haben, dachte Pearce. Und auch eine gußeiserne Methode, mit Fragen von Polizisten umzugehen.

»Wie steht es mit Freunden auf dieser Baustelle? War er mit jemandem besonders befreundet?«

»Nein«, sagte Riordan.

»War ein stiller Typ. Manchmal, wenn es regnete, haben wir Karten gespielt, er und ich.«

»Hat er etwas hiergelassen?« Pearce sah sich im Wohnwagen um.

»Persönliches Eigentum, Kleidung, Briefe oder andere Korrespondenz?«

»Nein«, sagte Riordan.

»Sie können mir also gar nichts sagen?«

»Ich kann Ihnen sagen, daß eines Tages jemand Jerry Hersey den häßlichen Hals umdrehen wird. Ich kann den Anblick dieses Kerls nicht ertragen, und so geht es allen. Was keinen überrascht.«

»Nein«, sagte Pearce unüberlegt und fügte hastig hinzu:

»Aber ich frage nicht nach Hersey, sondern nach Sean Daley.«

»Könnte nicht behaupten, daß ich Ihnen über ihn was sagen kann.« Pearce stellte den Becher ab und versuchte

»danke« zu sagen, ohne daß es allzu sarkastisch klang.

»Bitte, bitte, keine Ursache«, sagte Riordan.

»Oh«, Pearce blieb in der Tür stehen, um wieder in die schmutzigen Stiefel zu steigen.

»Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten keinen festen Schlaf? Haben Sie vergangene Freitagnacht zufällig einen Motor oder irgendein anderes Geräusch gehört, aus dem man schließen könnte, daß sich jemand auf der Baustelle herumtrieb?«

»Ja, also – das ist schon komisch«, sagte Riordan und kratzte sich nachdenklich den verschlungenen Urwald auf seiner Brust. Und verstummte ärgerlicherweise.

»Ja?« drängte Pearce.

»Was ist komisch?«

»Hab nichts gehört«, sagte Riordan.

»Es wundert mich nicht«, murmelte Pearce, als er auf lehmbepackten Füßen davonhinkte,

»daß der Alte sich die Farmer ausgesucht hat.«

Irgendwie schien es Markby doch keine so ausgefallene Idee mehr, als er am Abend nach Hause kam, zum Telefon griff und Meredith anrief. Er wußte nicht genau, wieso er es sich anders überlegt hatte, aber Jessica Winthrops blasses – so einsames und verschlossenes – Gesicht verfolgte ihn. Er hatte noch immer das Gefühl, gestört zu haben. Dieser Fall drohte ihm gefährlich nahezugehen. Und da waren natürlich auch noch Laura und das Haus. Es war nur fair, wenn er versuchte, Laura zu helfen. Meredith konnte den Vorschlag schließlich jederzeit ablehnen. Was sie wahrscheinlich auch tun würde.

Doch sie lehnte nicht ab. Statt dessen ging sie geradezu begeistert darauf ein.

»Tatsächlich würde ich sogar wahnsinnig gern auf ein paar Tage runterkommen, Alan, und zufällig habe ich nächste Woche und über Ostern frei. Es ist eine lange Geschichte – ich erzähle sie Ihnen, wenn wir uns treffen. Wann fährt Laura in Urlaub?«

»Am Samstag, und das sehr früh. Sie hofft, schon gegen halb sechs losfahren zu können. Lieber sie als ich. Können Sie sich vorstellen – vier Kinder und ihren ganzen Kram um diese gottverlassene Zeit ins Auto zu stopfen und dann wie verrückt zur Küste zu rasen, um die Zehn-Uhr-Fähre zu erreichen?«

»Dann komme ich am Samstag ein bißchen später, so gegen elf.«

»Ich bin wahrscheinlich im Büro. Wir haben im Moment sehr viel zu tun. Das bedeutet, daß ich leider nur wenig freie Zeit haben werde.« Das war, dachte er, obwohl eigentlich die Wahrheit, ziemlich gerissen. Er wußte recht gut, daß sie lieber kam, wenn sie dachte, er sei anderweitig zu beschäftigt und dann zu müde, um ihr lästig zu fallen.

»Wenn Sie auf dem Revier vorbeikommen, gebe ich Ihnen die Schlüssel zum Haus.«

»Fein. Dann sehen wir uns am Samstagvormittag.« Ohne so recht an sein Glück glauben zu können, legte er auf. KAPITEL 6

»Passen Sie auf! Der Mistwagen kommt hier durch!« Gerade noch rechtzeitig aufmerksam gemacht, sprang Markby flink zur Seite, als der Gülletankwagen in der schmalen Zufahrt zum Viehmarkt in Bamford an ihm vorbeischaukelte. Donnerstag morgens ging es in der Stadt immer lebhaft zu. Vom frühen Morgen an waren die Viehtransporter eingetroffen, einige hohe Doppeldecker, andere bescheidene

»Grüne Minnas« für Tiere. Der ganze Markt war durch Metallzäune in Quadrate unterteilt, jedes für eine bestimmte Tierart. In der Mitte, der überdachte Platz, war der Ring, in dem die Versteigerungen stattfanden. Es sah genauso aus wie die Spielzeugfarm, die er als Junge gehabt hatte, außer daß hier eine Kakophonie aus Blöken, Muhen, Quieken und dem metallischen Rattern der Gatter seine Ohren peinigte. Mit einem ohrenbetäubenden Hufgeklapper entließ ein weiterer Transporter seine übelriechende Fracht, die Tiere rannten in einer Ministampede über die heruntergelassene Heckklappe, während die Transportbegleiter schrille Pfiffe ausstießen und brüllten. An anderer Stelle wurden Tiere, die den Auktionsring schon passiert hatten, in andere Transporter eingeladen. Vielleicht von ihrem Instinkt geleitet, machten einige vergebliche Fluchtversuche, wurden aber schnell und fachmännisch wieder eingefangen und ihrem weiteren Schicksal zugeführt – was immer das sein mochte. Den Lärm übertönend, meldete sich eine klagende Lautsprecherstimme und bat denjenigen, der seinen Landrover in der Zufahrt abgestellt hatte, den Wagen sofort zu entfernen. Als ein großer junger Mann in einem schmutzigen weißen Overall und riesigen Gummistiefeln einen widerspenstigen, dreckverschmierten Ochsen vorüberführte, preßte Markby sich an eine Reklametafel, auf der alle möglichen landwirtschaftlichen Erzeugnisse angepriesen wurden. Er suchte Schafe. Wo Schafe waren, waren auch die Winthrops, Vater und Sohn. Genau in diesem Moment wurde langsam ein Karren vorbeigezogen, auf dem angekettet zwei schwarzgesichtige Mutterschafe standen und ein drittes im Stroh lag. Markby machte sich in die Richtung auf den Weg, aus der sie gekommen waren. Er drängte sich durch eine Menge bukolischer Gesichter. Große, kräftige Männer in grünlichen Klapprandhüten und dicken Aranpullovern unter bequemen Harristweedjacken; Männer mit schmalen Gesichtern und Lederhaut in gewachsten Mänteln und grünen Gummistiefeln; blühend aussehende Frauen mit rosigen Gesichtern, sie trugen vernünftige Schuhe und hatten ländliche Frisuren; Männer, die wie pensionierte Offiziere eines Garderegiments aussahen und es vermutlich auch waren; und Männer, die aussahen, als seien sie über den Boden hinausgewachsen, den ihre Familien seit Generationen bestellt hatten. Viele grüßten Markby, sie kannten ihn nicht nur, weil er der heimischen Polizei angehörte, sondern weil er aus einer hier ansässigen Familie kam, die einmal in der Gegend Land besessen hatte. Seit einer Generation zwar nicht mehr, aber auf dem Land hat man ein gutes Gedächtnis. Schuldbewußt überlegte er, ob seine Familie nicht unter den ersten gewesen war, die die Todsünde begangen und an Bauunternehmer und Landerschließer verkauft hatte. Als ihm einfiel, wie überheblich er mit Steve gesprochen hatte, hatten die Worte plötzlich einen falschen Klang. Die Schafe waren in der entlegensten Ecke untergebracht, doch noch ehe er sie erreichte, hatte er bereits Alwyn Winthrop entdeckt, kein Mann, den man mit seiner Größe von weit über einsachtzig und dem flammend roten Haar unter einer flachen Mütze in einer Menge übersehen konnte. An seiner Seite die beleibte Gestalt seines Vaters, kleiner, aber auch breiter und ausladend, mit schweren Schultern und scheinbar halslos; unerschütterlich und unbeweglich wie ein Sumoringer stand er da.

»Alwyn!« überschrie Markby den Lärm. Alwyn drehte sich um und begrüßte Markby mit einer Geste.

»Hab mir schon gedacht, wir würden dich zu sehen kriegen«, sagte er freundlich, als Markby sich zu ihnen durchgedrängt hatte.

»Ma hat uns gesagt, daß du vielleicht herkommst. Hier ist Alan, wegen des toten Burschen, Dad.«

»Oh, wegen dem«, sagte Winthrop senior mit seinem dröhnenden Baß.

»Läßt Sie ganz schön rotieren, nicht wahr?«

»Ziemlich, ja«, gab Markby offen zu. Er kramte in seiner Tasche und zog das jetzt schon mit einigen Eselsohren

»verzierte« Foto heraus. Höflicherweise reicht er es zuerst dem älteren Winthrop. Winthrop senior schob seinen ungewöhnlich alten Hut auf den Hinterkopf und hakte einen Daumen in das Armloch seiner Weste, während er sich darauf vorbereitete, sein Urteil abzugeben. Eine Uhrkette, wahrscheinlich antik und aus Massivgold, spannte sich über seinem stattlichen Bauch und verschwand in einer Uhrentasche an der Weste. Dem Markt zu Ehren hatte er heute eine Krawatte umgelegt, einen zerknitterten Stoffstreifen ungewissen Alters, der sich in den Wülsten versteckte, die bei Winthrop senior Kopf und Schultern zusammenhielten. Er hielt die Fotografie auf Armeslänge von sich weg; in seiner mächtigen Pranke sah sie wie eine Briefmarke aus.

»Ah, das ist er also!« verkündete er in weisem und rätselhaftem Tonfall und fügte dann hinzu:

»Könnte nicht behaupten, daß ich den armen Teufel kenne.« Er reichte das Foto seinem Sohn und hakte den anderen Daumen in das Armloch seiner Weste. Neben seinem Vater sah Alwyn smarter aus; er trug ein relativ neues Tweedjackett, vermutlich das

»gute Stück«, das besonderen Gelegenheiten vorbehalten war; alles in allem war er gut angezogen. Er studierte das Foto einen Augenblick wortlos und sagte sachlich:

»Kommt mir irgendwie komisch vor, einen Toten zu fotografieren. Der Mann ist doch tot, oder?«

»Leider ja. Wir haben noch keine Ahnung, wer er ist.« Alwyn schüttelte den Kopf und gab Markby das Foto zurück.

»Tut mir leid, daß wir dir nicht helfen können.«

»Trotzdem vielen Dank«, sagte Markby düster und schob das Foto in die Tasche.

»Wie sind die Schafpreise?«

»Gefallen«, sagten Winthrop Vater und Sohn unisono.

»Das tut mir leid. Wollt ihr nächstes Jahr etwas anderes versuchen?«

»Haben’s mit Kartoffeln versucht, der Preis ist runtergegangen. Haben’s mit Rindern versucht. Der Preis ist runtergegangen. Schätze, wir bleiben jetzt bei den Schafen.« Winthrop senior nahm die goldene Sprungdeckeluhr mit dem teilweise durchsichtigen Deckel, die an der Uhrkette hing, aus der Westentasche und warf einen Blick darauf, ehe er sie wieder in die Tasche steckte. Alwyn machte ein bockiges Gesicht, öffnete den Mund, schloß ihn dann aber wieder, als verkneife er sich lieber, was er sagen wollte. Er drehte sich zur Seite und lehnte sich an das Metallgatter. Die Schafe standen eng aneindergedrängt vor ihm und schauten zu ihm auf, als erwarteten sie eine Ansprache von ihm. Winthrop senior wurde von einem Bekannten gerufen und ging zu ihm. Mark lehnte sich neben Alwyn an das Gatter.

»Eine Farm zu bewirtschaften ist heutzutage wohl nicht ganz leicht«, sagte er.

»Das darfst du ruhig noch einmal sagen. Und es ist noch verdammt untertrieben.« Alwyn unterbrach sich, rückte die Mütze auf dem roten Haarschopf zurecht und fügte hinzu:

»Es soll nicht schroff klingen. Der Jammer ist, daß Dad – nun, er wird älter und immer unflexibler. Sein Vater hat Greyladies vor ihm bewirtschaftet und noch weiter zurück sein Großvater … Er kann sich nicht vorstellen, daß wir woanders leben als auf der Farm. Auch dann nicht, wenn wir bankrott gehen – was sehr leicht passieren kann.« Markby mußte an das denken, was Steve Wetherall gesagt hatte, und fragte zögernd:

»Du würdest schon in Erwägung ziehen, ganz aufzuhören, oder?«

»Nicht solange Dad am Leben ist. Es würde ihn umbringen, wenn ich sagen tät, ich geh. Mutter wird auch älter. Doch er würde es versuchen, auch wenn ich gehe. Er würde versuchen weiterzumachen. Ich kann sie nicht im Stich lassen.« Das klang nach echter Verzweiflung. Markby war wieder unbehaglich zumute. Anscheinend erging es ihm mit allen Winthrops so, daß er das Gefühl hatte, ohne einen echten Grund in ihren Angelegenheiten zu schnüffeln und Salz in offene Wunden zu streuen. Aber Alwyn hatte wieder zu sprechen angefangen. Vielleicht gab es nicht viele Menschen, denen er sich anvertrauen konnte, und einmal losgelassen, hörten die Worte nicht auf zu sprudeln.

»Ich nehme es Jamie nicht übel, daß er gegangen ist. Er hat seine Chance genutzt. Viel Glück für ihn. Das heißt aber, daß ich nicht weg kann. Und da ist noch Jess. Das ist kein Leben für sie. Sie geht auf die Witchett Farm rüber und verbringt dort eine Menge Zeit mit der alten Dolly Carmody. Sie sollte junge Freunde haben.«

»Du hast nie daran gedacht zu heiraten, Alwyn?« hörte Markby sich zu seiner größten Überraschung fragen.

»Hab einer Frau nichts zu bieten. Ich sag dir, Alan, wenn ich nur ein halbwegs anständiges Angebot für das Land bekommen und es an mir liegen würde …« Er unterbrach sich und kaute zornig an der Unterlippe, zog sich die Mütze tief in die Augen und musterte finster die arglosen Schafe vor ihnen.

»Aber es liegt nicht an mir, nicht wahr? Außerdem müßte ich erst die richtige Frau kennenlernen – die mich nimmt.«

»Nun ja«, sagte Markby, weil es nicht viel mehr zu sagen gab.

