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Samstag, 17. Juli, 11:00 Uhr
Jess schob die Jalousien auseinander und spähte aus dem Fenster des Besprechungsraumes. »Verdammte Reporter.«
Nach dem Wirbel in den Zehn-Uhr-Nachrichten gestern Abend hatte der Bürgermeister auf einer Pressekonferenz heute Morgen bestanden, zu der er Burnett, Griggs und Patterson beordert hatte. Chet war mitgegangen, um Geschlossenheit zu demonstrieren.
Jess durfte sich nicht blicken lassen. Nicht, dass sie das gewollt hätte. Ganz bestimmt nicht. In der Berichterstattung wurde sie als unfähig und stümperhaft dargestellt, und die Fotos, die man von ihr zeigte, waren offensichtlich durchgehend die unvorteilhaftesten Schnappschüsse, die sich von ihr hatten auftreiben lassen. Lori hatte Babysitterdienst. Burnett hatte sie offenbar angewiesen, sie nicht aus den Augen zu lassen.
Schön. Jess wandte sich vom Fenster ab. Sie hatte ohnehin genug Arbeit.
Als sie zu Lori auf der anderen Seite des Zimmers ging, vibrierte ihr Handy. Sie hatte es heute Morgen um sieben auf stumm gestellt, nachdem fünf ehemalige Kollegen angerufen hatten, die sich Sorgen um sie machten. Na klar. In Wahrheit rieben sie sich im Stillen die Hände. Sie war draußen, während sie noch dabei waren.
Nach einem Blick auf das Display stöhnte Jess auf. Lily. Ihre Schwester hatte heute Nacht schon zweimal und heute Morgen einmal angerufen. Sie war entsetzt über die Berichte in den Nachrichten und auch erzürnt, dass Jess länger als achtundvierzig Stunden in der Stadt war und nicht angerufen hatte. Jess ließ den Anruf an die Voicemail gehen. Wenn sie noch einmal »Du tust mir so leid« hörte, würde sie sich übergeben müssen.
Ihr Vorschlag, Lily und ihre Familie sollten für eine Weile in Urlaub fahren, war gar nicht gut angekommen. Sie glaubte zwar nicht, dass sie selbst sich wegen Spears große Sorgen machen musste … aber mit ihrer Familie wollte sie kein Risiko eingehen. Lily hatte dagegengehalten, dass ihr Sohn einen Ferienjob und ihre Tochter noch tausend Dinge zu erledigen hatte, bevor sie im Herbst aufs College ging. Für Urlaub blieb da keine Zeit … wie Jess denn überhaupt darauf kam?
Das zu erklären, ohne zuzugeben, dass sie selbst möglicherweise in Gefahr war, war ziemlich nach hinten losgegangen.
Das einzig Gute an den letzten etwa zwölf Stunden war, dass niemand Neues vermisst wurde und dass sie mit dem blauen Transporter eine Verbindung zwischen zweien der Mädchen gefunden hatten. Sullivan war immer noch nicht wieder aufgetaucht. Immerhin hatte ihr Anwalt sich in der Zwischenzeit gemeldet. Angeblich hatte er nichts von seiner Klientin gehört. Die Presse hatte den Zusammenhang zwischen der abhandengekommenen Therapeutin und den vermissten Mädchen bisher nicht entdeckt.
Und Jess hatte es gestern Abend erstaunlicherweise geschafft, Burnett aus dem Weg zu gehen. Das Haus war so riesig, dass ihr das gar nicht mal so schwer gefallen war.
Lori war ganz in ihre Recherche vertieft. Als sie Jess’ Blick spürte, sah sie endlich von ihrem Laptop auf. »Tut mir leid, haben Sie etwas gesagt?«
Jess mochte Lori Wells mit jedem Tag mehr. Die Frau war ehrgeizig. Sie erinnerte Jess an sich selbst vor zwei Jahrzehnten. Vielleicht musste Harper sich tatsächlich noch gedulden. Ihre Miene war abwesend, doch ihre Augen leuchteten aufgeregt.
»Haben Sie etwas gefunden?« Adrenalin schoss heiß durch ihre Adern. Jess merkte, wie sie sich unwillkürlich erwartungsvoll vorlehnte.
Lori neigte den Kopf auf eine Seite und machte ein Gesicht, als wollte sie sagen: Ich weiß nicht recht. »Vielleicht. Hier ist ein ungelöster Fall.«
Jess war aufgesprungen und um den Tisch herum, noch bevor Wells ihre vorsichtige Feststellung zu Ende ausgesprochen hatte.
