2. Kapitel

In Lyndock Valley, nördlich von Adelaide, arbeitete eine Gruppe von Sträflingen in Ketten.

Rechts an der Straße, wenn man dem damals noch wenig begangenen Weg von Adelaide aus folgte, stand ein hoher Palisadenzaun, fest eingerammt, mit scharfen Spitzen und oben noch mit drohend umgeschlagenen Nägeln bewehrt, über den nur hier und da einzelne aus unbehauenen Steinen zusammengesetzte Schornsteine emporragten. Diese gehörten zu gewöhnlichen Rindenhütten, in denen die Deportierten, wenn sie ihr Tagewerk vollbracht und abends ihr Mahl gekocht und verzehrt hatten, nachts unter strenger Wacht gehalten wurden, bis sie die Sonne zu neuer Arbeit rief.

Es war das eine Abteilung von Leuten, die unter verschärfter Strafe stand. Teils hatten sie sich Widersetzlichkeit, teils andere Vergehen zuschulden kommen lassen, teils waren sie sogar entwichen und wieder eingefangen worden, und die letzteren besonders büßten ihr Verlangen nach Freiheit durch massive Ketten, an denen sie schwere Kugeln bei jedem Schritt nachschleppen mußten.

Wüstes verwildertes Volk waren die meisten; in Sünden und Verbrechen aufgewachsen und seit ihrer Strafzeit noch außerdem dem Abschaum der Menschheit beigesellt, in dem allein sie sich wohl und behaglich fühlten. Jetzt freilich war der alte Trotz gebrochen, und so zügelloser Sprache sie sich auch untereinander bedienen mochten, sobald ihnen einer der Wächter nahe kam, krochen sie scheu in sich zusammen und ließen ihren Grimm höchstens an dem harten Erdboden aus, den sie mit Schaufel und Spitzhacke angreifen und ebnen mußten.

Und wahrlich, sie wußten, daß sie ihren Wächtern keine Ursache zu Strafe geben durften, denn erbarmungslos wäre die Peitsche auf ihre Rücken herabgekommen, bis ihnen das blutige Fleisch in Streifen niederhing. Wenig genug Rücksicht wurde in jener Zeit auf die Deportierten schlechthin genommen, womit sie sich auch im alten Vaterland vergangen haben mochten. Wehe aber den Unglücklichen, die unter verschärfter Strafe standen, denn diese waren der Willkür ihrer rohen Wächter vollständig preisgegeben, und nur in höchst seltenen Fällen drang eine Klage zu höheren Beamten, um irgendeine ungerecht vollzogene Strafe zu untersuchen.

Solche Strafgänger wurden dabei (und waren es auch eigentlich meist) als zum Tod verurteilte und nur halb begnadigte Verbrecher betrachtet. Der Tod drohte ihnen noch aus jedem Gewehrlauf der Wachen, die sie umstellten, denn diese hatten ausgedehnte Vollmacht, bei der geringsten verdächtigen Bewegung eines der Gefangenen von ihren Feuerwaffen beliebigen Gebrauch zu machen.

Dabei ließ fast jedes Vergehen, was sie sich erneut zuschulden kommen ließen, verschärfte und doppelt verschärfte Strafen erwarten, und auf Widersetzlichkeit gegen die Wächter oder erneute Flucht stand der Tod.

Daß sie aber auch gar nicht an erneute Flucht denken durften, dafür sorgte schon die vortrefflich eingerichtete und bewaffnete Polizeimannschaft, die mit der blanken und scharfgeschliffenen Wehr an der Seite die mit Ketten beladenen Verbrecher schon im Zaum halten konnte. Nachts blieb dazu der ganze, mit festen Palisaden eingeschlossene Platz von Militär umstellt, und die einzelnen Trupps wiederum hatten ihre besonderen Wächter; Flucht war von dort mit einem Wort unmöglich.

