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Das Büro des Sheriffs von Jefferson County,

17:00 Uhr

Dan sah zu, wie Jess die Fotos an der magnetischen Pinnwand anbrachte und dann eine Zeitleiste malte. Unter jedes Foto schrieb sie die relevanten Informationen. Name. Adresse. Die Namen der Familien und engen Freunde. Dann das Datum, die Zeit und den Ort des Verschwindens.

Er war so erschöpft, dass er Mühe hatte, sich zu konzentrieren. Die letzten drei Tage hatte er praktisch durchgearbeitet, und nichts war dabei herausgekommen.

Er starrte die Fotos an, und wieder stieg dieses Gefühl von Zerknirschung und Panik in ihm auf. Wie war es bloß möglich, dass sein und zwei weitere Departments das Leben dieser Mädchen bis ins kleinste Detail durchleuchtet und trotzdem keine Resultate vorzuweisen hatten?

Jess baute sich vor dem kleinen Grüppchen auf, das sich am Besprechungstisch versammelt hatte, und rückte ihre Brille zurecht.

Seit wann trug sie eigentlich eine Brille? Er kniff die Augen zu und kämpfte gegen einen Anflug von Melancholie an. Dass sie tatsächlich hier war, erstaunte ihn immer noch. Und machte ihm Angst. Im Grunde hatte er erwartet, dass sie seine Bitte ablehnen würde. Doch sie hatte alles stehen und liegen lassen und war hergekommen.

Nach dieser Nacht vor zehn Jahren – die Erinnerung daran hatte sich für immer in sein Hirn gebrannt – hätte er es ihr nicht übel genommen, wenn sie ihn abgewiesen hätte.

Zwanzig Jahre lang hatte er ihren beruflichen Werdegang aus der Ferne verfolgt. Jessie Harris war die Karriereleiter des FBI hochgesaust wie ein Feuer einen Berghang in der trockensten Periode im August. Laut seinem Kontaktmann in der hiesigen Zweigstelle gehörte sie zu den cleversten Profilern in ganz Quantico. Sie besaß die natürliche Fähigkeit, die Motive eines ihr gänzlich Fremden mit unheimlicher Genauigkeit zu durchschauen.

Vor ein paar Jahren hatte er dann aufgehört, sich nach ihr zu erkundigen. Er musste sich um sein eigenes Leben kümmern. Zwei gescheiterte Ehen, das waren zwei zu viel. Er hatte Annette getroffen und beschlossen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und eine richtige Familie zu gründen.

Nur war es so nicht gekommen. Annette war zu ihrem Ex zurückgekehrt, und damit endete die Geschichte. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Dieser Fall war viel zu wichtig, er durfte jetzt nicht abgelenkt sein. Eine Pause war überfällig, wie ihm klar wurde. Sein Verstand brauchte dringend eine Pause. Doch so verlockend der Gedanke auch war, diesen Luxus konnte er sich nicht leisten.

»Meine Herren«, sagte Jess laut und zog seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, dann hielt sie kurz inne. »Und Detective Wells«, ergänzte sie mit einem knappen Nicken zu dem einzigen anderen weiblichen Mitglied der Sonderkommission. »Ich habe für Sie ein vorläufiges Profil erarbeitet. Sie finden es dort auf dem Tisch.« Sie zeigte auf den säuberlichen Stapel gehefteter Blätter in der Mitte des Besprechungstisches.

Auf jedem Deckblatt prangte das Logo BPD, Birmingham Police Department, nicht das des FBI. Logisch. Jess war ja nicht in offizieller Eigenschaft hier. Dan fragte sich, wie ihr Mann es wohl fand, dass sie ihrem ehemaligen Liebhaber so bereitwillig zu Hilfe eilte. Der Ehering, den sie trug, war schlicht, kein auffälliges Schmuckstück. Trotzdem hatte er den zarten Goldreif sofort bemerkt, als er sie in seinem Vorzimmer stehen sah.

