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Mountain Brook Methodistenkirche, 20.15 Uhr

»Das ist Reanne Parsons Mutter.« Detective Wells zeigte auf eine zierliche Frau in weißer Bluse und rosafarbenem Rock. »Ihr Vater ist nicht gekommen.«

Jess musterte die Frau, die sich neben dem extra für den Anlass errichteten Podium angeregt mit Chief Patterson unterhielt. Mrs Parsons war klein und zart, so ganz anders als ihre große, athletische Tochter Reanne. Ihr rotes Haar war heller, fast blond. Sie trug es altmodisch hochtoupiert. Der Rock reichte ihr bis weit über die Knie, und ihre Bluse hatte lange Ärmel, ungeachtet der Tatsache, dass es draußen immer noch über neunundzwanzig Grad waren.

»Warum ist ihr Mann nicht mitgekommen?« Aus Trauer vermutlich. Aber dies war immerhin ein Gottesdienst für seine vermisste Tochter und drei weitere Mädchen. Um öffentlich Glauben und Stärke zu demonstrieren, in der Hoffnung, dass irgendwer, der vielleicht etwas von einem oder sogar mehreren der vermissten Mädchen gesehen oder gehört hatte, mit neuen Informationen aufwartete. Seltsam, dass der Mann sich hier nicht zeigte.

»Einer von Pattersons Deputys meinte, er hat gehört, wie die Frau sagte, ihr Mann wäre sehr krank. Dies ist die zweite Tragödie, die die Familie dieses Jahr heimsucht. Bei den Tornados im April haben sie alles verloren.«

Jess erinnerte sich gut an diesen verheerenden Tag im April. Sie hatte sich Sorgen um ihre Schwester und ihre Familie gemacht. Und um Dan, obwohl sie das niemals laut zugegeben hätte. Zweimal hatte sie an diesem Tag eine Kollegin gebeten, ihn zu überprüfen. Dass sie nicht mehr so wie früher für ihn empfand, bedeutete noch lange nicht, dass er ihr gleichgültig war. Erneut meldeten sich dieselben verrückten Gefühle, die sie die letzten achtundvierzig Stunden am Denken gehindert hatten.

Sie drückte im Geiste die Löschtaste und ließ stattdessen die zahlreichen Aussagen und Berichte Revue passieren, die sie gelesen hatte. Wells hatte ihr bisher die Familien von drei der vermissten Mädchen gezeigt. Andrea Dentons Familie war noch nicht eingetroffen, aber laut Burnett auf dem Weg. Die Freunde aller vier Mädchen hatten sich eingefunden, um den Hoffnung und Trost spendenden Worten der verschiedenen Geistlichen zu lauschen, die die ansässigen Gemeinden repräsentierten. Der Gottesdienst fand in der riesigen Hauptkirche statt. Dezente Musik und die teuren Buntglasfenster sorgten für eine melancholische Atmosphäre.

Reannes Vater und die verspäteten Dentons hatten ausgesprochen herzzerreißende fünfundvierzig Minuten verpasst. Dann war die Menge hierher geleitet worden, in die Gebetshalle, wo man Erfrischungen servierte.

Dieser Programmpunkt, so hatte Jess erfahren, war Burnetts Idee gewesen. Er hoffte, die aufgewühlten Emotionen in Verbindung mit dem spirituellen Rahmen könnten dazu führen, dass jemand diese informelle Zusammenkunft nutzte, um mit Informationen rüberzukommen. So wie die Leute, die sich einem Pastor zu Füßen warfen, wenn der mit seiner Predigt den richtigen emotionalen Knopf drückte.

Das war allerdings bisher nicht passiert.

»Wir sollten den Vater, der nicht erschienen ist, überprüfen.« Irgendwie stieß ihr seine Abwesenheit auf. Nicht, dass jeder, der im Bible-Belt lebte, zwangsläufig auch gottesfürchtig war. Ganz bestimmt nicht, sonst wäre dieser spezielle Gottesdienst wohl kaum nötig. Doch wenn die Tochter eines Mannes verschwand, woraufhin seine offensichtlich gottesfürchtige Frau zu einer Veranstaltung für die Opfer erschien und er nicht, dann war da doch was faul. Sofern Mr Parsons nicht im Krankenhaus lag oder zumindest bettlägerig war, sollte er hier sein.