Unter den Gefangenen befand sich einer, der sich nicht allein durch seine reinlicher gehaltene Kleidung, sondern auch durch sein ganzes Benehmen vor den übrigen auszuzeichnen versuchte.

Es war ein muskulös gebauter, kräftiger und breitschultriger Gesell, der sich nicht so hatte gehenlassen wie die übrigen. In seinem ganzen Wesen hatte er überhaupt etwas, das für ihn interessierte, denn es schien fast, als ob er nicht in diese traurige Umgebung, in der er sich befand, gehöre. Möglich vielleicht, daß dazu gerade diese traurige Umgebung die Schuld trug, aus der er sich, soviel dies anging, zurückzog. Man sagt ja: Im Lande der Blinden ist der Einäugige König, und es bedurfte hier allerdings nur einer sehr geringen Anstrengung, sich über diese Masse emporzuarbeiten.

Selbst aber durch solche geringe Anstrengung fühlte sich diese Masse beleidigt, die nun einmal keinem von ihr gestatten wollte, daß er sich aus dem allgemeinen Schlamm erhob. John Mulligan, dessen Strafe durch Tolmers Fürsprache so gemildert worden war, daß er dieser Abteilung nur auf ein Jahr eingereiht worden war, hieß deshalb auch sehr bald »der Gentleman« oder auch »Gentleman John«; und er hatte sich den Haß einer großen Zahl der Gefangenen zugezogen, weil er an einem trotz aller Gefahren verabredeten Fluchtversuch nicht hatte teilnehmen wollen.

Allerdings hatte er damals den Kameraden vorgestellt, daß sie auf solche Art gar nicht entkommen könnten und ihr Los nur dadurch, ohne das Geringste zu erreichen, verschlimmern würden. Sie nannten ihn dafür einen feigen Patron, der keinen Mut mehr habe, etwas für seine Freiheit zu wagen, und fanden doch in derselben Nacht, daß »Gentleman John« völlig recht gehabt hatte.

Ihr Plan wurde nämlich vereitelt, bevor sie richtig begonnen hatten, ihn auszuführen. Drei fielen dabei durch die Schüsse der Wachen, zwei andere wurden schwer verwundet und zusammen mit einem sechsten, der sich beteiligt hatte, vierzehn Tage später gehängt - als Beispiel für die übrigen.

So verging wieder ein Monat, und John Mulligan, der nur selten mit irgendeinem seiner Kameraden gemeinsame Sache machte, weil er keinen von ihnen kannte, arbeitete fleißiger denn je, betrug sich dabei bescheiden gegen die Wächter und war, mit einem Wort, das Muster eines Kettengefangenen, den man den übrigen fortwährend als Vorbild hinstellte. - Aber hätten sie nur sein Herz sehen, nur die Gedanken lesen können, die Tag und Nacht in seinem Hirn brannten und ihn fast zur Verzweiflung trieben!

Freiheit! - Freiheit! Das war das einzige Gefühl, das ihn noch am Leben hielt, das ihm Herz und Seele erfüllte, und wenn er nicht schon lange einen Versuch gemacht hatte, dies höchste Gut wieder zu erringen, trugen die Schuld nur seine Vorsicht und Schlauheit, die nicht zugaben, daß er sich in ein nur halbwegs unsicheres Unternehmen einließ. Er wußte, welche Strafe seiner diesmal wartete, sobald es mißlang, und selbst der Gefahr durfte er sich nicht aussetzen.

Dadurch übrigens, daß er mit fast allen seinen Mitgefangenen verfeindet war, gewann er sich mehr und mehr das Vertrauen der Aufseher, und es geschah jetzt schon gar nicht selten, daß John Mulligan da oder dort die Aufsicht über die Arbeit irgendeiner kleinen Abteilung der Kameraden übergeben wurde. Allerdings trug er deshalb nicht leichter an Kette und Kugel, und er war ebenso wie alle anderen von den scharfgeladenen Gewehren der Wache bedroht, aber es zeigte doch, daß die Wächter sein Bestreben, sich gut zu betragen, anerkannten, während es die Mitgefangenen nur noch immer mehr von ihm entfernte.