Konzentrier dich, Dan.

Der Stapel wurde herumgereicht. Die letzte Kopie des Profils landete in seinen Händen. Er schlug das Deckblatt auf und hielt inne. Blätterte eine Seite um, dann noch eine. Alle sahen gleich aus. »Die Seiten sind leer.« Was zum Teufel tat sie da?

Patterson, Griggs und die beiden Detectives starrten wie Dan erst auf die makellos weißen Seiten herab und dann die Frau an, die vor ihnen stand.

Sie wartete mit den Händen in den Hüften, bis das Gemurmel verstummte. Dann deutete sie auf die Blätter in ihren Händen und sagte: »Das ist das Profil, das ich aufgrund der Ermittlungsergebnisse erarbeiten konnte, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben.«

Dan öffnete den Mund, um eine Erklärung zu verlangen, doch sie brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Wenn Sie«, sagte sie mit einem anklagenden Seitenblick auf ihn, »mich hergerufen haben, damit ich Ihre Arbeit für Sie tue, dann haben Sie Ihren Charme und meine Geduld stark überschätzt.«

»Was soll das heißen, Donnerwetter noch mal?«, verlangte Griggs zu wissen.

Roy Griggs machte schon zu lange Polizeiarbeit, um sich von irgendwem herumkommandieren zu lassen, auch nicht von Quanticos Spitzenprofiler. Dan fiel es schwer zu glauben, dass Jess so eine Nummer abzog, ohne etwas damit erreichen zu wollen. Es musste einen Grund geben. Und besser einen guten.

Jess nickte dem dienstältesten Cop zu. »Haben Sie noch etwa zwei Minuten Geduld, dann erkläre ich es Ihnen mit Vergnügen.«

Dan entspannte sich. Seine Lippen zuckten, doch er verkniff sich das Lächeln. Der Fall hatte nichts Lustiges, verdammt. Es lag an ihr. Er hatte fast vergessen, wie gern sie sich mit den Autoritäten anlegte – mit jeder Art von Autorität. Mehr als zwei Jahrzehnte im Nordosten hatten sie nicht sehr verändert. Sie kleidete sich eleganter, aber hinter der schicken Fassade war sie immer noch die alte Jess, darauf würde er wetten. Wenn die Lady etwas zu sagen hatte, erwartete sie, dass jeder im Raum ihr genau zuhörte. Ganz gleich, wer sich gerade im Raum befand.

»Es gibt zwei mögliche Erklärungen für das Verschwinden dieser jungen Frauen.« Sie lenkte die Blicke aller auf die Fotos an der Pinnwand. »Die eine ist«, sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihr aufmerksames, wiewohl verärgertes Publikum reihum an, »dass sie aus freiem Willen fortgegangen sind und nicht gefunden werden wollen. Sie sind alle alt genug, um diese Entscheidung nach ihrem Gutdünken treffen zu dürfen. Der einzige Grund für die Annahme, sie könnten Opfer eines Verbrechens geworden sein, sind die Aussagen der Familien, die übereinstimmend lauten, dass so etwas untypisch für sie ist. Ehrlich gesagt sind diese Aussagen meiner Meinung nach zu vernachlässigen. Welche Eltern würden schon etwas anderes sagen?«

»Ausgeschlossen«, widersprach Chief Patterson. »Das Szenario haben wir bereits durchgekaut, Agent Harris, und es ist vom Tisch.« Er warf Dan einen wütenden Blick zu. »Ich weiß nicht, warum Sie nicht auf dem Laufenden sind, aber die Parsons kenne ich fast so gut wie meine eigene Familie.«

»Macy und Callie sind Einser-Studentinnen«, ergänzte Griggs. »Es sind brave, intelligente Mädchen. Das würden sie weder sich noch ihren Familien jemals antun.«

»Ich nehme an, auch Sie kennen diese Familien fast so gut wie Ihre eigene«, sagte Jess. »So wie Chief Patterson die Parsons kennt.«

Die Spannung nahm zu und verdrängte die Luft im Raum. Der kurze Anflug von Belustigung über ihre Vorgehensweise verflüchtigte sich, Schweiß trat auf Dans Stirn. Jess musste dringend auf den Punkt kommen. Wenn es ihre Absicht war, alle hier am Tisch Anwesenden gegen sich aufzubringen, war sie auf dem besten Weg dazu.