»Treffen wir uns mal am Abend auf ein Glas, Alwyn?«

»Gern. Gewöhnlich sitz ich im Fox and Hounds, und du findest mich fast jeden Abend dort. Das klingt, als ob ich ein alter Säufer war – aber ich bin der Typ, der eine Stunde lang an einem einzigen Pint nuckelt. Jedes verdammte Bier kostet Geld.«

»Dann sehen wir uns dort«, sagte Markby und verabschiedete sich mit, wie ihm selbst schien, unziemlicher Hast. Als Meredith am nächsten Samstag das Straßenschild Bamford, 3 Meilen erblickte, wurde ihr vor Freude warm ums Herz. Und warum auch nicht? Es war ein schöner Frühlingsmorgen, sogar der Wind war frisch. Sie hätte die ganze Strecke auf der Autobahn und auf Hauptstraßen zurücklegen können, doch sie hatte sich entschlossen, sich der Stadt auf der alten Straße zu nähern, die auf beiden Seiten von Feldern gesäumt wurde. Die Knospen treibenden Bäume schwenkten ihre Äste in der Brise, und die Vögel, von leichten Böen abgelenkt, wechselten mitten im Flug plötzlich die Richtung. In der Ferne donnerten die Laster über die Schnellstraße, doch sie hatte, seit sie abgebogen war, nur zwei Autos, einen Traktor und einen FitneßBegeisterten auf dem Fahrrad überholt. Jetzt jedoch sah sie ein Mädchen auf einem plumpen, zottigen Pony vor sich. Meredith ging vom Gas und fuhr langsam vorüber, und das Mädchen hob zum Dank für diese Rücksicht die Hand. Meredith winkte und blickte zurück. Die Reiterin war kein Kind, wie sie aus der zierlichen Gestalt und dem langen blonden Haar geschlossen hatte, das unter der Reitkappe hervorquoll, sondern eine junge Frau, vermutlich Ende Zwanzig. Meredith fuhr weiter, und die Reiterin verschwand aus ihrem Blickfeld. Meredith vergaß sie auch in ihrer Vorfreude auf Alan. Es ist lächerlich, sich deshalb so zu freuen, schalt sie sich. Jedes Wiedersehen endete damit, daß Alan unmißverständlich auf

»ernste Absichten« zusteuerte, was in Meredith eine geradezu panische Angst auslöste, so daß sie flüchten mußte. Doch London für ganze neun Tage hinter sich zu lassen, das Büro und Tobys bedrückende Wohnung in Islington, war reine Seligkeit. Die Wohnung, die Toby ihr freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte, war katastrophal, das konnte keiner leugnen. Der abwesende Wohnungsinhaber scherte sich keinen Deut darum, wie zum Beispiel die Wände aussahen. Als Meredith einzog, hatte die Küche braune Wände gehabt, die Decke war flaschengrün gestrichen mit tomatenroten Flekken, die ebenso von einem Unfall mit Tomatenketchup wie von einem Ritualmord herrühren konnten. In ihrer Verzweiflung hatte Meredith die Küche cremefarben und blau gestrichen und ein paar billige farbenfrohe Vorhänge angebracht. Sie wollte jedoch nicht noch mehr Geld in das Eigentum eines anderen stecken, daher behielt die übrige Wohnung ihre senfgelben Wände mit zerkratztem lehmbraunem Holzwerk. Die Straße bog jetzt nach links ab, und wild wuchernde Hecken und ein uralter, riesiger Roßkastanienbaum versperrten die Aussicht. Um ein Haar hätte Meredith für ihre Tagträumereien teuer bezahlt. Sie fuhr um die Kurve herum und fand die schmale Straße unmittelbar vor sich von Schafen blockiert. Es waren Hunderte, wie es ihr zu ihrem Entsetzen vorkam, eine wollige Masse, die sich in alle Richtungen ausbreitete und der man weder links noch rechts ausweichen konnte. Meredith trat die Bremse bis zum Anschlag durch und riß verzweifelt das Steuer herum, um die Leittiere der Herde nicht zu treffen. Der Wagen machte einen Satz auf den Grasrand, rumpelte die Böschung hinauf, scharrte an der Hecke entlang, hängte sich eine Girlande aus Disteln und Quecken um und steuerte erbarmungslos auf den Stamm der alten Kastanie zu. Meredith ließ das Steuer los und schlug die Hände vor das Gesicht, um es gegen den, wie es schien, unmittelbar bevorstehenden Aufprall zu schützen. Der Wagen machte einen Satz, der Motor hustete und starb ab. Sie blieben stehen. Meredith ließ die Hände sinken und starrte benommen durch die Windschutzscheibe. Wie durch ein Wunder war es nicht zum Crash gekommen; der Wagen stand, wenn auch in einem gefährlichen Winkel nach oben und mit dem Kühler an der Baumrinde. Automatisch griff sie nach der Handbremse. Es schien sehr still um sie herum, sogar der Lärm, den die Tiere machten, schien weit weg zu sein. Plötzlich wurde die Autotür auf der Fahrerseite aufgerissen, und die dunkle Silhouette eines Männerkopfes und breiter Männerschultern verdrängte das Tageslicht.

»Alles in Ordnung?« fragte der Mann rauh. Meredith wandte den Kopf und quietschte erschrocken auf, denn ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem des Fragenden entfernt. Graue Augen in einem wettergegerbten Gesicht funkelten sie an, aber ihre Aufmerksamkeit galt hauptsächlich der erstaunlichen Mähne roter Haare.

»Danke, ja«, sagte sie bebend. Dann riß sie sich zusammen und fragte mit festerer Stimme, aber ängstlichem Unterton:

»Ich hoffe, ich habe keines Ihrer Schafe verletzt.«

»Nein. Aber ich hab gedacht, daß Sie sich um den alten Baum wickeln wollten.« Er trat einen Schritt zurück und richtete sich auf. Meredith beugte sich hinaus, um ihre Lage abzuschätzen, und blickte auf seine in Gummistiefeln steckenden Füße hinunter. Sie hob den Kopf und begegnete wieder seinen grauen Augen.

»Ich denke«, begann sie schrill und fuhr dann überkompensierend im Kontraalt fort:

»Ich kann auf die Straße zurücksetzen, sobald die Schafe nicht mehr im Weg sind.«

»Ganz ruhig«, riet er.

»Ich pfeife dem Hund, damit er die erste Partie zurücktreibt.« Er stieg die Böschung hinunter, eine schwerfällige Gestalt in einem alten Pullover, mit in der Sonne glänzenden roten Haaren. Er pfiff und gab laute Kommandos, die Schafe begannen lauter und ärgerlicher zu blöken und rannten ziellos hin und her. Von Zeit zu Zeit erhaschte Meredith zwischen ihren wolligen Leibern einen Blick auf einen schwarz-weißen Blitz. Der Schäfer rief und winkte ihr.

»Es ist in Ordnung. Lösen Sie die Handbremse, und lassen Sie den Wagen einfach zurückrollen. Die Straße ist frei. Und jetzt Vorsicht!« Meredith löste die Handbremse, aber nichts geschah. Sie ließ den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein, versuchte es vorsichtig noch einmal. Nichts.

»Verdammt! Ich sitze fest!« explodierte sie.

»Verdammte Schafe!« Ihre Worte drangen durch das offene Fenster ins Freie. Er kam zurück, bückte sich neben der Tür und sagte:

»Ich schiebe Sie an.«

»Nein, ich laß mir was einfallen!« fauchte sie.

»Dann können Sie den ganzen verdammten Tag hierbleiben und darüber nachdenken«, antwortete er.

»Ich schiebe den Wagen jetzt an oder laß Sie hier sitzen, ganz wie Sie wollen.« Um ihren Zorn noch zu steigern, gab er ihr keine Gelegenheit, ihr Mißvergnügen zu äußern, glaubte die Auseinandersetzung zu seinen Gunsten beendet, ging um den Wagen herum nach vorn und setzte seine muskulöse Schulter ein. Grimmig biß er die Zähne zusammen, und seine Halsvenen schwollen vor Anstrengung wie Stricke an.

»Geben Sie nicht mir die Schuld, wenn Ihnen was platzt«, murmelte sie vor sich hin. Er mußte scharfe Ohren haben, denn er blickte auf und warf ihr durch die Windschutzscheibe einen unverkennbar mißbilligenden Blick zu. Der Wagen ruckte und begann plötzlich rückwärts zu rollen. Im richtigen Augenblick schaffte sie es, ihn unter Kontrolle zu bekommen, und sie kam, ohne daß der Wagen den kleinsten Kratzer abbekam, auf die Straße zurück und stand sogar in Fahrtrichtung. Die Schafe, die spürten, daß alles wieder in Ordnung war, fluteten zurück, preßten sich an den Wagen und blökten klagend und gekränkt im Chor. Meredith stellte den Motor ab, stieg nicht ohne Schwierigkeit aus und blieb mitten unter ihnen stehen. Sie wogten um sie herum, fixierten sie mit glasäugiger Neugier. Schafe, dachte sie, sind nicht annähernd so dumm, wie man immer behauptet. Es war etwas Schlaues, Wildes in diesen Porzellanaugen, und sie waren überraschend athletisch. Eins war eben flink über eine niedrige Mauer auf der anderen Straßenseite gesprungen. Der Rotschopf kam in Begleitung eines unglaublich böse aussehenden Hütehundes zurück. Er kam zu ihr, warf ihr einen tückischen Blick zu und wand sich dabei mit geheuchelter Unterwürfigkeit, ein Urias von einem Hund. Der Mann befahl ihm, sich zu trollen, und er tat es mit einem boshaften Blick.

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte Meredith, entschlossen, die Sache zurechtzurücken.

»Ich bin froh, daß ich kein Schaf überfahren habe, aber es war nicht meine Schuld. Es ist sehr gefährlich, die Straße so zu blockieren.«

»Keiner hat gesagt, daß Sie schuld sind. Aber hier ist Farmland, und heutzutage benutzt kaum jemand diese alte Straße. Sie müssen ein bißchen vorsichtiger und langsamer fahren.«

»Ich war nicht zu schnell.«

»Wollen Sie nach Bamford?« Finster und kampflustig sah er sie an.

»Auf der neuen Autobahn geht’s schneller.« Meredith schaute genauso finster.

»Hören Sie«, fauchte sie,

»Sie mögen ja hier irgendwo Ihre Farm haben, aber eine öffentliche Straße ist deshalb noch lange nicht Ihr Eigentum, und ich hatte Lust, über Land zu fahren. Ich komme aus London und hatte genug von Autobahnen.«

»Aus London, eh?« Plötzlich war der rothaarige Riese nicht mehr so aggressiv, und einen Moment klang seine Stimme fast wehmütig. Er begann sie wieder anzustarren, schätzte sie ganz offen ab, und sie fühlte sich mehr als nur ein bißchen unbehaglich dabei. Als er sie sorgfältig von Kopf bis Fuß betrachtet hatte, sagte er:

»Dann sind Sie wohl eine hochkarätige Geschäftsfrau, oder?« Erschrocken rief sie:

»Aber nein, ich bin Staatsbeamtin.«

»Oh!« Seine grauen Augen sahen sie plötzlich voller Mißtrauen an.

»Ich habe nichts mit dem Landwirtschaftsministerium zu tun«, protestierte sie, über seine prüfenden Blicke und seine Fragerei verärgert.

»Ich bin nicht hier, um zu überprüfen, ob Sie Ihre EWG-Quoten nicht überschreiten. Will nur ein paar Tage Urlaub machen. Sind Sie damit einverstanden?« Sie erwartete, eine entsprechende Antwort von ihm zu bekommen, statt dessen lächelte er freundlich.

»Das steht Ihnen frei und geht mich nichts an. Ich hätte aber nichts dagegen, daß es mich was anginge«, fügte er irritierenderweise hinzu. Dieser unerwartete Ausdruck rustikaler Galanterie verschloß Meredith wirksamer den Mund, als eine kraftvollere Antwort es getan hätte.

»Bamford wird Ihnen nach London ein bißchen still vorkommen, nicht wahr?« fragte er.

»Das bezweifle ich«, antwortete sie steif, nachdem sie sich ein wenig erholt hatte.

»Natürlich, Bamford ist der Nabel des Universums.« Auch er konnte sarkastisch sein. Er brachte sie auch leicht aus der Fassung durch seine abrupt wechselnden Tonarten und dem herausfordernd belustigten Ausdruck seiner grauen Augen.

»Ich kenne Bamford schon. Habe einmal für sehr kurze Zeit in der Gegend gelebt.«

»Ach ja? Konnten es wahrscheinlich nicht erwarten, wegzukommen, oder?« Sie wußte nicht, ob er scherzte oder spottete.

»Es hat mir sehr gut gefallen. Es war nur ein bißchen anstrengend, jeden Tag zwischen Bamford und London zu pendeln.«

»Ich verstehe. Nun, dann genießen Sie Ihren Aufenthalt.« Er pfiff dem tückisch aussehenden Hund und entfernte sich. Seine wolligen Schützlinge hatten die Pause genutzt, sich zerstreut und angefangen an den Straßenrändern zu weiden, doch der Hund gebot diesem Treiben sehr bald Einhalt, sprang über die Mauer und brachte auch den Streuner zurück. Meredith taten die Schafe leid, die von diesem wölfisch aussehenden Burschen gehütet wurden. Doch wahrscheinlich war er gut ausgebildet und zuverlässig. Sie ließ den Motor an. Gleichzeitig blickte sie in den Rückspiegel und sah, daß das Mädchen auf dem zottigen Pony sie eingeholt und angehalten hatte, um mit dem rothaarigen Schäfer ein paar Worte zu wechseln. Er hob die riesige Hand und tätschelte den Hals des Pferdes. Die Szene: Schafe, Pony, Mädchen, knospende Hekken und gutaussehender Schäfer waren reines ländliches Idyll. Sogar der verschlagen aussehende Hund paßte ins Bild. Vielleicht hatte sie sich geirrt, als sie glaubte, in der Stimme des Schäfers einen wehmütigen Unterton gehört zu haben, als sie London erwähnt hatte. Er war mit dem Leben, das er führte, ohnehin besser dran. Meredith fuhr weiter.

»In Ihre Höhle vorgedrungen bin ich noch nie.« Sie hatte den Diensthabenden im Erdgeschoß nach Chief Inspector Markby gefragt und war in Begleitung eines jungen Constables auf halber Treppe, als Alan ihr entgegenkam. Sie lächelten einander zu. Er sieht ein bißchen müde aus, dachte sie. Doch man merkte ihm auch an, wie sehr er sich freute, sie wiederzusehen, und sie wußte, daß diese Freude nicht gekünstelt war. Das schmeichelte ihr, machte sie aber auch nervös.

»Im allgemeinen finden Sie mich am Samstag nicht hier, und ich werde auch nicht das ganze Wochenende hier rumsitzen, keine Sorge«, sagte er energisch.

»Gute Fahrt gehabt?«

»Danke, ja.« Sie lächelten einander wieder voller Freude zu und schauten dann beide hastig weg, als fürchteten sie, der andere könnte die Freude mißverstehen und für etwas anderes als Freundlichkeit halten.

»Ich habe mir gedacht, gehst du heute vormittag rein und versuchst den Papierkram zu erledigen«, sagte Markby.

»Damit ich unter der Woche mehr Zeit habe. Doch dann hat mich jemand angerufen und gefragt, ob sie zu mir kommen und mit mir sprechen könnte. Sie ist jetzt hier, geht aber gleich. Dann suche ich Ihnen Lauras Schlüssel heraus und begleite Sie ins Haus. Vielleicht würden Sie meine Besucherin gern kennenlernen, ich denke, Sie würde Ihnen gefal len.« Er ging den Rest des Weges voraus und führte sie dann in sein Büro. Eine unordentliche ältere Frau mit einer ländlichen Frisur und einem riesigen, zeltähnlichen Rock machte sich eben zum Aufbruch bereit.

»Wollte Ihnen nicht zuviel Zeit stehlen«, sagte sie dröhnend.

»Das haben Sie gar nicht – das heißt, es war richtig, zu mir zu kommen und es mir zu sagen. Ich möchte Sie mit einer Freundin von mir – und Laura – bekannt machen, Meredith Mitchell. Sie will Lauras Haus hüten, während die Familie verreist ist. Meredith, das ist Mrs. Carmody von der Witchett Farm.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, meine Liebe«, sagte Mrs. Carmody lächelnd und mit einem durchdringenden Blick.

»Sie müssen mich auf meiner Farm besuchen, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben und Alan arbeiten muß. Kommen Sie zum Tee.«

»Danke«, sagte Meredith.

»Ich komme im Lauf des Nachmittags hinaus«, sagte Alan zu Mrs. Carmody,

»und sehe mich um. Lassen Sie alles so, wie es ist.«

»Hab nichts angefaßt. Ist alles noch genauso, wie ich’s heut morgen gefunden hab.« Sie unterbrach sich kurz; dann:

»Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber warum bringen Sie Miss Mitchell nicht mit, wenn Sie ohnehin heut nachmittag zu mir kommen? Wir könnten gemeinsam eine Tasse Tee trinken.«

»Nun …« Alan sah Meredith auf eine Art an, die ihr bedeutsam vorkam.

»Das ist sehr freundlich«, sagte Meredith ein wenig unschlüssig, weil sie nicht wußte, wie er sich ihre Antwort wünschte.

»Es – hm – es hängt von Alan ab, wenn Alan Sie dienstlich aufsucht …« Markby sagte plötzlich:

»Wie wär’s, wenn Sie schon vor mir zur Farm hinausfahren würden, Meredith? Nach dem Lunch. Ich komme später, wenn ich hier fertig bin, und Mrs. Carmody kann uns beide mit Tee und ihrem ausgezeichneten Kuchen wiederbeleben.« So wurde es besprochen. Mrs. Carmody erklärte Meredith noch, wie sie zur Witchett Farm kam, dann ging sie. Markby holte Lauras Schlüssel heraus, und sie folgten Mrs. Carmody die Treppe hinunter.

»Ich komme nach dem Lunch zurück«, sagte er dem Diensthabenden.

»Was ist auf der Witchett Farm passiert?« fragte Meredith ohne Umschweife, als sie in ihrem Wagen zu Lauras Haus fuhren.

