Kapitel 5

Die Insel Karthay

Die beschädigte Castor war dabei, aus der Bucht in die offene See einzufahren. Während er dem Schiff von der Küste aus nachsah, zog Tanis den Sack zurecht, den er auf dem Rücken hatte. Er enthielt ein paar Vorräte, die Kapitän Nugeter ihnen überlassen hatte. Neben ihm stand Flint, der von einem Bein aufs andere trat, um dadurch sein verwundetes Bein möglichst zu entlasten, ohne daß es jemand bemerkte. Kirsig jedoch betrachtete den Zwerg besorgt.

Yuril und die anderen vier Matrosinnen von der Castor, die beschlossen hatten, daß der Dienst auf einem halben Wrack nicht nach ihrem Geschmack war, zogen gerade ihre beiden kleinen Boote den Strand hinauf. Tanis hoffte, daß sie nicht eine unangenehme Arbeit gegen eine schlimmere eingetauscht hatten.

Raistlin stand abseits von den anderen mit dem Rücken zum Meer und musterte das Gelände.
Der schmale, steinige Streifen Strand ging in niedrige Sanddünen über. Dahinter stieg das Land an und bildete ein Labyrinth aus Schluchten und Plateaus. Soweit das Auge reichte, war die Gegend kahl und wenig einladend.
Obwohl es noch Vormittag war, brannte die Sonne heiß und hell vom Himmel. Ein trockener Wind wirbelte den Sand an der Küste auf. Tanis merkte, wie der Staub in seine Kehle drang.
Eine Hand streifte den Arm des Halbelfen. Sie gehörte Raistlin. Der junge Zauberer hatte die unangenehme Angewohnheit, sich so leise zu bewegen, daß es schwer war, ihn im Auge zu behalten.
Raistlin schien von der aufgebrochenen, herben Landschaft wenig abgeschreckt zu sein. »Ich rechne mit zwei Tagesreisen ins Landesinnere, bis wir die Ruinen der alten Stadt erreichen«, sagte der Magier leise zu Tanis. »Glaubst du, daß Flints Bein mitspielt?«
»Sein Bein ist viel besser«, erwiderte Tanis. »Der alte Zwerg hält wahrscheinlich länger durch als wir alle.«
Beide Männer warfen einen Blick auf Kirsig, die sich um Flint bemühte, wohl um ihm eine Salbe für sein Bein anzubieten, während der Zwerg grummelnd versuchte, sie zu verscheuchen. Aber nicht allzu nachdrücklich, wie Tanis feststellte. Er und Raistlin grinsten sich an.
Als Tanis sich wieder umdrehte, schwand sein Anflug von guter Laune. »Raistlin, fragt sich nur: Was ist unser Ziel? Du hast uns nicht gerade viel über den Spruch erzählt, der deiner Meinung nach ein Portal öffnet, um diesen bösen Gott oder was-auch-immer in die Welt zu lassen.«
Raistlin bemerkte nicht nur die Ungeduld, sondern auch den Hauch von Skepsis in Tanis’ Stimme. »Du hast doch bestimmt im Land des Volks deiner Mutter etwas über die alten Götter gelernt«, antwortete der junge Magier, obwohl er wußte, daß jede Anspielung auf Tanis’ gemischte Herkunft den Halbelfen verletzen konnte. Raistlin sah, daß seine Worte getroffen hatten, denn Tanis stieg die Röte ins Gesicht.
»Ich kann nicht schwören, daß der Spruch, den ich entdeckt habe, ein Portal öffnet oder ob alte Götter wie Sargonnas mehr als Sagen sind«, fuhr der Zauberer schroff fort. »Ich weiß allerdings, daß es ein alter und mächtiger Zauberspruch sein müßte. Und ich weiß eines: Wenn die Möglichkeit besteht, daß Sargonnas in diese Welt eintritt, dann ist es an uns, dies um jeden Preis zu verhindern.«
»Was ist mit Sturm und Caramon und Tolpan? Sind die irgendwo auf dieser Insel?« fragte Tanis. »Sind die nicht der Grund, warum wir eine so weite Reise hinter uns haben?«
»Ich kann keinen Zauberstab schwenken, um festzustellen, ob sie hier sind oder nicht«, fauchte Raistlin, »aber du hast gehört, was Kirsig gesagt hat. Die Minotauren schließen Bündnisse mit anderen Rassen. Wenn, wie ich vermute, die Minotauren in ihrem uralten Traum befangen sind, die Welt zu erobern, und dazu Sargonnas holen wollen, damit er ihnen hilft, ist es egal, wo Caramon und die anderen sind. Wir schweben alle in höchster Gefahr.«
Raistlin hielt inne und atmete tief durch. Sichtlich ruhiger fuhr er fort: »Das Jalopwurzpulver war nur eine der benötigten Zauberzutaten. Der Zauber verlangt auch ein akzeptables Blutopfer für Sargonnas. Ich vermute, daß man Caramon, Sturm und Tolpan vielleicht deshalb in diesen Teil der Welt geschleppt hat. Einer von ihnen könnte das benötigte Opfer sein.
Wir haben wenig Zeit. Der Zauber kann nur bei bestimmten Konjunktionen von Sonne, Monden und Sternen stattfinden. Diese Konjunktionen kommen nur alle hundert Jahre einmal vor, und die nächste ist in nur drei Nächten.
Jetzt laß mich dir eine Karte zeigen, die ich aus einem alten Atlas in Morats Bibliothek abgemalt habe.«
Tanis wartete. Er war überzeugt. Mit Flint und Kirsig, die die heftige Diskussion mitangehört und sich zu ihnen gesellt hatten, betrachtete der Halbelf ein Stück Pergament, das Raistlin hervorgezogen hatte. Es war mit krakeligen Linien und geographischen Symbolen bedeckt. Yuril und die anderen Seefahrerinnen kamen eilig dazu. Alle drängten sich um den jungen Magier.
»Ich glaube, der Zauber wird irgendwo in oder bei den alten Ruinen der Stadt Karthay gesprochen werden«, sagte Raistlin. »Die Stadt wurde während der Umwälzung durch einen Vulkanausbruch zerstört und unter tonnenweise Asche und Lava begraben. Für die Minotauren ist es ein heiliger Ort.« Er zeigte auf eine Stelle der Karte, wo ein Bergzug eingezeichnet war. »Sargonnas ist der Gott der Wüsten, des Feuers und der Vulkane«, fügte er hinzu.
»Der Karte nach müßten wir eigentlich rechtzeitig ankommen, aber die Reise dürfte gefährlich werden. Jedem, dem diese Aussichten nicht zusagen, steht es frei, hierzubleiben und auf uns zu warten.« Dabei sah Raistlin auf, schaute aber nicht Flint an, sondern Yuril und ihre Matrosinnen.
Diese hatten anscheinend schon über das Risiko gesprochen. »Ich habe eine offene Schuld zu begleichen«, meinte die sehnige Yuril, »und meine Freundinnen hier ziehen nicht zum ersten Mal auf Abenteuer aus. Ich spreche für alle, wenn ich sage, daß wir unser Glück mit euch versuchen wollen.« Yuril hatte das voller Stolz gesagt. Eine Hand lag am Griff des Kurzschwerts, das an ihrer Hüfte hing. Man sah die Muskeln ihrer gebräunten Unterarme.
Wir können von Glück sagen, daß sie und die anderen dabei sind, dachte Tanis.
»Diese tote Stadt«, meldete sich Flint, »ist doch sicher gut bewacht, und Sturm und Caramon und der verwünschte Kender ebenso. Was hast du vor, wenn wir dort sind?«
»Das weiß ich nicht«, gestand Raistlin. »Ich kann es erst sagen, wenn wir wissen, wie viele Soldaten das Gebiet bewachen. Gemeinsam«, fügte er mit einem Blick auf Tanis hinzu, »sollten wir einen Plan ausklügeln können.«
Tanis merkte, wie es ihm eng ums Herz wurde, weil er einmal mehr an Kitiara dachte. Er wandte sich von der Gruppe ab und tat so, als wollte er das unwirtliche Land betrachten.Sie folgten Raistlins Karte und wählten einen Pfad an einem Fluß entlang, der vor langer Zeit vom Dach der Welt zum Meer geströmt war. Jetzt war er ausgetrocknet und hatte nur aufgesprungene, von der Sonne zusammengebackene Erde zurückgelassen.
Der Flußlauf führte durch zahllose Abgründe und Schluchten bergauf und bergab. Nach Möglichkeit hielten sie sich an das staubige Flußbett. Zu anderen Zeiten folgten sie dem trockenen Fluß auf höher gelegenen Pfaden. Dann liefen sie im Gänsemarsch auf schmalen Uferwällen entlang. Den ganzen Tag behielten sie ihren Kurs bei, kamen aber durch das Hoch- und Runterklettern und die vielen Biegungen so unüberschaubar langsam voran, und Tanis fragte sich, welche Strecke sie eigentlich wirklich zurückgelegt hatten. Während sie auf einem der vielen Plateaus eine Pause einlegten, war der Halbelf froh, als er sah, wie weit das Blutmeer hinter ihnen lag, derweil ein gewaltiger Bergzug etwas nähergerückt war.
Das Land wirkte leer – frei von Bewuchs, Tieren, von allem Leben. Der starke, trockene Wind fegte über die höheren Erhebungen, blies ihnen ins Gesicht und trieb ihnen Sand in die Augen und in die Kehle. Über ihnen glühte die Sonne und verbreitete eine Hitze wie in einem Ofen, die höchstens die tiefsten Felsschluchten ausnahm. Wenn sie jedoch plötzlich bergab in kühle Schatten eintauchten, spürten sie den Hauch von etwas Schlimmerem – der bitteren Kälte des Landes bei Nacht.
Am späten Nachmittag war die kleine Gruppe erschöpft und entmutigt. Raistlin und Tanis führten die Reihe an, denn gemeinsam leiteten sie die Gruppe. Flint und Yuril bildeten die Nachhut. Schweigend durchwanderten die Gefährten den Grund einer Schlucht, waren jedoch nicht mehr so zuversichtlich, daß sie den richtigen Weg eingeschlagen hatten.
Ganz plötzlich stießen Raistlin und Tanis hinter einer Biegung auf eine glatte Felswand, die unerklimmbar vor ihnen aufragte. Rechts und links ging es senkrecht fünfzig Fuß in die Höhe. Wieder einmal hatte die Gruppe keine andere Wahl als umzukehren und in den eigenen Fußstapfen zurückzulaufen.
Bis Flint und Yuril aus der Schlucht geklettert waren und Raistlin das trockene, gewundene Flußbett unten wieder sichtete, ging bereits die Sonne unter. Tanis spürte einen ersten Kälteschauer, als Dunkelheit sich über dem Land ausbreitete. Er sah Flint auf den Boden sinken. Sein Gesicht war von Schweiß und Dreck verschmiert. Die meisten der Seefahrerinnen folgten seinem Beispiel sofort.
Raistlin warf neben ihm einen Blick auf die Karte. Er drehte das Pergament in den Händen, um irgendwie herauszufinden, welches der beste Weg war.
»Der alte Fluß teilt sich immer wieder und ändert die Richtung«, sagte der junge Magier erschöpft.
»Deine Karte muß hundert Jahre alt sein«, sagte Tanis. »Wer weiß, wie viele Erdrutsche und Erdbeben es seitdem hier gegeben hat?«
Raistlin sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich glaube nicht, daß einer von uns heute noch weiter kommt«, meinte der Halbelf leise mit einem Wink auf die Gruppe, die hinter ihnen zusammengesunken war.
»Ich habe dir gesagt«, erklärte der Zauberer scharf, »daß es schwerwiegende Folgen haben kann, wenn wir nicht innerhalb von zwei Tagen in Karthay sind.«
»Vielleicht sind die Zwillingsmonde später in der Nacht so hell, daß wir ein gutes Stück schaffen«, sagte Tanis diplomatisch. »Aber hier und jetzt wäre es das beste, wenn wir Rast machen und essen. Außerdem meine ich, ich hätte tagsüber ein paar Gruben von Ameisenlöwen gesehen, und da wollen wir doch kaum im Dunkeln hineinstolpern.«
Flint war hinter ihm aufgetaucht. »Gruben von Ameisenlöwen?« fragte der Zwerg besorgt. »Ich stimme Tanis zu. Laßt uns hier das Nachtlager aufschlagen.«
Raistlin zögerte.
»In einer der Schluchten wäre es geschützter«, fügte Flint hinzu, »aber wir wären auch leichter anzugreifen.« Tanis nickte.
Mit einem tiefen Seufzer gab Raistlin nach. Sein blasses, abgespanntes Gesicht verriet plötzlich starke Erschöpfung. Tanis war ziemlich sicher, daß der junge Zauberer nicht mehr lange durchgehalten hätte.
Jeder war froh über diese Entscheidung.
Als die Nacht hereinbrach, fiel die Temperatur immer weiter ab. Der Wind wurde bitterkalt. Sie lagerten hinter ein paar Felsen. Obwohl die Felsen gegen den beißenden Wind nur einen armseligen Schutz boten, hatten sie einen anderen Vorteil, wie Flint auffiel. »Im Dunkeln wird es jedem Angreifer schwerfallen, zu unterscheiden, was Stein ist und was lebendig«, sagte der Zwerg, »und wir werden doppelt so viele erscheinen, wie wir wirklich sind.«
Yuril meldete sich freiwillig zur abendlichen Jagd, aber Tanis schlug ihr Angebot aus. »Es ist schon zu dunkel«, erklärte Tanis. »Wenn überhaupt jemand jagen geht, dann ich, da ich nachts sehen kann. Aber selbst wenn ich etwas erlegen würde, könnten wir es nicht kochen. Raistlin und ich sind uns einig, daß wir kein Feuer machen sollten, bis wir ganz sicher sind. Auf diesem hohen Plateau wäre ein Feuer wie ein Leuchtturm.«
Die kleine Gruppe drängte sich im Windschatten der Steine zusammen. Tanis ging von einem zum anderen, um den Proviant zu verteilen, den er trug – kleine Stücke Brot, Trockenfrüchte und eine halbe Tasse Wasser für jeden. Sie waren den ganzen Tag an keinem Bach, keiner Quelle vorbeigekommen, wo Tanis seinen Wasserschlauch hätte auffüllen können. Als er bei Flint ankam, bemerkte Tanis, daß Kirsig nicht wie üblich an der Seite des Zwergs war. »Wo ist Kirsig?« fragte der Halbelf irritiert.