»Verdammt richtig, ja«, raunzte Griggs.

»Burnett?«, fragte Patterson. »Was soll dieser Zirkus hier?«

»Jess, vielleicht –«

Ein zweites Mal hob sie gebieterisch die Hand, um Dan zum Schweigen zu bringen. »Na schön«, sagte sie ruhig. »Dann sehen wir uns mal die andere Möglichkeit näher an.«

Dan biss die Zähne zusammen, um sich eine Erwiderung zu verkneifen. Nach ihrer unverblümten Zurechtweisung hatte er ziemliche Mühe, sich nicht in den Kreis aus gereizter Säuernis einzureihen, den seine Kollegen bereits bildeten. Jess war als Einzige immer noch kühl und gelassen, und zu ihrer aller Frustration war nicht abzusehen, worauf sie mit ihrer Vorstellung hinauswollte. Diese Leute hier brauchten – er brauchte – dringend Hilfe und keinen Nachhilfeunterricht darin, wie man eine Absicht aufdeckte oder ein Motiv feststellte.

»Es scheint, als wären wir uns alle einig, dass es nur eine plausible Erklärung gibt. Diese Mädchen«, sie deutete erneut auf die Fotos, »hat irgendjemand gegen ihren Willen in seine Gewalt gebracht, und zwar mit der Absicht, ihnen etwas anzutun, sonst hätte es eine Lösegeldforderung gegeben. Wir könnten es folglich hier mit einem Menschenhändlerring zu tun haben, mit einem Sexualverbrecher oder mit einem guten alten Psychopathen.«

Eine gequälte Stille gerann in der Luft und machte das Atmen schwer.

»Wenn das tatsächlich der Fall ist«, fuhr Jess fort, »dann haben Sie«, sie zeigte auf Griggs, »und Sie«, dann auf Patterson, »relevante Details in Ihren Ermittlungen übersehen. Und du auch.« Zum Schluss sah sie Dan an.

Verärgerte Blicke wurden getauscht, doch niemand widersprach. Sie hatte recht. Dagegen war schwerlich etwas zu sagen. Schuldbewusstsein gesellte sich zu der Last, die bereits auf Dans Schultern lag und ihm den Magen zuschnürte.

»Sie sind alle lange genug im Geschäft, um zu wissen, was in diesem Fall und in jedem anderen am wichtigsten ist.« Sie machte eine Pause und stellte Augenkontakt mit jedem einzelnen Mitglied der Sonderkommission her. »Wenn eine Person eine Tat gegen eine andere Person begeht, ob gewaltsam oder nicht, dann steht am Anfang dieser Tat immer ein Motiv. Immer. Ob die Tat nun spontan aus einem Impuls heraus oder mit Vorsatz begangen wurde, es gibt ein Motiv. Ohne Ausnahme. Wer immer diese Mädchen in seine Gewalt gebracht hat, hatte ein Motiv dafür – ganz gleich, ob es ein Täter war oder vier verschiedene.«

Jess ging zum Tisch und beugte sich vor, um sich mit den flachen Händen auf der polierten Holzplatte abzustützen. »Dieses Motiv müssen wir finden. Sonst suchen wir nicht nach vier jungen Frauen«, sie zeigte mit dem Finger auf die Fotos an der Tafel, »sondern nach vier Leichen.«

Die schwere Stille hielt an, einen, zwei, drei Herzschläge lang.