»Ich kümmere mich gleich darum, Ma’am.«

Jess verzog das Gesicht. »Das ›Ma’am‹ lassen Sie mal. Ich hasse das.«

»Pardon.« Wells machte ein unsicheres Gesicht. »Agent Harris?«

»Gott, das ist ja noch schlimmer.« Jess zuckte erneut zusammen. Sechs Stunden war sie jetzt wieder hier, und schon hörte sie sich an, als wäre sie nie weg gewesen. Der Dialekt, den sie sich vor Urzeiten abtrainiert hatte, entschlüpfte ihrem Mund, als hätte sie keinen eigenen Willen.

Nicht, dass sie den Süden hasste oder Birmingham. Was sie hasste, war ihr früheres Leben.

Nur der vollständige Bruch mit diesem Leben und allem, was dazugehörte, hatte ihr seinerzeit den Neubeginn ermöglicht. Das Sprungbrett für eine neue Jess. Es hatte ihr den Respekt von Menschen eingebracht, die die schleppende Sprechweise und das Nuscheln der Südstaatler für ein Zeichen mangelnder Intelligenz hielten.

Das emotionale Drama der letzten Tage war ihr wohl aufs Gehirn geschlagen. Sie fühlte sich orientierungslos, mutlos … ratlos. Ganz gleich, ob sie wegen des Falls hier war, für soziale Interaktion brachte sie im Moment einfach nicht die nötige Energie auf.

Sie musste sich zusammenreißen, egal wie. Jeder Fehler, den sie machte, konnte sich verheerend auf diesen Fall auswirken.

»Wie soll ich Sie denn ansprechen?«

Jess schüttelte den Kopf. Sie hatte Wells, die immer noch wartete, ganz vergessen. »Tut mir leid. Nennen Sie mich Jess oder Harris, ganz egal.«

Sie stieß die Luft aus, verärgert über sich selber. Sie war nie sehr gesellig gewesen, aber die aktuellen Umstände wirkten regelrecht verheerend auf die notdürftige soziale Kompetenz, mit der sie sich normalerweise über Wasser hielt. Wells fand Jess bestimmt schon ein wenig sonderbar.

»Mein Problem ist Folgendes, Detective Wells.« Ihre Finger schlossen sich fester um den Becher mit Bowle, bis das Styropor quietschte. »Ich bin ein bisschen neben der Spur.«

Wells nickte langsam und verständnisvoll, was bedeutete, dass sie gar nichts verstanden hatte. »Der Chief kann einen manchmal einschüchtern. Als ich es letztes Jahr zum Detective geschafft habe, hat er mich in sein Büro gerufen und mir erklärt, dass er von mir mehr erwartet als von anderen neuen Detectives. Seitdem habe ich immer Angst, dass ich Mist baue.«

Oh, gute Güte. Wells hatte offenbar ihre Schlüsse daraus gezogen, dass sie Burnett in der Damentoilette angetroffen hatte. Und da sie einen scharfen Blick besaß, war es recht unwahrscheinlich, dass ihr Jess’ rote, geschwollene Augen entgangen waren.

»Glauben Sie mir, Detective, dass ich nicht ganz auf der Höhe bin, hat nichts mit Daniel Burnett zu tun. Er ist meine kleinste Sorge.«

Als wollte das Schicksal sie zur Lügnerin stempeln, umarmte am anderen Ende des Raumes gerade Dan eine große Brünette. Die Art Frau, bei der Frau sein ganz leicht aussah. Die Art, die alle anderen Frauen auf den ersten Blick hassten.

Wells, die ihr Interesse oder ihren offenen Mund bemerkt hatte, beeilte sich zu erklären: »Das ist Annette, seine Exfrau.«

»Er hat noch mal geheiratet?« Von der da hatte Jess noch nie gehört. Das musste sie ihm lassen: Er gab nicht auf. Aller guten Dinge waren offenbar doch nicht drei.