»Lassen Sie mal sehen.«
»Christina Debarros, dreizehn Jahre alt, verschwand vor fast sechs Jahren.«
Das junge Mädchen lateinamerikanischer Herkunft war immer noch als vermisst gemeldet. Jess las sich die Informationen durch, die zusammen mit ihrem Foto in der Datenbank gespeichert waren. »Kein Hinweis auf ein Verbrechen.« Jess schnaubte. »Das klingt bekannt.«
»Das Beste kommt noch.«
Jess beugte sich näher zum Bildschirm. Janie Debarros, die Mutter, hatte ausgesagt, sie habe den Verdacht, ihre Tochter sei schwanger. Als Gründe gab sie plötzliche Übelkeit und das Ausbleiben der Regel seit drei Monaten an. Christina war Schülerin der Warrior Middle School gewesen.
Jess schnappte nach Luft.
»Lesen Sie weiter«, drängte Lori, deren Stimme nun die Aufregung deutlich anzuhören war.
Jess fiel die Kinnlade herunter. Ganz oben auf der Liste der Verdächtigen in diesem Fall stand Tate Murray. »Wie konnten wir das übersehen, als wir die Murrays in die Datenbanken eingegeben haben?«
»Er war noch minderjährig. Und wurde von jedem Verdacht freigesprochen. Deshalb taucht sein Name in keiner Datenbank auf. Das hier habe ich direkt aus den Akten.«
Als ihr aufging, was das möglicherweise bedeutete, brauchte Jess einen Moment, um sich zu beruhigen. »Können Sie das Foto des Mädchens auf mein Handy schicken?«
»Kein Problem.« Ihre Finger flogen über die Tasten. Sie hatte es kaum eingegeben, da vibrierte schon Jess’ Handy.
»Wenn Sie schon mal dabei sind, schicken Sie mir auch die Datei oder wenigstens, so viel Sie können.« Jess studierte das Gesicht des vermissten Mädchens. »Leben die Debarros noch in Warrior?«
Lori hackte wieder auf die Tasten ein. »Ja, tun sie.«
Sie sahen sich an, und das Unausgesprochene erschütterte die Luft zwischen ihnen.
»Der Chief wird meinen Kopf fordern.«
»Nicht wenn das, was wir finden, uns auf die Spur dieser Mädchen bringt.«
»Möglicherweise ist es nur ein Zufall.«
Jess lächelte wie elektrisiert vor gespannter Erwartung. »Das glauben Sie genauso wenig wie ich.«
»Tate Murray ist tot.«
Jess nickte. »Das stimmt. Aber seine Eltern nicht.«
Tates Vater hatte bei Jess einen Eindruck hinterlassen. So wie er geredet und sich gegeben hatte, hatte er freundlich und mitfühlend auf sie gewirkt. Aber etwas hatte gefehlt, abgesehen von der Tatsache, dass er nicht die üblichen Fragen gestellt hatte. Dieser Punkt hatte sie die ganze Nacht über beschäftigt.
Mr Murray hatte keinerlei Traurigkeit erkennen lassen, als er von seinem Sohn sprach. Nicht die leiseste Spur. Drei Jahre waren nicht annähernd genug, um einen solchen Schmerz zu verarbeiten. Was zweierlei bedeuten konnte: Er befand sich immer noch im Stadium der Verleugnung, oder er liebte seinen Sohn nicht.
Jess tippte auf Verleugnung – diese universelle erste Reaktion auf den plötzlichen, schmerzhaften Verlust eines geliebten Menschen.
Und Verleugnung konnte ein gefährlicher Abwehrmechanismus sein, wenn man sie über Wochen oder Monate oder sogar Jahre hinweg nicht überwand. In extremen Fällen führte das dazu, dass keine emotionale Reaktion auf Ereignisse erfolgte oder die logischen Konsequenzen des eigenen Handelns nicht mehr erkannt wurden. Dabei blieb das Gewissen auf der Strecke.
»Wir müssen bis nach der Pressekonferenz warten«, wandte Lori ein.
»Das kann Stunden dauern«, widersprach Jess. »Die haben gerade erst angefangen. Dann werden noch Fragen gestellt, et cetera, et cetera.« Lori war immer noch nicht überzeugt. »Sein Befehl lautet, dass Sie mich nicht aus den Augen lassen sollen. Dann tun Sie das auch nicht.« Jess hob die Hände und zuckte mit den Schultern. »Wir fahren zusammen mit Ihrem Auto. Bewaffnet und für alles gewappnet. Zusammen.«
»Falls …«, sagte Lori vorsichtig, »… wir gehen, dann müssen Sie sich aber …«
»An Ihre Anweisungen halten«, beendete Jess den Satz für sie. Sie stand auf. »Einverstanden. Los geht’s.«
Lori klappte ihren Laptop zu. »Wir können den Hinterausgang nehmen. Damit vermeiden wir den Menschenauflauf draußen vor dem Gebäude.« Sie brachte ein Lächeln zustande, das aber nicht ihre Augen erreichte.