»Ich erklär’s Ihnen beim Lunch. Paul hat gesagt, der Kühlschrank und der Gefrierschrank sind voll, und wir – ich meine, Sie müssen die Sachen nur in die Mikrowelle schieben.«

»Offensichtlich erinnert Paul sich noch daran, was für eine Niete ich in der Küche bin.«

»Die beiden sind Ihnen sehr dankbar, daß Sie heruntergekommen sind. Und das bin ich auch – ich meine, ich hätte ständig rausfahren und nachsehen müssen, ob alles in Ordnung ist. Aber ich habe ein neues Gewächshaus, und die wenige Freizeit, die mir bleibt … Ich hoffe doch, daß Sie sich mein Gewächshaus ansehen kommen.«

»Herzlich gern. Was wollen Sie pflanzen?«

»Tomaten – hoffentlich. Nächstes Jahr will ich’s mit Gurken und dann vielleicht mal mit einem Weinstock versuchen. Natürlich auch mit ein paar Blumen.« Ein verträumter Ausdruck war in seine Augen getreten, und Meredith unterdrückte ein Lächeln.

Sie erinnerte sich noch gut an das Haus der Danbys und freute sich, es wiederzusehen. Es war ein in den dreißiger Jahren erbautes, einzeln stehendes ziegelrotes Einfamilienhaus. Der Vorgarten war ordentlich, aber nicht penibel gepflegt. Hinter einer Lorbeerhecke wuchsen altmodische Hortensien. Im Hintergarten, den man vom Küchenfenster aus sah, gab es eine Schaukel und einen Sandkasten für Kinder, mit einem Holzdeckel zum Schutz gegen die Katzen fürsorglich abgedeckt. In einem kürzlich angebauten Patio standen helle, moderne Gartenmöbel und ein aus Ziegeln gemauerter Gartengrill.

Ein Heim, nicht nur ein Haus, dachte Meredith. Sie hatte sich ein bißchen vor dem Gedanken gefürchtet, ganze zehn Tage lang dafür verantwortlich zu sein. Doch jetzt da sie hier war, wußte sie, daß dieses freundliche Gebäude sie willkommen hieß. Im Vorbeigehen erhaschte sie einen Blick in das Wohnzimmer und auf mit Kretonne bezogene Sessel. Die aquarellierten Seestücke, die Paul Danby sammelte, hingen, willkürlich verteilt, in Augenhöhe an den Wänden, hier in Gruppen, dort einzeln, wie es Paul eben gefiel. Fotografien der Kinder in jedem Alter standen in den Regalen und auf den Tischen, und Lauras Stickrahmen mit einer halbfertigen Arbeit hatte seinen Platz in einer Ecke. Meredith sah, daß die Arbeit in den vier Monaten seit Weihnachten ungefähr drei Quadratzentimeter gewachsen war.

Die Küche begrüßte sie mit einer wunderschönen Überraschung, einem riesigen Strauß Frühlingsblumen. An der Vase lehnte ein Brief von Laura. Während Meredith die purpurnen Iris und goldenen Narzissen, malven- und rosenfarbenen Fresien und scharlachroten Tulpen bewunderte, deckte Markby den Tisch. Schweren Herzens wandte Meredith sich von den Blumen ab und energisch dem Gedanken an das Essen zu. Paul hatte den Gefrierschrank wirklich gut gefüllt. Lage um Lage silberner Packungen waren übereinandergestapelt.

»Brosamen«, sagte Meredith.

»Das heißt, weniger Brosamen als verführerische Köstlichkeiten. Ich werde eine Tonne zunehmen. Was wollen Sie essen?«

»Mir egal. Was ist in dieser Packung?«

»Weiß ich nicht. Das Etikett ist abgegangen …« Meredith nahm ein anderes folienverpacktes Paket zur Hand.

»Und hier auch.« Ein paar Minuten lang kramten sie schweigend im Gefrierschrank.

»Ich habe einen Verdacht«, sagte Markby.

»Paul hat einem der Kinder erlaubt, ihm beim Etikettieren zu helfen. Das ist, glaube ich, die Handschrift meiner Nichte. Deshalb sind so viel Etiketten abgefallen.«

»Was macht das schon? Erspart uns die Qual der Wahl. Wir nehmen das hier.«

»Das hier« stellte sich als Rindfleisch- und Nierenpastete heraus.

»Und jetzt erzählen Sie mir von Mrs. Carmody und dem Geheimnis der Witchett Farm«, forderte Meredith Markby beim Essen auf.

»Tut mir leid, es bei Tisch erwähnen zu müssen, aber es beginnt mit einer Leiche.« Er schilderte ihr, wie man den Toten entdeckt hatte, und berichtete von seinem Besuch auf Greyladies und der Witchett Farm, weil es ihnen nicht gelang, den Toten zu identifizieren.

»Der einzige Hinweis, den ich habe – wenn es denn einer ist –, ist der, daß an dem Donnerstag, ehe die Leiche entdeckt wurde – falls die von uns angenommene Tatzeit stimmt –, also in der Nacht, bevor der Mord begangen wurde, Mrs. Carmody auf ihrem Hof einen Eindringling ertappt hat. Sie hat ihn nicht richtig gesehen und denkt, daß er keine Zeit hatte, in eines der Gebäude hineinzukommen. Sie bewirtschaftet die Farm nur noch in einem geringen Ausmaß, verstehen Sie? Sie hat das Land als Weideland verpachtet, und ein paar Pferdebesitzer stellen ihre Tiere bei ihr unter. Die meisten Nebengebäude sind jetzt ungenutzt. Manchmal betritt sie sie wochenlang nicht. Doch gestern ist sie auf einen alten Heuboden hinaufgestiegen und hat bemerkt, daß jemand dort gewesen sein muß. Sie dachte, daß es vielleicht der Mann war, den sie vertrieben hatte. Um mir das zu berichten, war sie bei mir. Wie Sie wissen, habe ich ihr versprochen, heute nachmittag hinauszukommen.«

»Und warum soll ich unbedingt vor Ihnen dort sein?« Markby stellte sein Weinglas ab.

»Ich habe gespürt, daß Sie sich deshalb den Kopf zerbrochen haben. Tatsache ist – und ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll –, aber es fällt mir schwer, auf den Farmen Ermittlungen durchzuführen, besonders auf Greyladies und sogar auf der Witchett Farm. Ich könnte natürlich Pearce oder eine Polizeibeamtin hinausschikken, aber ich kenne diese Leute mein Leben lang und bin es ihnen einfach schuldig, selbst hinzugehen. Doch auf Greyladies haben sie schon genug Sorgen, ohne daß ich reinplatze, und sogar Dolly Carmody ist eine recht traurige und einsame Gestalt, auch wenn sie nicht so wirkt. Ich habe gedacht – ich meine, Sie können gut mit Menschen umgehen, und da dachte ich, Sie könnten mit Mrs. Carmody und auch mit den Leuten auf Greyladies reden, wenn ich Sie irgendwie mit ihnen bekannt machen könnte. Ich finde einfach keinerlei Hinweise auf diesen Toten. Auch nach einer Woche noch nicht. Das ist verdammt merkwürdig und macht mich nervös.«

»Hatte er denn keine Narben oder andere besondere Kennzeichen?«

»Eine alte Blinddarmnarbe.«

»Zähne?«

»Man muß zuerst zumindest eine vage Vermutung haben, um Unterlagen auftreiben und ja oder nein sagen zu können. Dieser Mensch hatte einen Mund voller Goldzähne, doch ich habe keine Ahnung, wer sein Zahnarzt gewesen sein könnte.«

»Goldzähne?« sagte Meredith überrascht.

»Sie meinen, er ist – war Ausländer?« Er sah sie perplex an.

»Wieso sagen Sie das?«

»Ach, kommen Sie, wie viele Engländer haben denn Goldzähne? Nur wenige. Aber auf dem Kontinent sind sie allgemein üblich, besonders in einigen Ländern. Wo immer es eine ausgeprägte bäuerliche Kultur gibt, findet man Goldzähne. Es ist eine Möglichkeit, die Ersparnisse eines ganzen Lebens an sich herumzutragen.«

»Ausländer –«, sagte Markby vor sich hin.

»Wissen Sie, etwas an dem Burschen hat mich verwirrt. Das könnte es sein. Er hat ausländisch ausgesehen. Das Schwierige an Toten ist, daß einen ihr Aussehen irreführen kann. Aber ja. Warum nicht? Wenn er Ausländer war, ein Gast – kein Wunder, daß niemand ihn als vermißt gemeldet hat.«

»Was ist mit seinem Paß, seiner Kleidung? Einem Wagen, vielleicht?«

»Ist alles verschwunden. Das wäre ein weiterer Hinweis. Er war nackt wie Gott ihn schuf, aber wenn jemand seine Wertsachen gewollt hätte, wenn es so ein Motiv gewesen wäre, hätten sie ihm die Zähne herausgebrochen. Wie Sie sagen, ein Satz Goldzähne stellt einen ziemlichen Wert dar, wenn man sie zieht und das Gold herausschmilzt.«

»Das ist wirklich schrecklich«, sagte sie nach einer Pause.

»Ja, das ist es.« Er hatte ihr noch nicht gesagt, daß das Opfer lebendig begraben worden war. Das Ganze war ohnehin kein geeignetes Tischgespräch, und in Anbetracht dessen, daß er sie seit Ende Januar nicht mehr gesehen hatte …

»Ich möchte nicht«, sagte er ernst,

»mit Ihnen nur über Leichen sprechen, solange Sie hier sind.«

»Das will ich eigentlich auch nicht.« Sie lächelten einander wieder auf eine Weise zu, die, wie Meredith fand, allmählich zur Gewohnheit wurde, zu einer Gewohnheit, die man sehr genau beobachten mußte.

»Hören Sie«, sagte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr,

»ich muß zurück. Sergeant Pearce wird gleich draußen hupen. Ich habe ihn gebeten, mich abzuholen. Habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Ich sehe Sie gegen vier Uhr auf der Witchett Farm. Sie wissen doch, wie Sie hinkommen, oder?« KAPITEL 7

»Ah, hier sind sie meine Liebe«, wurde Meredith von Mrs. Carmody begrüßt, als sie ihren Wagen abstellte und ausstieg.

»Und Sie kommen wirklich früh, braves Mädchen. Hatten wohl keine Schwierigkeiten, mich zu finden?«

»Nein, Sie haben mir sehr genaue Anweisungen gegeben, und Alan hat sie beim Lunch ungefähr ein halbes dutzendmal wiederholt.« Sie hatte die Fahrt auch geschafft, ohne auf einer Böschung festzusitzen. Alan hatte sie von ihrem Mißgeschick nichts erzählt. Zwar glaubte sie nicht, daß er zu den Männern gehörte, die über Autofahrerinnen dumme Witze rissen, aber sie hatte sich bei diesem Zwischenfall nicht eben gelassen und kompetent gezeigt. Die Erinnerung an die lässige Galanterie ihres rothaarigen Retters ärgerte sie noch immer. Sie wünschte, sie hätte ihm wegen seiner verflixten Schafe, die Autofahrer gefährdeten, deutlicher die Meinung gesagt. Doch auf eine merkwürdige Weise, die sie nicht zu ergründen vermochte, hatte er trotz aller Aufsässigkeit etwas Verletzliches an sich gehabt.

»London –«, hatte er so wehmütig gesagt. Laut sagte sie zu Mrs. Carmody:

»Es war sehr nett von Ihnen, mich einzuladen.«

»Unsinn«, antwortete die alte Frau nüchtern.

»Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen den Hof.« Es war die bei weitem sauberste Farm, die Meredith je gesehen hatte. Nur im Stall auf der rechten Seite lag ein bißchen Stroh herum, sah man Hufabdrücke im Staub, und ein schwacher, warmer, beißender Geruch wies darauf hin, daß er kürzlich benutzt worden war, obwohl er im Moment leerstand.

»Nicht meine Pferde«, sagte Mrs. Carmody.

»Andere Leute stellen sie hier ein – drei, um genau zu sein –, und da heute Samstag ist, sind sie alle unterwegs. Erstaunlich, wie viele Stadtleute sich ein Pferd halten wollen. Sobald es sich rumspricht, daß man Weideland oder im Stall Platz hat, wird man mit Anfragen überschwemmt. Mehr als drei oder vier Tiere kann ich aber nicht aufnehmen, weil ich sie tagsüber gemeinsam mit Jess Winthrop von Greyladies versorgen muß – mehr schaffen wir auch zu zweit nicht. Nettes Mädchen, diese Jess.« Mrs. Carmody unterbrach sich, vielleicht um Atem zu holen, vielleicht aber auch, um zu überlegen, ob sie sich ihrem Gast anvertrauen sollte oder nicht.

»Um die Wahrheit zu sagen, ich lasse die Leute ihre Pferde hier einstellen, damit wenigstens noch ein bißchen Leben auf dem Hof ist. Sehen Sie sich ihn nur an, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie’s hier war, als die Farm noch bewirtschaftet wurde.« Sie seufzte.

»Wir hatten keine Kinder, mein Mann und ich, und wer hätte gedacht, daß er so bald sterben würde? Ein großer, kräftiger Kerl war das, und keiner von uns hat erwartet – er war erst siebenundfünfzig. Das Herz, wissen Sie. Ich habe ein paar Jahre allein weitergemacht, aber es war zuviel für mich. Doch solange es hier ein paar Tiere und ein paar Menschen gibt, ist es nicht so schlimm.« Sie beendete ihre Rede ganz sachlich. Meredith verstand jedoch, was Alan gemeint hatte. Eine unbeugsame, realistische, aber auch traurige und einsame alte Frau. Es mußte ihr das Herz brechen, mit anzusehen, daß auf der Farm immer mehr stillstand, aber zu verkaufen und fortzugehen wäre noch viel schlimmer für sie. Alle Gebäude waren tadellos erhalten. Unter dem Dachgesims eines offenen Schuppens parkten in ordentlichen Reihen alte landwirtschaftliche Maschinen und Fahrzeuge, einige davon mit Segeltuchplanen zugedeckt. Unter den Augen eines prahlerischen Gockels scharrten ein paar Hühner. Überall war es sehr still. Meredith wußte nicht, wie sie auf den Eindringling zu sprechen kommen sollte, aber im Lauf der Zeit tat es Mrs. Carmody selbst.

»Ich war heute wegen des Heubodens bei Alan.« Sie zeigte auf eine Öffnung hoch unter der Traufe des Stallgebäudes.

»Wir benutzen ihn jetzt nicht mehr. Das bißchen Heu, das die Pferde brauchen, ist drüben in der Scheune. Dort oben habe ich ein paar alte Sachen gelagert, und ich gehe höchstens einmal in drei oder vier Monaten hinauf. Ich weiß nicht, ob Alan es Ihnen erzählt hat, aber vor kurzem ist eines Nachts ein Kerl hier rumgeschlichen. Ich habe ihn verscheucht. Damals dachte ich, er war nirgends drin gewesen. Aber heute morgen bin ich auf den Boden gestiegen, das erste Mal seit, oh, Urzeiten, wie ich schon sagte. Dachte, ich könnte ein bißchen von dem alten Kram ausräumen. Dachte, kannst genausogut dort hinaufgehen, anstatt hier rumzusitzen. Vor ungefähr sechs Monaten war jemand da, der nach altem Werkzeug und anderen Geräten gefragt hat, Zaumzeug und so. Handelte mit Antiquitäten, aber mit praktischen Sachen, und wie es aussieht, kaufen die Leute heutzutage alles. Damals hab ich ihm gesagt, ich möchte nicht belästigt werden, aber dann dachte ich, nun ja, warum nicht.« Mrs. Carmody hielt inne, um Atem zu schöpfen.

»Doch ich schweife ab.« Meredith zuckte schuldbewußt zusammen. Sie mußte ihre Ungeduld verraten haben.

»Ich zeige Ihnen, was ich meine«, sagte Mrs. Carmody, auf den Stall zugehend.

»Sollten wir nicht auf Alan warten?«

»Wir werden nichts anfassen. Ich will’s Ihnen nur zeigen. Sehen, was Sie denken.« Den Heuboden erreichte man über eine hölzerne Leiter, die, wie Meredith hoffte, sicher war, denn Mrs. Carmody war kein Leichtgewicht. Vorsichtig kletterte sie hinter ihrer Gastgeberin her, und sie gelangten, Mrs. Carmody keuchend und prustend, nach oben. Der Heuboden nahm die ganze Länge des Gebäudes ein und wurde schwach durch Öffnungen in der vorderen Wand erhellt, durch die man früher das Heu in den Hof geworfen hatte. Das alte Zaumzeug und die Geräte, für die sich der Händler interessiert hatte, hingen an der fensterlosen Mauer gegenüber an Haken und Nägeln, und am anderen Ende waren mehrere hölzerne, mit Weißblech gefütterte Kisten aufgestapelt, in denen Tee importiert wurde.