»Für kurze Zeit.« Wells räusperte sich. »Oh, und das da ist Annettes Ex. Ich meine, der Ex, zu dem sie zurück ist, als sie und der Chief sich getrennt haben. Es sind Andreas Eltern.«

»Sie ist Andreas Mutter?« Jess hatte doch gleich gespürt, dass da mehr dahintersteckte, als Dan von den vermissten Mädchen sprach. Also war Andrea seine Stieftochter. »Burnett sollte nicht an diesem Fall arbeiten.« Ihr Blick ruhte auf dem Mann, seiner Exfrau und deren ehemaligem Ex, der jetzt wohl … Moment … »Haben Mrs Denton und Andreas Vater wieder geheiratet?«

»Ja. Vor sechs Monaten.«

Das reichte nicht für die emotionale Distanz, die nötig war, um bei einem Fall wie diesem objektiv zu sein.

Am liebsten hätte Jess sich Burnett auf der Stelle vorgeknöpft – oder sobald er sein Gespräch mit den Dentons beendet hatte –, weil er dieses kleine Detail ihr gegenüber unerwähnt gelassen hatte.

Doch das würde sie nicht tun. Denn wenn sie ganz ehrlich mit sich war, würde sie vermutlich ebenso handeln, wenn jemand, der ihr am Herzen lag, vermisst wurde. Aber, verdammt noch mal, genau das war die Art von scheinbar unbedeutenden Details, die sie von diesen Leuten unbedingt brauchte.

Wie kam es, dass Männer mit Erfahrung wie Patterson, Griggs und Burnett nicht erkannten, dass das Unterschlagen von Informationen genau das Problem bei diesem Fall war? Die Kleinstadtmentalität. Es spielte keine Rolle, dass Birmingham zu einer der größten Städte im Süden herangewachsen war, hier tat man immer noch so, als würde jeder jeden kennen. Doch die Wahrheit war, dass niemand jemals wirklich zu den tiefsten, dunkelsten Geheimnissen eines anderen vordrang. Nicht einmal nach ein oder zwei Jahren Ehe.

Das wusste sie aus erster Hand.

»Ist da etwas zwischen Ihnen und dem Chief?«

Jess wandte sich wieder der jüngeren Frau zu und hob eine Augenbraue, sowohl als Zeichen ihrer Skepsis als auch vor Überraschung über ihre Unverfrorenheit.

»Ich hätte nicht fragen sollen.« Wells hielt beide Hände hoch, die Handflächen nach außen, und bewegte sie hin und her, als wollte sie die Frage wegwischen. Das verräterische Zeichen von Verlegenheit färbte ihre hohen Wangenknochen rot.

Jess hätte lügen können, doch vermutlich hätte Wells sie sofort durchschaut. »Ja, Detective, da ist etwas zwischen uns. Wir kennen uns schon von klein auf, sind zusammen zur Schule gegangen und so. Was wollen Sie damit sagen?«

Sergeant Harper erschien hinter Wells. Er lächelte Jess an. »Entschuldigen Sie, Agent Harris, aber ich brauche Detective Wells einen Moment.«

Harper war der zweite Detective vom BPD in der Sonderkommission. Er war länger bei der Truppe und hatte einen höheren Dienstgrad als Wells. Seine Uniformjacke war übersät mit Auszeichnungen. Ansonsten war er groß, dunkelhaarig, gut aussehend und charmant. Der leichte südamerikanische Akzent verlieh seiner Sprechweise etwas Exotisches. Genau der Richtige, um College-Mädchen zu befragen. Was wohl auch der Grund war, vermutete sie, warum man ihn für diese Sonderkommission ausgewählt hatte, mehr noch als die Tatsache, dass er als guter Ermittler galt.

»Selbstverständlich, Sergeant.« Jetzt, da sie sich alle wichtigen Gesichter eingeprägt hatte, war es Jess nur recht, einen Moment ungestört für sich zu haben. Außerdem konnte Wells dank Harpers Eingreifen sie nicht länger aushorchen.

»Ich bin sofort zurück, Agent Har … ris.« Wells verzog das Gesicht.

Jess winkte ab. Ihre erste Zusammenarbeit mit Wells war nicht gerade gut gelaufen.