Sie war besorgt. Das konnte Jess verstehen. Das Gerücht, dass sie zu Alleingängen neigte, würde jeden Cop nervös machen, der nicht auf den Kopf gefallen war. Und wenn Jess mal ihre eigenen Verleugnungsmechanismen überwand, musste sie zugeben, dass sie selbst ziemlich nervös war.
Was, wenn sie sich irrte? Vielleicht verschwendete sie nur Zeit … machte Fehler.
So wie schon einmal.
Warrior, 12:22 Uhr
»Das ist es, ganz sicher.«
»Sieht aus, als wäre jemand zu Hause.« Jess reckte den Hals, um die Fahrzeuge zu zählen. Zwei Autos, ein Transporter und zwei SUV. Alles ältere Modelle. Nichts Luxuriöses oder Neues. »Glauben Sie, dort findet vielleicht eine Party statt?«
»Das werden wir wohl herausfinden.« Lori öffnete die Autotür und zögerte dann. »Gehen wir es langsam und locker an, Jess. Wir wollen nicht, dass jemand wegen uns Beschwerde einreicht.«
Jess schnaubte frustriert. »Diese Geschichten über mich sind stark übertrieben.«
»Hey, ich habe nicht über Sie gesprochen.« Sie nickte zu dem Haus hin. »Die Debarros haben mehrere Beschwerden gegen die Ermittler eingereicht, als ihre Tochter verschwand. Ich habe die Aktennotizen gesehen. Da war alles dabei, von Rassismus bis hin zur guten alten Respektlosigkeit. Die Stimmung könnte möglicherweise ziemlich gereizt sein.«
Jess befeuchtete sich die Lippen und lächelte, auch wenn ihr plötzlich eher nach Weinen zumute war. Was vermutlich am Schlafmangel und an dem Frust lag, weil sie in diesem Fall nicht vorankamen. Ganz zu schweigen davon, dass diese verdammte Hetzkampagne an ihren Nerven zehrte. Erschöpfung und Unzufriedenheit taten ein Übriges.
»Na, kommen Sie.« Lori schenkte ihr ein echtes Lächeln. »Holen wir uns den großen Durchbruch, für den wir gebetet haben.«
Jess folgte der Ermittlerin durch den Vorgarten. Vor dem kleinen, kastenartigen Haus verlief kein Gehweg, und es gab keine Frontveranda, nur ein paar Stufen, die zur Haustür führten. Keine Büsche, keine Blumen. Nichts als Gras und Wagenspuren, wo der Rasen als Auffahrt diente.
Lori stand schon auf den Stufen und klopfte an die Tür. Sie war wirklich ein guter Detective und eine nette Frau. Möglicherweise irgendwann mal eine Freundin. Für Freunde hatte Jess schon lange keine Zeit mehr gehabt. Außerdem war Wells attraktiv. Groß, schlank, langes braunes Haar. Chet sollte sich besser anstrengen, diese Frau war ein guter Fang.
Und das perfekte Beispiel für den Typ, den der Spieler bevorzugte. Jess schauderte unvermittelt und warf instinktiv einen Blick zurück auf die schmale gepflasterte Straße, auf der sie hergekommen waren. Fünf oder sechs kleine Häuser sprenkelten die Straße, dahinter drängten sich Wälder.
Nach einem erneuten Klopfen kam jemand an die Tür. Muntere Musik schallte ihnen entgegen, als sie sich öffnete. Es war Samstagnachmittag. Für viele hart arbeitende Menschen Zeit für Ruhe und Entspannung.
Ein lateinamerikanisch aussehender Mann erschien im Türrahmen. Er sah von Lori zu Jess, dann zu dem roten Mustang, Baujahr 1967, mit dem sie hergekommen waren, und wieder zurück zu ihnen. »Haben Sie sich verirrt?«
»Sind Sie Jorge Debarros?«, fragte Lori.
»Kommt drauf an.« Er lehnte sich an den Türpfosten. »Sind Sie Megan Fox?«
Lori zeigte ihre Marke. »Wir möchten bitte mit Mr Debarros sprechen.«
Der Mann starrte sie noch einen Moment länger an. Offensichtlich gefiel ihm die Figur, die er unter der konservativen Hose und Bluse vermutete. »Jorge!«, rief er über die Schulter zurück. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem unerwarteten Besuch zu. »Kommen Sie rein, Ladies.«
Während ihre Hand unwillkürlich zur Mitte ihres Rückens wanderte, wo ihre Waffe steckte, folgte Lori ihm nach drinnen.