»Und jetzt, sehen Sie, was ich meine?« sagte Mrs. Carmody.

»Das hier sind meine Fußabdrücke, die hab ich gemacht, als ich hier langging, um nachzusehen, was los war. Die dort drüben« – sie zeigte auf andere Fußabdrücke in dem staubigen Boden –,

»die größeren sind von ihm. Wer immer er war. Ich habe mich vorgesehen und bin auf keinen draufgetreten.« Meredith ging vorsichtig weiter. Die hölzernen Bohlen unter ihren Füßen knackten und ächzten verdächtig. Mehrere hatten sich verzogen, eine oder zwei gaben unter ihrem Gewicht leicht nach, und es öffneten sich Spalten, durch die man in die Pferdeboxen hinuntersah. Jemand war tatsächlich vor kurzem hier oben gewesen. Hatte gesucht. Wonach? Die Teekisten waren verrückt worden und hatten im Staub Spuren hinterlassen. Die Deckel waren geöffnet und nicht richtig zugemacht worden, vermutlich aus Hast.

»Ich nehme an, daß er’s gewesen ist«, sagte Mrs. Carmody hinter ihr,

»der Kerl, den ich in der Nacht verjagt hab. Aber warum hat er, wenn er nur einen Schlafplatz gesucht hat, in diesen alten Kisten herumgekramt? Was hat er denn darin vermutet?«

»Dieser Händler …« Meredith drehte sich um.

»Sie denken nicht, daß er – oder einer seiner Kollegen – zurückgekommen ist, als Sie seiner Meinung nach schon schliefen? So etwas kommt vor. Einmal ist er ganz offiziell hier aufgetaucht, hat ein paar Sachen gesehen, die ihn interessierten, und gedacht, es könnten sich noch wertvollere Stücke hier finden. Was ist in den Teekisten? Verzeihung, ich will nicht neugierig sein«, setzte sie hastig hinzu.

»Das ist sehr lieb von Ihnen. Hauptsächlich sind es alte Töpfe und Pfannen und anderes Zeug, ein bißchen Porzellan – aber nichts Wertvolles. Alt, ja, gewiß, ein paar Sachen sind alt. Sie haben meiner Mutter gehört. Sie hat Marmeladen und Käse und Würste selbst gemacht, wie’s damals eben üblich war. Dort ist auch eine alte Küchenmaschine, mit der man Sahne machen kann. Haben Sie schon mal eine gesehen? Hat einen großen Schwengel, mit dem man pumpen muß. Man tut oben frische, ungesalzene Butter und dicke Jerseymilch hinein, pumpt und pumpt, und unten kommt die fertige Sahne heraus. Haben sich damals weder wegen Bakterien noch wegen Kalorien den Kopf zerbrochen. Lauter so Sachen finden Sie in den Teekisten. Die alten, flachen Bügeleisen, die man auf dem Herd heiß gemacht hat. Haben abnehmbare hölzerne Griffe. Ein paar Eisen sind innen hohl, da hat man heiße Kohlen reingetan. Waren so schwer, daß man sich beim Bügeln fast das Handgelenk gebrochen hat. Damals mußte man kräftig sein. Die meisten modernen Frauen könnten mit diesen Geräten nicht einmal fünf Minuten arbeiten. Aber damals waren sie der letzte Schrei.« Mrs. Carmody lachte dröhnend.

»Der Freund der Hausfrau.«

»Ich bin überzeugt, daß sich ein Händler dafür interessieren würde.«

»Nun, einer war interessiert, meine Liebe. Das hab ich Ihnen erzählt.«

»Ja – aber nicht alle sind, nun, ganz ehrlich. Vielleicht hat er gedacht, das Porzellan sei richtig wertvoll, nur als Beispiel. Doch wenn Sie das nicht wissen, wird er es Ihnen vielleicht auch nicht sagen wollen. Auf diese Weise könnte er Ihnen die Sachen in Bausch und Bogen abkaufen und für sehr viel Geld weiterverkaufen. Aber zuerst würde er natürlich sehen wollen, was überhaupt da ist. Hat dieser Händler versucht, ins Haus zu kommen? Ich meine nicht in der Nacht, in der Sie den Eindringling verscheucht haben. Ich meine, als er ganz offiziell wegen der Geräte hier war.«

»O ja, das hat er«, sagte Mrs. Carmody.

»Doch das hab ich nicht geduldet. Dauernd wollte er sich seitlich an mir vorbeidrücken, um einen Blick durch die Fenster zu werfen, darauf könnt ich wetten.« Und ich wette, dachte Meredith, daß er hier war und das genau an dem Tag getan hat, an dem sie in der Stadt war.

»Jedenfalls«, sagte Mrs. Carmody,

»hab ich mir gedacht, es wäre nicht falsch, Alan Bescheid zu sagen. Weil er doch so erpicht darauf war, zu erfahren, ob was Ungewöhnliches passiert ist.« Vorsichtig kletterten sie die hölzerne Leiter hinunter. Als sie unten ankamen, hörten sie Hufschläge im Hof.

»Klingt, als käme einer Ihrer ›Untermieter‹ zurück«, sagte Meredith lächelnd. Mrs. Carmody ging hinaus, und Meredith hörte sie rufen:

»Ach, du bist es, Jess!« Es folgte Stimmengemurmel, und Meredith, die es müde war, im Stall zu warten, trat ins Freie. Es war das Mädchen auf dem zottigen Pony, das sie am Vormittag auf der Straße gesehen hatte. Sie war sich dessen sicher. Sie war sich auch ziemlich sicher, daß das Mädchen sie selbst oder ihr Auto wiedererkannt hatte, das im Hof parkte.

»Oh, hallo!« rief Meredith.

»So sieht man sich wieder!« Das Mädchen blinzelte, und das zottige Pony schnaubte, als die Reiterin am Zügel riß und hervorstieß:

»Ich muß los.« Sie ließ Meredith’ Gruß unerwidert und schien völlig verstört.

»Ich komme morgen, Dolly.« Sie wendete das Pony und ritt mit raschem Hufgeklapper davon.

»Tut mir leid«, sagte Meredith bedauernd und verblüfft zugleich.

»Ich scheine sie erschreckt zu haben.«

»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, beruhigte sie Mrs. Carmody.

»So ist Jessica nun mal. Wenn sie sich an Sie gewöhnt hat, wird sie sich anders verhalten. Warum gehen wir eigentlich nicht hinein?« Vergnügt züngelte das Feuer im Kamin, drumherum dösten die Tiere wie an dem Tag, an dem Markby hiergewesen war. Meredith begrüßte den Spaniel, machte sich höflich mit den Katzen bekannt und ließ sich auf der Kante des chintzbezogenen Sofas nieder.

»Ich schaue gern ins Feuer, zünde fast täglich eins an«, sagte Mrs. Carmody.

»Außer wenn es im Hochsommer sehr warm draußen ist. Während wir auf Alan warten, brüh ich uns eine Tasse Tee auf.« Allein geblieben, stand Meredith auf und inspizierte hastig, aber ungeniert das Zimmer – den Kaminschutz und das Kaminbesteck aus Messing und die wunderschöne lange viktorianische Gabel zum Rösten am offenen Feuer, die neben dem Kamin hing, den Kupferkessel, der sehr alt aussah, vielleicht sogar georgianisch war, ja, ein Händler wäre sehr wohl interessiert. Doch würde er nachts wiederkommen, wenn er durch die Fenster nichts sehen konnte? Er würde es nicht riskieren, in das Haus einzubrechen, selbst wenn er um die Scheunen und auf dem Heuboden herumschlich. Es sah ganz danach aus, als seien der nächtliche Besucher und derjenige, der auf dem Heuboden herumgestöbert hatte, ein und derselbe gewesen, und es war verlockend, anzunehmen, der Händler sei wiedergekommen. Doch es wäre gefährlich, sich auf eine solche Vermutung zu verlassen. Meredith setzte sich wieder, und eine der Katzen, ein Tiger, sprang ihr, nachdem sie sie aufmerksam beäugt hatte, auf den Schoß und rollte sich zusammen. Meredith lehnte sich in die Kissen zurück und kraulte das Tier sanft hinter den Ohren. Der Gedanke, daß Mrs. Carmody ganz allein hier draußen lebte, gefiel ihr gar nicht. Besonders nicht, seit ein Mörder frei umherlief. Die alte Frau war mit einem Teetablett zurückgekommen. Die Kanne war nicht aus Silber, aber frühes Sheffield und hatte heutzutage auch einen hohen Sammlerwert. Meredith vermutete, daß Mrs. Carmody wirklich keine Ahnung hatte, wieviel all diese Familienerbstücke wert waren. Schließlich hatten sie sie ihr Leben lang begleitet. Sie benutzte sie täglich, und vor ihr hatte es ihre Mutter getan. Wahrscheinlich konnte sie sich gar nicht vorstellen, daß sie wertvoll waren. Sie waren einfach

»altes Zeug«. Meredith hatte den Eindruck, daß der alten Frau ein offenes Wort am liebsten war. Manchmal war ein direkter Vorstoß der beste.

»Mrs. Carmody«, sagte Meredith fest,

»Sie dürfen mir ruhig sagen, ich soll meine Nase nicht in Ihre Angelegenheiten stecken, und wahrscheinlich werden Sie das auch tun …« Mrs. Carmody blinzelte ihr über den Rand ihrer Teetasse hinweg verständnisvoll zu.

»Sprechen Sie weiter, dann sehen wir, ob ich’s tue.«

»Aber ich denke, Sie sollten sich einen seriösen und angesehenen Experten herholen, mit ihm durchs Haus gehen und die Sachen richtig schätzen lassen. Sie werden ein paar Überraschungen erleben, sage ich Ihnen.«

»Wenn es so wäre, würde ich wahrscheinlich nichts mehr verkaufen wollen.«

»Ja, aber Ihre Versicherung wüßte bestimmt gern Bescheid, und Sie sollten auf jeden Fall wissen, was die Sachen wert sind. Falls noch mehr Händler herkommen, um zu schnüffeln.«

»Wir werden sehen«, sagte Mrs. Carmody ausweichend, nicht gewillt, noch länger darüber zu sprechen. Meredith begriff, daß sie abblockte, und wandte sich einem anderen Thema zu.

»Haben Sie das Mädchen auf dem Pony nicht Jessica genannt? Ich habe sie heute schon einmal gesehen. Bin mit dem Wagen an ihr vorbeigefahren, und später habe ich sie noch einmal getroffen. Eine Schafherde hat die Straße blockiert, und Jessica holte mich ein. Sie hat sich mit dem Hirten unterhalten, einem großen Burschen mit roten Haaren.«

»Das war Alwyn Winthrop, ihr Bruder«, sagte Mrs. Carmody nickend.

»Oh, und ich habe schon geglaubt, es handle sich um eine ländliche Romanze. Geschieht mir recht.« Mrs. Carmody seufzte.

»Wäre nett, wenn Jess einen Verehrer hätte. Der Altersunterschied zwischen ihren Brüdern und ihr ist ziemlich groß. Alwyn ist der älteste, und James – ihn werden Sie nicht kennenlernen, weil er irgendwo in Übersee arbeitet – ist ungefähr drei Jahre jünger als Alwyn. Als die Jungs so um die Zwanzig waren, überraschte Elsie Winthrop uns mit einem dritten Baby. Wechseljahrsbaby, wie es so schön heißt. Das ist Jess. Ein hübsches kleines Ding, aber immer kränklich und nervös. Eben ein Kind älterer Eltern, sage ich.« Das war ich auch, dachte Meredith. Vielleicht sind wir alle ein bißchen anders.

»Aber sie war auch ein kluges kleines Ding. Sehr gut in der Schule, wollte Lehrerin werden. Sie ging an die Pädagogische Hochschule und bekam auch eine Anstellung. War aber nicht robust genug. Man braucht gute Nerven, wenn man unterrichten will, besonders heutzutage. Sie hatte ein sehr schlimmes Erlebnis …«

»Ja …«

»Sie wurde von einem Schüler angegriffen. Einem großen Kerl, noch nicht mal zwölf Jahre alt, aber mit dem Körperbau eines viel älteren Jungen. Es gibt solche Jungs, wissen Sie? Er kam aus einer ziemlich wilden Familie, viel Gewalttätigkeit zu Hause, vermute ich. Jedenfalls ist er eines Tages mit einer Papierschere auf Jess losgegangen. Es war eine stumpfe Schere, wie man sie eben in Schulen verwendet, aber verletzen kann sie trotzdem, kommt darauf an, wohin man sticht. Sie mußte sich gegen ihn wehren, im wahrsten Sinn des Wortes. Schließlich konnte sie ihn wegstoßen, er verlor das Gleichgewicht und knallte mit dem Kopf auf einen Sessel. Natürlich gab’s danach eine Untersuchung, wie Sie sich vorstellen können. Die Familie des Jungen witterte Geld. Sie behauptete, Jess hätte den Jungen angegriffen, nicht andersrum, und er sei viel schwerer verletzt als sie. Es war eine sehr häßliche Geschichte und kam vor Gericht. Jess wurde völlig entlastet. Alle wußten, was mit der Familie des Jungen los war. Aber trotzdem bleibt nach so einer Sache ein Makel an einem hängen. Man verläßt einen Gerichtssaal nie ganz straffrei, wissen Sie, auch dann nicht, wenn man unschuldig ist. Jess hat gewußt, wenn ihr so was noch einmal passiert, selbst wenn es nach Jahren ist, würde es jemanden geben, der sagt, zweimal ist einmal zuviel, um nur Pech zu sein. Die Freunde des Jungen wußten das auch. Sie verspotteten sie, versuchten sie so weit zu reizen, daß sie die Beherrschung verlor oder sie aus Angst einfach wegstieß. Es machte sie krank. Es stand sogar in der überregionalen Presse, und eine der LehrerGewerkschaften mischte sich ein. Arme Jessica.«

»Ich verstehe. Wirklich schlimm.«

»Also hat sie den Beruf aufgegeben und ist nach Hause gekommen. Es geht ihr jetzt besser. Doch Fremde machen sie nervös. Ich habe Jess gern. Ich …« Mrs. Carmody verstummte abrupt, schaute sich im Zimmer um. Dann begann sie, die Augen hartnäckig auf ihren Schoß gerichtet, ihren Tee zu trinken. Ob Jessica wohl Mrs. Carmodys Erbin ist? fragte sich Meredith. Wenn Mrs. Carmody niemand sonst hat und trotzdem die Wertsachen nicht verkaufen will, könnte es sein, weil sie sie jemandem testamentarisch vermacht hat. Jessica kommt fast jeden Tag her und hilft. Mrs. Carmody hat sie offensichtlich sehr gern. Ob sie sich vielleicht vorstellt, daß Jessica eines Tages heiraten und die Farm wieder bewirtschaften wird? Oder geht meine Phantasie mit mir durch?

»Die Farm der Winthrops, Greyladies – was für ein merkwürdiger Name. Greyfriars habe ich schon gehört, Greyladies noch nie. Wahrscheinlich waren das Nonnen, ein altes Kloster.«

»O nein, meine Liebe. Religiös schon, aber nicht von dieser Art.« Mrs. Carmody stellte die Tasse ab.

»Es war eine sehr strenge Sekte im achtzehnten Jahrhundert. Sie setzte sich in der Stadt fest, in Bamford. Doch der Pfarrer und der Friedensrichter verhinderten, daß sie in der Stadt ein eigenes Gebetshaus errichtete. Am Ende baute sie es außerhalb der Stadt auf dem Land, das jetzt zur Greyladies Farm gehört. An Sonntagen sahen die Leute ihre Mitglieder über die Felder zum Gebetshaus gehen, zuerst die Männer gemeinsam, hinter ihnen die Frauen, immer zu zweit, in langen grauen Kleidern. Sie hielten nichts von fröhlichen Farben. In solchen Sekten gibt es im allgemeinen mehr Frauen als Männer. Muß seltsam ausgesehen haben, sie mit ihren Gebetbüchern über die Felder wandern zu sehen, wie Schulkinder in Zweierreihen. Mit den Jahren wurden es immer weniger, und dann brannte das Gebetshaus ab – muß über hundertfünfzig Jahre her sein. Es wurde nie wieder aufgebaut, und jetzt gibt es niemanden mehr, der zu der Sekte gehört. Nur der Name ist geblieben. Wenn Sie sich für die Reste der Grundmauern des Gebetshauses interessieren, sie stehen in einem Feld in der Nähe der Farmgebäude. Die Winthrops werden sich freuen, sie Ihnen zu zeigen, wenn Sie wollen. Es sind nur noch Buckel und Höcker im Boden. Vor ungefähr zehn Jahren kamen ein paar Männer aus Oxford und haben dort gegraben. Deshalb weiß ich so viel über die Geschichte des Gebetshauses. Aber sie haben nichts gefunden und sind nicht wiedergekommen.« Mrs. Carmody griff nach dem Feuerhaken aus Messing und schürte energisch das Feuer. Ein Funkenregen flog heraus, und der alte Spaniel wich vorsichtig zurück.