Während Wells und Harper bei den aneinandergereihten Tischen mit den Erfrischungen die Köpfe zusammensteckten, beobachte Jess wieder Dan und die Dentons. Die Frau schien ganz offensichtlich nichts dabei zu finden, ihren Ex vor der Nase ihres anderen Ex und Jetzt-wieder-Ehemanns zu umarmen. Aber die Umstände waren auch äußerst dramatisch. Jess konnte sich nicht vorstellen, was für eine Qual die Eltern eines vermissten Kindes litten. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als sie selbst darüber nachgedacht hatte, Mutter zu werden. Sie schob die Erinnerung beiseite. Nicht jetzt. Niemals.

Tief durchatmen. Die Gründe, warum sie hier war, hatten nichts mit Dan Burnetts Privatleben oder ihrem eigenen zu tun. Als ihr Blick über die Menge wanderte, beschloss sie, dass jetzt ein guter Moment war, um mit Reanne Parsons Mutter zu sprechen. Die arme Frau stand direkt neben der Schüssel mit Bowle, einen Becher in der Hand. Sie wirkte verloren, verlassen. Anders als die anderen Eltern schien sie die Freunde ihrer vermissten Tochter, die sich versammelt hatten, um ihre Unterstützung zu demonstrieren, eher zu meiden.

Jess überlegte, ob sie Wells mitnehmen sollte, weil Parsons sich möglicherweise leichter öffnete, wenn sie ein vertrautes Gesicht sah. Aber die beiden Detectives waren noch näher zusammengerückt, und das Lächeln, das beide aufgesetzt hatten, schien mit Polizeiarbeit wenig zu tun zu haben.

»Wie es aussieht, bin ich hier nicht die Einzige, die ein oder zwei Geheimnisse hat«, murmelte Jess. Sie leerte die Bowle in ihrem Becher und ging, um sich nachzufüllen. Viele Wege führten nach Rom.

Lorraine Parsons starrte mit leerem Blick auf die vielen Leute, die in kleinen Grüppchen zusammenstanden und plauderten, und schien gar nicht zu bemerken, dass Jess sich näherte. Jess goss ein wenig Bowle in ihren Becher und drehte sich dann ebenfalls in Richtung der Menge. Sie wartete einen Moment.

»Der Gottesdienst war sehr bewegend.« In Wirklichkeit hatte sie die ersten fünfzehn Minuten verpasst. Dan war zwar nicht begeistert gewesen, aber die äußere Erscheinung war ein wichtiges Element in der investigativen Methodik. Jess war froh, dass sie sich für das konservative weiße Kleid entschieden hatte. Ein einfaches Etuikleid ohne jeden Firlefanz, dessen Ausschnitt praktisch am Hals begann und dessen Rocksaum bis zu den Knien reichte. Kein Mensch würde ihr ansehen, dass sie seit ihrem zwölften Lebensjahr keine Kirchenbank aus der Nähe gesehen hatte, abgesehen von dem einen Mal, als sie im Rahmen einer Ermittlung einen Priester befragte.

»Ja, das stimmt.« Die schwache Stimme der Frau verlor sich beinahe in dem allgemeinen Gemurmel.

Jess nahm den Becher in die linke Hand und streckte die rechte aus. »Ich bin Jess Harris.«

Lorraine starrte Jess’ Hand an, bevor sie sie mit steifen Bewegungen ergriff. Ihre Hand war wie Eis, der Kontakt nur kurz. »Lorraine Parsons.«

»Oh.« Jess legte die Hand an die Brust. »Mrs Parsons, es tut mir so leid, was Sie da durchmachen müssen. Gott segne Sie.« Die Phrase hatte sie absichtlich nachgeschoben.

Lorraine legte sich die schmalen Arme um ihren dünnen Körper. »Es ist ein Alptraum.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass Reanne so etwas tun würde.«

Die Bemerkung ließ Jess abrupt aufhorchen. »Sie glauben, sie ist von zu Hause weggelaufen?«

Reanne war die Einzige, die nicht aufs College ging. Sie arbeitete in einem Sandwichshop in Tuscaloosa in der Nähe der Universität von Alabama. Die Detectives Wells und Harper hatten herausgefunden, dass die junge Frau so einiges für sich behalten hatte, zum Beispiel ein Tattoo, von dem ihre Eltern nichts wussten. Solche kleinen Geheimnisse verrieten Freunde stets sehr bereitwillig. Wissen ist Macht, das zeigte sich in solchen Situationen immer wieder. Jeder wollte der Held oder Star sein, und sei es nur für einen kurzen Moment, indem er mehr wusste als die anderen. Je länger die Liste der Befragten und der Fragen wurde, desto wahrscheinlicher war es, dass sie etwas Relevantes erfuhren.