»Haben Sie die weite Reise nur auf sich genommen, um uns zu erklären, was wir nicht wissen, Special Agent Harris?«, meldete sich Griggs zu Wort und brach damit den Bann. »Sollten wir nicht darüber sprechen, was wir wissen?«

Jess richtete sich auf und musterte ihn mit unverhohlener Skepsis. »Ich habe die Befragungsprotokolle der Familien und Freunde gelesen. Ich habe mir die Fotos der Wohnungen und Häuser genau angesehen und die der Orte, an denen die Mädchen zuletzt gesehen wurden. Verzeihen Sie mir meine Offenheit, Sheriff Griggs, aber so weit ich sehen kann, ist das, was Sie wissen, für den Fall nicht weiter relevant. Das, was Sie nicht wissen, gibt den Ausschlag.«

Mit knallrotem Gesicht, die Backen empört gebläht, wollte Griggs schon zurückschlagen, doch Jess kam ihm zuvor. »Diese Mädchen sind nicht verschwunden, ohne dass irgendjemand etwas gesehen oder gehört hat. Möglicherweise ist es nur ein winziges Detail. So klein, dass es der Person, die davon weiß, unbedeutend vorkommt. So alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Aber es ist da, und wir müssen es finden. Wenn alle vier Mädchen von demselben unbekannten Täter entführt wurden, gibt es eine Verbindung, die wir übersehen haben. Diese scheinbar unbedeutende Kleinigkeit, die sie gemeinsam haben, könnte der Schlüssel zu diesem Fall sein.«

»Agent Harris«, sagte Detective Wells, »wir haben nicht mal eine einzige Person gefunden, die alle diese Mädchen kannte. Keinen Freund, Pfarrer oder Arbeitgeber. Niemanden.« Wells schüttelte den Kopf. »Keiner der Bekannten oder Freunde ist vorbestraft oder wegen Gewalttätigkeit aufgefallen oder sonst irgendwie aktenkundig. Wenn wir nach einem Serientäter suchen, müssten dann diese Details, von denen Sie sprechen, nicht in seiner Vergangenheit zu finden sein? Irgendein Hinweis auf auffälliges Verhalten?«

Wells war erst letztes Jahr zum Detective befördert worden und hatte schnell gezeigt, dass sie eine der besten im Birmingham PD war. Trotz seiner zwanzig Jahre Polizeierfahrung rutschte Dan jetzt gespannt an die Kante seines Stuhls. Was würde Jess auf die provokative Frage erwidern?

»Wenn Sie sich näher mit Serienstraftätern beschäftigen, Detective, werden Sie Folgendes feststellen: Egal ob es um Mörder, Vergewaltiger oder simple Spanner geht, die Experten sind sich oftmals nicht einig, ob sie so geboren wurden oder sich aufgrund von Umweltfaktoren dazu entwickelt haben. Aber dieselben Experten sind sich in einem Punkt völlig einig, nämlich dass diese Straftäter alle eines gemeinsam haben: Zum Serientäter wurden sie erst, nachdem sie diese eine erste Tat begangen hatten. Und was das Böse betrifft«, sie zuckte mit einer Schulter, »ich habe mich zwölf Jahre lang mit dem Thema beschäftigt, und eins weiß ich nun sicher.« Ihr Gesichtsausdruck wurde abwesend, irgendwie verletzlich. Sie blinzelte und schien dann wegzuschieben, was immer sie abgelenkt hatte. »Wenn Sie wissen wollen, wie das Böse aussieht, sehen Sie in den Spiegel.«

Sie beugte sich vor, legte die Hände wieder flach auf den Tisch und sah Wells direkt an. »Jeder von uns ist zum Bösen fähig, Detective. Wir haben alle eine Grenze. Dass wir sie nicht überschreiten, unterscheidet uns von den Ed Geins und Charles Mansons dieser Welt.«

»Mit allem gebotenen Respekt, Agent Harris«, meldete sich Patterson zu Wort.