»Keine Sorge«, raunzte der Zwerg. »Die ist weggehuscht, um irgendwas zu machen, nachdem du dich übers Feuer ausgelassen hast. Jetzt habe ich wenigstens mal meine Ruhe.«
Erschrocken über diese Neuigkeit blickte Tanis auf das dunkle Plateau hinaus, sah jedoch keine Spur von der Halbogerin. Trotz seiner Proteste spähte auch Flint nervös in die anbrechende Nacht. Da kam Kirsig herangetrottet. Sie hatte eine dicke Tasche dabei.
»Hallo, ihr Süßen. Ihr habt euch doch keine Sorgen um mich gemacht, oder?« fragte sie und kniff Flint in die Wange. »Ich dachte bloß, da wir nicht soviel Grünzeug dabei haben, sollte ich mal sehen, was ich ausgraben kann. Und ich hab’ gegraben!« Triumphierend hielt sie die Tasche hoch.
»Schmackwurzeln«, verkündete Kirsig. Sie streckte ihnen den Sack entgegen und bestand darauf, daß jeder etwas von seinem Inhalt nahm. Tanis griff hinein und wählte das kleinste Exemplar, das er finden konnte. Die Schmackwurzel war grün, fleischig und feucht. Von der Konsistenz her ähnelte sie einer rohen Kartoffel. Tanis knabberte an einem Ende der Wurzel.
Sie schmeckte süß und besänftigte seine Kehle beim Schlucken mit willkommener Feuchtigkeit.
»Das Beste auf der Welt, wenn man mitten in der Wüste festsitzt, sagte mein Papa immer«, schwatzte Kirsig, während sie die Schmackwurzeln verteilte.
Raistlin war gleich nach Tanis gekommen und griff zu. »Ich habe schon von Schmackwurzeln gelesen«, sagte der junge Magier, der die exotische Wurzel eifrig probierte. »Die Pflanze heißt auch Wüstenbalsam und hat schon vielen Reisenden das Leben gerettet, die in trockenen Gegenden gestrandet sind. Aber es überrascht mich, daß jemand bei Nacht welche finden und ausgraben kann.« Bei einem Blick auf Flint sah Tanis, daß der graubärtige Zwerg strahlte wie ein Lehrer, dessen Lieblingsschüler seine Sache gut gemacht hat.
Die Schmackwurzeln vertrieben fürs erste den Trübsinn, der sich bei Einbruch der Dunkelheit unter den Wanderern ausgebreitet hatte. Jeder aß sich satt, und trotzdem hatte Kirsig für den kommenden Tag noch eine Tasche übrig. Nach diesem Abendessen gingen alle daran, sich bestmöglich auf eine unruhige Nacht auf kaltem, hartem Boden vorzubereiten. Wolken zogen vor die Sterne. »Ich übernehme die erste Wache«, meldete sich Tanis freiwillig.
»Ich würde auch gern die erste Wache nehmen«, erklärte Raistlin zur Überraschung von Tanis und Flint. »Ich bin noch nicht müde genug zum Schlafen«, meinte der Magier, »und ich könnte in der Stille meine Gedanken ordnen.«
Tanis zögerte kurz. Dann zuckte er mit den Achseln. Nachdem er sich jedoch einige Minuten herumgewälzt hatte, stellte er fest, daß er ebenfalls nicht schlafen konnte. Er stützte sich auf einen Ellbogen, dann setzte er sich auf. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, so daß er mehr sehen konnte als die Auras, die seine normale Nachtsicht ihm zugestand.
Raistlin lehnte an einem Felsen und blickte in den Himmel. Die Haare fielen ihm ins Gesicht. Der junge Magier schien ganz in Gedanken zu sein.
Tanis zuckte zusammen, als ein lautes Grollen die Stille durchbrach. Dann mußte er lächeln, da es nur Flints Schnarchen war, das heute abend von Kirsigs verstärkt wurde. In den Schnarchpausen drang ein Rascheln wie von Sandpapier oder von einem kleinen Nachttier, das über den Boden huscht, an sein Ohr.
Tanis hob abrupt den Kopf. Raistlin tat dasselbe, wie er sah. Das sandpapierartige Wispern war lauter geworden, bis es nicht mehr vom Boden, sondern oben vom Himmel zu kommen schien. Tanis sah nichts, bis er ein schweres Gewicht auf seine Schultern fallen spürte. Dazu kam das Gefühl, erstickt zu werden. Er versuchte, einen Warnruf auszustoßen, doch beim Einatmen fühlte sich sein Mund so an, als wäre er voller Federn. Als er nach dem Messer an seinem Gürtel greifen wollte, merkte er, daß er die Arme nicht bewegen konnte, denn sie waren an seine Seiten gedrückt. Scharfe Krallen piekten in seinen Hals.
Erstickte Geräusche von außerhalb seines Federkokons verrieten ihm, daß die anderen in derselben prekären Lage steckten. Plötzlich erklang über seinem Kopf eine klare, melodische Stimme, die in der Gemeinsprache sagte: »Das sind keine Stiermenschen. Sie sind mehr wie du und dein Freund.«
Der Federkokon ging auf, und eine Fackel vor Tanis’ Gesicht blendete den Halbelfen kurzfristig. Tanis sah sich in einer kraftvollen Umarmung gefangen.
»Tanis, der Halbelf! Ich wußte nicht, ob ich dich je wiedersehen würde. Und Raistlin, mein Bruder!«
Jetzt war der Magier an der Reihe, sich in Caramons feste Arme schließen zu lassen.
Raistlin lächelte breit. »Wir haben erwartet, einen Gefangenen zu finden, Bruder, keinen Häscher«, meinte der junge Zauberer. »Aber wie ich Tanis schon sagte, ich habe damit gerechnet, daß wir dich irgendwie wiederfinden würden – am Leben und wohlauf.«
Die Zwillinge standen Seite an Seite. Caramon hatte seinen starken Arm um die schmalen Schultern seines Bruders gelegt. Im flackernden Licht der einzelnen Fackel staunte Tanis nicht zum ersten Mal, wie die Majerezwillinge zugleich so ähnlich und doch so verschieden sein konnten. In diesem Augenblick wurde der Unterschied von dem federbesetzten Lederriemen verstärkt, den Caramon um den Kopf trug. Dazu die Federn, die aus seinen Schultern zu sprießen schienen, aber zweifellos nur an seine Tunika genäht waren.
Als er sich im flackernden Fackelschein umsah, kam es Tanis so vor, als ob denen, die Caramon begleiteten, auch Federn wuchsen. Tanis blinzelte. Der Halbelf war sich nicht ganz sicher, aber diese großen Wesen – sie waren mindestens einen Kopf größer als Caramon, und der war schon über sechs Fuß groß – schienen statt Armen Flügel zu haben!
Flint, der zu ihm trat, blickte die Neuankömmlinge mißtrauisch an und stellte die naheliegende Frage: »Willst du uns nicht deinen Freunden vorstellen oder ihnen wenigstens sagen, daß sie uns nicht als Feinde anzusehen brauchen?« fragte der Zwerg Caramon mit einem nervösen Blick auf die gefiederten Wesen.
Caramon grinste breit. »Ich bitte um Verzeihung. Aber ihr braucht keine Angst zu haben.« Er zeigte auf das halbe Dutzend Wesen, die mit ihm eingetroffen waren – die nämlich ihn und Sturm durch die Luft getragen hatten. »Das sind meine Freunde, die Kyrie, ein edles Volk und eingeschworene Feinde der Minotauren. Sie haben Sturm und mich aus dem Kerker gerettet, als wir auf der Insel Mithas eingesperrt waren.«
Er drehte sich etwas und zeigte auf den Kyrie neben Raistlin.
»Wolkenstürmer, das sind mein Bruder Raistlin und meine Freunde, Flint Feuerschmied und Tanis, der Halbelf, aus Solace. Die Frauen kenne ich nicht«, fügte Caramon hinzu. Er warf einen kritischen Blick auf Kirsig und dann einen ausgesprochen anerkennenden Blick auf Yuril und ihre Matrosinnen. »Auch wenn ich mich darauf freue, sie kennenzulernen«, endete er mit einem deutlichen Zwinkern an die statuenhafte Yuril. Sie erwiderte die Geste nicht, kehrte sich aber auch nicht ab.
»Wo ist denn Sturm?« fragte Flint, der nicht bereit war, seine lebenslange Skepsis bezüglich merkwürdiger Rassen einfach so fallenzulassen, bloß weil Caramon es sagte. »Und, auch wenn ich gar nicht sicher bin, ob ich das wirklich wissen will, was ist mit Tolpan?«
»Ich bin hier«, kam eine rauhe Stimme von außerhalb der Reichweite der Fackel. Der Kyrie, Vogelgeist, trat beiseite, um den Blick auf Sturm freizugeben, der sich gerade aufrappelte. Zu seiner großen Beschämung war der Solamnier kurz nach der Landung der Kyrie im Lager der Freunde ohnmächtig geworden. Seit seiner Rettung aus der Grube des Untergangs waren erst eineinhalb Tage vergangen. Sturm hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich von all dem zu erholen, was er durchgemacht hatte – schiffbrüchig, eingesperrt, geschlagen und im Duell fast getötet. Er hinkte zu ihnen.
Flint starrte ihn an. In dem schwachen Licht sah Sturms Gesicht eigenartig schief aus. »Was hast du denn mit deinem Schnurrbart gemacht?« fragte der Zwerg ungläubig.
»Ach was, Schnurrbart. Siehst du denn nicht, daß es dem armen Kerl schlecht geht?« schalt Kirsig, die an Sturms Seite eilte. »Komm her, Süßer, laß mich dir helfen.«
Obwohl er viel zu wohlerzogen war, um vor dem grotesken Aussehen der Halbogerin zurückzuschrecken, sah Sturm Flint fragend an.
»Oh, keine Sorge. Die ist in Ordnung«, sagte der Zwerg schroff. »Und gar nicht so übel als Heilerin.«
Raistlin meldete sich zu Wort. »Sie ist erheblich besser als das, Sturm. Kirsig war während unserer Seereise und unserer bisherigen Wanderung unbezahlbar.« Yuril und die anderen stimmten murmelnd zu. Mit vor Freude rotem Gesicht nahm Kirsig Sturms Hand und führte ihn zu ihrem Gepäck.
»Was machst du eigentlich hier?«
Diese Frage kam Caramon und Raistlin gleichzeitig von den Lippen. Trotz der kalten Nachtluft und trotz der widrigen Umstände mußten die Zwillinge sich angrinsen.
»Ich vermute, daß wir uns lange Geschichten zu erzählen haben. Vielleicht sollten wir erst einmal Feuer machen, um beim Erzählen unsere Knochen zu wärmen«, schlug der Kyrie mit Namen Wolkenstürmer vor.
»Wir haben kein Feuer gemacht, weil wir fürchteten, es könnte verraten, daß wir hier sind«, erklärte Tanis.
»Keine Bange«, versicherte ihm Wolkenstürmer. »Unsere Späher durchstreifen den Himmel über der Insel. Im Westen gibt es nur rauhe, unwirtliche Wüste, weit im Norden einen bergigen Regenwald. Die einzigen Minotauren, die wir gesichtet haben, lagern am Fuß der Gipfel vom Dach der Welt in den Ruinen der alten Stadt Karthay. Auf dem Landweg sind es von hier aus zwei bis drei Tage, für einen Kyrie nur einige Flugstunden.«
Die Kyrie hatten eine kleine Menge Feuerholz und Zunder dabei. Als schließlich ein Feuer brannte, hatten alle bessere Laune. Die gemischte Gesellschaft kauerte sich um die Flammen.
Kirsig machte Wasser heiß, um einen besonderen Tee für Sturm zu brauen, der jetzt, bei Licht betrachtet, blaß und mitgenommen aussah. Caramon hingegen wirkte dünner, aber robuster. Er war immer noch eine eindrucksvolle Erscheinung. Jedenfalls war Yuril, die dem jungen Krieger gegenüber saß, augenscheinlich dieser Meinung.
Während Sturm seinen Tee schlürfte, erzählte Caramon von dem Verrat an Bord der Venora, dem Zaubersturm, der ihn mit Sturm und Tolpan über Tausende von Meilen ins Blutmeer versetzt hatte, der Entführung von Tolpan, und wie man sie über Bord geworfen hatte. Über seine und Sturms lange, qualvolle Tortur im Meer ließ Caramon sich nicht weiter aus. Als er aber über ihre Gefangenschaft in Atossa zu reden begann, richtete Raistlin sich auf und hörte besonders interessiert zu.
»Zuerst hatten uns die Minotauren wohl gefangengenommen, um Sklaven aus uns zu machen. Oder wir sollten zu ihrem Spaß als Gladiatoren kämpfen«, erzählte Caramon.
»Aber nachdem die Kyrie Caramon gerettet haben, kamen ein paar hochrangige Minotauren und stellten Fragen«, warf Sturm mit leiser Stimme ein. »Sie kannten deinen Namen, Raistlin – und auch Kitiaras – und erwähnten einen gewissen Nachtmeister. Das Seltsamste daran war, daß Tolpan bei ihnen war und ihnen zu helfen schien.«
»Tolpan?« fragte Flint ungläubig. »Ich habe den kleinen Kender nie für einen Helden gehalten, aber daß er gemeinsame Sache mit den Minotauren macht, die dich gefangenhalten – vielleicht haben sie ihn nur unter irgendeiner Drohung mitgeschleppt, damit du glaubst, er würde ihnen helfen. Um deinen Widerstand zu brechen.«
»Keiner hat Tolpan zu irgend etwas gezwungen«, erwiderte Sturm bitter. »Er hat ihnen freiwillig die Feinheiten der Folter erklärt. Außerdem war es Tolpan Barfuß, der meinen Schnurrbart abgeschnitten hat!« Sturm schwieg, um seinen Zorn zu beherrschen. »Und was viel schlimmer ist: Es war Tolpan, der vorgeschlagen hat, daß ich ein Duell auf Leben und Tod in der Grube des Untergangs kämpfen sollte. Nach allem, was ich mitbekommen habe, bevor unsere Freunde, die Kyrie mich retteten, glaube ich, daß die Minotauren Kitiara irgendwo auf dieser Insel gefangenhalten. Deshalb sind wir hierhergekommen, ohne überhaupt zu ahnen, daß ihr in der Nähe seid.«