»Hat ihr Freund sie überredet, wegzulaufen? Also wirklich.« Jess schüttelte den Kopf. »Die jungen Leute heutzutage.«

»Nein … ich meinte, dass sie sich überhaupt in diese Lage gebracht hat.« Lorraine starrte sie an. Ihr promptes Rückzugsgefecht war aufschlussreich. »Meine Tochter hatte keinen Freund.«

Hatte? »Meine Güte«, sagte Jess, »das tut mir leid. Ich habe es einfach angenommen. Sie ist so hübsch. Und die Mädels heutzutage kennen ja weiß Gott immer viele Jungs, die hinter ihnen her sind, ob sie nun nach einem festen Freund suchen oder nicht.«

Lorraine sah weg. »Nicht unsere Reanne. Sie ist zu unreif für so eine Beziehung. Sie ist noch nicht bereit.«

Sagt wer? Diese Frau verschloss die Augen vor der Realität, aber ganz fest. Vermutlich schon seit ihre kleine Tochter begonnen hatte, eine junge Frau zu werden. Schade für Mutter und Tochter. Obendrein glaubte die Mutter offensichtlich, dass ihre Tochter durchgebrannt war, auch wenn sie das eigentlich nicht hatte ausplaudern wollen.

»Es sollten mehr Eltern ihren Kindern sagen, wie wichtig es ist, zu warten, bis sie für eine solche Bindung bereit sind«, pflichtete Jess ihr bei. »Alles geht so schnell, und mit den Handys und so ist es fast unmöglich für Eltern, immer zu wissen, was im Leben ihrer Kinder passiert.«

»Wir benutzen keine Handys. Oder Computer. Das sind Werkzeuge des Teufels.«

Zu diesem Schluss war Jess auch gekommen, jedenfalls was Handys anging. Doch ihr schwante allmählich, dass Reannes Tattoo nur die Spitze des Eisbergs und Lorraine noch weit ahnungsloser war, als bisher angenommen. »Das klingt, als hätten Sie Ihrer Tochter ein gutes Beispiel gegeben. Ich bin sicher, dass sie bald wieder nach Hause kommt. Ihr Vater ist doch bestimmt ganz außer sich vor Sorge.«

Wenn Jess in diesem Moment Lorraine nicht direkt angesehen hätte, wäre ihr das vage Nicken entgangen.

»Er fühlt sich schuldig. Es macht ihn krank. Erst verlieren wir das Haus, und dann das hier.« Sie schüttelte den Kopf. »Deswegen konnte er heute Abend auch nicht kommen. Er erträgt es einfach nicht mehr.« Sie stieß heftig die Luft aus. »Er ist schwach.«

»Wie traurig.« Jess legte die Hand auf den Arm der Frau. »Es allein durchstehen zu müssen, macht alles bestimmt noch schwerer für Sie.«

Lorraine sah sie an, und unvermittelt wich ihr stumpfer Ausdruck leidenschaftlicher Inbrunst. »Ich bin nicht allein. Der Herr ist bei mir. Mein Vertrauen in Ihn ist grenzenlos. Was immer Er für meine Tochter bereithält, wird geschehen.«

»Natürlich.« Jess befeuchtete ihre Lippen, darauf bedacht, keine Wertung in Gesicht und Stimme zu zeigen. »Vielleicht wird Er auch Ihrem Mann bei seinen Schuldgefühlen helfen. Die Bibel sagt, dass wir unsere Last zu ihm tragen sollen.« Das Konzept hatte bei Jess nie funktioniert. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, sich nur auf sich selbst und nicht auf andere zu verlassen.