Jess richtete sich zu voller Größe auf, straffte die Schultern und wandte sich zu ihm um.

»Ich bin sicher, wir alle wissen Ihren Vortrag über Motive und übersehene Details zu schätzen, aber ich für meinen Teil würde allmählich gern etwas mehr tun, als nur darüber zu reden, was wir nicht haben und nicht wissen.«

»Sie lesen meine Gedanken, Chief Patterson.« Jess ging langsam zurück zur Tafel und wies darauf. »Wir gehen zurück zur Quelle. Zu den Leuten, die diese Mädchen am besten kennen. Und wir finden das, was wir übersehen haben. Wir hören nicht eher auf, als bis wir es gefunden haben.«

»Was ist mit den Medien? Sollen wir die einschalten?«, wagte Griggs sich vor. »Die Fotos der Mädchen waren auf allen lokalen Kanälen und in den Zeitungen zu sehen. Es wird doch Zeit, dass wir dieses Mittel stärker ausreizen, finden Sie nicht?«

Dan verkniff sich die bissige Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Die flehenden Bitten der Familien um Hilfe, Tausende von verteilten Flyern, die Updates in den Nachrichten – das Thema war praktisch pausenlos in aller Munde gewesen. Dieser Täter fühlte sich von den Medien ganz bestimmt nicht vernachlässigt. »Was willst du da denn noch tun, Griggs? Belohnungen sind ausgesetzt. Die Bevölkerung wurde um Mithilfe gebeten. Dieser Typ beißt einfach nicht an.«

»Nehmen Sie’s nicht persönlich, Burnett«, gab Griggs scharf zurück, »aber ich würde gern hören, wie Agent Harris über diese Frage denkt.«

Ärger stieg in Dan auf und zerrte an den teuflischen Knoten, die ihm den Magen zuschnürten. Der Mann war alte Schule. Das durfte Dan nicht vergessen. Wenn sie diesen Fall lösen wollten, mussten sie alle zusammenarbeiten.

»Die Medien können unsere Verbündeten sein, das steht außer Frage.« Jess rieb sich die Stirn.

Sie war sicher erschöpft von der langen Fahrt. Trotzdem hatte sie seine Einladung zum Mittagessen ausgeschlagen. Sie war immer dünn gewesen, doch jetzt, fand er, war sie zu dünn. Zu blass. Nicht, dass es sie kümmern würde, was er dachte. Und er würde ihr seine Meinung nicht aufdrängen.

»Nach nun fast drei Wochen«, sagte Jess als Antwort auf Griggs’ Vorschlag, »würde ich schlussfolgern, dass Aufmerksamkeit nicht das ist, wonach der Täter sucht. Aus einem ganz einfachen Grund: Er hat sich bisher nicht gerührt. Wenn er mehr Aufmerksamkeit wollte, würden wir es sicher mittlerweile wissen.«

»Also fangen wir noch mal von vorne an«, stellte Patterson fest.

Jess nickte. »Bis wir etwas finden, anhand dessen wir ein Profil erstellen können. Oder bis der Täter uns etwas liefert.«

»Dieses Profil, das ist doch Schnickschnack«, konterte Griggs. »Was soll das bringen, wenn Sie wissen, wie er ist und was er für Motive hat? Man klopft auf den Busch, bringt Bewegung in die Dinge, bis er aktiv wird, das ist meine Erfahrung.«

Jess parierte geschmeidig. »Wir werden auf den Busch klopfen, Sheriff. Und wir werden Bewegung in die Dinge bringen. Und Sie haben mein Wort: Wenn ich ausreichend Daten habe, um mein Profil zu erstellen, dann finden wir ihn. Das ist ein Versprechen.«

»Ich organisiere Termine zur Befragung der Familien«, bot Wells an. »Vor morgen früh wird das allerdings nichts.«

»Warum können wir nicht jetzt gleich anfangen?« Geduld war noch nie Jess’ Stärke gewesen.