Natürlich spotteten diese über ihn. »Gentleman John«, hieß es, »wird nächstens eine blaue Jacke mit blanken Knöpfen bekommen und lieb Kind beim Leutnant werden. Zum Teufel mit dem Schuft, und uns hat er vorgelogen, daß er auf der Känguruh-Insel der Anführer einer ganzen Bande Buschranger gewesen wäre.«

John Mulligan hörte es und achtete nicht darauf.

Nur ein einziger von allen schien sich mit John befreundet zu haben, und das war ein Irländer, dessen brandrote Haare ihm den Beinamen Rotkopf verschafft hatten. Überhaupt wurde fast keiner der Sträflinge von den Mitgefangenen bei seinem wirklichen Namen genannt, weil sich sonst niemand aus den ewigen Jacks und Johns und Jims herausgefunden hätte.

Rotkopf aß mit Gentleman John aus einer Schüssel, und so häufig ihn sonst die Peitsche der Wächter, besonders seiner bösen Zunge wegen, getroffen hatte, so war jetzt, seit er mit John Mulligan näher befreundet war, eine auffallende Besserung bei ihm eingetreten.

Natürlich schrieben die Beamten das einzig und allein dem wohltätigen Einfluß zu, den John auf ihn ausübte, und dieser stieg dadurch nur noch mehr in ihrer Achtung.

Das ging eine Weile so fort, bis der Oberwächter, unter dessen Aufsicht sie bis jetzt gestanden, abberufen wurde, irgendeine andere Stellung auszufüllen. An seiner Statt trat ein Schotte ein, der, von einer anderen Gruppe hierher versetzt, die Überzeugung mitbrachte, an Kettengefangenen sei jedes Wort verschwendet, und man tue am besten, sich, wie bei eingeschirrten Stieren, nur durch die Peitsche mit ihnen zu unterhalten.

John Mulligan oder Gentleman John, wie er jetzt allgemein hieß, arbeitete heute mit Rotkopf zusammen an einem mächtigen Stringybarkbaum, der mitten in dem ausgesteckten Weg stand und deshalb gefällt werden sollte. Sechs oder acht ihrer Kameraden mühten sich ein kleines Stück weiter unten mit Brecheisen ab, einen riesigen Felsblock von der Stelle zu rücken, den sie in der halben Zeit mit Pulver hätten sprengen und beseitigen können.

Um sie her, mit geladenen Gewehren, standen die dazu bestimmten Polizeisoldaten, und der neue Oberwächter, statt des Spazierstocks eine tüchtige Knute von ungegerbtem Leder in der Hand, ging von Gruppe zu Gruppe, um die Lässigen nur durch seine Gegenwart schon zu äußerster Anstrengung anzutreiben.

In diesem Augenblick stand er bei denen, die an dem Stein wühlten, nichtsdestoweniger den Blick nach allen Seiten werfend.

»Du, John, ich halte es jetzt nicht länger aus. Deinem Zureden nach hab ich mich gestellt, als ob ich unterduckte, und von Tag zu Tag hast du mir versprochen, daß wir ausbrechen würden. Ich hab immer noch auf dich gewartet, nun ist's aber vorbei, denn mit dem neuen Burschen als Wächter und Einpeitscher will ich verdammt sein, wenn ich mich länger halten lasse. Sie sollen mich meinetwegen totschießen oder hängen, wenn die Sache schiefgeht, aber für jeden gesegneten Tag totgeschossen und gehängt zu werden, das ist mehr, als Menschennatur ertragen kann.«

»Hast du dich unter deinem Fußring etwas wund gerieben, wie ich dir's gestern abend sagte?« fragte John vorsichtig.