Jess, die direkt hinter ihr war, musterte die abgenutzten, aber sauberen Möbel und den nackten Holzboden im Wohnzimmer. Die blassgrünen Wände waren über und über mit Reihen von gerahmten Fotografien bedeckt. Eins der größeren Bilder zog ihren Blick auf sich. Sie durchquerte das Zimmer, um es näher zu betrachten. Christina. Vermutlich ein Schulfoto. Mit ihren dunklen Gesichtszügen und dem breiten Lächeln war sie ausgesprochen fotogen. Jess kannte zwar das neutrale Foto aus der Fallakte, doch auf diesem hier zeigte sich auch das Kind, das Christina noch gewesen war. Viel zu jung, fand Jess, um sexuell aktiv zu sein.
Die Musik ging aus, und die Stimmen im Zimmer nebenan verstummten.
Ein zweiter Mann kam ins Zimmer. Ein paar Schritte entfernt blieb er stehen. »Was wollen Sie von mir?«
Jorge Debarros sprach ein fast makelloses Englisch mit nur ganz leichtem Akzent. Er war sauber gekleidet und ordentlich rasiert.
»Mr Debarros, ich bin Detective Wells von der Polizei von Birmingham, und dies ist Agent Harris vom FBI.«
Er warf einen Blick zu Jess. »Was wollen Sie?«, wiederholte er.
Jess beschloss, sich mit ihrem Urteil vorerst zurückzuhalten. Der gute Mann war anscheinend nicht sehr zufrieden gewesen mit den Ermittlungen beim Verschwinden seiner Tochter. Es war fraglich, ob er sich kooperativ zeigen würde.
»Mr Debarros«, Jess ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, »ich bin wegen Ihrer vermissten Tochter Christina hier.«
Er lachte schnaubend, ohne ihre Hand zu nehmen. »Na klar, nach fast sechs Jahren? Ich hab euch Leute«, sagte er an Lori gerichtet, »immer und immer wieder aufgesucht die ersten beiden Jahre, nachdem Christina verschwand, und es hat nichts genützt. Warum sollte ich glauben, das hätte sich geändert?«
»Was ist los, Jorge?«
Jess blickte an Mr Debarros vorbei zu der Frau in der Tür, die vom Wohnzimmer zur mutmaßlichen Küche führte, denn dort schienen sich alle im Hause Anwesenden versammelt zu haben. Ihr starker Akzent war deutlich zu hören, die ängstliche Sorge in ihrer Stimme noch deutlicher.
»Nichts. Bleib in der Küche!«
Die Frau trat von der Tür zurück. Mr Debarros Blick schwang wieder zurück zu Jess.
»Ich möchte Ihre Familie und Ihre Gäste nicht stören. Könnten wir kurz nach draußen gehen, Sir?«
Ein paar Sekunden lang antwortete er nicht und machte auch keine Bewegung. Dann, ohne einen weiteren Blick auf sie, stapfte er zur Tür und nach draußen.
Jess tauschte einen vielsagenden Blick mit Lori, bevor sie ihm nachging. Was immer während der Ermittlungen vor einigen Jahren geschehen war, die Debarros fühlten sich schlecht behandelt. Dem BPD musste man zugute halten, wie schwer es war, eine Familie zu überzeugen, dass alles Menschenmögliche versucht worden war, auch wenn ihr Kind weiterhin verschollen blieb.
In wachsamer Haltung stellten sie sich in dem vernachlässigten Vorgarten im Dreieck auf. Nichts, was Jess sagen konnte, würde den Verlust, den er erlitten hatte, erträglicher machen. Doch wenn dieser Mann irgendetwas beisteuern konnte, was ihr dabei half, die vermissten Mädchen zu finden, war das vielleicht den Schmerz wert, den sie mit ihren Fragen zweifellos erneut aufrührte.
»Haben Sie meine Christina gefunden?«
»Nein, Sir. Es tut mir leid. Wir haben sie nicht gefunden.«
Verzweiflung zeichnete sein Gesicht. »Warum sind Sie dann hier?«
»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen zum Verschwinden Ihrer Tochter stellen.«
»Wegen der vermissten weißen Mädchen?«
Jess blinzelte nicht. Sie hielt seinem unnachgiebigen Blick stand. »Ja, Sir.«
Eine, zwei, drei, vier Sekunden verstrichen. »Dann fragen Sie.«
»Würden Sie mir bitte von Christina erzählen? Wie war ihr Leben in den letzten Tagen und Wochen, bevor sie verschwand?«
»Sie war eine sehr gute Schülerin.« Seine tiefe Stimme zitterte. »Wir glaubten, sie würde als Erste unserer Familie aufs College gehen.« Er brauchte einen Moment, um sich zu fassen. »Sie begann nach der Schule länger zu bleiben, um an einem besonderen Projekt zu arbeiten. Und nach diesem Projekt kam ein neues und dann wieder eins. Eines Tages war es schon dunkel, und sie war immer noch nicht zu Hause. Ich machte mir Sorgen und fuhr zur Schule, um sie abzuholen.«
Seine Anspannung wuchs sichtlich, während er sprach. »Sie kam mir auf halbem Weg entgegen. Zu Fuß. Ich habe etwas an ihrem Hals bemerkt.« Er fasste sich an die Kehle. »Ein rotes Mal. Als wir zu Hause waren, habe ich sie danach gefragt. Sie schwor, es käme von einer Rangelei mit einer Freundin, mit der sie sich gestritten hatte, aber ich wusste, dass das nicht wahr war. Es war ein Knutschfleck, auch wenn ich es nicht glauben wollte.« Er zuckte die Achseln, eine teilnahmslose Geste. »Aber da meine Christina nie Ärger gemacht hat, beließ ich es bei einer Warnung.«
Er verstummte, den Kopf gesenkt.