»Sie hatten auch einen eigenen Friedhof, diese Grauen Leute. Aber wo der genau war, weiß man heute nicht mehr.«

»Oh?«

»In der Bibliothek gibt es nur eine Landkarte, auf der er eingezeichnet ist, auf dem Land der Lonely Farm. Aber auch ihn hat es schon zu Zeiten meiner Großmutter nicht mehr gegeben. Sie hat mir erzählt, daß die Männer, die auf der Lonely Farm pflügten, als sie noch ein kleines Mädchen war, von Zeit zu Zeit ein paar Gebeine ausgruben. Aber niemand hat sie sonderlich beachtet. Vielleicht wollte man mit diesen Geschichten nur die Kinder erschrecken. Damals erschreckte man Kinder gern. Obwohl es ihnen irgendwie gutgetan hat. Wo genau der Friedhof gewesen war, konnte nie festgestellt werden, denn die Grauen Leute hielten nichts davon, Grabsteine aufzustellen, wissen Sie? Sie hatten irgendwie die Idee, wieder ganz zur Erde zurückkehren zu wollen, Staub zu Staub, und keine Spur zu hinterlassen. Natürlich gibt es Lonely Farm auch nicht mehr. Dort wird jetzt gebaut, und dort haben sie auch den armen Ermordeten gefunden.«

»O ja, Alan hat gesagt …«

»Gräßlich«, stieß Mrs. Carmody plötzlich heftig hervor.

»Einen Menschen lebendig zu begraben.«

»Lebendig begraben!« Meredith’ Tasse klapperte auf der Untertasse.

»Das hat Alan mir nicht erzählt.«

»Wollte Sie wahrscheinlich nicht aufregen.« Mrs. Carmody sah zerknirscht aus.

»Tut mir leid, daß ich die Katze aus dem Sack gelassen habe.«

»Nun, wir haben gerade gegessen, bestimmt dachte er, es sei besser, das nicht zu erwähnen.«

»In der Zeitung habe ich gelesen, daß er einen Schlag auf den Kopf bekommen hat. Bei der Leichenschau war man der Meinung, daß er bewußtlos war, als er begraben wurde, und nichts gemerkt hat«, sagte Mrs. Carmody ernst. Offensichtlich hoffte sie, Meredith beruhigen zu können.

»Dann wurde die Leichenschau wegen der noch nicht abgeschlossenen polizeilichen Ermittlungen vertagt. Das ist heutzutage so, wenn etwas nicht stimmt. Widerrechtliche Tötung nennen sie es.«

»Dann hat derjenige, der ihn begraben hat, vielleicht gar nicht gewußt, daß er noch lebte.«

»Vielleicht.« Knisternd fiel das Feuer in sich zusammen.

»Direkt bei Ihren Füßen, im Kohleneimer«, sagte Mrs. Carmody.

»Hab ein bißchen Holz reingetan, ist schon gehackt. Legen Sie doch bitte ein paar Scheite aufs Feuer, meine Liebe.« Meredith tat es.

»Sie müssen Stunden brauchen, um dieses viele Messing und Kupfer sauberzuhalten, Mrs. Carmody. Den Kaminschutz und die Geräte, die Röstgabel und den Kohleneimer, den Kessel, die vielen Pferdegeschirre aus Messing an der Wand da drüben.«

»Zeit habe ich mehr als genug, meine Liebe.« Mrs. Carmody zeigte auf die Messinggeschirre.

»Als ich ein kleines Mädchen war, gehörten die zum Zaumzeug, das weiß ich noch. Damals hatten wir einen Fuhrmann. Er hob mich auf eines der großen Shire-Pferde und führte es im Hof herum. Waren feine Pferde, die Shires. Sehr gutmütig. Sie hatten immer dieselben Namen – aus Tradition. Rose und Violet – sie haben gemeinsam den Pflug gezogen. Ein anderes Pferd hieß Blossom. Und dann hatten wir noch den alten Major, an ihn erinner ich mich sehr gut. Er hatte nur ein Auge, und man mußte darauf achten, nicht auf seiner blinden Seite an ihn heranzugehen, weil er vielleicht herumfuhr – nicht bösartig, nur erschrocken. Ein großer Kerl war das, mit dem man da zusammenstieß, ein großer Shire-Wallach. Im Winter, wenn es frostig war, wickelten wir ihnen Sackleinen wie Stiefel um die Hufe, damit sie nicht ausrutschten. Ich rede von längst vergangenen Zeiten. Die schweren Pferde sind nach dem letzten Krieg verschwunden. Die Traktoren kamen. Es war nicht dasselbe, aber aus finanziellen Gründen vernünftiger. Jetzt, glaub ich, fangen sie an, die Pferde zurückzuholen, aber weniger englische Rassen, mehr französische, Percheron und Ardennes.« Sie unterbrach sich und fügte, der Frage zuvorkommend, die Meredith offensichtlich stellen wollte, lächelnd hinzu:

»Ich bin zweiundsiebzig.«

»Das ist kaum zu glauben!« rief Meredith ehrlich erstaunt. Mrs. Carmody lächelte wieder.

»Die Zeit fliegt, und sie fliegt immer schneller, je älter man wird. Sie waren nie verheiratet, meine Liebe?«

»Nein, nie.« Es war eine Frage, die alte Frauen unvermeidlich früher oder später stellten, und Mrs. Carmody war niemand, der auf den Busch klopfte, sie kam direkt auf den Punkt. Meredith wartete auf das, was noch kam.

»Sie und Alan sind alte Freunde, nehme ich an?« Sie meinte natürlich

»eng«, nicht

»alt«.

»Nur Freunde«, sagte Meredith entschieden,

»nicht mehr.« Mrs. Carmody schob ein paar Haarsträhnen in ihren Nakkenknoten – erfolglos, denn sie lösten sich sofort wieder.

»Allein alt zu werden ist kein Spaß.«

»Niemand hat die Garantie dafür, daß er im Alter nicht allein ist«, antwortete Meredith unüberlegt. Zu spät wurde ihr bewußt, wie taktlos sie gewesen war, und sie machte einen vergeblichen Versuch, ihren Fehler abzuschwächen.

»Aus diesem Grund sollte man nicht heiraten – als Versicherung gewissermaßen.« Die alte Frau half ihr mit einer Geste über ihre Verlegenheit hinweg.

»Natürlich nicht. Mein Mann hat nicht gedacht, daß er mich so viele Jahre hier allein lassen würde. Um so zwingender der Grund, nicht herumzutrödeln und zu zögern, wenn es etwas gibt, was sich das Herz wünscht. Greifen Sie jetzt zu. Morgen könnte es zu spät sein.« Motorgeräusch wurde laut.

»Da kommt Alan«, sagte Mrs. Carmody gelassen, erhob sich inmitten eines Wasserfalls aus Tweed und setzte eine mißmutige Katze auf den Boden.

»Nehmen Sie die alte Röstgabel vom Haken, ich schneide Brot, und dann essen wir ganz altmodisch Toast am Feuer. Es ist nicht das gleiche, wenn man Brot im Elektro- oder Gasherd röstet. Das hat keinen Geschmack und wird hart.« Ein wenig erleichtert sah Meredith sie gehen. Sie mußte Markby auf einen Rundgang durch den Heuboden mitgenommen haben, denn es dauerte einige Zeit, bevor ihre Stimmen hörbar wurden. Markby kam allein herein und warf sich Meredith gegenüber in einen Sessel. Sie saß da und hielt die Röstgabel wie einen Dreizack vor sich hin. Er grinste.

»Hallo, Britannia. Haben Sie mit Dolly geredet?«

»Ja, sie ist sehr interessant – die meiste Zeit jedenfalls.« Meredith hörte selbst den steifen Unterton in ihrer Stimme.

»Hat Sie ein bißchen gegen den Strich gebürstet, wie? Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Ich werde nicht fragen, was sie gesagt hat. Sie macht uns Tee und schneidet dicke Klötze Obstkuchen.«

»Ich gehe ihr helfen.« Hastig stand Meredith auf.

»Ich nehme an, sie will, daß ich mit dem Toasten anfange. Hier, halten Sie mal …« Er nahm den Dreizack, griff aber mit der anderen Hand nach ihr und hielt sie fest. Die Stimme senkend zu Tür blikkend, fuhr er fort:

»Wir werden vielleicht bald erfahren, ob an Ihrer Idee was dran ist.«

»An meiner Idee?« fragte sie überrascht.

»An welcher?«

»An der mit den Goldzähnen. Ich habe darum ersucht die Beschreibung des Toten und seine Fingerabdrücke international in Umlauf zu bringen. Wenn er Ausländer und in irgendeinem Land aktenkundig geworden ist, werden wir es bald erfahren.«

»Oh, ich verstehe.« Meredith zögerte.

»Ich habe noch ein paar andere Ideen, was immer davon zu halten ist. Will Ihnen natürlich nicht ins Handwerk pfuschen.«

»Das wäre ja was ganz Neues.«

»Okay, ich behalte sie für mich.«

»Ich möchte sie aber lieber kennenlernen.«

»Gut. Fragen Sie Mrs. Carmody nach dem Händler für bäuerliche Antiquitäten, landwirtschaftliche Viktoriana, der vor ungefähr sechs Monaten hier war.«

»Gut. Und die zweite Idee?« fragte er scharf.

»Ich bin nicht sicher, was sie von ihr halten werden …« Er stöhnt.

»Mrs. Carmody hat mir von den ›Grauen Leuten‹ erzählt wie sie sie nennt, dieser seltsamen religiösen Sekte, die sich im achtzehnten Jahrhundert in dieser Gegend niedergelassen hatte. Ihr Gebetshaus war auf dem Land von Greyladies und hat der Farm ihren Namen gegeben.«

»Das habe ich nicht gewußt. Ich dachte, es hätte etwas mit Schafen zu tun. Fahren Sie fort.«

»In den fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts haben der Pfarrer von Bamford und ein hiesiger Friedensrichter die Einheimischen gegen die Sekte aufgehetzt, und um achtzehnhundertvierzig herum ist ihr Gebetshaus abgebrannt. Aber es existieren noch Ruinen. Finden Sie nicht, daß es interessant wäre, eine Abhandlung darüber zu schreiben? Dazu müßte man recherchieren und auf den umliegenden Farmen viele Fragen stellen. Ich könnte zum Beispiel versuchen, ihren verschollenen Friedhof aufzustöbern, der anscheinend mitten im Gebiet des neuen Siedlungsprojekts lag.«

»Da, wo die Leiche gefunden wurde?«

»Volltreffer. Noch vor ungefähr hundert Jahren haben pflügende Farmer alte Gebeine ausgebuddelt. Vielleicht haben die modernen Bauunternehmer auch etwas gefunden, etwas, das sie nicht für erwähnenswert hielten, auch nicht der Polizei gegenüber. Dinge, die sie als wert- und bedeutungslosen Trödel abtaten. Wenn man darauf aus ist, eine Baugrube auszubaggern, und irgendeinen Plunder rausholt, der nichts wert zu sein scheint, wirft man ihn weg und baggert weiter. Auf diese Weise«, sagte Meredith die Schlange,

»könnten der Polizei wertvolle Beweise verlorengegangen sein.«

»Das ist mir klar«, sagte Markby bedächtig und zeigte mit dem Dreizack auf sie.

»Und Sie wissen bestimmt, daß die Worte ›historische Grabungsstätte‹ bei den Bauunternehmern Herzinfarkte verursachen?«

»Ja, das weiß ich. Aber ich bin ja keine Amtsperson. Ich bin Amateurin. Vielleicht erzählen sie mir Dinge, die sie Ihnen oder dem Heimatmuseum nicht anvertrauen würden. Guter Gott, ich versuche einen zweihundert Jahre alten Friedhof zu finden, der von religiösen Eiferern benutzt wurde, kein zweites Sutton Hoo* …«

»Das wissen sie nicht. Warum sollten sie Ihnen glauben? Für sie wäre das kein Grund, den ganzen Tag damit zu verbringen, in der Erde zu wühlen und einen Haufen blödsinniger Fragen zu stellen.«

»Was hätte ich zu verlieren?« Er rutschte nervös herum, und die Katze, die seine Knie beäugt hatte, um eventuell hinaufzuspringen, wandte sich verächtlich ab und stolzierte in die Küche. Die Spanielhündin lag lang ausgestreckt und leise schnarchend ganz nah am Feuer, und es war ein Wunder, daß sie sich das Fell nicht ansengte.

»Ich bin dagegen«, sagte Markby plötzlich energisch und schwang den Dreizack, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Abgesehen von anderen Bedenken, dieses Gebiet ist der Mittelpunkt einer polizeilichen Untersuchung …«

»Deshalb bespreche ich es ja zuerst mit Ihnen.«

»Und darüber hinaus riskieren Sie es, sich von den Maurern anflegeln lassen zu müssen. Jerry Hersey, der Polier, kennt keinen Respekt, weder vor Frau noch Mann, und hilfsbereit ist er auch nicht, wie wir festgestellt haben. Er wird Sie einfach von der Baustelle jagen.«

»Ich habe schon früher mit rüden Kerlen zu tun gehabt, und meine Ohren sind gegen Flegeleien gewissermaßen imprägniert.« Er schüttelte noch immer heftig den Kopf.

»Sie werden behaupten, sie bekommen Probleme mit ihrer Versicherung, und Ihnen den Zutritt zur Baustelle verbieten. Hersey hat einen unangenehmen Charakter. Wenn Sie darauf bestehen, wird er vielleicht nicht davor zurückschrecken, Ihnen Angst einzujagen. Sie kennen das doch – den Ziegel, der ganz dicht an Ihrem Kopf vorbeisaust, oder den Schubkarren, der Ihnen um ein Haar den Fuß zerquetscht …«

»Das ist auch nicht schlimmer, als in der Stoßzeit U-Bahn zu fahren«, unterbrach sie ihn mit der Bitterkeit einer noch frischen Erinnerung. Markby ließ sich nicht ablenken.

»Mehr noch, wenn Sie es schaffen würden, all das zu überwinden – und wie ich Sie kenne, möchte ich fast behaupten, Sie schaffen es irgendwie –, und anfingen, die Arbeiter auszufragen, würde Hersey Unrat wittern.«

»Zum Kuckuck mit Hersey! Lassen Sie mich doch erst mal sehen, ob ich mit ihm fertig werde, ja?« wandte sie ein, verärgert, weil er voraussetzte, daß sie bei der Konfrontation die Unterlegene sein würde.

»Ich möchte nicht, daß die polizeilichen Ermittlungen vermasselt werden.«

»Ich werde sie nicht vermasseln. Trauen Sie mir doch ein wenig Takt und Diplomatie zu. Schließlich bin ich kein Trampeltier und kein Hohlkopf.« Er seufzte müde.

»Ich weiß es zu schätzen, daß Sie helfen wollen, Meredith, und ich weiß, ich habe mir das selbst zuzuschreiben, weil ich Sie gebeten habe, mit Dolly zu sprechen.«

»Und mit den Winthrops. Dolly sagt, die Winthrops werden mich mit Vergnügen die Ruinen des Gebetshauses besichtigen lassen. Sie sind in der Nähe des Farmhauses.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

»Wie kann ich etwas falsch machen? Hören Sie, ich werde den Mord mit keinem Wort erwähnen. Ich werde mich nach einer Gruppe von Spinnern erkundigen, die nach achtzehnhundertvierzig ausgestorben sind.«

»Ihre Fragen werden ein äußerst empfindliches Gebiet berühren.«

»Aber ich frage doch nicht nach dem Toten.« Sie hörten Mrs. Carmody im Befehlston sagen:

»Geh mir aus dem Weg, du dumme Katze, du bekommst später was.«

»Sie kommt.« Markby beugte sich vor.