»Das hab ich, aber was soll das nützen?« lautete die mürrische Gegenfrage. »Zum Henker auch, wenn du glaubst, daß sie dadurch Mitleid für einen fühlen, so bist du verdammt auf dem Holzweg.«

»Sowie wir den Baum hier umgeworfen haben«, fuhr John ruhig fort, denn der Wächter wandte sich jetzt und kam auf sie zu, »werden wir oben auf den Hügelkamm geschickt. Dort fang an zu hinken und zu winseln, und tu, als ob du große Schmerzen hättest; das Weitere überlaß mir. Ich will schon dafür sorgen, daß dir der Ring abgenommen wird.«

»Aber deine Kette?« fragte Rotkopf erstaunt, »willst du nicht mit?«

»Es ist ein Hundeleben im Busch«, knirschte John vor sich hin, »und ich kenne es leider schon zu gut, aber - den Teufel auch - es ist doch Freiheit, und diesmal sollen sie mich nicht überlisten wie das letztemal, wo ich ein Esel war und meine Strafe verdiente.«

»Du gehst also mit?«

»Mein Ring ist durchgefeilt«, sagte John rasch, »der geringste Schlag mit einem Stein und ich bin frei.«

»Aber die verfluchten Musketen.«

»Vor denen müssen wir uns schon sichern; aber jetzt still - da kommt unser Aufseher!« Und mit wuchtigen Schlägen hieb er die Axt in die weichen Wurzeln des schon fast unterminierten und vom Boden losgetrennten Gumbaumes hinein, daß dieser bis zum Gipfel hinauf erzitterte.

»Ihr trödelt hier auch eine Ewigkeit mit der Stange«, sagte der Aufseher, der eben zu ihnen trat. »Zwei baumstarke Kerle und einen ganzen Vormittag an einem solchen Schößling herumzuspielen. Ich glaube, ich habe mit meiner Lederhacke gefehlt, euch ein wenig dabei zu helfen. Nun - wird's bald?«

»Aye, aye, Sir« sagte John demütig, indem er aus Leibeskräften auf die Wurzeln einschlug. Rotkopf unterstützte ihn dabei nach Kräften, und es dauerte nicht lange, so neigte sich der Wipfel des riesigen Baumes - erst langsam, dann immer schneller, bis er zuletzt mit einem gewaltigen Schlage, alle seine Äste fast dabei in Stücke schmetternd, zu Boden krachte.

»So - nun rasch das Holz aus dem Wege«, befahl der Aufseher, »dann die Zacken noch weggeschlagen; ich werde gleich zwei andere von unten heraufschicken, die ihn ein paarmal durchsägen. Kommt ihr nachher alle zusammen, so rollt ihn gleich aus der Bahn. Bis Mittag darf keine Spur mehr davon im Wege sein.«

»Aye, aye, Sir«, klang wieder die einzige Antwort der beiden Leute zurück, als Zeichen, daß der Befehl gehört sei und erfüllt werden solle, und der Wächter stand mit einem finsteren Blick, seine Peitsche wie im Spiel auf und ab schwingend, daneben, als ob es ihm leid sei, daß er bei den beiden Gesellen auch nicht die geringste Ursache zur Strafe hatte; aber er fand nun einmal nichts zu strafen und mußte sich endlich einem anderen Trupp zuwenden, der vielleicht lässiger in seiner Arbeit gewesen war.

Rotkopf sah ihm, als er sie verließ, mit einem tückischen Blick nach, und zischte vor sich hin:

»Daß solch eine Spinne von einem Menschen solche Kerle, wie wir sind, prügeln darf! John, den kleinen Finger von meiner linken Hand gäb ich drum, wenn ich dem Burschen vorher, ehe wir abgehen, den Schädel einschlagen dürfte.«

»Du würdest den Hals auch dazugeben müssen«, sagte John trocken.