»Wir versuchen, jede ungewöhnliche Truppenbewegung der Minotauren im Auge zu behalten«, fügte Wolkenstürmer hinzu. »Vor einigen Monaten haben wir beobachtet, daß sie in den Ruinen der alten Stadt Karthay ein Lager aufgebaut haben. Jetzt sieht es so aus, als würden mit jeder Woche mehr Stiermenschen dort eintreffen.«
Raistlin war inzwischen so aufgeregt, daß er aufgestanden war und umherlief, während Caramon, Sturm und Wolkenstürmer ihre Geschichte erzählten.
»Der Nachtmeister muß damit rechnen, daß wir bereits hier sind«, warf Raistlin ein. »Das ist nicht gut. Und jetzt wissen wir, daß sie Kitiara haben. Das ist eine noch schlimmere Nachricht. Was du nicht weißt, Caramon, ist, daß die Minotauren sich hier versammelt haben, um einen mächtigen Zauber zu wirken, der einen ihrer bösen Götter in unsere Welt einlassen soll. Und für diesen Spruch braucht man einen Nichtminotauren als Opfer.«
»Wer ist dieser Nachtmeister?« wollte Flint wissen.
Tanis hatte gerade dieselbe Frage auf den Lippen.
»Er ist ihr oberster Schamane«, antwortete Raistlin. »Der Nachtmeister ist der, der den Spruch sagen würde, um das Portal für Sargonnas zu öffnen.«
Caramon und Sturm wirkten befremdet. Raistlin erklärte ihnen und den Kyrie rasch alles, was ihm, Tanis und Flint geschehen war – die magische Botschaft, die er von Tolpan erhalten hatte, der Besuch beim Orakel und die Reise durch das Portal nach Ogerstadt, die Flucht mit Kirsig aus Ogerstadt, ihre ereignisreiche Reise über das Blutmeer bis zu ihrer Ankunft auf der Insel Karthay.
»Der Grund unseres Kommens«, erläuterte der junge Magier, »ist, daß ich beim Stöbern in der Bücherei auf einen alten Spruch gestoßen bin. Der Spruch hat mich nicht mehr losgelassen, und ich hatte Tolpan bereits losgeschickt, um eine seltene Zutat dafür zu kaufen, das Jalopwurzpulver. Erst danach wurde mir die volle Tragweite meines Handelns bewußt. Der Spruch, der gerade vorbereitet wird, würde den bösen Herrn der Finsteren Rache, Sargonnas, in die Welt der Materie einlassen. Unterstützt von meinem Zaubermeister habe ich weiter geforscht und kam zu dem Schluß, daß der Spruch vom Nachtmeister der minotaurischen Nation auf der Insel Karthay gesprochen werden müßte.
Kirsig hat uns gesagt, daß die Stiermenschen Bündnisse mit den Ogern und anderen schändlichen Rassen schließen. Ich fürchte, das ist Teil ihres Plans, Sargonnas in unsere Welt zu holen und alles für die Eroberung Ansalons in die Wege zu leiten.«
»Sargonnas«, zischte Wolkenstürmer. »Du hast also schon von ihm gehört?« fragte Raistlin. »Eine Kyrielegende berichtet von einem Sargonnas, einem riesigen, roten Kondor, der unser Volk vor vielen Generationen heimgesucht hat. Er überredete einen unserer wankelmutigsten Edlen, dem Kondor den heiligsten Gegenstand unserer Nation, den Nordstein, auszuliefern. Damit konnten die Kyrie einst zwischen allen Inseln und Landmassen der Welt navigieren, anstatt in dieser kleinen Ecke im ständigen Krieg mit unseren Feinden, den Minotauren, festzusitzen«, erklärte Wolkenstürmer. »Wenn Sargonnas auf seine Wiederkehr hofft, ist das eine sehr schlechte Nachricht für mein Volk. Wir werden euch mit allem helfen, was in unserer Macht steht.«
Einen Augenblick schwieg alles, denn die enorme Aufgabe, die vor ihnen lag, bedrückte die Gruppe. Was machen wir jetzt? Diese Frage lag jedem auf der Seele.
»Bis zum Morgen können wir überhaupt nichts tun«, beantwortete Tanis die unausgesprochene Frage. »Versuchen wir also, ein wenig zu schlafen.«Jetzt bestand die Gruppe aus acht Menschen, dazu einem Zwerg, einem Halbelfen, einer Halbogerin und sechs Kyrie. Weitere Kyrie kundschafteten Teile der Insel aus, aber am Morgen hatte erst einer das Lager erreicht. Das machte sieben Kyrie. Raistlin machte es Mut, daß die Kyrie die anderen in zwei Schichten an einen Ort nahe des Lagers des Nachtmeisters in der Ruinenstadt fliegen konnten. Erst würden die Kyrie Raistlin, Tanis, Caramon, Sturm und Yuril bringen. Nach kurzer Rast würden sie dann Flint, Kirsig und die Matrosinnen holen.
Trotz des Zeitaufwands für das zweimalige Hin und Her würde die Reise viel weniger Zeit beanspruchen als der Marsch über Land. Die Gefährten würden einen Tag vor der Himmelskonjunktion, die Raistlin für grundlegend wichtig für den Spruch hielt, am Rand der Ruinenstadt eintreffen.
Flint, der bereits das Blutmeer hinter sich hatte, hatte es nicht eilig, von den gefiederten Vogelmenschen durch die Lüfte getragen zu werden, ganz gleich, wie edel oder freundlich sie sich Caramon und Sturm gegenüber verhielten. »Mir macht es nichts aus, mit den ganzen Frauen hierzubleiben«, sagte der Zwerg. »Macht mir gar nichts aus. Erstmal will ich zusehen, wie ihr alle auf Himmelsfahrt geht, und wenn ihr nicht hinunterfallt oder abstürzt oder von der Sonne gebraten werdet, dann komme ich nach, keine Sorge.«
»Ich lasse dich ungern zurück«, sagte Tanis.
»Keine Sorge«, scherzte Flint. »Schließlich paßt Kirsig auf mich auf.«
Tanis lächelte. »Ja«, gab der Halbelf zu. »Ich glaube, sie kann es bald mit Lolly Ockenfels aufnehmen.«
»Das ist das letzte Mal, daß ich versuche, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu führen, Tanis Halbelf!« explodierte Flint und wurde knallrot. »Kein Respekt! Du hast keinen Respekt vor mir!« Flint zeterte weiter, während Tanis und die anderen abhoben.Die Kyrie hatten Zeit gehabt, für ihre Passagiere Geschirre aus Leder und Seilen herzustellen. Die starken Klauen der Vogelmenschen würden die Geschirre packen und die Menschen so tragen. Das war nicht die anmutigste Art zu fliegen, wie Tanis fand – an den Schultern aufgehängt und mit baumelnden Beinen. Aber es mußte reichen.
Ein Kyrie namens Herz des Sturms trug den Halbelfen. Stundenlang schlugen seine großen Schwingen stetig weiter, während unter ihnen das Land vorbeizog. Manchmal konnte Tanis einen Blick auf die anderen erhaschen, aber zu anderen Zeiten war die Kyrieformation in den Wolkenbänken nicht zu sehen. Tanis war glücklich über den Schatten vom Herz des Sturms, denn wieder brannte die Sonne vom Himmel.
Als sie sich dem Dach der Welt näherten, rückten die Kyrie enger zusammen und flogen tiefer. Wolkenstürmer, der Caramon trug, schlug einen weiten Bogen nach Westen und landete auf einem hohen Plateau, von dem aus man im Osten die Ruinenstadt überblicken konnte, während im Westen der Vulkan Weltendach schlummerte. Die Kyrie legten nur eine kurze Pause ein. Sie warteten, bis Tanis und die anderen ihre Geschirre abgelegt hatten, und brachen dann wieder auf, um die zu holen, die sie zurückgelassen hatten.
Die alte Stadt, die nur wenige Meilen entfernt lag, sah wie eine graue, pockennarbige Mondlandschaft aus. Aus dieser Entfernung konnten die Gefährten keinen Hinweis darauf erkennen, daß dort jemand lebte – nur geborstene Türme und meilenweit von Lava überkrustete Ruinen. Weiter im Norden ragte das Dach der Welt auf, ein dunkler, drohender Wall, das seinen Schatten über die Ruinen von Karthay warf.
Raistlin brach das ehrfürchtige Schweigen der Gruppe, die den Anblick betrachtete. »Yuril, du wartest hier mit Sturm auf die anderen«, entschied der Zauberer. »Caramon, Tanis und ich erkunden die unmittelbare Umgebung, damit wir sicher sind, daß keine Minotauren in der Nähe sind. Vielleicht finden wir auch etwas zum Abendessen.«
Yuril nickte kühl. Während die anderen einen Pfad hinunterliefen, begann sie, an einem Stein ihr Schwert zu wetzen. Sturm, der immer noch nicht ganz bei Kräften war, streckte sich neben ihr auf der Erde aus.
Selbst so weit von der Stadt entfernt lag noch schwarze Asche auf dem Boden. Eine halbe Meile weiter gabelte sich der Pfad. Raistlin rieb sich das Kinn, als er dastand und beide Möglichkeiten in Betracht zog. Beide Wege führten bergab.
»Hier lang«, zeigte Caramon.
»Nein«, sagte Tanis, der auf den anderen Weg zeigte. »Hier lang.«
»Ich gehe da lang«, sagte Raistlin und wählte den Weg, auf den Tanis gewiesen hatte, »und ihr zwei probiert den anderen Pfad aus.«
Sowohl Caramon als auch Tanis waren entgeistert, daß Raistlin allein gehen wollte, aber keinem von ihnen fiel ein passender Einwand ein. Der Magier starrte sie kühl an.
»Nun?« fragte er nach.
»Meinst du – meinst du nicht, wir sollten zusammenbleiben?« stammelte Caramon.
Tanis nickte zustimmend.
»Es wäre besser, beide Richtungen zu überprüfen«, sagte Raistlin.
»Nur…«, sagte Tanis.
»Nur was?« fragte Raistlin mit finsterem Blick.
»Wir sollten nur übereinkommen«, meinte der Halbelf, »daß wir uns in zwei Stunden wieder hier treffen.«
» Einverstanden.«
»Ruf uns, wenn du etwas siehst«, fügte Caramon hinzu.
»Natürlich«, sagte Raistlin gereizt.
Mit gemischten Gefühlen sahen Tanis und Caramon, wie Raistlin allein losging. Dann seufzten sie einträchtig und nahmen den anderen Weg.
Die beiden hatten Glück. Caramon tötete eine fette Schlange, aus der man eine Suppe kochen konnte, und Tanis fand ein paar eßbare Nüsse an einem struppigen Busch, der sich an die Felsen klammerte. Sie fanden keine Spur von Minotauren oder anderen Feinden. Nachdem sie den Pfad eine Stunde lang erkundet hatten, kehrten sie um. Über eine Stunde warteten sie am verabredeten Ort, aber Raistlin tauchte nicht auf. Besorgt kletterten sie zu dem Platz hoch, wo Sturm und Yuril warteten, denn sie hofften, der Magier wäre während ihrer Abwesenheit zurückgekehrt. Aber Raistlin war nicht dort.
Gerade jetzt kamen die restlichen Kyrie mit Flint, Kirsig und den Matrosinnen. Flint war kreideweiß und fluchte unablässig. Kirsig behauptete, sie hätte noch nie etwas Aufregenderes erlebt. Die Matrosinnen nahmen alles gelassen hin. Sie waren erfahrene Reisende, und wenn das Blutmeer sie nicht umgebracht hatte, nun, dann würden sie wohl kaum während eines Flugs mit den Kyrie sterben.
»Habt ihr von oben meinen Bruder Raistlin gesehen?« fragte Caramon Wolkenstürmer besorgt.
»Nein«, sagte Wolkenstürmer stirnrunzelnd. »Ist er denn nicht hier bei euch?«
»Nein«, erwiderte Caramon aufgeregt. Wütend trat der Krieger gegen einen Stein. »Das hätte ich wissen müssen«, murmelte Caramon. Finster hockte er sich auf einen Felsen.
Flint sah Tanis fragend an. Der Halbelf zuckte mit den Schultern. »Caramon hat recht«, sagte Tanis mürrisch. »Wir hätten es wissen müssen.«
Wolkenstürmer ging zu Caramon und setzte sich neben ihn auf den Boden. »Ist dein Bruder in Sicherheit? Ist er allein losgezogen? Was glaubst du?«
»Ich glaube«, sagte Caramon kläglich, »daß mein lieber Bruder sich weggeschlichen hat, um auf eigene Faust etwas gegen diesen Nachtmeister zu unternehmen. Ich hoffe bloß, er bringt sich dabei nicht um.«
»Tja«, trieb Flint sie an, »Raistlin hat gesagt, der große Zauber findet morgen abend statt. Was also wollen wir bis dahin unternehmen?«
Lastendes Schweigen breitete sich aus.
»Ich hatte die Vorstellung«, sagte Tanis leicht beschämt, »daß Raistlin sich etwas ausgedacht hatte. Falls er nicht zurückkommt, müssen wir erraten, was es war – oder uns selbst etwas ausdenken.«
»Er kommt nicht zurück«, sagte Caramon niedergeschlagen.
»Dann müssen wir entsprechend handeln«, bestimmte Wolkenstürmer. Der Kyrie teilte seine Krieger ein. Die Hälfte sollte den Himmel durchstreifen, die Ruinenstadt auskundschaften und nach Möglichkeit mit den anderen Kyrie Kontakt aufnehmen, die die Insel absuchten. Diese sollten sich dringend der Hauptgruppe anschließen. Drei Kyrie sollten zurückbleiben, Wache halten und im Lager helfen.
»Wir müssen bei Einbruch der Nacht zurück sein«, wies Wolkenstürmer Vogelgeist an, der erster Kundschafter war, »oder spätestens bis Sonnenaufgang. Wie wir es auch anstellen, wir müssen morgen angreifen.«
Kirsig, Yuril und die Matrosinnen fingen an, das Lager aufzuschlagen. Flint, Sturm, Tanis und Caramon sahen, wie die anderen sich pflichtbewußt an die Arbeit machten. Dann sahen sie einander betreten an. Die Gefährten versuchten, ihre Angst um Raistlin zu vergessen, und packten mit an.