Jess tauschte wieder einen Blick mit Lori.
»Mr Debarros, was geschah danach?«
Sein ganzer Körper erschauerte. »Drei Wochen später verschwand sie. Sie ging zur Schule wie immer und kam nie mehr zurück.« Er hob die Hand. Seine Augen waren rot, Tränen rannen über seine Wangen. »Man sagte mir, sie wäre an diesem Tag nicht in der Schule gewesen.«
Mit hämmerndem Puls befeuchtete Jess ihre Lippen. »Sir, was haben Sie dann gemacht?«
»Wir haben die Polizei gerufen. Haben angefangen, nach ihr zu suchen. Haben alle ihre Freunde angerufen. Ihre Lehrer. Niemand wusste etwas.« Eine Art von Ruhe legte sich über ihn. »Dann beichtete mir meine Frau, was sie wusste. Christina hatte einen Freund. Sie hatte ihrer Mutter erzählt, dass sie ihre Regel nicht mehr bekam. Ihre Mutter hatte Angst gehabt, es mir zu sagen.«
»Was haben Sie unternommen, nachdem Ihre Frau Ihnen das gestanden hatte?«
»Ich habe es der Polizei gemeldet. Die haben dann den Jungen befragt, doch der leugnete, Christina zu kennen. Seine Freunde haben ihn gedeckt. Der einzige Beweis, den ich hatte, war Christina, und die war nicht mehr da. Meiner Frau wollte man nicht glauben. Sie sprach so wenig Englisch, dass sie in ihren Augen nichts wert war.«
»Haben Sie den Jungen zur Rede gestellt?«
Er nickte. »Ich bin ihm von der Schule nach Hause gefolgt und habe ihn und seinen Vater zur Rede gestellt. Sie haben beide abgestritten, was Christina gesagt hat, und haben die Polizei gerufen. Die Cops sagten, wenn ich die Murrays noch einmal belästige, würde ich ins Gefängnis kommen.« Er schüttelte den Kopf. »Jede Woche habe ich angerufen, und nichts. Vor drei Jahren habe ich aufgehört anzurufen, als ich von seinem Tod hörte. Meine Christina hatte ich zwar nicht wieder, aber wenigstens schmorte er in der Hölle.«
Jess holte angestrengt Luft. »Warrior ist eine kleine Stadt. Sind Sie zufällig, seitdem das passiert ist, seinen Eltern begegnet?«
»Ein Mal.«
Jess wartete darauf, dass er weitersprach.
»Ich habe gehalten, um zu tanken. Da war er. Er sah mich an, und ich sah ihn an. Ich habe ihm gesagt, dass er jetzt wüsste, wie ich mich fühlte, dann bin ich in meinen Transporter gestiegen und weggefahren.«
»Ihre Frau«, sagte Jess, »ist sich ganz sicher, dass Tate Murray der Junge ist, von dem Christina sagte, er hätte sie geschwängert?«
Er nickte. »Er war es. Ich habe es in seinen Augen gesehen, als ich ihn zur Rede stellte, nachdem meine Christina verschwunden war. Er war es.«
»Sir, Sie haben Beschwerden über die Ermittler in diesem Fall eingereicht. Würden Sie mir bitte sagen, warum?«
»Meine Frau hatte keine Staatsbürgerschaft. Ich und meine Tochter hatten sie … haben sie. Das Wort meiner Frau stand gegen das der Murrays. Andere Beweise gab es nicht. Christina hatte sich keinem ihrer Freunde anvertraut. Und wenn doch, hat es niemand zugegeben. Letztes Jahr ist der Leiter der Ermittlungen an einem Herzinfarkt gestorben. Ich empfand kein Mitgefühl mit ihm oder seiner Familie. Es war ihm egal, ob er meine Christina fand oder nicht.«
»Mr Debarros, es tut mir sehr leid, dass Ihre Tochter nicht gefunden wurde. Ich verspreche Ihnen, Sir, ich werde persönlich dafür sorgen, dass ihr Fall wieder aufgenommen wird.« Jess streckte erneut die Hand aus. »Danke für Ihre Zeit, Sir.«
Dieses Mal schloss er die Hand um ihre und schüttelte sie.