»Bah, der ist doch verfallen, sobald wir den ersten Versuch machen und erwischt werden«, rief Rotkopf trotzig, »aber was tut's - einmal werden wir doch gehängt, früher oder später, und bis dahin wollen wir das Leben noch genießen.«

»Im Busch?« fragte John kopfschüttelnd.

»Bah, Kamerad«, sagte Rotkopf lachend, »du denkst immer noch an deine verbrannte Känguruh-Insel, wo du Hunger und Kummer leiden mußtest, weil ihr die Sache eben ungeschickt anfingt. Paß einmal auf, ob ich dich nicht an eine Stelle bringe, wo wir ein fideles Leben fuhren können.«

»Im Busch?« wiederholte John noch einmal ungläubig.

»Ja, im Busch«, bestätigte der Ire, »aber freilich dürfen wir nicht wie die Einsiedler in einer Rindenhütte hocken und nur eben ausbrechen, wenn wir am Verhungern sind. Finden wir aber den Stamm der Schwarzen, mit dem ich befreundet bin, dann sollst du einmal sehen, ob ich dir etwas vorgelogen habe.«

»Und halten die sich hier in der Nähe auf?«

»Wir sind nicht zehn Meilen von ihrem Jagdrevier, und sind wir nur erst einmal dort, sind wir auch außer aller Gefahr. Mach also jetzt Anstalt, daß wir die verdammten Eisen von den Beinen bekommen, oder ich begehe einen tollen Streich ganz allein.«

»Still, dort kommen die Säger«, flüsterte John, »nachher beim Essen verabreden wir unseren Plan.«

»Vielleicht gingen die mit?«

»Sie mögen nachkommen, wenn sie Lust haben«, sagte der vorsichtige John, »zu viele in einem Geheimnis haben es noch jedesmal verdorben, und ich darf mich diesmal nicht der Gefahr aussetzen, entdeckt oder verraten zu werden.«

»Weil du so lange den Frommen gespielt hast?«

»Allerdings, und die übrigen mich deshalb hassen. Holzköpfe, die sie sind, daß sie glauben konnten, John Mulligan wäre im Ernst ein solcher Tropf, vor einem schurkischen Wächter im Staub zu kriechen.«

»Und heute mittag?«

»Nachher - die da dürfen nichts merken.« -

Das Mittagessen war vorüber - eine einfache, aber doch reichliche und auch nahrhafte Mahlzeit für die Leute, die aus Weizenbrot, das in der Asche gebacken worden war, und Hammelfleisch bestand.

Von solchem Brot oder Damper hatte sich John in den letzten Wochen aus abgesparten kleinen Stücken einen Vorrat angelegt, von dem er schon ein paar Tage zu leben vermochte. Bei seiner Mahlzeit gelang es ihm heute, diese Ration mit Rotkopf zu teilen, daß sie es beide leichter in ihrer Jacke verbergen konnten.

Während des Essens, das innerhalb der Palisaden verzehrt wurde, nahmen auch die Soldaten ihr Mittagsmahl ein, aber eine Flucht war in dieser Zeit doch unmöglich, da der einzige Ausgang mit doppelten Wachen besetzt stand. Irgendeiner, der außerdem am hellen Tage versucht hätte, die Palisaden zu überklettern, wäre augenblicklich heruntergeschossen oder doch dabei ertappt und wenigstens halbtot gepeitscht worden. Johns Plan lag auch nicht darin, ein solches Wagstück in einer Weise zu unternehmen, wie sie von den Beamten schon vorbedacht und durch Maßregeln verhindert war. Er wußte recht gut, daß ihre Flucht nur durch Überraschung gelingen konnte.

Nach dem Essen bildete sich wieder die Kolonne, in der sie, von Soldaten umgeben, zu ihrer Arbeit hinausmarschierten. Rotkopf hinkte dabei bedeutend und stützte sich auf Johns Arm, der ihn führte.