Kapitel 6

Der Nachtmeister

Einige Meilen vor der Ostspitze von Karthay, in der See bei Spornheim, versammelten sich Hunderte von Orughi. Ihre grauen, muskelbepackten Schultern ragten aus dem Wasser, während ihre Füße mit den Schwimmhäuten unter der Oberfläche paddelten. Ihre aufwärts gerichteten Gesichter zeigten eine hohe Stirn, eine platte Nase, spitze Ohren, Knopfaugen und strähniges, goldenes Haar, das tropfnaß herabhing. Einige trugen Streitäxte und Dolche, während andere ihren Eisenbumerang mit der langen Metallschnur, die Tonkk, dabeihatten. Die Orughi schauten nach Westen. Weil sie amphibische Lebewesen waren, konnten sie tagelang schwimmen, ohne müde zu werden. Jetzt paddelten die Orughi herum, denn sie warteten auf ein Zeichen von Sargonnas.

Einige Meilen weiter und tiefer in der Straße vom Land Ho wartete unter einer Dunstglocke eine mit Ogern bemannte Kriegsflotte darauf, das Bündnis mit den Minotauren zu besiegeln. Es waren nur Dutzende, nicht Hunderte von Schiffen, aber jedes stand für einen Ogerstamm, jedes wurde von einem Häuptling dieser verhaßten Rasse geführt. Auf ein Zeichen würden sie sich in Bewegung setzen. Jetzt schaukelten die Kriegsschiffe fast friedlich im Wasser und warteten auf ihre Stunde.

Die Oger hielten Abstand von ihren im Wasser lebenden Vettern, den Orughi. Sie verachteten die begriffsstutzigen Orughi und würden sich nicht mit den Wasserogern zusammentun, ehe Sargonnas das forderte.

Im Moment betrachtete Oolong vom Xak-Clan, der zum Flottenkommandanten der Oger ernannt worden war, die ferne Orughihorde durch sein Fernrohr. Oolong Xak seufzte verstimmt, kratzte seinen verlausten Kopf und fuhr mit schmierigen Fingern durch sein langes, plattgedrücktes Haar. Jeder Oger, der etwas auf sich hielt, würde sich schämen, sich in einem Krieg mit den Orughi zu verbünden, aber die Minotauren hatten die Oger schon fast dazu überredet. Mit Versprechungen und Geschenken hatten sie sie geködert. Aber Oolong Xak war nicht der einzige unter ihnen, dessen Zweifel erst durch den letzten Beweis von Sargonnas persönlich ausgeräumt werden würden.

Viele Meilen entfernt, im Palast der Stadt Lacynos auf der Insel Mithas, erwarteten die acht Minotauren des Obersten Kreises und ihr König den großen Zauber mit unterschiedlich großer Begeisterung, Ungeduld und Skepsis.

Der König der Minotauren wünschte sich die Eroberung Ansalons sehnlichst, weil er seine Untertanen mit der Größe und Reichweite seiner Macht beeindrucken wollte. Der König hatte Truppen gestellt und viel Geld für die umsichtigen Pläne des Nachtmeisters gegeben. Der Erfolg würde seiner Weisheit zugeschrieben werden.

Sein einziger, überzeugter Mitstreiter war Atra Cura, der blutrünstige Abgeordnete der minotaurischen Piraten. Für Atra Cura und seine bunte Gefolgschaft war jeder Krieg ein guter Krieg, denn in dem Chaos, das unweigerlich auf den Schiffsrouten des Blutmeers ausbrechen würde, war für sie viel zu holen.

Dutzende von Kriegsgaleeren standen im Hafen von Lacynos bereit, und viele Dutzend weitere wurden in den Buchten und Häfen von Mithas gezimmert. Akz, der Anführer der minotaurischen Marine, hatte seine Sklaven gnadenlos angetrieben, um die Termine einzuhalten. Allerdings war er geteilter Meinung über die großen Pläne des Nachtmeisters und mehr oder weniger unentschieden. Akz war kein besonders religiöser Minotaurus, und er war lange genug Mitglied des Obersten Kreises, um zu wissen, daß Kriegspläne kamen und gingen.

Immerhin hatte bisher noch nie jemand den Versuch gewagt, Sargonnas in die Welt zu rufen. Dazu brauchte man Kühnheit und Ehrgeiz, gab Akz zu. Aber falls der Spruch sein Ziel nicht erreichte – na und? Die Galeeren konnten für andere, zukünftige Unternehmungen genutzt werden. Akz hatte es nicht eilig, seine Schiffe und seine geschulten Leute in einem unübersehbaren, langwierigen Krieg zu opfern, wenn nicht klar war, daß die Götter persönlich ihn guthießen. Deshalb würde Akz keinen Finger krumm machen, solange Sargonnas ihn nicht persönlich dazu aufforderte. Obwohl Inultus, der Befehlshaber über das minotaurische Heer, Akz haßte, stimmten sie in Kriegsfragen stets überein. Auch Inultus würde mit Freuden seine Legionen gut gedrillter Soldaten hergeben… wenn Sargonnas dies verfügte. Andernfalls sah Inultus keinen Grund, einen in der Geschichte einmaligen und höchst geschmacklosen Pakt mit den Ogern und den Orughi einzugehen, um den in den Annalen der Minotauren bedeutendsten Angriff auf den Kontinent Ansalon zu entfesseln.