»Hören Sie, Meredith, ich nehme an, ich kann Sie sowieso nicht aufhalten. Sie werden es tun, egal, was ich jetzt sage. Aber wenn Sie etwas – irgend etwas – entdecken, das mich interessieren könnte, dann sagen Sie es mir sofort. Und wenn weitere Nachforschungen nötig sind, dann ist das meine Sache, einverstanden?«

»Ja, natürlich«, sagte sie tugendhaft. Markby brummte.

»Und wenn Sie anfangen, sich wie ein Superdetektiv zu fühlen, bedenken Sie eines: Die Grauen Leute sind tot, begraben und zu Staub zerfallen. Unser Mann mit den Goldzähnen ist zwar tot, aber nicht zu Staub zerfallen. Und sie sind noch sehr lebendig und möglicherweise da draußen.«

»Wer?« fragte sie gedankenlos, als Mrs. Carmody mit einem Teewagen erschien, der unter der Last des Kuchens und des Porzellans zusammenzubrechen drohte. Markby stach besonders heftig mit der Röstgabel in die Luft.

»Diejenigen, die unseren Mann lebendig begraben haben. Die Mörder.« KAPITEL 8

»Dort drüben ist es«, sagte Markby. Meredith schirmte die Augen mit der Hand ab und schaute blinzelnd in die Richtung, in die er zeigte. Sie sah ein unregelmäßiges Durcheinander neuer Ziegelsteine, die die Landschaft auf breiter Ebene orangerot verfärbten.

»Der Tatort«, stellte sie fest.

»Das können Sie noch mal sagen«, knurrte er.

»Gutes Farmland zu zerstören und es durch Ziegel und Mörtel zu ersetzen.« Er merkte, daß sie zu einem Protest ansetzte, und fuhr grimmig fort:

»Und kommen Sie mir nicht mit dem Spruch, daß die Menschen irgendwo wohnen müssen. Den kenne ich.«

»Ich wollte den anderen zitieren. ›Nicht in meinem Hinterhof‹, so heißt es doch, oder?« wandte Meredith sanft ein.

»Auch den kenne ich. In Ordnung, ich bin wütend, daß es hier passiert, weil es mein Stück Land ist, das zerstört wird. Doch ich streite entschieden ab, selbstsüchtig zu sein. Mir gefällt es nirgendwo. Wo sollen heute die Kinder den ganzen Tag frei umherstreifen und lernen, welche wilden Beeren man essen darf und wie man aus dem Sand vom Flußufer Tassen und Untertassen formt?« Meredith zuckte mit den Schultern und lächelte über seine bukolische Nostalgie.

»Das weiß ich nicht. Aber ich nehme an, daß die Eltern in unseren alles andere als harmlosen Zeiten nicht geneigt sind, ihre Kinder tagelang frei umherstreifen zu lassen, wie unsere Eltern das konnten. Auch ich habe solche Erinnerungen. Meine Mutter gab uns ein Paket Sandwichs mit Frühstücksfleisch mit. Meine Freundin und ich fuhren mit den Fahrrädern los, hielten kurz beim Laden an der Ecke und kauften uns eine Flasche Limo …«

»Drachenblut«, sagte Markby traurig.

»Pusteblumen und Kletten.«

»Sie sind älter als ich. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber wir blieben jedenfalls den ganzen Tag weg, und unsere Eltern brauchten sich um uns nicht zu sorgen. Heutzutage könnten die Eltern das nicht erlauben. Die modernen Kinder mögen auch keine Sandwichs mit Frühstücksfleisch. Sie wollen Hamburger und Fritten und alle möglichen Snacks in scheußlichen Verpackungen.« Stille. Dann sagte Markby fest:

»Es ist nicht mehr dasselbe.«

»Nein, das soll es auch nicht sein. Die Zeiten ändern sich, und die Menschen mit ihnen.« Er sah sie an.

»Das hat Steve auch zu mir gesagt. Mit genau den gleichen Worten. Aber warum, zum Kuckuck, soll ich meine Vorstellungen ändern, um andere Leute zu beschwichtigen?« Meredith sagte gereizt:

»Das sollen Sie natürlich nicht. Aber obwohl es hübsch ist, daß Sie und ich glückliche Erinnerungen an die Kindheit haben, können wir unsere Erlebnisse und Erfahrungen nicht anderen wünschen. Die Kinder von heute werden ihre eigenen Erinnerungen haben – andere, doch genauso schöne.« Sie versanken wieder in Nachdenklichkeit über die Szenerie, die sich vor ihnen ausbreitete.

»Es ist auch ein Tatort im eigentlichen Sinn, nicht wahr?« fragte Meredith.

»Hat dort nicht der bedauernswerte Baggerführer die Leiche ausgegraben?«

»Ja, dort hat jemand den armen Teufel eingebuddelt. Wir wissen noch nicht, wo die eigentliche Tat begangen wurde«, setzte er pedantisch hinzu.

»Aber es ist der Ort, an dem er gestorben ist, wenn man es so ausdrücken will.« Sie verstummten, von der grausigen Erinnerung heimgesucht, beschwichtigten sich vermutlich beide mit dem Gedanken, daß das Opfer bewußtlos gewesen war und nichts gemerkt hatte. Es war Sonntag morgens, schön und sonnig, wenn auch der Wind noch kühl war und man warme Kleidung brauchte. Meredith hatte sich ein rotes und blaues Tuch mit einem gelben Hufeisenmuster um den Kopf gebunden, damit ihr das Haar nicht um den Kopf flog, und sie trug die Gummistiefel, die sie zum Glück vor der Abfahrt aus London in den Kofferraum gepackt hatte. Alan Markby, ebenfalls in Gummistiefeln, ging weiter, führte sie über einen holprigen Fußpfad quer über offene Wiesen zu der entfernten Baustelle. Sie trottete hinter ihm her, die Hände tief in den Taschen vergraben, um sie warmzuhalten, und überlegte, daß diese Umgebung, obwohl von einem furchtbaren Verbrechen gezeichnet, dennoch dem Gedränge vorzuziehen war, das sie in London auf dem Weg zur und von der Arbeit tagtäglich erlebte. Andererseits sehnte sie sich, wenn sie sich eine Zeitlang auf dem Land aufhielt, bald nach ein wenig mehr Lärm und Hektik. Wahrscheinlich war die menschliche Natur nie zufrieden. Eines mußte man allerdings zugeben, niemand konnte behaupten, auf dem Land passiere nichts. Es ereignete sich ständig etwas, und manches davon war absolut unheimlich. Sie versuchte sich Dolly Carmodys Graues Volk auf seinen strengen, frommen Wallfahrten zu seinem Gebetshaus vorzustellen, immer zwei und zwei, über dieselben Felder, über die sie heute gingen. Wie Dolly ihr erzählt hatte, hatte die Sekte hier irgendwo ihre Toten begraben. Hatte hier bei jedem Wetter gestanden und ihre Grabzeremonien abgehalten. Der Wunsch, mehr über sie zu erfahren, war für Meredith inzwischen nicht nur ein Vorwand, um ein bißchen herumzuschnüffeln. Sie hatte begonnen, sich aufrichtig für diese merkwürdigen verschwundenen Eiferer zu interessieren. Als sie sich der Baustelle näherten, fragte sie:

»Die Arbeiter haben doch hier wieder zu arbeiten angefangen, oder?«

»Ja, vor ein paar Tagen. Aber nicht an der Stelle, wo der Tote gefunden wurde. Doch nicht etwa deshalb, weil wir sie daran hindern. Die Bauherrn können sich nicht entscheiden, was sie mit dem Grundstück machen sollen, und die Arbeiter weigern sich strikt, es auch nur zu betreten. Wenn sie weitermachen und dort, wie im Plan vorgesehen, zwei Häuser bauen, finden sie vielleicht keine Käufer. Eine Leiche im Keller ist keine gute Empfehlung.«

»Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis.«

»Nicht bei einem so gräßlichen Mord, dann nicht. An den erinnern sie sich noch jahrelang. Die britische Öffentlichkeit liebt einen hübschen, spektakulären Mord, was aber nicht bedeutet, daß sie buchstäblich am Tatort wohnen möchte. Zuletzt habe ich gehört, daß man dort einen Mini-Park anlegen will. Sie wissen doch, laß Gras darüber wachsen und steck ein paar Bäume und Sträucher in die Erde, dann können die Leute dort ihre Hunde Gassi führen.«

»Das klingt netter. Irgendwie respektvoll gegen den Toten. Wird die Wohnanlage wahrscheinlich attraktiver machen.« Sie waren beim ersten Ziegelhaufen angelangt, und Markby blieb stehen.

»Da drüben ist das Baubüro. Auf dem Platz mit dem Drahtzaun drumherum schließen sie über Nacht und am Wochenende ihre wertvolle Ausrüstung ein. Das ist das Verkaufsbüro, in den Fertighäusern sind die Büros des Bauunternehmers und des Bauleiters, und irgendwo dort drüben ist das Musterhaus. Das ist das ganze Wochenende über geöffnet, solange es taghell ist, und im Verkaufsbüro hat immer jemand Dienst, um die Leute herumzuführen.«

»Also können die Mörder ihn nicht bei Tag begraben haben. Dann wären sie möglicherweise gesehen worden.«

»Das Verkaufsbüro ist von zehn Uhr morgens bis gegen siebzehn Uhr dreißig besetzt. Bei schlechtem Wetter geht die Firmenvertreterin früher, so gegen vier, nach Hause. Bei Regen waten die Leute nicht gern durch den Schlamm. An dem bewußten Wochenende hat es geregnet, aber nicht ununterbrochen. Die Frau war am Samstag bis nach fünf hier und am Sonntag bis etwa sechzehn Uhr fünfzehn. Und natürlich kommen auch ganz zufällig Spaziergänger heraus, wie wir zum Beispiel. Doch sie haben ihn ganz bestimmt sehr früh am Morgen oder spätabends begraben. Ich denke, es war eher frühmorgens. Das ist die von mir bevorzugte Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil dann die Totenstarre noch nicht eingesetzt hätte.«

»Wäre es bei schlechtem Licht nicht noch schwieriger gewesen? In einen Graben zu steigen und ein Loch zu graben, den Leichnam hineinzulegen und mit Erde so zuzudecken, daß keiner etwas merkt – dazu muß man sehen, was man tut, und man braucht Zeit.«

»Man braucht mehr als einen Totengräber. Doch wenn sie wußten, was sie wollten, und einigermaßen geschickt waren, dürfte es nicht allzu schwierig gewesen sein. Exhumierungen müssen in den frühen Morgenstunden stattfinden. Ich habe im Lauf der Zeit schon oft genug bei Tagesanbruch fröstelnd an offenen Gräbern gestanden.«

»Vielen Dank für die grausigen Einzelheiten, Dr. Frankenstein. ›Wenn sie wußten, was sie wollten‹, sagen Sie. Heißt das, Sie sind der Meinung, daß sie’s schon früher getan haben? Denken Sie an Bandenmord? Hier draußen?«

»Die Leiche könnte von weither gekommen sein, und dank unserer modernen Autobahnen in verhältnismäßig kurzer Zeit. Wenn der Mann hier aus der Gegend stammte, wäre er inzwischen identifiziert worden. Ich schließe keine Möglichkeit aus.« Sie standen jetzt direkt an der Stelle. Die Bänder und Schilder der polizeilichen Absperrung waren noch nicht entfernt worden und flatterten traurig im Wind. Ein verwelkter Strauß Schlüsselblumen lag mitten zwischen Geröll und Lehmhaufen und betonte, wie Meredith fand, die Trostlosigkeit der Szene. Der Boden des Grabens war da, wo Sean Daley frisch zu baggern begonnen und dann jäh angehalten hatte, stark aufgewühlt. Meredith fröstelte.

»Gruselig.« Stirnrunzelnd blickte Markby in den Graben hinunter.

»Ich finde es äußerst ärgerlich. Er hätte genausogut vom Himmel gefallen sein können. Wir wissen noch nicht das geringste über ihn, haben noch nicht einmal seine Kleidung gefunden. Wir haben uns an die Öffentlichkeit gewandt, an Hundebesitzer und Wanderer insbesondere, damit sie die Augen offenhalten. Nichts.« Sie gingen ein Stückchen weiter und setzten sich auf eine niedrige Mauer. Noch zwei Leute waren auf der Baustelle aufgetaucht, ein sehr junges Paar, das Markby und Meredith beim Grüßen nervös anlächelte. Das Mädchen trug völlig unpassende hohe Absätze und wankte, die Hand des jungen Mannes umklammernd, unsicher über den unebenen Boden.

»Potentielle Käufer, die sich den Platz ansehen«, sagte Markby, als das junge Paar weitergegangen war.

»Jung verheiratet, darauf wette ich.«

»Ja«, sagte Meredith plötzlich.

»Ich kann verstehen, daß man sich kein Haus mit einem Gespenst im Fundament kaufen möchte, besonders nicht als erstes gemeinsames Heim.«

»Erstes gemeinsames Heim«, wiederholte ihr Begleiter und verstummte. Sie sah ihn neugierig an.

»Haben Sie während Ihrer Ehe mit Rachel in Bamford gewohnt?« Damit, das wußte sie, wagte sie sich weit vor, ließ sich auf ein gefährliches Spiel ein. Er erwähnte seine Ehe kaum einmal. Und sie war schon oft von Neugier geplagt gewesen. Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Rachel und ich haben uns ein riesiges, völlig unzweckmäßiges weißes Haus in Westengland gekauft. Ihre Idee, natürlich. Was sollten wir mit fünf Schlaf- und drei Empfangszimmern? Dabei verfiel das Ganze vor sich hin, was natürlich hieß, daß der Kaufpreis nicht sehr hoch war, relativ gesehen. Aber die Renovierung kostete ein Vermögen, ganz zu schweigen von Hitze und Innendekoration und von Möbeln. Der Dachgiebel war an einem Ende undicht, und wir verbrachten unser ganzes Eheleben mit dem Versuch, ihn zu reparieren. Es ist uns nie gelungen. Alle elektrischen Leitungen mußten erneuert werden, weil das ganze Ding in Flammen aufzugehen drohte, sobald man einen Toaster einschaltete. Und dann gab es Fledermäuse.« Ein Augenblick mürrischen Schweigens und dann mit erneuter Begeisterung:

»Aber es hatte einen wunderschönen alten Garten mit einem von einer Ziegelmauer umgebenen richtigen Küchengarten und Spalierobstbäumen.«

»Aha!« sagte Meredith.

»Dann hat es also nicht nur an Rachel gelegen, daß Sie sich für dieses Haus entschieden.«

»Ich gebe zu, mir hat der Garten gefallen, nur hatte ich nie Zeit, mich darum zu kümmern, weil ich meine ganze Zeit damit verbrachte, mit Eimern in der Hand und Fledermäusen im Haar auf dem Dachboden herumzukriechen. Nachdem wir uns getrennt hatten, bin ich hierher zurückgekommen. Laura und Paul hatten gerade geheiratet, sich hier niedergelassen, und mir wurde ein Job bei der Polizei von Bamford angeboten. Da hab ich mir gedacht, warum nicht dahin zurückgehen, wo du aufgewachsen bist? Aber sehen Sie sich doch an, was man damit angestellt hat«, fügte er bitter hinzu und schwenkte mit einer großen Geste den Arm im Kreis.

»Übrigens werden Sie wahrscheinlich Steve Wetherall, dem Architekten, begegnen. Er ist im Moment ein ziemlich unglücklicher Mann. Er war hier, als die Leiche ausgegraben wurde, und jetzt verzögern sich die Bauarbeiten. Armer alter Steve.« Markby kickte ein Stück Ziegel vor sich her und zog die Schultern hoch.

»Genug von mir und der Vergangenheit. Was ist mit Ihnen und der Zukunft? Keine Hoffnung auf einen Auslandsposten, wie ich vermute?«

»Keine Chance, nicht in vorhersehbarer Zukunft.« Sie zögerte und setzte mit wenig überzeugender Nonchalance hinzu:

»Ich warte ungefähr anderthalb Jahre, und wenn sich dann noch nichts ergeben hat, werde ich mich vielleicht nach etwas anderem umsehen.« Er sah sie ungläubig an.

»Das Foreign Office aufgeben? Ich hätte nie geglaubt, einmal diese Worte von Ihnen zu hören, Miss Mitchell.«

»Das gleiche habe ich auch gedacht«, gab sie reumütig zu.