Auch John schien nicht ganz fest auf den Füßen und hatte sich in das linke Eisen ein paar baumwollene Lappen hineingesteckt, von denen der eine Blut zeigte. Rotkopf hatte sein Bein fest umwunden und arbeitete sich nur mit großer Schwierigkeit vorwärts, um in der Reihe Schritt zu halten.

Sie wurden, wie es John vorher gewußt hatte, heute nachmittag auf den Kamm des Hügelrückens geschickt, um hier passende Steine für die Straße loszubrechen. Der Hügelkamm fiel an der Seite, an der die Straße lag, ziemlich steil ab, und die oben gelösten Steine rollten von selbst zu Tal. An der anderen Seite zog sich ein weniger schräger Abhang in den Busch hinein, der oben mit einzelnen Bäumen, tiefer unten jedoch mit dichtem Gestrüpp bewachsen war. Auf dem Kamm aber, mitten zwischen den Arbeitern, standen die Wachen mit ihren geladenen Gewehren, und wenn die Sträflinge mit ihren Ketten überhaupt hätten an Flucht denken können, würden sie die Kugeln der Soldaten bald eingeholt und unschädlich gemacht haben.

»Was zum Teufel hast du nun wieder?« fragte der Oberaufseher, als er dort oben die verschiedenen Arbeitsplätze angewiesen hatte und zu Rotkopf trat. »Was ist mit deinem Bein?«

»Ich kann nicht mehr, Sir«, stöhnte der Mann. »Bis hierherauf hab ich mich geschleppt, aber jetzt bin ich's nicht mehr imstande. Das Bein ist entzündet und geschwollen; wie mit Messern sticht's mich hier. Wenn Ihr mir die Kette nur wolltet an das andere legen lassen, vielleicht könnt ich dann doch noch weiter arbeiten, sonst bin ich nicht einmal imstande, wieder allein hinunterzugehen.«

»Das weiß der Henker, was mit euch Schuften immer los ist«, brummte der Oberaufseher verdrießlich vor sich hin. »Konntest wohl nicht das Maul auftun, als wir unten waren, daß dir der Wundarzt den Schaden nachsah, he?«

»Es ist weiter nichts, Euer Gnaden, als die Kette drückt ihn auf eine wunde Stelle«, sagte John ehrerbietig. »Wenn Ihr's erlaubt, wollt ich ihn bald wieder auf den Füßen haben.«

»Und wir?«

»Machen ihm bloß die Kette, wie er's verlangt, ans andere Bein, das hilft jedesmal - wenigstens bis das wieder heil ist. Es sind ja Soldaten genug hier, die es ihm umschließen könnten.«

»Zum Henker auch«, rief der Oberaufseher, »ich glaube, der Bursche drückt sich nur von der Arbeit und spielt den Lahmen. Auf, mein Herz, das hilft dir bei mir nichts.« Mit diesen Worten zog er ihm ein paar tüchtige Peitschenhiebe über. Rotkopf krümmte sich unter den Schlägen und versuchte dem Befehl nachzukommen, indem er sich aufrichten wollte, aber es ging nicht. Er vermochte nicht auf den Beinen zu stehen, brach wieder zusammen und fiel gegen einen Baum, an dem er sich die Stirn blutig riß.

»Wenn Euer Gnaden befehlen«, sagte John demütig, »so trag ich ihn lieber den Hang hinunter. Mein Bein ist auch wund, aber einer der Herren Soldaten hilft mir vielleicht. Der arme Teufel hält's so nicht aus.«

»Ich will selbst sehen, was an der Wunde ist«, sagte der Oberaufseher trotzig, obgleich ihn der letzte Fall des Gefangenen stutzig gemacht hatte. »Man darf euch Schuften ja gar nicht mehr glauben, denn ihr betrügt und hintergeht uns auf jede Weise. Da leg dich hin, Roter! - Hast du's gehört, oder soll ich dich beweglich machen?«

Rotkopf kroch zu der ihm bezeichneten Stelle, und der Oberaufseher nahm seinen Schlüssel heraus, winkte zweien der Soldaten, die näher herankamen und neben ihnen stehenblieben, und beugte sich dann nieder, den angeblichen Schaden des Gefangenen zu untersuchen.