»Heute Abend findet ein Gottesdienst für die vermissten Mädchen statt. Dort werden auch die Familien und Freunde erwartet. Ich schätze mal«, fügte Wells mit einem Blick auf Dan hinzu, »das wäre nicht ganz der ideale Rahmen für Befragungen.«

Dan hatte vergessen, Jess von dem Gottesdienst zu erzählen. »Wir haben ein Dutzend verdeckte Ermittler vor Ort und dazu noch zehn in Uniform.«

Tatsächlich mussten auch er und alle am Tisch Anwesenden in einer Stunde dort sein. Verdammt. Nicht genug, dass er Gefahr lief, seine Objektivität zu verlieren, er machte auch Fehler.

»Das muss für heute Abend reichen.« Jess zögerte. »Wells, wir arbeiten zusammen. Stellen Sie mich den Familien und Freunden vor. Es bringt immer etwas, die Zeugen in einem Fall einfach nur zu beobachten.«

»Es wäre mir eine Ehre, Ma’am.«

Wells war offensichtlich beeindruckt von Jess. Patterson und Griggs dagegen tauschten erneut einen skeptischen Blick.

»Meine Herren«, sagte Jess. Alle blickten wieder zu ihr hin. »Ich möchte, dass Sie heute alle Personen, die eine Rolle spielen könnten, aufmerksam im Auge behalten. Notieren Sie sich, wer fehlt, und alles, was Ihnen ungewöhnlich erscheint. Morgen früh vergleichen wir unsere Beobachtungen.«

Damit nahm Jess ihre Tasche und verließ den Besprechungsraum.

»Leitet sie jetzt die Ermittlungen?«, fragte Griggs.

»Dan«, sagte Patterson, dann verlieh er seiner Frustration Ausdruck, indem er laut die Luft ausstieß. »So habe ich mir das nicht vorgestellt. Bist du sicher, dass sie wirklich so gut ist, wie man dir gesagt hat?«

Dan wusste nicht, was er erwartet hatte. Dies war nicht das erste Mal, dass er mit dem FBI zusammenarbeitete. Gewöhnlich sprachen glatte Agents in höflichem, beruhigendem Ton mit ihm, um dann in ihrem schicken, glänzenden Gebäude zu verschwinden und ihre Zaubertricks durchzuziehen, bis sie mit einer säuberlich geordneten und etikettierten Akte zurückkamen, die nur das enthielt, was sie für mitteilenswert erachteten. Jess dagegen hatte nichts, aber auch gar nichts geschönt. Und darüber war er froh. Sie standen bereits mit dem Rücken an der Wand. Da war kein Platz für Plattitüden.

»Wir brauchen sie, das kann ich ohne Vorbehalt sagen. Und was das andere betrifft: Ich leite diese Ermittlungen«, rief er allen Anwesenden in Erinnerung. Diese Entscheidung war vor einer Woche einstimmig getroffen worden, als Griggs und Patterson gefordert hatten, dass Dan die Leitung übernahm. Er stand auf. »Wir sehen uns dann beim Gottesdienst.«

Er blieb nicht, um zuzuhören, wie sie ihrem Unmut freien Lauf ließen. Stattdessen machte er sich auf die Suche nach Jess.

Der Warteraum und der Flur vor dem Besprechungsraum waren leer. Die Büros waren alle für die Nacht verschlossen. Damit blieb nur noch eine Möglichkeit.