»Aber Sie wissen ja, wie das ist. Alle guten Zeiten haben einmal ein Ende, und ich habe sie genossen. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, mich nach etwas anderem außerhalb des Foreign Office umzusehen. Fragen Sie mich nicht, wo und wonach. Ich weiß es nicht.« Er schwieg so lange, daß sie meinte:

»Sagen Sie mir, was Sie denken. Sie wissen, daß ich es hören möchte.« Das junge Paar kam, noch immer engumschlungen wie siamesische Zwillinge, aus dem Verkaufsbüro; beide hatten ein Bündel Papiere in der Hand. Es wurde von einer adretten jungen Frau in einem blauen Kostüm begleitet. Alle drei verschwanden in einem der fertigen Häuser, über dem eine Fahne mit dem Namen und dem Logo der Baugesellschaft flatterte.

»Besuchen das Musterhaus«, sagte Markby düster.

»Hören Sie, wenn ich ganz ehrlich und ganz selbstsüchtig sein soll, dann muß ich natürlich sagen, Sie sollen aufhören, im Ausland umherzureisen, und im Land bleiben. Aber ich weiß auch, daß ein solcher Entschluß Sie vielleicht schrecklich unglücklich machen und Ihr unruhiger Geist sich weiterhin nach einem exotischen Ort sehnen würde, deshalb wäre es gar nicht gut, wenn ich das sagte.« Meredith schüttelte den Kopf. Der Knoten ihres Kopftuchs hatte sich gelöst, und sie nahm es ab. Der Wind griff ihr ins Haar und wehte es ihr ins Gesicht. Sie wischte es sich aus den Augen.

»Vielleicht habe ich Zigeunerblut in den Adern«, sagte sie seufzend.

»Ob ich unglücklich wäre, hinge von der neuen Aufgabe ab, die sich mir bieten würde.« Als er diesmal nicht antwortete, bat sie ihn nicht zu sagen, was er dachte. Endlich brach er das verlegene Schweigen, indem er aufstand und die Hand ausstreckte, um ihr aufzuhelfen.

»Kommen Sie, Sie bekommen ein taubes Hinterteil, wenn Sie noch länger auf dieser Mauer sitzen. Sehen wir uns um, wo wir einen anständigen Lunch herkriegen.«

* Ausgrabungsstätte a. d. 7. Jh. in Suffolk; 1939 wurde dort ein angelsächs. Langboot mit reichen Grabbeigaben entdeckt

Es war Montagmorgen, und Meredith hatte sich inzwischen daran gewöhnt, in Lauras Haus zu wohnen. Sie hatte nicht mehr den Drang, sich nur auf Fußspitzen zu bewegen und jedes Kissen aufzuschütteln, nachdem sie fünf Minuten in einem Sessel gesessen hatte. Das Haus sah allmählich auch so aus, als habe es sich an sie gewöhnt. Die Küche war noch immer ein furchteinflößender Raum, denn sie war für Pauls Bedürfnisse mit allen nur erdenklichen modernen Geräten ausgestattet. Von der Hälfte dieser Geräte und Utensilien ahnte Meredith nicht einmal, wozu sie dienten, denn sie gehörte strikt zu den Grill- und Büchsenöffner-Köchinnen. Sie bereitete sich gerade Rühreier zum Frühstück, was ungefähr der Gipfel ihrer Kochkünste war, als es an der Hintertür klopfte.

»Jemand zu Hause?« rief eine Frauenstimme.

»Warten Sie!« antwortete Meredith und tat die Eier rasch in eine Schüssel. Sie wischte sich die Hände ab und öffnete. Vor der Tür stand eine junge Frau in einem pinkfarbenen Jogginganzug; in der Hand hielt sie eine Schachtel. Ihr weißblondes Haar hatte sie mit farbigen Plastikspangen zu zwei Büscheln zusammengerafft, die ihr über den Ohren wie Flachsstränge vom Kopf abstanden.

»Hallo«, sagte sie fröhlich.

»Ich bin Susie Hayman, Ihre Nachbarin von nebenan.« Hayman … Meredith wühlte in ihrem Gedächtnis. In dem Brief, den Laura ihr mit allgemeinen Informationen zurückgelassen hatte, wurden die Haymans erwähnt. Sie waren Amerikaner; Ken Hayman war auf dem etwa zehn Meilen entfernten Stützpunkt der US-Airforce stationiert.

»Kommen Sie herein«, forderte Meredith die Nachbarin auf.

»Ich wollte mir eben Kaffee machen.« Susie spazierte herein und stellte die Schachtel auf den Tisch.

»Ein paar kleine Rührkuchen. Ich hab mir gedacht, nun ja, Sie hätten vielleicht noch keine Zeit gehabt, selbst zu bakken.«

»Nicht nur keine Zeit, auch kein Talent«, sagte Meredith prompt.

»Danke. Das ist sehr freundlich.«

»Nun, ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil wir am Wochenende nicht hier waren, um Sie zu begrüßen. Wir waren«, verkündete sie atemlos,

»in Stratford-uponAvon. Aber ich hatte Laura versprochen, mich ein bißchen um Sie zu kümmern. Haben Sie sich schon eingewöhnt?«

»Ja, bestens.« Meredith schaltete die Kaffeemaschine ein.

»Ihr Mann ist bei der Airforce, hab ich recht? Auf dem amerikanischen Luftstützpunkt?«

»Ja, aber er ist Zahnarzt, gehört weder zum Flug- noch zum Bodenpersonal. Die Leute scheinen immer irgendwie überrascht, wenn ich ihnen das sage. Ich arbeite an drei Vormittagen ebenfalls dort und erledige den Papierkram, halte Kens Krankenblätter in Ordnung, obwohl ich, bevor ich Ken heiratete, Zahnarzthelferin war. Montags arbeite ich nicht, also hier bin ich.« Die pinkfarbenen Knie zusammengepreßt, balancierte Susie auf einem Barhocker. Sie sah ungefähr wie sechzehn aus, doch Meredith vermutete, daß sie mindestens zehn Jahre älter war. Sie hatte ein rundes, fröhliches Gesicht, eine Stupsnase und war ungeschminkt.

»Wir hoffen, daß Sie eines Tages zu uns zum Abendessen kommen.« Die Kaffeemaschine zischte, und Meredith goß Kaffee ein.

»Hat Laura Ihnen erzählt, daß ich früher in einem Cottage in der Nähe von Bamford gewohnt habe? Nur kurze Zeit. Ich arbeite in London, und die Fahrerei wurde mir zuviel.«

»Sie hat mir alles erzählt. Sie hat sich wirklich gefreut, daß Sie kommen und im Haus wohnen wollten. Ich hätte ja darauf aufgepaßt, doch ich bin nicht immer hier. In der Nachbarschaft wurde kürzlich ein paarmal eingebrochen, ziemlich oft sogar. Nichts Großes, nur kleine Einbrüche. Ken hat gemeint, daß es wahrscheinlich Jugendliche waren.«

»Wurde auch in Ihrem Haus eingebrochen?«

»O nein, und es ist nicht unser Haus, wir haben nur gemietet. Wir haben uns vom Makler Sicherheitsschlösser einbauen lassen, bevor wir eingezogen sind. Aber zwei Häuser weiter sind die Diebe eingedrungen, haben ein Radio und einen Videorecorder gestohlen. Aus dem Haus direkt gegenüber haben sie einen Fernseher geholt. Ken sagt, sie verkaufen die Sachen in Pubs und Bars.« Interessiert stützte Meredith die Ellenbogen auf den Tisch.

»Haben Sie gehört, ob in der Zeit auch Antiquitäten gestohlen wurden?«

»Antiquitäten, nein.« Susies runde blaue Augen blinzelten.

»Warum?«

»Eine alte Dame, mit der ich mich am Samstag unterhalten habe, wurde vor etwas sechs Monaten von einem Händler aufgesucht, der sie nach Antiquitäten fragte. Er kann natürlich absolut ehrlich gewesen sein. Aber manchmal muß man sich bei Leuten, die ungerufen ins Haus kommen, nun – vorsehen.« Susie machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Laura hat nicht erwähnt, daß jemandem Antiquitäten abhanden gekommen sind. Doch jetzt, da Sie es erwähnen, erinnere mich an einen Typen, der vor – oh – ungefähr vier Monaten hier war. Als er merkte, daß ich Amerikanerin bin, fragte er mich nicht mehr, ob ich etwas zu verkaufen hätte, sondern ob ich kaufen möchte. Er sagte, wenn ich besondere Interessen hätte, könnte er wahrscheinlich für mich auftreiben, was ich wolle. Aber ich interessiere mich nicht besonders für Antiquitäten. Ich meine, Stratford war wirklich ein Erlebnis, aber Sachen kaufen ist etwas anderes. Ich verstehe nichts davon, und Ken sagt, wenn man nicht genau weiß, was man kauft, wird man nur betrogen. Heutzutage stellen sie phantastische Fälschungen her, und man erkennt kaum den Unterschied. Also sagte ich zu dem Typen: ›Nein, ich kaufe nichts.‹ Obwohl Ken sich für alte Landkarten und Bücher interessiert. In Oxford gibt es einen Laden, in dem er, schätze ich, etwas kaufen wird, bevor wir nach Hause fahren. Doch das ist was anderes. Es ist ein reguläres Geschäft, wo sie alles mögliche haben, und der Mann dort weiß richtig Bescheid und erklärt es Ihnen. Und an den anderen Leuten dort, den anderen Kunden, meine ich, sieht man, daß es ein seriöses Geschäft ist. Jemand, der an Ihre Haustür kommt – nun, das ist nicht dasselbe, oder?«

»Nein«, sagte Meredith.

»In letzter Zeit ist niemand mehr dagewesen? Und gehört haben Sie auch nichts?« Susie schüttelte ihre Haarbüschel.

»Nein, warum? Hat sich jemand beschwert?«

»Nein, ich habe mich nur gefragt. Die alte Dame, von der ich Ihnen erzählt habe, dachte, jemand sei vielleicht zurückgekommen. Ein Herumtreiber, wissen Sie, und vielleicht derselbe Mann.«

»Ein Herumtreiber?« Susie sah besorgt aus.

»Das gefällt mir nicht. Ich werde es Ken erzählen. Aber wir haben ein Komitee zum Schutz der Nachbarschaft und Vorbeugung von Verbrechen gegründet. Wir treffen uns am Donnerstag im Haus direkt gegenüber. Kommen Sie doch auch, wenn Sie Lust haben.«

»Danke, vielleicht komme ich.« Susie rutschte vom Hocker.

»Jetzt muß ich gehen. Aber mit meiner Einladung zum Abendessen war es mir ernst. Danke für den Kaffee. Wir sehen uns.« Mit wippenden Haarbüscheln ging sie davon. Meredith runzelte die Stirn und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Es sah tatsächlich so aus, als habe der Antiquitätenhändler nichts mit Dollys nächtlichem Besucher zu tun. Nun, sie hatte für heute eigene Pläne, und wenn sie hier herumsaß, geschah gar nichts. Sie räumte die Eier in den Kühlschrank. Die konnte sie mittags essen. Dann spülte sie die Tassen ab, nahm Notizbuch und Kugelschreiber und brach auf. Ihr erster Besuch führte sie in die Bibliothek. Es dauerte eine Weile, bis sie die alte Landkarte fand, auf der die Begräbnisstätte der Grauen Leute eingezeichnet war; doch die Bibliothekarin war interessiert und forschte nach weiterem Material für Meredith. Die lokalen Geschichtsbücher wußten über das Thema wenig zu sagen, außer daß das Gebetshaus anno 1842 unter mysteriösen Umständen abgebrannt war. In einem Buch war eine unscharfe Fotografie, auf der man Ausgrabungen auf einem Feld sah.

»Vor ein paar Jahren waren einige Archäologen hier und haben ein bißchen gegraben«, sagte die Bibliothekarin.

»Aber sie haben nichts gefunden. Vielleicht sollten Sie es in den Urkunden der Grafschaft oder im Heimatmuseum versuchen.« Meredith fotokopierte die Landkarte und ging. Sie hielt beim Schreibwarenhändler, wo Sie sich eine amtliche topographische Karte der Gegend kaufte, mit der sie ihre Landkarte aus der Bibliothek vergleichen wollte. Als sie auf die Straße trat, entdeckte sie zu ihrem Erstaunen eine bekannte Gestalt – Jessica Winthrop. Sie stand vor dem Schaufenster eines Geschäfts für Damenbekleidung. Im Eingang des Schreibwarenladens halb verborgen, beobachtete Meredith das Mädchen. Jessica trug noch immer Reithose, Stiefel und Pullover. Doch das Kleid, das sie sich ansah, war ein Partykleid, sehr schick in Schwarz, mit einem Straßgefunkel auf der linken Seite des Oberteils. Jessica sah wehmütig aus und nagte an der Unterlippe.

»Hallo«, sagte Meredith und hoffte, das Mädchen nicht zu erschrecken. Jessica drehte sich schnell um, und ihr blasses Gesicht wurde feuerrot. Schreck fuhr ihr in die Augen, und sie wich zurück.

»Ich bin Meredith Mitchell«, sagte Meredith hastig und wünschte sich, das Mädchen würde nicht immer reagieren wie ein aufgescheuchtes Reh.

»Ich war bei Dolly Carmody, als Sie vor ein paar Tagen zu ihr kamen. Sie sind Jessica, nicht wahr? Jessica Winthrop?«

»Ja, ich erinnere mich an Sie«, antwortete Jessica, mit den Füßen scharrend, leise und undeutlich. Sie sah aus, als wollte sie wieder fliehen. Aus der Nähe gesehen, war sie ein wirklich hübsches Mädchen, aber der unveränderlich unglückliche Gesichtsausdruck ließ sie unscheinbar aussehen. Was sie braucht, dachte Meredith, sind ein paar anständige Kleider und ein anständiger Haarschnitt, ganz zu schweigen von einer riesigen Transfusion an Selbstbewußtsein. Sie blickte in das Schaufenster. Vielleicht sagte sich Jessica selbst, daß sie sich attraktiver anziehen könnte.

»Das ist ein sehr schickes Kleid. Scheinen hier hübsche Sachen zu haben. Mein Pech ist, daß ich so groß bin. Ich muß mich bei allem, was ich kaufe, sehr vorsehen, sonst sehe ich aus wie ein Maibaum«, sagte Meredith. Jessica lächelte flüchtig wie ein Geist und sah dann so schuldbewußt aus, als sei Lächeln verboten.

»Ich glaube, Sie helfen Dolly mit den Pferden«, fuhr Meredith zielstrebig fort. Die Unterhaltung war die reinste Sisyphusarbeit.

»Ja.« Offensichtlich war Jessica verzweifelt bemüht, wegzukommen. Langsam schob sie sich seitlich an Meredith vorbei, bereit, jeden Moment zu flüchten, und Meredith fiel nichts ein, womit sie sie aufhalten konnte. Doch plötzlich meldete sich eine neue Stimme.

»Jess!« Ein junger Mann in Pullover und Jeans war bei ihnen stehengeblieben. Er sah Jessica ungläubig an.

»Ja, du bist es wirklich. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Was tust du hier?«

»Michael?« Jessica blinzelte und verwandelte sich vor Meredith’ Augen. Ihre Wangen färbten sich rosig, ihr ganzes Gesicht glühte.

»Ich – ich wohne hier in der Nähe. Und was tust du hier?«

»Hab eine Stelle an der hiesigen Grundschule, bin aber erst seit Beginn des Frühlingstrimesters hier. Aber das ist ja wunderbar.« Er wandte sich Meredith zu und sagte verspätet:

»Tut mir leid, daß ich gestört habe, aber Jess und ich waren zusammen an der Pädagogischen Hochschule, und ich hatte wirklich keine Ahnung, daß sie hier wohnt. Ich dachte, ich kenne keinen Menschen in dieser Stadt.« Er war ein nicht gerade umwerfend, aber nett aussehender junger Mann mit einem freundlichen Wesen. Er sah wirklich überrascht und begeistert aus.

»Ich wollte sowieso gerade gehen«, sagte Meredith hastig.