John war ungemein geschäftig, ihn darin zu unterstützen; er schob einen Steinblock zurecht, auf dem sich der Herr Oberaufseher bequem niederlassen konnte. Nachdem er Rotkopf dann etwas weiter vor und sein rechtes Bein dabei in die Höhe gehoben hatte, daß der Beamte es bequem erreichen konnte, stemmte er das eigene darunter und stützte sich mit dem rechten Arm auf den Boden.

Der Beamte öffnete vorsichtig das Schloß der Kette, und der Gefangene stöhnte und winselte dazu; während aber die Kette oben klirrte, preßte unten John Mulligan in wahrer Todesangst das breite Eisen, das seinen eigenen Knöchel fest umspannt hielt. Heimlich in der Nacht, seit langen, langen Monden, hatte er mit einem Stückchen Feile, das er sich zu verschaffen gewußt hatte, an diesem Ring gefeilt - oft nur ein oder zwei Striche die ganze Nacht, weil er nicht wagen durfte, die Wächter durch das Geräusch aufmerksam zu machen. Die angefeilte Stelle war zuletzt so dünn, daß er glaubte, das Eisen werde dem geringsten Druck nachgeben; ja, er vermied, noch mehr daran zu arbeiten, weil ihm die Kette sonst am Ende vor dem richtigen Moment vom Fuß abfallen konnte. Jetzt nun, im entscheidenden Augenblick, während er den Kameraden mit dem einen Arm angeblich unterstützte, preßte seine andere Hand unten gegen das fast völlig durchgefeilte Eisen, daß ihm das Blut unter den Nägeln vorzuspritzen drohte - aber vergebens.

»Na - jetzt paß auf und halt ihn fest«, sagte der Beamte, während er das Schloß aufbog und das Eisen von dem Bein des Gefangenen herunterfallen ließ. »wo ist denn nun die schreckliche Wunde? - Aber halt, Kamerad, erst wollen wir dir den hübschen Ring doch lieber um den anderen Knöchel legen, nachher können wir uns den hier mit Muße besehen.«

»Hat nichts zu sagen, Sir«, stöhnte John. »Der läuft nicht davon.«

»Wenn du um deine Meinung befragt wirst, magst du antworten. Laß das Bein einmal los und heb das andere herauf. Was zum Teufel? - Wie siehst du denn aus? Du hast ja einen Kopf wie ein Krebs so rot - herauf mit dem Bein.«

»Aye, aye, Sir!« rief John, und die Verzweiflung gab ihm Riesenkräfte. - Noch ein Moment, und ihr ganzer Plan war, vielleicht für immer, vereitelt. Doch wie er noch einmal seine Finger über den eisernen Ring preßte, fühlte er, daß sich dieser unter seinem Griff bog.

»Nun, wird's bald?« rief der Aufseher.

»Einen Moment, Sir - ich bin mit meinen Ketten hier unten hängengeblieben - mach es gleich wieder los.«

Er ließ das angeblich wunde Bein Rotkopfs herunter, und während er jetzt auch mit der anderen Hand nach seiner Kette faßte, brach der breite Ring unter seinem Griff wie Glas entzwei. Im Nu hatte er ihn gepackt und aufgebogen, wenn auch die scharfe Kante ihm die Finger blutig riß, und der Aufseher, dem diese plötzliche Bewegung nicht entgangen war, rief erstaunt aus.

»Alle Wetter, was machst denn du da, mein Junge?«

»Ich kuriere mein Bein, Sir!« sagte John lachend, während Rotkopf mit Blitzesschnelle in die Höhe fuhr.