Lorraine schüttelte den Kopf, dieses Mal unnachgiebig. »Das Ganze ist seine Schuld.« Sie flüsterte beinahe. »Sein Glaube war nicht stark genug. Nachdem wir unser Haus verloren hatten, hatte er kein Vertrauen mehr in seinen Glauben. Er hat unser Mädchen enttäuscht, aber das Schlimmste war, dass er unseren himmlischen Vater enttäuscht hat, und nun werden wir alle bestraft.«

Ungefähr zwei Sekunden lang wusste Jess nicht, was sie sagen sollte. Hatte die Frau gar kein Mitleid mit ihrem Mann? Sie flüchtete sich in einen Satz, auf den immer Verlass war. »Das passiert den Besten von uns. Wir müssen einfach weitermachen.«

Lorraine zeigte auf die Menge. »Niemand versteht, dass es nicht in unserer Macht liegt. Wenn dies Sein Wille ist, dann wird alle Polizei der Welt nichts dagegen tun können.«

Falls Reanne wirklich weggelaufen war, verstand Jess jetzt auch warum. »Amen.«

Wells löste sich von Harper und strebte die Reihe der weiß gedeckten Tische entlang, auf deren Letztem die Schale mit der Bowle stand.

Jess tätschelte Lorraines Schulter. Sie suchte nach den Worten, die von ihr erwartet wurden. »Ich werde Sie in meine Gebete einschließen.«

Dann suchte sie eilig das Weite, damit die junge Ermittlerin sie nicht vor Mrs Parsons’ Nase abfing.

»Die York-Familie ist gleich nach der Andacht gegangen«, berichtete Wells ihr. »Mrs York hat die Beherrschung verloren, und ihr Mann fand, es wäre besser, sie nach Hause zu bringen.« Sie spähte an Jess’ Schulter vorbei. »Sie haben mit Mrs Parsons gesprochen.«

Jess hakte sich bei Wells unter und zog sie mit sich zwischen die Leute. »Ich möchte, dass das Haus der Parsons überwacht wird. Sofort. Kriegen Sie das hin, ohne über Chief Patterson gehen zu müssen?«

»Ja, schon, aber«, Wells Blick flog über die Menge, ohne Zweifel auf der Suche nach dem Chief von Tuscaloosa, »wenn er das herausfindet, ist die Hölle los. Er geht in dieselbe Kirche wie die Parsons.« Wells richtete ihre oval geformten Augen auf Jess. »Sie sind doch noch nicht so lange weg, dass Sie vergessen haben, wie es hier läuft, oder?«

Jess sah zu dem Mann, von dem sie gerade sprachen. Patterson gehörte zum hiesigen Männerclub. »Keine Sorge, Detective. Ich weiß genau, was Sie meinen.« Sie nickte Wells zu. »Ich erteile Ihnen hiermit einen direkten Befehl. Die Konsequenzen nehme ich auf mich.«

Ohne zu hinterfragen, ob Jess die notwendige Befugnis für eine solche Anweisung besaß, zückte Wells ihr Handy.

Jess ließ sich in die Menschenmenge treiben, um alles, was in Hörweite gesagt wurde, wie ein Schwamm aufzusaugen und sich genauer umzusehen. Vor allem interessierte sie das, was sich in der Nähe des Seitenausgangs abspielte. Dort waren Burnett und Mr Denton in eine Unterhaltung vertieft, die, wie Jess vermutete, genauso wenig mit offizieller Polizeiarbeit zu tun hatte wie das, was sie zwischen Wells und Harper beobachtet hatte.

22:35 Uhr

Burnett parkte seinen SUV vor dem prächtigen Eingang zum Haus seiner Eltern und stellte den Motor aus. Jess sah zu den dunklen Fenstern hoch und fragte sich geistesabwesend, ob Dan Senior und Katherine, die liebe, hoheitsvolle Katherine, wohl wussten, dass ihr einziger Sohn Besuch in ihrem Heim einquartierte. Und vor allem: wer dieser Besuch war.

»Ich komme mit rein und sehe nach der Alarmanlage.«

Jess griff nach ihrer Tasche. »Du hast mir ja den Code gegeben, ich komme schon klar. Zu Hause habe ich auch eine Alarmanlage.«

Sie wollte nicht, dass er mit reinkam. Zwar lagen ihr viele Fragen auf der Zunge, die unbedingt einer Antwort bedurften, doch in ihrer augenblicklichen Verfassung war sie kaum in der Lage, sie zu stellen. Sie brauchte Abstand. Und Schlaf.