Er bedankte sich weder, noch stellte er Fragen. Er ging einfach ins Haus, zurück zu seiner Familie.
Lori machte ein Gesicht, als hätte sie einen schlechten Burger gegessen. »Stimmt was nicht, Detect–, Lori?«
Sie ging zum Wagen, sodass Jess ihr folgen musste.
»Das war echt unheimlich«, sagte Lori über das Autodach hinweg zu Jess.
»Warum?«
»Dieser Detective, von dem er sprach, der den Herzinfarkt hatte? Das war Joe Newberry.« Lori öffnete die Tür. »Durch seinen Herzinfarkt wurde der Posten eines Detectives für mich frei.«
»Und jetzt«, stellte Jess fest, »sind Sie hier und nehmen den Ball wieder auf, den er offenbar fallen gelassen hat.«
Jess blickte zurück zum Haus der Debarros’, während Lori rückwärts auf die Straße setzte. Ein Gesicht drückte sich an eines der Frontfenster. Es sah aus wie das der Frau, die wieder in die Küche zurückgeschickt worden war.
Christinas Mutter.
Jess starrte aus dem Fenster, bis sie das Haus nicht mehr sehen konnte. Dann drehte sie sich nach vorn und entschied für sich, was als Nächstes anstand. Burnett würde durch die Decke gehen, wenn er das erfuhr. Doch der würde sowieso schon fuchsteufelswild sein. Was machte ein Grad mehr da noch aus?
»Fahren wir zurück ins Büro?«
Auf zur nächsten Hürde. »Später. Zuerst statten wir den Murrays einen Besuch ab.«
Lori musterte sie kurz von der Seite. »Haben Sie einen Plan?«
»Ich brauche keinen Plan.« Irgendwie hatte sie auf einmal das nagende Gefühl, als würde die Zeit drängen. Sie musste jetzt sofort dorthin.
»Weil …«, bohrte Lori nach.
»Weil wir gerade einen ungelösten Fall wieder aufgenommen haben, in dem die Murrays Verdächtige sind.«
»Das stimmt«, bestätigte Lori. »Die Murrays müssen nicht mit uns sprechen, aber der Versuch, sie zu befragen, ist nicht nur gerechtfertigt, es ist auch unser Job.«
Oh ja. Detective Wells war aus dem richtigen Holz geschnitzt.
»Ich kapier’s nicht«, sagte Lori. »Wenn die Murrays darin verwickelt sind, warum sollten sie so etwas tun? In ihrer Vergangenheit findet sich nichts, das auf Gewaltbereitschaft schließen lassen könnte.«
Über diese Frage musste Jess gar nicht erst nachdenken. Sie hatte im Kopf bereits ein grobes Profil des Paares erstellt, auch wenn sie bisher nur den Ehemann kennengelernt hatte. »Verleugnung. Ihr einziges Kind ist eines plötzlichen Todes gestorben. Sie scheinen einfache, bodenständige Menschen zu sein. Wahrscheinlich sind sie nicht über die Highschool hinausgekommen. Haben hart gearbeitet. Familie ist alles. Ihr Sohn war ihr Leben.«
»Sie wollten sicher nicht, dass seine Zukunft durch eine unerwartete Schwangerschaft ruiniert wurde, noch bevor er die Highschool beendet hatte«, spann Lori den Faden weiter.
»Ganz gewiss nicht.« Jess verstand die menschliche Psyche und wusste, wie verletzlich sie war. »Wenn Ihre Theorie stimmt, war das, was Christina zugestoßen ist, das erste Verbrechen. Das lag ihnen auf dem Gewissen, doch durch Verleugnung konnten sie ihre Handlungen rationalisieren. Als ihr Sohn starb, ging der Verlust so tief, dass wieder die Verleugnung einsetzte. Nur so konnten sie die ungeheure emotionale Verletzung überleben. Die einzige Sicherheit, in die sie sich flüchten konnten.«
»Kann Verleugnung tatsächlich so stark sein?«
Das war etwas, das Jess recht gut aus eigener Erfahrung kannte. »In extremen Fällen kann Verleugnung unglaublich machtvoll sein. Kommt dann noch so etwas wie eine Obsession dazu, hat man das Rezept für eine Tragödie.«
»Okay, ich glaube, das kann ich so weit nachvollziehen«, sagte Lori. »Aber warum jetzt diese Mädchen entführen? Nach all diesen Jahren? Was ist das Motiv?«
»Das hängt ganz von dem Verlangen ab, welches die Verleugnung nähren hilft.« Außerdem war das der Teil, in den Jess zu diesem Zeitpunkt noch am wenigsten Einblick hatte. »Wollen sie die Lücke, die er hinterlassen hat, vielleicht mit einer Tochter füllen? Ein Sohn wäre zu schmerzhaft, fast so, als würden sie ihn ersetzen. Die andere Möglichkeit wäre, dass die Verleugnung so weit geht, dass sie eine Gefährtin für ihn suchen. Wenn ihr Sohn noch lebte, hätte er vielleicht seinen Collegeabschluss gemacht. Wäre vielleicht verlobt.«
»Das ist krank.« Lori schüttelte sich.