Zwei weitere Mitglieder des Obersten Kreises waren zweifellos dem König ergeben und stützten seine Politik, obwohl sie persönliche Vorbehalte gegen Bündnisse mit den Ogern und Orughi hatten. Victri, der gewählte Vertreter der ländlichen Minotauren, würde bereitwillig in jedem Krieg kämpfen, den der König befahl, doch bei diesem hatte er Bedenken und hoffte insgeheim, daß der Nachtmeister scheitern würde. Der große Gelehrte und Historiker Juvabit stimmte gleichfalls mit dem König, den er durch verwandtschaftliche Beziehungen seit seiner Jugend kannte. Aber der verstandesbetonte Juvabit mißtraute dem Mystiker, der der Nachtmeister war, und seinem fanatischen Kult. Deshalb wünschte sich auch Juvabit heimlich, daß der Nachtmeister erfolglos bleiben würde.

Groppis, der Schatzmeister, hatte nur die Meinung, daß er wünschte, die ganze Sache hätte bis jetzt nicht so viel gekostet – fast so sehr, wie er wünschte, der vorgesehene Feldzug zur Eroberung Ansalons wäre niedriger angesetzt.

Damit blieben Kharis-O, die einzige Frau, Anführerin der Minotaurennomaden, und Bartill, das Oberhaupt der Gilde der Architekten und Baumeister.

An ihrer Sicht bestand kein Zweifel. Beide waren ausdrücklich gegen das Bündnis, gegen den geplanten Krieg und gegen die größenwahnsinnigen Ideen des Nachtmeisters. Bartill, weil er sich immer um seine eigenen Projekte sorgte, für die er Geld brauchte; Kharis-O, weil sie abgesonderte Clans vertrat und grundsätzlich immer gegen alles war. Sie stimmte regelmäßig gegen die Mehrheit, und grundsätzlich unterlag sie.

Wie Bartill war Kharis-O jedoch bereit, jederzeit in den Krieg zu ziehen. Ein Minotaurus war treu bis zum Tod, und die Ehre gebot, daß beide im Einklang mit allen Entscheidungen des Obersten Kreises handelten.

Die acht Mitglieder des Obersten Kreises waren vom König zusammengerufen worden, um die Ankunft von Sargonnas zu erleben.

Die Acht warteten im größten Saal des Palastes. Einige trommelten mit den Fingern auf den großen Eichentisch. Andere liefen auf und ab und schnaubten vor Ärger, wenn sie mit den Schultern aneinanderstießen. Wieder andere hatten ihre gehörnten Köpfe auf den Eichentisch gelegt und schnarchten durchdringend.

Morgen abend würde es soweit sein.Das Allerheiligste des Nachtmeisters war unglaublich faszinierend, mußte Tolpan Barfuß gestehen.

Das trockene, aufgerissene Land war von brüchigen Mauern übersät. Hier und dort ein paar Säulen – mehr war nicht geblieben von den Tempeln der sagenhaften Stadt, die sich in den Himmel gereckt hatte. Überall lagen Steine herum. Eine oder zwei geborstene Statuen standen im Geröll.

Risse von Erdbeben, die die einstmals bedeutende Stadt erschüttert hatten, durchzogen den Boden im Zickzack und trugen zu dem unheimlichen Eindruck bei. Graue und schwarze Asche, die teilweise zu einer brüchigen Kruste verhärtet war, bedeckte alles.

Der Nachtmeister beobachtete Tolpan, als der Kender einen Teil der toten Stadt durchstreifte und dabei hin und wieder ein ascheüberzogenes Ding aufsammelte und in seinen Rucksack stopfte. Tolpan drehte sich um, bemerkte den Blick des Nachtmeisters und winkte.

»Ist der Kender nicht… interessant?« fragte Fesz, dem kein besseres Wort eingefallen war. Der Schamane stand neben dem Nachtmeister. »Sicher findet auch Ihr, daß es eine gute Idee war, ihn herzubringen. Tolpan hat mir bereitwillig alles über seine ehemaligen Freunde erzählt, und er hat darum gebettelt, mich begleiten zu dürfen.«

»Bist du sicher, daß er böse ist?« knurrte der Nachtmeister, der den Kopf schief legte, um den näherkommenden Kender mit seinen großen Stieraugen zu mustern.

»Er trinkt jeden Tag die doppelte Dosis des Tranks. Und er hat mir keinen Anlaß gegeben, an ihm zu zweifeln.«
»Was ist das für ein komischer Holzstab über seinem Rücken?«
»Das heißt Hupak, Herr«, erwiderte Fesz. »Der Kender sagt, es ist eine unschlagbare Waffe.« Der Minotaurenschamane brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Es dürfte nichts schaden, seine Kindereien zu dulden.«
Der Nachtmeister warf seinem Jünger einen Seitenblick zu. Fesz würde ihm einmal nachfolgen. In mancher Hinsicht war er der gerissenste und vertrauenswürdigste Schüler des Nachtmeisters, aber in anderer Hinsicht war Fesz, wie der Nachtmeister wußte, der Argloseste, Vertrauensseligste aller Minotauren.
»Was ist mit dem Menschen, Sturm?«
»Ein Zwischenfall, der allen Minotauren zur Schande gereicht«, stimmte Fesz zu, »aber nicht Tolpan anzulasten. Sturm hatte den Zweikampf schon fast verloren, und Tolpan hat so laut gebrüllt wie wir alle. Kein Minotaurus war wütender über die Rettung als Tolpan. Er bestand darauf, daß zahlreiche Wachen zum Tode verurteilt werden müßten, weil sie es zugelassen hatten, daß der Solamnier entkam! Er hat sogar darum gebeten, einen persönlich hinrichten zu dürfen. Das konnten wir wegen der Staatsgesetze natürlich nicht erlauben, aber Tatsache ist, daß er gefragt hat.«
Der Nachtmeister schien diese Mitteilung zu verarbeiten. Dann drehte er sich achselzuckend zu seinem Zimmer ohne Wände um, das einst der Eingang zur großen Bibliothek gewesen war. Während er sich mit tierhafter Geschmeidigkeit bewegte, raschelten die Federn im Wind, und die Glöckchen um seine ausladenden Schultern und Hörner bimmelten.
»Hallihallo, Nachtmeister!« zirpte Tolpan ihm nach.
Der Nachtmeister drehte sich nicht um, um den Gruß des Kenders zu erwidern. Der Oberschamane setzte sich schwerfällig an seinen langen Tisch, während die anderen beiden Angehörigen der Hohen Drei ihm hurtig Zauberbücher und Zutaten brachten. Diese baute er vor sich auf, prüfte und verglich sie und schrieb dabei mit einer Feder etwas auf.
»Etwas unnahbar, hm?« meinte Tolpan.
»Es ist bald soweit«, grollte Fesz vielsagend. »Der Nachtmeister muß seine gesamte Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Aufgabe richten. Ich muß zu ihm, Tolpan, und ihm bei seinen Vorbereitungen helfen.«
Fesz drehte sich um und ging zu dem langen Tisch, wo er sich zu den anderen zwei hohen Akolythen des Nachtmeisters begab. Als der Nachtmeister sich über seine Berechnungen beugte, standen die Hohen Drei hinter ihm. Sie achteten darauf, ihn nicht zu unterbrechen, ihm jedoch sofort jeden Wunsch zu erfüllen, wenn er eine Anweisung brummte.
Tolpan zuckte mit den Achseln und hüpfte zu dem Holzverschlag, in dem Kitiara gefangen saß. Sie sah ein wenig abgemagert und ungebadet aus, dachte er bei sich. Er bemerkte, daß Dogz, der in der Nähe auf einer Decke lag, ihn genau beobachtete.
»Also, Kit«, sagte Tolpan gutgelaunt, »wie bist du denn so schnell nach Karthay gekommen? Ich bin beeindruckt. Ich wette, es war etwas Magisches, hm?«
Kitiara sah ihn mit steinernem Blick an.
»Gut, dann verrate mir eines: Wie kommt es, daß sie dich so leicht erwischt haben? Ich dachte, Caramon wäre der einzige blöde Majere.«
Sie funkelte ihn an und stieß jedes Wort einzeln heraus: »Wie oft muß ich dir das eigentlich noch sagen? Ich bin keine Majere!«
Tolpan zuckte mit den Achseln. »Na gut, dann eben eine halbe Majere. Wahrscheinlich die Hälfte, die gefangen wurde.« Er kicherte über seinen eigenen Witz.
»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, hier wimmelt es nur so von Minotauren. Woher sollte ich das wissen?«
Tolpan schnitt ihr das Wort ab. »He, ich hab’ gehört, daß du geopfert werden sollst, wenn es soweit ist – morgen abend, hat Fesz gesagt. Wenn ich Raistlin also noch irgend etwas von dir ausrichten soll, falls ich ihn je wiedersehe, dann kannst du es mir jetzt sagen.«
Mit aller verbliebenen Kraft warf sich Kit vergeblich gegen das Käfiggitter. Die Latten erzitterten, und der Kender wich auf eine sichere Entfernung zurück. Kit drückte ihr Gesicht an die Latten und fauchte Tolpan an.
»Ich weiß nicht, was du Böses im Schilde führst, Tolpan«, zischte Kit, »aber wenn ich je wieder hier rauskomme, dann lege ich meine Hände um deinen kleinen Verräterhals und bring’ dich um!«
»Ach, tut mir leid, daß du so denkst«, sagte Tolpan in verletztem Ton, »weil wir doch so gute, alte Freunde sind. Außerdem«, fügte er frech hinzu, »frage ich mich, ob du nicht ein kleines bißchen eifersüchtig bist. Gib’s zu, du hättest nichts dagegen, selbst mal ein Weilchen böse zu sein…«
Kit durchbohrte ihn mit ihren Blicken.
Tolpan trat grinsend zu Dogz zurück. Der Kender drehte sich um und sah den Minotaurus an, der ihn bedauernd ansah.