Er klopfte an die Tür der Damentoilette. »Jess, alles in Ordnung?«

»Moment noch!«

Ihre Stimme wurde durch die Tür gedämpft, aber es klang fast, als würde sie … weinen? »Ich komme rein.«

»Wag es ja nicht –«

»Zu spät.« Er hatte sich nicht verhört; sie tupfte sich die Augen mit einem Knäuel billigen Toilettenpapiers. »Hey«, sagte er, »nimm dir doch nicht zu Herzen, was der Männerclub sagt.«

Er hätte ihr gern auf den Rücken geklopft oder sie umarmt oder so, aber das war nicht ratsam. Nicht gut für ihn. Das letzte Mal, als er sie berührt hatte, hatte er sie nicht mehr loslassen wollen. Er bezweifelte, dass die Glut dieser alten Verbindung wirklich restlos erloschen war und nicht wieder entfacht werden konnte.

Sie verzog das Gesicht. »Du glaubst, ich heule wegen der alten Knacker?« Dann zuckte sie zusammen, stieß einen gequälten Laut aus und schlug sich vor die Stirn. »Was ist nur los mit mir? Knacker? Meine Güte.« Sie schüttelte den Kopf und wischte sich noch einmal über die Augen. »Ich brauche nur ein paar Minuten für mich. Das ist alles.«

Da er sich selbst nicht über den Weg traute, schob er die Hände in die Hosentaschen. Eine Frau, die weinte, sprach unweigerlich seinen Beschützerinstinkt an. Mit Andrea hatte er dasselbe Problem gehabt. Wie auch mit Jess selbst, damals in der Highschool und im College, auch wenn sie nicht oft geweint hatte. Gott, was für ein Schlamassel. Sein Magen zog sich wieder zusammen. Hoffentlich war Andrea nichts passiert. Hoffentlich fand er sie. Er musste einfach. Alles andere war undenkbar.

Ob es nun klug war oder nicht: Aus irgendeinem Grund hatte er seine ganze Hoffnung in Jess gesetzt. Vielleicht hatte er einfach glauben wollen, dass sie kommen und Andrea und die anderen retten würde. Und ihn.

Das Rauschen von Wasser lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die gegenwärtige Jess. Sie wusch sich das Gesicht und atmete dann tief aus. »Mir geht es gut«, sagte sie. »Ich bin nur müde, das ist alles.«

Sie nahm den Ehering und schob ihn auf ihren linken Ringfinger. Sie hatte vor ein paar Jahren geheiratet. Ihre Schwester hatte eine Anzeige in der Birmingham News veröffentlicht. Danach hatte er aufgehört, sich nach ihr zu erkundigen. Irgendwie hatte es sich jetzt, wo sie verheiratet war, falsch angefühlt.

Du hattest deine Chance, Kumpel.

Doch das war Geschichte. Jess tat ihm einen Riesengefallen damit, dass sie hier war. Er wollte auf keinen Fall etwas sagen oder tun, was sie diese Entscheidung bereuen ließ. Wenn sie ihm half, diese Mädchen zu finden, stand er tief in ihrer Schuld.

»Wir sollten vor der Andacht noch einen Happen essen.« Sie brauchte etwas in den Magen. Und er eine Gelegenheit, sie aufzumuntern, ohne sie zu berühren oder allzu persönliche Themen anzuschneiden.

»Ich würde mich gern umziehen.« Sie zupfte an ihrer Jacke und strich sich glättend über das Haar. »Mich frisch machen.«

Das strahlende Rot stand ihr gut. Aber ihr stand alles gut. Das dicke honigblonde, wellige Haar war nach wie vor lang. Diese großen dunkelbraunen Augen hatten ihn schon immer weich werden lassen. Als Junge war er fasziniert gewesen von dem lebhaften Kontrast. Noch ein guter Grund, sie so schnell wie möglich in ein Restaurant zu verfrachten: Er musste sich auf andere Gedanken bringen.

Als sie ihn ansah, war ihr bis auf die leicht geröteten Augen nicht mehr anzumerken, wie aufgewühlt sie eben noch gewesen war. Weswegen auch immer. »Essen kann ich später. Ich brauche ein Hotel.«

»Kein Hotel.« Er ging vor, stieß die Tür auf und fand sich Nase an Nase mit Detective Wells, die überrascht blinzelte.