Jess zuckte die Achseln. »Es gibt noch viele schlimmere Szenarien.«
Lori warf ihr einen erschrockenen Blick zu. »Sie meinen Spears.«
»Das Böse gibt es in allen Formen und Größen«, erklärte Jess. Sie hatte Jahre damit verbracht, die Arten und Angesichter des Bösen zu studieren. »Es gibt die Soziopathen wie Eric Spears ganz an der Spitze der Skala, die Peiniger. Sein einziges Motiv ist Vergnügen. Das kann er nur empfinden, indem er seine Opfer auf abnormste Weise foltert. Er braucht ihre Angst. Der Mord selbst ist dabei tatsächlich sekundär. Es geht ihm nur um den Schmerz, den er ihnen zufügen kann, bevor er ihnen das Leben nimmt. Je länger sie ihm Vergnügen bereiten, desto länger hält er sie am Leben. Er spielt ein Spiel.«
»Vergnügen bereiten«, fragte Lori nach, »meinen Sie damit, er hat Spaß dabei?«
»Richtig. Er zieht Wonne aus ihren Reaktionen. Sie erregen ihn.«
»Wie schaffen Sie es, objektiv zu bleiben, wenn Sie Irre wie ihn analysieren?«
»Sie schalten alle Emotionen aus und konzentrieren sich auf die Fakten.« Ihr fiel ein, wie sie in Spears’ kalte Augen gestarrt hatte, und ihr Magen zog sich zusammen. »Dann hoffen Sie, dass der Mistkerl vor Gericht kriegt, was er verdient.«
»Glauben Sie, dass die Mädchen gefoltert werden? Können die Murrays denn so pervers sein?«
»Das kann ich jetzt noch nicht einschätzen. Dass wir keine Leichen gefunden haben, kann bedeuten, dass die Mädchen noch am Leben sind. Oder wir haben sie einfach nur noch nicht aufgespürt. Dass Dana Sawyer unter den Vermissten ist, ist der einzige Punkt, der möglicherweise auf Rache hindeutet. Sie war seine Freundin, die nach der Trennung ihr Leben ohne ihn weiterlebte.«
Um ein wirklich schlüssiges Profil zu erstellen, fehlten ihr zu viele Informationen. »Meine Vermutung ist, dass sie nach einer Tochter oder einer Schwiegertochter suchen.«
»Das könnte heißen, dass die Mädchen noch leben«, sagte Lori mit einem weiteren schnellen Blick in Jess’ Richtung.
»Machen Sie nicht den Fehler anzunehmen, ein geringerer Grad an Perversion würde gleichzeitig auch eine geringere Neigung zur Gewalttätigkeit bedeuten. Selbst eine einfache Obsession kann tödlich enden. Vor allem, wenn der Plan schiefgeht.«
Burnett hatte behauptet, Andrea wäre stark und clever. Jess hoffte, dass er recht hatte. »Wenn diese Leute, wie ich vermute, dies lange im Voraus geplant haben, dann hängt für sie ihre gesamte Existenz davon ab, dass alles so läuft wie geplant – wie immer dieser Plan aussehen mag. Ein Fehlschlag würde die Welt zerstören, die sie geschaffen haben, um der Realität zu entfliehen.«
»Also müssen wir mit Vorsicht vorgehen.«
»So ist es.« Da sie gerade von Vorsicht sprachen, wagte Jess einen Blick auf ihr Handy. Zwei verpasste Anrufe von Burnett, einer von Lily. »Mist.« Gut, dass sie auf Vibration umgestellt hatte.
»Bei mir auch«, sagte Lori. »Zwei Anrufe vom Chief, drei von Harper.«
»Hier draußen ist der Empfang nicht sehr gut.« Die Wälder, die Berge. Sie waren meilenweit von der Hauptstraße entfernt.
»Ganz schlecht sogar«, bekräftigte Lori.
Ein paar Minuten fuhren sie, ohne etwas zu sagen. Jess’ Bauchgefühl sagte ihr, es könne kein Zufall sein, dass sie immer wieder auf die Murrays zurückkamen. Ein verdächtiges Wort oder Verhalten des Vaters, mehr brauchte sie vorerst gar nicht. Als sie mit Burnett dort gewesen war, hatte er sich durchaus gesprächig gezeigt. Nun musste sie nur noch dafür sorgen, dass Lori weiter mitspielte.