»Und was ist mit dir los?« fragte Tolpan, der sich neben dem Minotaurus, der ihn bewachen sollte, auf den Boden hockte.
»Nichts, Freund Tolpan«, sagte Dogz, der etwas trockene Asche durch seine Finger rieseln ließ. Er mied Tolpans Blick.
»Nichts, Freund Tolpan«, ahmte Tolpan ihn mit singender Stimme nach. Er sah sich um. Seiner Schätzung nach umstand etwa ein Dutzend Minotauren das Lager des Nachtmeisters. Sie trugen alle möglichen Waffen – Doppeläxte, beschlagene Keulen, Wurfspeere und Geißeln. Dutzende weitere durchstreiften weiter draußen das Gelände.
Im Gegensatz dazu war keiner der Hohen Drei bewaffnet, auch der Nachtmeister nicht. Nur Dogz trug Breitschwert, Katar und Kettenflegel.
Dogz senkte seine Stimme zu einem leisen Knurren. »Manchmal wundere ich mich über dich, Freund Tolpan«, sagte der Minotaurus.
»Was wunderst du dich?«
»Ob du wirklich mit all diesen Leuten befreundet bist – erst Sturm. Und jetzt diese Frau, Kitiara. So wie du sie behandelst.«
Tolpan klopfte Dogz auf die Schulter. »Tja, ich bin doch jetzt ein böser Kender, oder?« erinnerte er Dogz. »Ich gebe mir bloß größte Mühe, mich entsprechend zu verhalten. Klar, sie waren mal meine Freunde. Aber damals war ich gut – na ja, ziemlich gut – jedenfalls meistens. Jetzt bin ich böse. Und wenn ich sie verrate, mache ich es als Böser doch ganz richtig. Du solltest stolz auf mich sein.«
»Ja«, sagte Dogz zögernd.
»Ich sehe das so«, führte Tolpan aus, der sich auf dem Rücken auf die aschebedeckte Erde legte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. »Inzwischen bin ich so eine Art Ehrenmitglied der Minotauren. Hast du mir nicht erzählt, daß die Macht das Recht bestimmt und daß die Minotaurenrasse eines Tages die Welt erobern will und so?«
»Ja«, erwiderte Dogz wieder.
»Nun, ich beweise nur meine Treue gegenüber dem minotaurischen Volk. Wenn du die Wahl hast, dein Volk zu verraten oder deine Freunde – hups, ich meine, deine ehemaligen Freunde –, was würdest du tun?«
Der Minotaurus senkte seine riesigen Hörner. Als er wieder aufsah, waren seine Augen groß und traurig. Sein fauliger Atem überwältigte Tolpan regelrecht. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich meine Freunde verraten«, fügte er langsam, offensichtlich verwirrt hinzu.
»Freust du dich nicht auf den Zeitpunkt, wo Sargonnas die Welt betritt?«
Dogz sah nach drüben, wo der Nachtmeister saß und seine Zauberbücher las. Hinter ihm standen die Hohen Drei.
»Doch«, sagte Dogz.
»Na, siehst du? Ich auch«, sagte Tolpan triumphierend. Er klopfte Dogz auf die Schulter. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Dogz«, fügte der Kender hinzu. »Davon kriegst du Runzeln auf der Schnauze.« Tolpan gähnte übertrieben. »Jetzt werde ich etwas ausruhen. Das brauche ich dringend.«
Der Kender schloß die Augen. Einen Moment später machte er eins wieder auf, um Dogz’ Reaktion zu beobachten.
Dogz hatte sich aufgesetzt und putzte mit sinnendem Blick seine Waffen. Wie Tolpan zogen die Minotauren gewöhnlich klare Grenzen zwischen Freunden und Feinden – den Kendern zum Beispiel. Dogz hatte Kender immer gehaßt, obwohl er noch nie einen gesehen hatte. Als er Tolpan auf der Venora zum ersten Mal erblickt hatte, hatte er ihn nicht einmal berühren wollen. Tolpan war für ihn schlimmer als ein Feind gewesen, eines der niedersten Wesen der Schöpfung.
Aber nachdem er Tolpan gefangengenommen und eine Menge Zeit mit ihm verbracht hatte, hatte Dogz den eigenartigen kleinen Wicht immer lieber gemocht. Er hatte seine Tapferkeit unter der Folter und seinen Sinn für Humor in lebensgefährlichen Situationen bewundert. Durch die Gespräche mit Tolpan hatte er viel über Solace und die Freunde des Kenders erfahren – besonders den knurrigen Zwerg Flint Feuerschmied und Tolpans Onkel Fallenspringer –, und er hatte sie allmählich auch als seine Freunde angesehen.
Dogz hatte reichlich Verwandte, aber er hatte wenig Freunde. Freundschaft war für ihn etwas ganz Neues, und das hatte Tolpan ihn gelehrt.
Dann hatte Fesz Tolpan böse gemacht, und der Kender hatte sich verändert. Er wurde fordernd. Es machte weniger Spaß, bei ihm zu sein. Vielleicht würde der böse Tolpan dabei helfen, Sargonnas in die Welt zu bringen, aber Dogz war sich nicht sicher, ob ihm der alte Kender nicht besser gefallen hatte.
Dogz seufzte. Er beugte sich vor, um etwas Schmutz von seinem Katar zu kratzen, einer langen Klinge an einem Hförmigen Griff. Er ölte und polierte seinen ungewöhnlichen Dolch, während er lange angestrengt über das Thema Freundschaft nachdachte.
Zwanzig Schritt weiter lief Kitiara in ihrem Holzkäfig rastlos auf und ab. Ihren wachsamen Augen entging nichts. Sie spitzte die Ohren, um Fetzen der Unterhaltungen um sie herum aufzufangen, wenn Worte zu ihr herüberdrangen. Kit war nicht gerade begeistert von Kendern, aber ihr hatte Tolpan, so wie er früher gewesen war, jedenfalls besser gefallen.
Der Nachtmeister hatte Sturm erwähnt, also war der Solamnier anscheinend noch am Leben. Und kürzlich hatte Kit ihn auch von Caramon und Raistlin reden hören. Sie waren unzweifelhaft alle irgendwo in der Nähe, und der Nachtmeister befürchtete, sie könnten sich einmischen.
Dieser Gedanke zauberte ein schiefes Lächeln auf Kitiaras Gesicht.
Die Sonne stand am Zenit. Das Land wurde unter ihrer Hitze gebacken, und die Erde brach auf. Den dickhäutigen Minotauren schien das Klima wenig auszumachen. Dogz säuberte und ölte sorgfältig seine Waffen. Die Minotaurenwachen am Rand des Lagers liefen auf ihren festgelegten Runden regelmäßig durch Kitiaras Blickfeld.
Der Nachtmeister saß an seinem langen Tisch, wo er die Ingredienzien für den gewaltigen Zauberspruch morgen abend überprüfte.
Einer der wenigen Vorteile von Kits engem Käfig war, daß die Holzlatten über ihrem Kopf das schlimmste Sonnenlicht abhielten. Ihr Blick glitt zu dem verräterischen Kender. Er hatte die Augen geschlossen. Tolpan Barfuß schien friedlich zu schlafen.Während der Nachtmeister über seinem Spruch saß, dachte er den Augenblick seines Triumphs vor fünf Tagen zurück – einen Tag, bevor sie die Menschenfrau gefangen hatten –, als der Zeitpunkt für den Spruch bestätigt wurde und Sargonnas sich dem Minotaurus gezeigt hatte.
Er war zur Mittagszeit oben auf dem Bergplateau zwischen den farbigen Glasprismen, den Kristallen und den silbernen Spiegelscherben gewesen. Aus ihnen las er die Bewegung von Sonne und Sternen und berechnete ihre Stellung am Himmel in Beziehung zu den Monden. Er war zu dem Schluß gekommen, daß alle äußeren Bedingungen stimmten.
Plötzlich sah er eine Welle in einer der spiegelnden Oberflächen. Als er sich umschaute, sah er in den glänzenden, geschliffenen Glasstücken Flackern und Wellenbewegungen. Unter dem staunenden Blick des Nachtmeisters nahm das Flackern und Wabern Gestalt an, bis jedes Glasstück ein Stück des Gesichts von Sargonnas zeigte.
Ein schreckliches, furchteinflößendes, bedrohliches Gesicht hinter einem roten Nebel starrte den Nachtmeister aus schwarzglühenden Augen an.
Dann war das Angesicht von Sargonnas in den Glasstücken plötzlich verschwunden.
Sein Blick wurde zum Himmel gezogen, wo der Nachtmeister einen großen roten Kondor mit schwarzen Federn wahrnahm. Seine ausgebreiteten Flügel schienen den Himmel zu verdecken. Der Kopf war seltsam klein und nackt. Feuer umflackerte seine Flügelspitzen.
Sei gegrüßt, Nachtmeister, Diener des Bösen.
Der rote Kondor schien mit seidenweicher, schmeichelnder Stimme im Kopf des Nachtmeisters zu sprechen. Flammenzungen schossen aus seinem Schnabel.
Sei gegrüßt, Sargonnas, Gott der Finsteren Rache, Genosse der Takhisis.
Der Nachtmeister hatte sich noch nie so mächtig – oder so armselig – gefühlt wie damals, als Sargonnas zum ersten Mal zu ihm sprach.
Dein Plan ist mir bekannt. Seit Jahrhunderten warte ich auf einen mit deiner Kühnheit, deinem Mut. Seit Jahrhunderten brenne ich darauf, die Welt der Materie zu betreten und meine Kräfte zu entfesseln. Seit Jahrhunderten werde ich enttäuscht. Hast du jede Vorkehrung für den Spruch getroffen? Bist du zur rechten Zeit bereit?
Ja, Herr.
Bist du auf der Hut vor Täuschungen? Verrat?
Ja, Herr.
Bist du würdig?
Ich glaube schon, Herr.
Enttäusche mich nicht. Wage es nicht, mich zu enttäuschen, oder du erfährst, daß meine Rache dich überall erreicht.