»Pardon.« Mit gerunzelter Stirn sah sie auf die Tür, dann von Jess zu ihm. »Ich kann ja … die Herrentoilette benutzen.«

»Wir sind hier fertig«, verkündete Jess und stieß ihn zur Seite, um hinauszustürmen.

Dan öffnete den Mund, aber Detective Wells winkte ab. »Kein Problem.« Sie drückte sich eilig an ihm vorbei und verschwand in einer der Kabinen.

Als die Kabinentür zuklickte, kam Bewegung in ihn. Hastig versuchte er zu Jess aufzuholen. Wells konnte er den Vorfall ein andermal erklären. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, zu welcher Schlussfolgerung sie ohne Zweifel gelangt war.

»Das Holiday Inn reicht mir«, sagte Jess, während sie mit langen Schritten zurück zum Besprechungsraum strebte. »Es sei denn, du hast irgendwo anders etwas reserviert.«

Zu seinem Glück hatten die anderen den Raum bereits verlassen. Sie würde seine Entscheidung sicher nicht begeistert aufnehmen, und er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass die anderen Wind von eventuellen Unstimmigkeiten zwischen ihm und Jess bekamen.

»Kein Hotel.« Er wappnete sich für ihren Widerspruch, fest entschlossen, nicht klein beizugeben.

Sie war gerade dabei, die Pinnwand leer zu machen, jetzt hielt sie inne. »Willst du mir etwa sagen, dass es in dieser Stadt kein einziges freies Hotelzimmer mehr gibt? Was ist es diesmal für ein Kongress? Mary Kay oder Tupperware? Mit einer halben Stunde Fahrt ist sicher noch etwas zu finden.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort, die Fotos und das andere Material von der Tafel zu klauben und in ihrer riesigen Handtasche zu verstauen.

Es war eigentlich mehr ein Gepäckstück als eine Handtasche. Was zum Teufel trug sie da alles mit sich herum? Als er nicht gleich antwortete, sah sie auf und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Was wäre ich denn für ein Freund, wenn ich dich in ein Hotel stecken würde?« Den spöttischen Ton schlug er vor allem an, um die Unsicherheit zu überspielen, die ihn nun wegen seiner überhasteten Entscheidung befiel. Vielleicht wäre ein Hotel doch die klügere Wahl gewesen. »Meine Eltern sind anlässlich ihres Jahrestags für ein Weilchen nach Vegas gefahren, und ich weiß, dass es ihnen sehr lieb wäre, wenn du dich bei ihnen wie zu Hause fühlst.« So, nun war es raus. Und sie hatte nicht einmal versucht, ihn zu unterbrechen. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Je länger sie dastand und ihn anstarrte, desto mehr schwante ihm, dass er ins Fettnäpfchen getreten war. Konnten sie denn keine Freunde sein, nur weil sie mal ein Liebespaar gewesen waren?

Auf einmal zuckte sie die Achseln, als wäre sein Angebot jetzt erst zu ihr vorgedrungen. »Okay.« Sie wuchtete sich ihre Tasche auf die Schulter und runzelte dann die Stirn. »Weiß denn deine Mutter, dass ich in ihrem Haus wohne?«

Sie gab sich zwar gelassen, doch wie bei den Profilen, die sie erarbeitete, war auch das Motiv für diese Frage eindeutig. Zwanzig Jahre, und Jess hasste seine Mutter immer noch. »Meine Mutter würde es nicht anders haben wollen.« Wenn sie davon wüsste.

Jess kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Du wohnst aber nicht da, oder?«

Er lächelte. Es fühlte sich eher an wie ein Zucken. Wenigstens wusste er jetzt, was sie von ihm hielt. »Nein.« Er deutete zur Tür. »Gehen wir, Agent Harris.«