»War nett, Sie zu treffen, Jessica. Ich nehme an, wir sehen uns auf der Witchett Farm wieder.« Sie entfernte sich rasch die Straße entlang, konnte aber nicht widerstehen, drehte sich um und blickte zurück. Jessica und der junge Mann unterhielten sich angeregt. Noch während Meredith hinsah, gingen sie weiter, der junge Mann redete wie ein Wasserfall, und Jessica nickte und sah wie ein völlig anderes Mädchen aus. Es schien, als sollte sich ihr Schicksal zum Besseren wenden. Meredith strich die Dinge von ihrer Liste, die Jessica ihrer Meinung nach gebraucht hätte – Kleider, neue Frisur – und ersetzte sie durch das Wort

»Freund«. Bekam sie letzteren, würden erstere sich von selbst ergeben. Über diese Wendung der Ereignisse sehr zufrieden, fuhr Meredith ins Pfarrhaus zu Pfarrer Holland. Sie hoffte, daß es in der Kirche Urkunden über die Grauen Leute gab. Wie Dolly ihr erzählt hatte, hatte sich der im achtzehnten Jahrhundert in Bamford tätige Pfarrer mit dem Friedensrichter und ein paar anderen einheimischen hohen Tieren zusammengetan, um in der Stadt Stimmung gegen die Sekte zu machen. In den Papieren der Kirche mußte irgendwo etwas darüber zu finden sein. Die Pfarrei war ein weitläufiges viktorianisches Haus mit einem zugewachsenen Garten. Ein Junge mit kurzgeschorenen Haaren und pickeligem Gesicht schob unproduktiv und gelangweilt einen Motorrasenmäher auf dem Rasen hin und her. Er trug eine Jeansjacke, geschmückt mit einem handgemalten, von Blitzen umzuckten Totenschädel und der Aufschrift Death Rock, und einen aus Patronenhülsen gearbeiteten Gürtel. Das Gras flog in alle Richtungen und wurde von seinen Doc-Martens-Stiefeln niedergetreten. Wo er gewesen war, sah es, wenn möglich noch unordentlicher aus als der Teil des Rasens, den er noch nicht

»bearbeitet« hatte. In der Nähe des Hauseingangs war ein großes schwarzes Motorrad aufgebockt, und jedesmal, wenn er in seine Nähe kam, warf der Gärtner, falls er denn einer war, einen wehmütigen Blick auf die Maschine. Als er Meredith sah, unterbrach er seine Arbeit, wie vermutlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit, stützte sich auf den Griff des Rasenmähers und sagte freundlich:

»Hallo. Suchen Sie den Pfarrer?«

»Ja. Pfarrer Holland. Ist er zu Hause?« Der Junge rieb sich mit einer schmutzigen Hand die Nase.

»Ja. Die Tür ist offen. Gehn Sie einfach rein und rufen Sie.« Meredith war nicht ganz sicher, ob das die richtige Art war, sich anzumelden, doch die Tür stand tatsächlich offen. Sie drückte auf die Klingel, öffnete die Tür ein bißchen weiter und räusperte sich laut.

»Ich bin hier drin!« schrie eine Stimme aus dem Innern des Hauses. Sie folgte der Stimme und geriet in ein unordentliches Arbeitszimmer.

»Ah, guten Morgen. Hab gedacht, es sei nur Barry, der etwas will. Hatte keine Ahnung, daß es richtiger Besuch ist.«

»Barry? Oh, ist das der Gärtner?« Pfarrer Holland schnaubte verächtlich.

»Der Gärtner? Barry? Er macht nur ein bißchen Gemeindedienst.« Er senkte die Stimme.

»Barry gerät oft und leicht in Schwierigkeiten. Aber er ist kein schlechter Kerl. Läßt sich leicht leiten.«

»Ich verstehe. Ich bin Meredith Mitchell. Hoffentlich störe ich nicht …«

»Nein, nein …« Er winkte sie zu einem Sessel.

»Machen Sie es sich bequem. Was kann ich für Sie tun?« Meredith erklärte es ihm. Er hörte aufmerksam zu, sah zuerst leicht überrascht und dann interessiert aus.

»Die Grauen Leute, wie? Nun, ich selbst weiß nicht viel über sie und weiß auch nicht, wo Sie etwas über sie herausfinden könnten. Die meisten alten Akten wurden vor Jahren zur sicheren Aufbewahrung weggeschickt. Aber ich erinnere mich, etwas über die Sekte gelesen zu haben. Sie war wirklich sehr seltsam. Die Leute versetzten sich bei ihren Versammlungen in Trance, und wenn sie wieder zu sich kamen, hatten sie angeblich Visionen gehabt und berichteten darüber. Ziemlich gespenstische Visionen, wenn die Gerüchte stimmen. Kein Wunder, daß die Kirche und die Leute, die Recht und Ordnung vertraten, beunruhigt waren. Sublimierte sexuelle Phantasien würden wir es heute nennen, denke ich. Tatsächlich«, er hielt inne und stand auf, um seine Bücherregale zu durchforschen,

»in einem der alten Geschichtsbücher steht etwas über sie. Hier haben wir’s schon, ich glaube, das ist es.« Er zog einen altehrwürdigen Lederfolianten aus dem Regal und blies den Staub weg.

»Die hiesigen Geschichtsbücher haben nicht viel zu sagen.«

»Dieses Buch hat die Bibliothek wohl kaum. Es wurde achtzehnhundertachtzig gedruckt.« Der Priester blätterte in den engbedruckten Seiten.

»Ah, hier ist es, und – oh – hier ist auch ein Stahlstich des Gebetshauses vor dem Brand. Und, o Gott, das ist aber interessant!«

»Ja?« fragte Meredith ungeduldig, weil Pfarrer Holland das Buch selbst zu lesen begann und alles darauf hindeutete, daß er drauf und dran war, sie zu vergessen. Dann erinnerte er sich wieder an seinen Besuch.

»Damals wurde behauptet, daß die Visionen durch Opium hervorgerufen wurden.«

»Opium!« rief Meredith.

»Oh, diese oder jene Drogen zu konsumieren ist nicht so neu.« Pfarrer Holland setzte sich und legte das Buch auf seine Knie.

»Es geschah jedoch nicht in dem Ausmaß wie heute.« Er seufzte.

»Mitglieder meiner Kirchengemeinde haben erst kürzlich ihre Tochter verloren. Sehr trauriger Fall. Sie war von zu Hause weggelaufen und hatte mit anderen in einem besetzten Haus gelebt. Starb an einer Überdosis Heroin. Sie war als Drogenabhängige registriert. Als sie noch jünger war, hat sie im Kirchenchor gesungen. Sie war keine Streunerin. Ich denke, wir fühlen uns alle verantwortlich, wenn ein junger Mensch auf die schiefe Bahn gerät. Wir fragen uns – warum? Was hätten wir tun können, um es zu verhindern? Was haben wir falsch gemacht? Waren wir überfordert? Warum haben wir es nicht früher gemerkt? Der junge Barry draußen war sein Leben lang in einem Kinderheim und Fürsorgezögling. Bei ihm erwartet man Schwierigkeiten. Aber Lindsay hatte ein schönes Zuhause, liebevolle Eltern, war eine gute Schülerin …« Er seufzte abermals.

»Ein strahlendes, vielversprechendes junges Leben einfach ausgelöscht.« Meredith nickte mitfühlend, aber ihre Augen ruhten auf dem Buch.

»Ich nehme an, Sie würden es mir nicht leihen?« fragte sie zögernd.

»Ich würde es zurückbringen und es sehr sorgfältig behandeln. Ich gebe Ihnen meine Adresse, und wenn Sie eine Empfehlung brauchen, bekommen Sie sie von Chief Inspector Markby.« Pfarrer Holland sah sie leicht bestürzt und fragend an.

»Ich meine«, fügte Meredith hastig hinzu,

»wir sind miteinander befreundet.«

»Oh, ich verstehe.« Er warf einen Blick auf das Buch.

»Nun, ich sehe eigentlich keinen Grund, es Ihnen nicht zu leihen. Ich hätte es gern wieder. Ich denke, es hat mindestens seit einem Jahr niemand mehr hineingeschaut, aber man kann nie wissen. Heute fragen Sie nach den Grauen Leuten, und demnächst kann jemand anders kommen. Sie möchten einen Aufsatz über die Sekte schreiben, nicht wahr? Wäre nett, wenn ich ihn zu sehen bekäme.«

»Wenn ich genug Material sammeln kann.« Dankbar nahm sie das Buch, und Pfarrer Holland begleitete sie zur Tür. Während sie sich unterhalten hatten, hatte man den Motor des Rasenmähers nicht gehört, aber als der Pfarrer die Haustür öffnete, um Meredith hinauszulassen, sprang er wieder an, und Barry lief energisch, gewissermaßen unter Dampf, den Rasen hinauf und herunter, als hänge sein Leben davon ab.

»Ich wette, er hat die Gelegenheit genutzt, hinter einem Baum schnell eine Zigarette zu rauchen«, sagte Pfarrer Holland vergnügt.

»Man muß Barry beaufsichtigen.«

»Ist das sein Motorrad?« Meredith betrachtete das schwarze Ungetüm.

»O nein«, sagte Pfarrer Holland.

»Es gehört mir.« KAPITEL 9 Meredith mochte das Gefühl haben, daß sie einen guten Anfang gemacht hatte. Markby hingegen hatte das Gefühl, daß er bei seinen Ermittlungen überall ins Leere stieß.

»Ein Kollege hat sich an allen üblichen Orten umgesehen«, sagte Pearce,

»aber kein Glück gehabt. Sobald es sich herumgesprochen hatte, daß das Hurst-Mädchen gestorben ist, sind alle hiesigen Kleindealer verschwunden. Jetzt lügen sie, und wenn einer einen Namen kennt, wird er ihn uns nicht nennen. Sie wissen, wie das ist. Sie haben Angst oder sind selbst abhängig und brauchen den Kontakt, um ihren Schuß zu bekommen.«

»Es sind nicht die unglückseligen kleinen Fische, die wir suchen«, sagte Markby.

»Wir wollen die großen Jungs, die Dealer und die Leute, die den Stoff hereinschmuggeln.« Pearce hob die Schultern. Sein Chef seufzte und ging zum nächsten Punkt der Ermittlungen über. Er hielt einen Ordner in die Höhe.

»Nichts als leeres Papier über den Toten im Graben. Wir wissen heute noch genausowenig über ihn wie in dem Moment, als der unglückliche Daley ihn ausgrub – und auch der hat die Fliege gemacht.«

»Niemand kennt den Toten«, sagte Pearce philosophisch. Das wurde übel vermerkt.

»Natürlich kennt ihn jemand – oder hat ihn gekannt!« fauchte Markby.

»Er ist nicht vom Himmel gefallen. Wir haben nur noch niemanden aufgespürt, der ihn identifizieren könnte. Dazu müßte man die Beine in Bewegung setzen. Damit muß es zu schaffen sein.« Pierce machte den Mund auf, um darauf hinzuweisen, daß er – und auch andere – sich die Füße praktisch schon abgelaufen hatten. Doch er besann sich eines Besseren, griff nur nach dem Foto des Toten und betrachtete es verdrießlich.

»Also!« sagte Markby und schlug mit den Handflächen auf den Schreibtisch.

»Fangen wir von neuem an, ganz von Anfang. So sieht Polizeiarbeit aus, man muß es noch einmal und noch einmal versuchen. Langweilig und Routine, aber am Ende bringt es Resultate, also denken wir mal nach. Entweder wurde er woanders getötet und als Leiche hierhergebracht, um begraben zu werden, oder er kam auf seinen beiden Beinen und wurde hier getötet. Sind wir uns darin einig?« Pearce pflichtete ihm bei.

»Machen Sie also von hier aus weiter«, drängte Markby gereizt.

»Zerpflücken Sie das. Nehmen Sie sich das erste Szenario vor. Haben wir etwas, das dafür spricht? Spricht etwas dagegen?«

»Nun«, sagte Pearce vorsichtig.

»Die Tatsache, daß kein Einheimischer ihn identifizieren konnte oder zugegeben hat, ihn gesehen zu haben, deutet darauf hin, daß er woanders getötet und hertransportiert wurde.«

»Warum hierher? Warum auf diese Baustelle? Warum in diesen Graben?« Pearce sagte, das wisse er nicht.

»Und ich weiß es ebensowenig. Aber es läßt auf Ortskenntnis schließen, und vergessen Sie unsere Blumen nicht, den Bund Himmelschlüssel, den Sie dort gesehen haben, als Sie hinausfuhren, um mit Riordan zu sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer der dort beschäftigten Männer die Blumen hingelegt hat. Für mich sagt es etwas anderes aus – das hat jemand getan, der den Mann gekannt hat oder zumindest etwas über ihn wußte. Aus beidem schließe ich, daß er aus freien Stücken herkam, um jemanden zu besuchen, und hier in der Gegend von einem Ortsansässigen getötet wurde. Wir wissen nicht, warum er herkam oder warum er getötet wurde. Aber irgend etwas hat ihn hierhergeführt. Also verwerfen wir Szenario eins zugunsten von Szenario zwei.«

»Wenn er herkam, um irgend jemand oder etwas zu suchen«, sagte Pearce,

»dann könnte er der Mann gewesen sein, den Mrs. Carmody Donnerstag nachts verscheucht hat.«

»Ja. Ich wünschte, wir könnten uns endgültig darauf festlegen. Der Eindringling könnte trotzdem der Kerl gewesen sein, der daran interessiert war, das alte Zaumzeug und die anderen Sachen zu kaufen. Wenn wir unsere Leiche nicht zuordnen können, dann finden wir vielleicht unseren Antiquitätenhändler. Ja, gehen wir’s doch von dieser Seite an. Durchstöbern Sie die Gelben Seiten, notieren Sie sich alle hiesigen Antiquitätenhändler und Trödler, besonders die kleineren Läden, weil es wahrscheinlicher ist, daß sie es sind, die sich nach Sachen umsehen, die sie billig erwerben können.« Pearce nahm das Firmenverzeichnis der Telecom und blätterte in den ockergelben Seiten.

»Das sind ja Dutzende!« sagte er aufstöhnend. Er erntete kein Mitgefühl.

»Dann fangen Sie am besten gleich an.«

»Gelb«, sagte Pearce und tippte auf die aufgeschlagene Buchseite.

»Ich habe nachgedacht, Sir. Wegen dieser Himmelschlüssel, die ich auf der Baustelle gesehen habe. Sie sagten, kein Bauarbeiter würde dort einen Blumenstrauß hinlegen. Doch meiner Meinung nach tut überhaupt kein Mann so etwas – das ist Frauensache.« Markby rieb sich das Kinn.

»Sie könnten recht haben, doch das würde bedeuten, daß er nicht einfach auf gut Glück in der Gegend war, sondern eine Freundin hier hatte. Verflixt noch mal! Kaum haben wir eine Theorie herausgearbeitet, fällt uns eine andere ein, die ihr widerspricht. Nein, bleiben Sie dabei, die Antiquitätenhändler zu überprüfen, besonders die, die mehr mit Memorabilien als mit hochklassiger Kunst und wertvollen Sammlerstücken handeln. Ich gehe zum Bahnhof hinunter.« Pearce hob fragend die Brauen.

»Wenn er aus freien Stücken hergekommen ist«, erklärte Markby geduldig,

»dann muß er es mit einem Fahrzeug getan haben. Bisher hat aber niemand einen herrenlosen Wagen oder einen Wagen gemeldet, der auf einem Parkplatz seine Parkdauer um mehrere Tage überschritten hat. Doch überprüfen Sie das, um ganz sicherzugehen, auch noch einmal. Ich wette jedoch, er hat kein Auto gehabt. Er ist mit dem Bus oder mit dem Zug gekommen, und von beiden ist der Zug der wahrscheinlichere. Ich fahre mit unserer Fotografie zum Bahnhof von Bamford.«

Der Bahnhof von Bamford hatte sich seit den dreißiger Jahren nicht sehr verändert. Er lag an einer Hauptstrecke, aber tagsüber war deshalb trotzdem nicht besonders viel los. Am frühen Morgen, wenn die Pendler nach London fuhren, herrschte reger Betrieb, und dann noch einmal am Vormittag, wenn die Leute, die zum Einkaufen fuhren, und die Touristen sich in den Zügen drängten, die in die Hauptstadt fuhren. Am Spätnachmittag und am frühen Abend, wenn alle zurückkamen, wurde es wieder lebhaft. Am frühen Nachmittag hatte der Hauptbahnsteig das verschlafene, verlassene Aussehen eines altmodischen Westernfilm-Sets. Fast erwartete man, den Helden am Gleis entlang langsam aus der Wüste in die Sonne reiten zu sehen.

Markby erschrak zuerst, als er auf dem Bahnsteig eine Neuerwerbung entdeckte – einen automatischen Fahrkartenautomaten –, und er fragte sich, ob der Bahnhof nicht mehr besetzt oder, wie er es bei sich nannte, entmenschlicht worden war. Hinter dem Fahrkartenschalter und hinter dem Gepäckschalter war jedenfalls niemand. Im Taxibüro saß eine Frau mittleren Alters, die eine Zeitschrift las. Sie sagte, Harry müsse irgendwo sein. Markby war erleichtert, als er das hörte. Seit er denken konnte, war Harry ein Bestandteil des Bahnhofs von Bamford, und der Gedanke, Harry sei durch einen Metallkasten ersetzt worden, gefiel ihm nicht.