Sie streckte die Hand nach der Tür aus. Er griff nach ihrem Arm. Als sie seine Hand spürte, überlief eine warme Welle ihre Haut. Sie musste wirklich erschöpft sein, sonst hätte sie diese lächerliche Reaktion erst gar nicht zugelassen.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?« Er zuckte die Achseln. Trotz der Dunkelheit sah sie im Licht der Außenbeleuchtung den Ausdruck von Sorge auf seinem Gesicht. »Du hast nicht viel gesagt, seit wir die Kirche verlassen haben.«

»Ich bin noch dabei, alles zu verarbeiten.« Sie wackelte mit ihrem Arm. »Was ist mit dir? Du warst auch ziemlich schweigsam.«

Hör auf damit, Jess. Das war jetzt keine gute Idee.

»Ich nehme an, ich verarbeite auch.«

»Gut, dann sehe ich dich morgen früh.« Dieses Mal schafften es ihre Finger bis zum Türgriff.

»Jess.«

Warum musste er das tun? Sie schloss für eine Sekunde die Augen, um den Kopf freizubekommen, bevor sie seinem Blick begegnete. »Ja?«

»Irgendwann müssen wir reinen Tisch machen. Die Vergangenheit hinter uns lassen, ein für alle Mal.« Er atmete aus, hörbar belastet von den zahlreichen Sorgen und müde von der Anstrengung der letzten Tage. »Ich will nicht, dass zehn Jahre vergehen, bevor wir uns wieder sehen oder sprechen, wenn dieser Fall gelöst ist.« Er drückte ihren Arm. Sie fuhr unwillkürlich zusammen und hoffte, dass er es nicht bemerkt hatte. »Ich möchte, dass wir Freunde sind.«

Normalerweise stellte Jess in Situationen wie diesen ihren Analytikerinnenmodus ab. Es war nicht fair, zu bewerten und zu beurteilen, vor allem unter Freunden. Aber sie und Dan Burnett waren keine Freunde, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. »Schön.«

Wieder entschlüpfte ihm ein tiefer Seufzer. »Ich weiß, was ›schön‹ bedeutet.« Er hielt sie erneut zurück, und dieses Mal legte er die Finger um ihren Unterarm. Spannung erfasste ihren Körper und trieb ihren Puls hoch. Würde sie es denn niemals aus diesem verdammten Auto rausschaffen?

»Was bedeutete denn ›schön‹ für dich, Dan?« Er hatte als Erster ihren Vornamen laut ausgesprochen, also konnte sie das auch tun.

»Es bedeutet«, sagte er, nun offensichtlich verärgert, »dass ganz und gar nichts gut ist. Du wirst diese Sache ewig wie eine Backsteinwand zwischen uns stehen lassen.«

»Ewig ist eine lange Zeit, Chief. Ich würde sogar sagen, das ist eine Zeitleiste, über die wir uns nicht den Kopf zerbrechen müssen.« Anders als die, die sie heute an die magnetische Pinnwand gezeichnet hatte.

»Warum willst du nichts daran ändern?« Er riss die Arme hoch und traf die Deckenlampe seines schicken Geländewagens.

Ein Mercedes. Meine Güte, der Mann fuhr einen Mercedes. Vor zehn Jahren war es noch ein Chevy gewesen, fast so alt wie jetzt ihr Audi –, den sie gebraucht gekauft hatte und das auch erst, nachdem sie den Verkäufer überredet hatte, auf seine Kommission zu verzichten.

Seit wann verdienten Polizeichefs so viel Geld? Er wohnte in Mountain Brook. Die genaue Adresse musste sie gar nicht wissen, die Gegend sprach für sich. Großes Haus, dicke Kohle. Oder vielleicht hatten Katherine und Daniel Senior ihm den Mercedes gekauft. Wer wollte schon, dass ein alter, klappriger Chevy diese Einfahrt hinaufrollte?

»Du wirst wieder verschwinden«, sagte er anklagend, bevor sie sich eine Verteidigung ausdenken konnte, »so wie das letzte Mal. Und vergessen, dass es uns gibt.«

Die ungerechtfertigte Wut in seinem Ton ging ihr gegen den Strich, sodass sie um ein Haar verdrängt hätte, dass es gar nichts mehr gab, wohin sie verschwinden konnte. Ihre Karriere beim FBI war gelaufen. Die sogenannte Beziehung mit dem Mann, dem sie beinahe vertraut hatte, war vorbei. Der Ring an ihrem Finger brannte auf ihrer Haut, als dieser Gedanke ihre ohnehin schon wackelnde Abwehr durchbrach.