»Ist es Ihnen und Harper ernst?«, fragte Jess. Es war an der Zeit, Spannung abzubauen. Ruhe. Konzentration. Wenn sie bei den Murrays ankamen, mussten sie beide voll da sein.
Lori sah sie fragend an. »Beruflich auf jeden Fall, ja.«
Jess lachte. »Ich sehe doch, wie er Sie ansieht.« Und Lori ihn.
»Er passt nicht in meine Pläne außerhalb der Arbeit.« Sie klang nicht überzeugt.
»Manchmal muss man seine Pläne ändern.« Jess entspannte sich und legte den Kopf an die Kopfstütze. Gestern Nacht hatte sie keinen Schlaf gefunden. Kein Wunder, wo sie mit der Suche nach den Mädchen keinen Schritt weiter waren und ihr beruflicher Ruf in den Nachrichten in den Schmutz gezogen wurde. Und unter demselben Dach mit Burnett sein zu müssen, hatte auch nicht gerade geholfen.
»Was ist mit Ihnen und dem Chief?«
»Was ist mit uns?«
»Ich sehe doch, wie er Sie ansieht.«
Sie war selber schuld. Jess schüttelte den Kopf. »Was Sie sehen, ist Vertrautheit. Unsere Beziehung ist schon seit langer Zeit beendet.«
»Wenn Sie es sagen.«
Bevor Jess gebührend darauf antworten konnte, fragte Lori: »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir beim Supermarkt an der 31 kurz anhalten? Ich muss mal auf die Toilette.«
»Und ich könnte etwas zu trinken gebrauchen.« Jetzt machte sich bemerkbar, dass sie das Mittagessen ausgelassen hatten.
Jess sah zu, wie die bewaldete Landschaft ringsum langsam in das kleine Städtchen Warrior überging. Es erschütterte sie immer noch, dass auch in solch einer heiteren, natürlichen Umgebung Böses geschah. Aber so war es. Jede Minute eines jeden Tages.
»Haben Sie den Wagen eigentlich selbst restauriert?« Jess verstand nicht viel von Autos, aber sie war im Süden aufgewachsen. Ein Shelby Cobra Mustang aus dieser Zeit war heiß begehrt.
»Er hat meinem Vater gehört.« Lori lächelte, als ihre Hände das Steuer streichelten. »Als ich sechzehn wurde, hat meine Mutter ihn mir geschenkt.« Sie seufzte tief. »Er starb, als ich noch ein Kind war. Sie hat ihn die ganze Zeit für mich in der Garage stehen lassen.«
»Tut mir leid.« Wieder etwas, das sie gemeinsam hatten. »Ich habe meine Eltern auch als Kind verloren.«
»Das ist ein Grund, warum mir meine Karriere so wichtig ist.« Lori sah sie an. »Meine Mutter und meine Schwester sind finanziell von mir abhängig.«
Das war eine schwere Verantwortung. »Ich habe auch eine Schwester. Sie ist älter als ich. Verheiratet. Kinder. Das volle Programm.«
»Sind wir damit die Bösen?« Lori fuhr langsam auf die Abbiegespur. »Weil wir nicht sofort das ganze Programm wollen? Weil wir uns mehr auf uns konzentrieren?«
»Vielleicht.« Jess versuchte ein Lachen. »Oder wir sind einfach klüger als die anderen.«
Es gab immer zwei Seiten einer Medaille.
Im Supermarkt strebte Lori schnurstracks zu den Damentoiletten, und Jess schnappte sich ein paar Pepsi-Dosen.
Sie bezahlte und kehrte zum Wagen zurück. Gerade als sie sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, vibrierte ihr Handy wieder. Sicher Burnett, der die Sendemasten glühen ließ.
SMS.
Peiniger.
Ihr Blut gefror, floss langsamer.
Dein neuer Umgang gefällt mir.
Verfluchter Dreckskerl!
Eine Bewegung ließ Jess nach vorne blicken. Lori kam aus dem Laden gestürzt. Sie riss die Tür auf und ließ sich hinter das Steuer plumpsen.
»Wir müssen zurück in die Stadt.« Sie klang atemlos … bestürzt. Dabei konnte sie von der SMS, die Jess gerade bekommen hatte, doch nichts wissen.
Jess schüttelte ihre Verwirrung ab. »Wird noch ein Mädchen vermisst?«
Wells setzte den Mustang zurück, fuhr an, bremste dann aber noch einmal ab, bevor sie auf die Straße fuhr. »Der Chief hat eine SMS bekommen, in der steht, warum er Sie nicht besser im Auge behält.«
Jess wurde die Kehle eng.
Spears war hier.