»Ist es Zeit?« rief dieser.

»Faß ihn«, lautete die einzige Antwort, und »Verrat!« schrie auch schon im nächsten Moment der erschrockene Aufseher, »Hilfe, Hilfe!« Und wohl hatte er Grund dazu, denn vier stärkere Arme gab es nicht in den Kolonien, wie die waren, die ihn jetzt gefaßt hatten. Rotkopf packte ihn um den Leib, John um die Knie, und während sie, nach früherer Unterredung, den leichten Burschen als Schutz gegen etwa ihnen nachgeschickte Kugeln auf ihren Nacken hoben, sprangen sie dabei in wilden Sätzen den Hang hinab, direkt auf das nächste Dickicht zu.

»Hilfe, Hilfe!« schrie der Aufseher, aber die Soldaten durften ihren Posten nicht verlassen, weil sie ja nie wissen konnten, ob das nicht vielleicht einen Plan der Gefangenen unterstützte, eine gemeinschaftliche Flucht zu versuchen. Nur ihre Gewehre spannten sie und hoben sie nach alter Gewohnheit in den Anschlag - aber schießen durften sie nicht, wenigstens nicht nach diesen Flüchtigen. Die Kugeln mußten ja ihren eigenen Vorgesetzten treffen.

»Hilfe - Hilfe!« tönte dessen Ruf schon tief von unten herauf, und seine Rechte hatte sich indes vergebens bemüht, in eine seiner Brusttaschen zu gelangen und die dort steckenden Pistolen herauszuziehen. Rotkopf aber hinderte ihn daran; wie in einem Schraubstock schnürte er ihm die Arme zusammen, und als ihm die Büsche jetzt noch ohnedies ins Gesicht schlugen, war er nicht mehr imstande, sich zur Wehr zu setzen.

Im nächsten Moment hatte ihn aber schon der niederhängende Ast eines alten Gumbaumes gefaßt und riß ihn gewaltsam aus den Armen der beiden Entflohenen, während ihm der Sturz einen lauten Schrei auspreßte.

»Hier mag er bleiben«, sagte der Rotkopf lachend, »denn durch das Dickicht können wir ihn doch nicht weiter schleppen, aber seine Pistolen wollen wir uns noch ausbitten.«

»Und das Pulverhorn mit den Kugeln nicht vergessen«, rief John.

»Nur rasch, denn die Teufel sind uns schon auf den Fersen.«

»In dem Dickicht vergebens«, sagte John lachend. »Her mit den Waffen, Kanaille.«

»Gnade, Gnade!« flehte der Beamte auf den Knien und in Todesangst.

»Das ist die Gnade, die du verdienst«, rief Rotkopf, und in voller Kraft und Wut, mit der geballten Faust zum Stoß ausholend, warf er den Unglücklichen in das dürre Laub zurück. Im Nu hatten sie ihm dabei den Rock ausgezogen, die Uhr aus der Tasche gerissen und flohen nun, als sie die Verfolger schon von oben herunter durch die Sträucher brechen hörten, gerade nach unten in den dicksten Busch hinein.

Wohl suchte eine rasch hinzugezogene Hilfstruppe noch an diesem Abend und an den nächsten Tagen den Wald nach allen Richtungen hin ab. Große Belohnungen wurden dabei von der Regierung ausgesetzt, und Polizeisoldaten wie Militär waren monatelang beschäftigt, diese frechen Flüchtlinge wieder einzubringen - galt es ja doch auch, an ihnen ein Beispiel zu statuieren -, doch vergebens. Gentleman John wie Rotkopf waren und blieben verschwunden und riefen sich nur dann erst wieder in die Erinnerung des Publikums zurück, als ein paar hintereinander verübte freche und kühne Raubüberfälle ihre Namen von neuem auf die Lippen der Buschbewohner und Reisenden brachten.