Es war vorbei. Alles war vorbei.

»Schön«, knurrte er. »Du hast ganz recht. Schön.«

Bei seinem barschen Ton fuhr sie zusammen. Sie hatte sich in ihren eigenen Sorgen verloren, und nun dachte er, sie habe nichts zu seiner Bemerkung zu sagen. In Wahrheit bezweifelte sie, dass er tatsächlich hören wollte, was sie zu sagen hatte.

Tief atmen, Jess.

»Wir reden. Ich schwöre es. Dieser Fall lenkt mich ab, und das ist gut so.« Sie fasste sich ein Herz und tätschelte seine Hand. Nicht gerade subtil, aber das schien ihn nicht zu stören. »Aber zuerst müssen wir diese Mädchen finden.«

Er nickte, ohne sie anzusehen. »Du hast recht. Ich entschuldige mich dafür, dass ich die Vergangenheit aufgerührt habe. Es war ein anstrengender Abend.«

Weil du deine Exfrau mit ihrem neuen/alten Ehemann gesehen hast? Jess biss sich auf die Zunge. Dass er ihrem Blick auswich, als er es sagte, verriet ihr, dass auch er einiges für sich behielt.

»Das stimmt«, sagte sie. Ihr Gespräch mit Lorraine Parsons fiel ihr wieder ein. »Morgen müssen wir früh raus.« Ruhig, beherrscht. Gut. Jetzt sag gute Nacht und mach, dass du aus diesem Wagen kommst.

»Wells und Harper haben nach dem Gottesdienst noch Termine für die Befragungen der Familien gemacht. Das ist also erledigt«, lenkte er das Thema wieder aufs Berufliche.

»Gut. Wir können das Team um sieben zusammenrufen. Dann sehen wir weiter.« Ihre Finger schlossen sich um den Türgriff. »Gute Nacht.«

»Nacht.«

Sie trat in die feuchte Nachtluft hinaus und schloss rasch die Wagentür, bevor er ihr noch etwas an den Kopf werfen konnte. Als sie die Stufen zum Haus hochging, hörte sie erleichtert, wie er den Motor anließ. Gott sei Dank, dass dieser Tag vorbei war. Mit der Hand in der Tasche versuchte sie sich zu erinnern, wo sie den Hausschlüssel hingetan hatte, den er ihr gegeben hatte.

Ihr Handy schepperte laut wie ein altes Telefon, ein Geräusch, das sie hasste, das ihr jedoch half, ihren Klingelton von den vielen anderen Handysounds und -melodien zu unterscheiden.

»Mist.« Wo war das dämliche Handy?

Das Kleid bis über die Schenkel hochgezogen, hockte sie am Boden – eine Position, die Katherine Burnett zweifellos entsetzt hätte – und wühlte in dem Krimskrams in den Tiefen ihrer Tasche. Zwei weitere Male hatte es schon geschrillt, und sie hatte das Mistding immer noch nicht gefunden. Der Mercedes hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Warum fuhr er nicht weg? Sie hatte ›gute Nacht‹ gesagt. Was wollte er denn noch?

Das Bild von zerknüllten Laken und heißer, feuchter Haut flackerte in ihrem müden Kopf auf. »Idiotin«, murmelte sie.

»Jess!«

Dan war aus dem Wagen ausgestiegen und rief über die Motorhaube hinweg.

»Alles in Ordnung«, versicherte sie, ohne zu ihm hinzusehen. »Ich versuche bloß gerade mein Handy zu finden.« Und den Schlüssel, den du mir gegeben hast!

»Steig wieder ein, Jess.«

Gedanken, Geräusche, selbst die Fähigkeit zu atmen traten in den Hintergrund. Von dort, wo sie war, neben der Haustür, konnte sie seine Augen nicht sehen, aber das war auch nicht nötig. Sie kannte alle Nuancen seiner Stimme. Es muss etwas Schlimmes passiert sein.

»Reanne Parsons’ Vater ist tot. Seine Frau hat ihn gefunden, als sie heute Abend nach Hause kam.«

… und nun werden wir alle bestraft.