Damit war der rote Kondor schimmernd mit der Sonne verschmolzen und hatte sich aufgelöst, als wäre er nie gewesen.
Der Nachtmeister war auf die Knie gesunken und hatte benommen den Kopf abgewendet. Das Gespräch mit Sargonnas hatte nur in seinem Bewußtsein stattgefunden. Als er sich umsah, merkte er, daß die Minotaurenwachen immer noch ungerührt an ihren Plätzen standen. Sie hatten Sargonnas weder gehört noch gesehen.
Dasselbe galt für die zwei Mitglieder der Hohen Drei, die nichts Ungewöhnliches bemerkt hatten – bis jetzt.
Einer von ihnen war zum Nachtmeister hochgelaufen gekommen. »Geht es Euch gut, Exzellenz?« hatte der junge, starke Stiermann besorgt gefragt.
Der Nachtmeister hatte nicht sofort geantwortet. Der junge Schamane hatte sich bemüht, dem Nachtmeister beim Aufstehen zu helfen.
»Geht es Euch gut, Exzellenz?«
Diesmal gehörte die Stimme Fesz. Der Schamane trat hinter dem Nachtmeister vor und tippte ihm auf die Schulter.
Als der Nachtmeister abrupt in die Gegenwart zurückkam, sah er sich einem Offizier der minotaurischen Truppen gegenüber. Der Offizier stand vor dem Nachtmeister, der gedankenverloren an seinem großen Tisch mitten in der toten Stadt gesessen hatte. Der Nachtmeister zwinkerte, betrachtete den gehörnten Soldaten vor sich und knurrte Fesz an: »Ja, natürlich geht es mir gut.«
»Ich bringe Neuigkeiten«, sagte der minotaurische Soldat. »Der Gruppe, die an der Südküste der Insel gelandet ist, hat sich ein Schwarm Kyrie angeschlossen.«
»Kyrie«, grunzte der Nachtmeister. »Wie viele?«
»Mindestens sechs, vielleicht sogar fünfzehn«, erwiderte der Soldat und fügte gleich hinzu: »Wahrscheinlich alle Angehörigen der Kriegergemeinschaft. Aber damit werden wir leicht fertig. Wir würden mit zehnmal so vielen fertigwerden.«
»Ja.«
Der Minotaurensoldat zögerte.
»Ja?«
»Sie laufen in diese Richtung. Sie scheinen genau zu wissen, wo sie hinwollen.«
»Warum laufen sie? Warum fliegen die Kyrie sie nicht hierher?«
»Das wundert uns auch, Exzellenz«, erwiderte der Soldat. »Vielleicht sind sie so viele, daß die Kyrie nicht alle tragen können, oder die Kyrie mußten sich nach ihrem Anflug von den Bergen von Mithas ausruhen.«
»Pah!« schnaubte der Nachtmeister so heftig, daß der Minotaurensoldat einen Schritt zurückwich. »Die Kyrie ermüden nicht so leicht. Es muß einen anderen Grund geben, den wir bald erfahren werden.«
Der Minotaurensoldat schien weniger gleichmütig zu sein. »Ja«, erwiderte der zurechtgewiesene Soldat. »Wir schätzen, daß sie morgen mittag hier sind.«
Zur Überraschung des Soldaten schien der Nachtmeister sich an dieser Nachricht nicht im mindesten zu stören. Im Gegenteil, er wirkte erfrischt und machte sich wieder an die Arbeit. Eifrig schrieb er an die Ränder des Buches, das er gelesen hatte.
Der Nachtmeister schaute auf. Diesmal wirkte er doch irritiert. »Ja? Ist noch etwas?«
»N-nein, Exzellenz«, stammelte der Soldat, der sich umdrehte, um zu verschwinden.
Gut, sagte der Nachtmeister zu sich. Die Menschen, die angeblich von einem Zwerg und einem Elfen begleitet wurden, waren unterwegs, und die Kyrie hatten sich ihnen angeschlossen. Das kam allerdings unerwartet. Er würde seinen Plan etwas ändern müssen, aber dafür war noch genug Zeit.
Hinter ihm nickten Fesz und die anderen Mitglieder der Hohen Drei einander zu. Sie vertrauten der Weisheit des Nachtmeisters.
Hinter ihnen schlief Tolpan… mit einem offenen Auge.
Hinter ihm hockte Kitiara lauschend in ihrem Käfig.
Der Tag wurde zur Nacht.
Tolpan schreckte aus dem Schlaf. Er stellte fest, daß er eingedöst war. Es waren Stunden vergangen.
Das Heiligtum des Nachtmeisters brodelte vor Unruhe. Fesz und die anderen beiden Minotaurenschamanen waren dabei, Gegenstände in kleinen Kisten und Rucksäcken zu verstauen. Ein paar Minotaurenwachen waren näher gekommen und schienen Befehle zu erwarten. Der Nachtmeister, auf dessen langem Tisch keine Zauberbücher und Zutaten mehr lagen, stand in der Mitte des Lagers und erteilte Anweisungen.
Er trug seine volle Zeremonialkleidung. Büschelweise strömten Federn und Glöckchen von seinem gehörnten Kopf, und um die bulligen Schultern hatte er einen dunkelroten Umhang geworfen.
»He, was ist denn los?« fragte Tolpan gutgelaunt, als er zu Dogz schlenderte, der eilig seine eigenen Sachen einpackte.
Dogz drehte sich zu dem Kender um. »Der Nachtmeister sagt, es ist bald soweit«, meinte er feierlich. »Wir ziehen über Nacht in ein neues Lager um, damit uns die Menschen und Kyrie nicht finden, die auf dem Marsch hierher sind.«
Tolpan dachte über diese Nachricht nach. »Gute Idee«, sagte der Kender begeistert.
Als Fesz Tolpan sah, eilte er herbei. Die Augen des Schamanen glitzerten vor Aufregung. »Der Nachtmeister hat erlaubt, daß du mitkommen darfst«, sagte Fesz. »Du weißt gar nicht, was für ein seltenes Privileg das für einen deiner Rasse darstellt. Eigentlich sind die einzigen Anwesenden bei diesem Spruch der Nachtmeister, die Hohen Drei und das Opfer. Aber er meint, daß ein Kender als Vertreter einer Rasse, die für ihr Glück bekannt ist – besonders ein böser –, Sargonnas nur gefallen kann.«
Tolpans Blick schoß zu Kitiara. Die Kriegerin stand stocksteif mit großen Augen in ihrem Käfig. Ein Ohr hatte sie zum Lauschen an die Holzlatten gelegt.
»Ich bin geehrt«, sagte Tolpan, der sich vor Stolz aufblies. »Mehr als geehrt, ehrlich. Ich bin einfach platt. Ganz gleich, welche kleine Rolle man mir bei dem großen Schauspiel zugedacht hat, ich bin wirklich dankbar. Eigentlich sollte ich dem Nachtmeister persönlich meinen herzlichsten Dank aussprechen.«
Der Kender war bereits unterwegs zum Nachtmeister, doch Fesz packte ihn am Kragen und hielt ihn zurück. »Ich glaube nicht, daß es dem Nachtmeister jetzt passen würde, wo er doch so viele andere, wichtige Dinge im Kopf hat«, meinte Fesz mit gesenkter Stimme.
»Oh«, sagte Tolpan. »Das mag sein.«
Der Kender sah zu, wie zwei Wachen zu dem Holzverschlag gingen. Sie zogen die um sich tretende, schreiende Kitiara Uth Matar heraus und legten ihr dann Beinketten an. Die Arme banden sie ihr mit einem Strick auf dem Rücken fest.
»Falls ihr glaubt, ich lasse mich irgendeinem blöden Gott der Finsternis opfern – oder daß ich gar zulasse, daß ein verdammter Kender mitkommt und sich darüber amüsiert – dann werdet ihr ein böses Erw-«
Die Minotaurenwachen stopften Kitiara mitten im Satz einen Knebel in den Mund. Tolpan bedauerte das, denn er war neugierig, wie um alles in der Welt Kit auf die Idee kam, daß sie irgend jemand außer Sargonnas böse erwachen lassen könnte.
Der Nachtmeister hatte Kitiaras Ausbruch gehört. Sein Rücken spannte sich. Jetzt fuhr er wütend herum und stapfte auf die Kriegerin aus Solace zu.
Zornig spuckte er Kitiara ins Gesicht. Er hatte seine übliche Beherrschung verloren. »Du Tropfen Schleim! Du bist es nicht wert, den Namen des Herrn der Finsteren Rache zu erwähnen! Du bist es nicht wert, in derselben Welt wie er zu leben! Bald wirst du sterben, und im Sterben wirst du mit Sargonnas den Platz tauschen. Du wirst in seine Welt verbannt, während er durch das Portal in unsere Ebene eindringt!«
Fesz, Dogz und die anderen starrten ihn an. Die Inbrunst des Nachtmeisters erschreckte sie. Zögernd legten die Minotaurenwachen Kitiara eine Augenbinde an. Die Kriegerin zappelte vergeblich.
Tolpan wollte gerade etwas Unpassendes sagen, als eine neue, unerwartete Stimme aus der Finsternis erklang.
»Ich denke, der Spruch würde besser wirken, wenn euer Opfer weniger unwillig zu Sargonnas’ Vergnügen sterben würde!«
Raistlin! Das war Raistlins Stimme! Tolpan würde sie überall erkennen, selbst hier an diesem abgelegenen Ort. Kit hörte auf, sich zu wehren. Also erkannte auch sie die Stimme ihres Halbbruders.
Aber wo war er? Raistlin war nirgends zu sehen.
Die Wachen umklammerten nervös ihre Waffen. Dogz zog sein Breitschwert. Besorgt warf er Blicke nach allen Seiten. Die Hohen Drei stellten sich zusammen, um notfalls einen Zauberspruch zu sagen.
Beim Klang der Stimme war der Nachtmeister herumgefahren, sah aber nichts. Tolpan konnte die riesigen Kuhaugen des Oberschamanen sehen, und zu seiner Überraschung erkannte er darin weder Furcht noch Unsicherheit, sondern eine gewisse Erleichterung. Es war, als hätte der Nachtmeister dies erwartet.
»Bist du es?« grollte der Nachtmeister. »Bist du der, den sie Raistlin nennen? Der Halbbruder dieser widerspenstigen Frau?«
»Ich bin Raistlin.«
Tolpan sah sich nach allen Seiten um, konnte sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, wo Raistlin sich verbarg.
»Dann zeige dich.«
Es folgte ein leises, trockenes Lachen, danach wieder die scheinbar körperlose Stimme. »Lieber nicht.«
Der Nachtmeister schwieg. Tolpan wollte gerade etwas sagen, als der Nachtmeister seidenweich, fast schnurrend brummte: »Ich verstehe.« Er machte eine umfassende Geste. »Du hast dich unsichtbar gemacht, um den Ring meiner Soldaten zu durchdringen. Bravo! Ich hatte mich schon gefragt, wie du das anstellen willst. Sind deine Gefährten so weit zurück?«
Raistlin zögerte einen Augenblick. »Ich komme allein.«
»Gut.«
»Laß meine Schwester gehen. Ich werde ihren Platz einnehmen.«
Tolpan hörte einen erstickten Schrei und drehte sich zu Kitiara um, die sich aus dem Griff der Wachen loszureißen versuchte. Die Minotauren schienen sich angesichts dieser Stimme, die offenbar zu keinem Körper gehörte, unwohl zu fühlen.
»Phantastische Idee!« rief Tolpan. »Hallo, Raistlin. Ich bin’s, Tolpan! Hast du die magische Flaschenpost bekommen?«
»Ja«, sagte der Nachtmeister, der Tolpan über die Schulter stirnrunzelnd ansah. »Das ist eine phantastische Idee. Aber woher weiß ich, daß du dein Wort hältst?«
»Woher weiß ich, daß du deines hältst?«
Der Nachtmeister überlegte. Fesz kam herbei und flüsterte ihm etwas zu. »Ah«, sagte der Nachtmeister. »Gestatte, daß ich dir Fesz, meinen ältesten Jünger, vorstelle, den höchsten Schamanen nach mir. Geh zu ihm, damit er dir die Hände bindet. Wenn du das getan hast«, er winkte dem Minotaurus von Lacynos, »wird Dogz Kitiara an den Rand des Lagers bringen und sie freilassen. Du hast mein Wort.«
Dogz ergriff die Seile, die Kitiara festhielten. Die zwei Wachen, die glücklich wirkten, daß sie von ihrer Aufgabe erlöst wurden, traten beiseite.
»Einverstanden«, war Raistlins Stimme zu hören, und bei diesen Worten wurde Raistlins schlanke Gestalt neben Fesz sichtbar. Der Schamane griff grob nach ihm und schlang ein Seil um seine Hände, die er hinter seinem Rücken zusammenschnürte.
Der junge Magier, der von der Anstrengung des langen Unsichtbarkeitszaubers geschwächt war, mit dessen Hilfe er an den Minotaurenwachen vorbeigekommen war, die die zerstörte Stadt bewachten, fiel auf die Knie.
Tolpan hüpfte zu ihm hin.
Der Nachtmeister nickte Dogz zu, der Kitiara hochhob, sie über seine Schultern legte und über den freien Platz ging. Bald waren die beiden in der Dunkelheit verschwunden.
»Raistlin!« schrie Tolpan. »Ich wußte, du würdest kommen – jedenfalls wenn du die magische Flaschenpost bekommen hast. Du hast sie erhalten, nicht wahr?«
Eine Hand packte Tolpans Schulter und stieß den Kender unsanft beiseite. Der Nachtmeister trat an seine Stelle, beugte sich zu dem jungen Zauberer herunter und blies Raistlin seinen ranzigen Atem ins Gesicht.
»Das ist also der mächtige Raistlin«, knurrte der Nachtmeister.
»Dieser Mensch ist nichts neben Euch, Nachtmeister«, sagte Fesz verächtlich. »Er kämpft nicht einmal um sein Leben!«
»Er bleibt gefesselt!« befahl der Nachtmeister. »Wenn er etwas essen oder trinken will, bekommt er es. Aber unterschätzt ihn nicht. Bewacht ihn sorgfältig. Und jetzt laßt uns schnell aufbrechen! Ich will kein Risiko eingehen, und vielleicht hat er nicht die Wahrheit gesagt, als er behauptet hat, er wäre allein gekommen!«
Die Minotauren gehorchten eilig.
Tolpan stand langsam vom Boden auf. Er wußte, jede Silbe des Nachtmeisters war nahezu heilig, aber der böse Tolpan fand, daß der mächtige Schamane dennoch ein paar Manieren zu lernen hatte. Während er geknickt seine Schulter massierte, dachte der Kender an seinen guten, alten Hupak…Dogz war noch nicht sehr weit, als einer der Minotaurensoldaten ihm hinterhergerannt kam.
Sie waren in einem anderen Teil der zerstörten Stadt, an den Ruinen eines Säulengangs, den Überresten einer Mauer und eingestürzten Balken.
»Vom Nachtmeister«, sagte der Soldat, der Dogz eine Nachricht auf Pergament reichte.
Töte die Menschenfrau, lautete die Botschaft. Es war die unverkennbare Schrift des Nachtmeisters.
Dogz zögerte. Das Menschenbündel über seinen Schultern versuchte zu schreien und zu treten, jedoch ohne Erfolg. Der riesige Minotaurus legte Kit auf den Boden und stellte einen seiner gespaltenen Hufe auf sie, damit sie sich nicht zur Seite rollte.
»Ich muß mit der Gefangenen reden«, sagte Dogz. »Warte auf mich.«
Der Soldat wich in die Schatten zurück.
Dogz schaute sich um. In der Nähe stand eine geborstene Säule. Er schleppte Kitiara hin, nahm ein Stück Seil vom Arm und wickelte es fest um sie und die alte Säule. Dann nahm er ihr die Augenbinde ab.
Ihre Augen sahen ihn fragend an.
»Ich habe den Befehl, dich zu töten«, knurrte der Minotaurus einfach.
Kits dunkle Augen starrten ihn trotzig an.
Der Minotaurus sah sich um, bis er einen großen Steinblock sah. Dann ging er langsam hinüber und setzte sich. Der Auftrag, die Menschenfrau zu töten, verstörte ihn – zunächst einmal, weil diese Menschenfrau ein Freund des Kenders Tolpan gewesen war, bevor der Kender böse geworden war, und dann, weil der Nachtmeister sein Wort gegeben hatte, daß man die Menschenfrau freilassen würde.
Beide Gründe machten Dogz gleichermaßen zu schaffen, und der Minotaurus grübelte lange vor sich hin. Schließlich stand er auf und näherte sich der Menschenfrau. »Ich werde dich heute abend nicht töten«, sagte er einfach.
Er wollte ihr wieder die Augenbinde anlegen. »Ich bringe dich nicht zurück zum Nachtmeister«, erklärte er. »Ich lasse dich hier, bis wir zurück sind. Dann werde ich entscheiden, was zu tun ist.«
Kitiara kämpfte wütend mit ihren Fesseln, weil sie etwas sagen wollte.
Dogz hielt nachdenklich inne. »Wenn du zu schreien versuchst, schlage ich dir den Schädel ein«, sagte er. Dann entfernte er den Knebel.
»Es – es – es geht nicht um mich«, stammelte Kitiara halb erstickt.
Der Minotaurus wartete.
»Es geht um Raistlin«, sagte sie. »Er ist mein Bruder. Kannst du ihm irgendwie helfen?«
Der Minotaurus wollte den Knebel wieder anlegen. »Warte!« rief sie leise.
Es folgte eine Pause, während der der Minotaurus sie verächtlich anblickte. »Raistlin soll das Opfer sein«, sagte Dogz. »Es ist eine Ehre für Raistlin, Sargonnas, den Gott der Minotauren, in diese Welt einzulassen.« Wieder wollte der Minotaurus sie knebeln.
»Dann vergiß Raistlin«, sagte Kit verzweifelt.
Dogz hielt inne.
Kits Gedanken überschlugen sich. Sie erinnerte sich an die Unterhaltung von Dogz und Tolpan über Freundschaft und Verrat, die sie mitangehört hatte. Das brachte sie auf eine Idee. Vielleicht war es Raistlins einzige Chance.
»Du… du bist Tolpans Freund, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Dogz mißtrauisch.
»Dann gib ihm etwas von mir.«
Sie sagte ihm, was es war. Er riß die Augen auf.
Dogz wich vor Kit zurück, drehte sich um und trat gegen den kalten, aschebedeckten Boden. Minutenlang stand er so da, während Kit ihn beobachtete. Sie wußte, sie hatte ins Schwarze getroffen. So merkwürdig es schien, aber der Minotaurus betrachtete sich als Tolpans Freund.
Langsam ließ Dogz den Knebel sinken. Kitiara verriet ihm, wo das Ding war. Er suchte ihren Körper ab und fand es. Es war sehr klein. Niemand hatte es bemerkt, als sie durchsucht worden war. Und niemand würde es auffallen, wenn Dogz es mitbrachte. Dogz steckte den kleinen Gegenstand in seinen Gürtel. Dann hob er schroff den Knebel und befestigte ihn straff vor Kitiaras Mund.
Er starrte sie an, bis er die Augenbinde wieder angelegt hatte.
Er suchte den Minotaurensoldaten und befahl ihm, hierzubleiben und Kitiara um jeden Preis zu bewachen.
Dann rannte Dogz los, um den Nachtmeister und seinen Troß einzuholen.

Kapitel 7

Der Angriff

Bis zur Dämmerung waren so viele Kyrie im Lager eingetroffen, daß Tanis ihre immer größer werdende Anzahl nicht mehr überschauen konnte. Zwanzig, vielleicht zwei Dutzend, schätzte der Halbelf. Die geflügelten Wesen flogen herbei und erstatteten Wolkenstürmer in ihrer eigenen Sprache Bericht. Dann drehten sie sich um, um die Menschen und die anderen zu betrachten. Einige flogen wieder los. Andere zogen Waffen heraus, die gewetzt werden mußten.

Die Chancen wurden besser, erklärte Tanis Flint. Der Zwerg runzelte die Stirn. Er war nicht restlos überzeugt. Ungeduldig wartete er, daß Wolkenstürmer ihnen mitteilen würde, was er von seinen Spähern erfahren hatte.

Flint und Caramon gingen zu dem Kyriekrieger, um mit ihm zu reden. »Wissen wir schon, wo Kitiara festgehalten wird und wie groß die Truppen unserer Gegner sind?« fragte Flint, der sich aus Rücksicht auf die Kyrie der Gemeinsprache bediente. Die anderen, einschließlich Tanis und Sturm, waren hinter ihn getreten. Wolkenstürmer stand auf und sprach ernst zu den Freunden:

»Meine Späher haben die alte Stadt überflogen und viele Dutzend Minotauren gesehen, die überall in den Ruinen lagern. Es sind fast alles Soldaten, alle schwer bewaffnet«, berichtete der Kyriekrieger. »Das Lager des Oberschamanen liegt fast in der Mitte der Ruinenstadt. Es ist nach oben hin offen, aber gut bewacht. In einem Käfig im Lager des Nachtmeisters wird eine Menschenfrau festgehalten. Im Lager ist einiges los, anscheinend werden Vorbereitungen für irgend etwas getroffen. Meine Späher wagen es nicht, zu nahe heranzufliegen, da sie nicht gesehen werden sollen. Einer meiner Brüder meint, er hätte eine kleine Person herumspringen sehen, weder Mensch noch Minotaurus, aber er ist sich nicht sicher.«

»Der verdammte Kender«, murmelte Flint.

»Was ist mit meinem Bruder?« Caramon sah Wolkenstürmer fragend an.
»Bisher«, erwiderte Wolkenstürmer finster, »gibt es keine Spur von dem Zauberer.«
»Wir wissen also, daß Kit etwa in der Mitte der alten Stadt gefangensitzt«, sagte Tanis. »Wir wissen auch, daß sie gut bewacht ist. Wie viele sind wir jetzt… zwanzig, dreißig?«
Keiner gab voreilig die Antwort. Tanis sah sich in der Gruppe um. Tapfere, aber angespannte Gesichter starrten ihn an. Jedem war klar, daß die Zahlen eindeutig zugunsten der Minotauren sprachen.
Wolkenstürmer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weiß Vogelgeist mehr über das Lager, wenn er zurückkommt«, sagte Wolkenstürmer, um ihnen Mut zu machen. »Er ist nicht nur mein erster Kundschafter, sondern auch ein erstklassiger Stratege, wenn es zum Kampf kommt.«
»Ganz gleich, wie es steht, wir müssen morgen einen Rettungsversuch machen«, sagte Sturm. Die anderen Gefährten stimmten murmelnd zu.
»Ja«, pflichtete Wolkenstürmer ihm feierlich bei. »Morgen.«
Fast unwillkürlich blickten alle hoch. Die Sonne war bereits untergegangen. Rosiges Zwielicht ging der kalten Nacht voraus.
»Ich nehme an, wir kommen morgen reichlich zum Kämpfen«, sagte Flint knurrig. »Am besten bereiten wir uns gut darauf vor.« Damit zog der alte Zwerg Streitaxt und Wetzstein heraus. Der Rest der Gruppe traf ähnliche Vorbereitungen für die Schlacht.Als Vogelgeist zu ihrem augenblicklichen Lager zurückflog, fiel ihm unten etwas auf. Er kreiste und flog zurück, um einen zweiten Blick darauf zu werfen. Ein minotaurischer Soldat wälzte sich neben einem großen Loch auf dem Boden. Offenbar kämpfte er, doch womit? Vogelgeist riskierte es, tiefer zu gehen, um besser sehen zu können.
Der mindestens sieben Fuß große Stiermann war ein Zwerg im Vergleich zu dem Tier, mit dem er kämpfte – ein riesiges, vierarmiges, gepanzertes Monster mit einem Kamm auf dem Rücken. Es war weit größer als der Minotaurus und mindestens doppelt so lang wie hoch. Das bizarre Wesen blieb mit seinen vier verhornten Tatzen dicht am Boden, schlug aber immer wieder nach dem Minotaurus und schnappte nach ihm. Das Tier hatte den Minotaurus umgeworfen und hielt ihn mit seinen bösartigen Angriffen vom Aufstehen ab.
Der Minotaurus versuchte, mit seinem Dreizack nach dem Tier zu stechen. Wenn er Erfolg hatte, konnte er das beschwerte Netz am anderen Ende der Waffe nutzen, um es über das Tier zu werfen und es endgültig umzubringen. Da er aus dem Gleichgewicht gebracht war und die Angriffe des Wesens abwehren mußte, hatte es der Minotaurus allerdings schwer, einen Treffer zu landen. Jeder Klauenhieb des Tiers kostete den Minotaurus mehr Blut.
Im faszinierten Versuch, festzustellen, was für ein Wesen der Minotaurus bekämpfte, sank Vogelgeist weiter abwärts, bis er unmittelbar über dem Zweikampf flatterte.
Dem Minotaurus gelang es, aufzuspringen und sich auf den Rücken des Tiers zu werfen. Während er sich mit einer Hand festhielt, stach er dem Tier unter den Kamm, wo sein Panzer aus seinem Rücken herausragte. Mit einem durchdringenden Schrei sprang das Tier direkt unter dem Kyrie mehrere Fuß hoch in die Luft.
Erst jetzt erkannte Vogelgeist, um was für ein Tier es sich handelte. Es war ein Landhai, ein gefräßiges Raubtier, das so selten war, daß weder Vogelgeist noch irgendein anderer Kyrie seines Wissens je ein Exemplar gesehen hatten.
Aus dem kleinen Korb, der an seiner Seite baumelte, zog Vogelgeist etwas heraus, das wie gebündelter Efeu aussah.
Unter ihm war der kurzfristige Vorteil des Minotaurus dahin. Der Landhai hatte es geschafft, sich mitten in der Luft zu drehen und genau auf den Schultern des Minotaurus zu landen. Der Landhai fing an, mit seinen Klauenfüßen auf Beine und Rücken des Stiermenschen einzuschlagen. Zugleich schlossen sich mächtige Kiefer um dessen Hals.
In diesem Augenblick schoß Vogelgeist nach unten und warf sein Würgenetz über den Landhai. Da es aus einer seltenen Pflanze, dem Kriechenden Würger, bestand, wickelte das Würgenetz sein Opfer rasch ein und machte es zu einem lebenden Paket. Bei jeder Bewegung des Landhais zog sich die Pflanze enger zusammen, bis deren gummiartige Tentakel fest um das wilde Monster gewickelt waren.
Vogelgeist zweifelte daran, ob das Würgenetz gegen den Landhai ebenso wirkungsvoll gewesen wäre, wenn das wilde Tier nicht verwundet gewesen wäre. Außerdem war es hilfreich gewesen, daß der Landhai so mit seinem eigenen Kampf beschäftigt gewesen war, denn er hatte den Kyrie erst bemerkt, als es zu spät war.
Der Kyriekrieger landete und näherte sich vorsichtig dem Landhai. Das Ungeheuer schlug weder um sich, noch schrie es. Es blieb ausgesprochen still liegen, wie tot, beobachtete Vogelgeist jedoch aus bösartigen, gelblichen Augen. Dem Kyrie gefror das Blut in den Adern. Der halslose Kopf des Landhais ragte direkt unter seinem Panzerkragen hervor und endete in einem grausamen, spitzen Kiefer, der auffallend dem einer riesigen Schnappschildkröte ähnelte.
Das Würgenetz lag weiter um den Landhai, so daß sein Kopf unbeweglich war und sein gepanzerter, blaugrüner Körper und die Beine noch fester umschlossen waren. An der Seite zuckte der Minotaurus im Todeskampf. Sein rotes Blut tränkte den Wüstenboden.
Vogelgeist wußte, der gefräßige Landhai würde in seinem Territorium alles angreifen. Er vergrub sich in der Erde, wenn er ausruhen wollte, und brach an die Oberfläche durch, wenn er Vibrationen spürte, die bedeuteten, daß neue Beute nahte. Kein Lebewesen blieb freiwillig in der Umgebung eines Landhais.
Wie alle Kyrie besaß Vogelgeist magisches Wissen aus der alten Welt, einen Wissensschatz, der Jahrhunderte älter war als die Magie der drei Monde, und der die Fähigkeit zur Verständigung mit jedem Tier einschloß. Trotz seiner Vorbehalte gegenüber dem Landhai beschloß der mutige Kyrie, daß er mit ihm reden würde.
»Ich will dir nichts tun«, sagte Vogelgeist in der Sprache aller Tiere. »Ich möchte dir erzählen, warum ich hier bin – und von den Minotauren, die diese Insel überfluten.«
Das Wesen starrte Vogelgeist weiterhin schweigend an. Schließlich antwortete es:
»Was kümmerst du mich? Ich will nur meinen Bauch füllen. Diese dummen Stiermenschen, die ihre Abstammung vom Tier leugnen und sich für etwas Besseres halten, sind mir gleichgültig.«
Der Landhai war nicht nur bösartig, sondern auch stur, dachte Vogelgeist.
»Vorläufig würde ich meinen, daß dich noch eine Sache interessieren dürfte, nämlich, daß die Wunde auf deinem Rücken versorgt wird.« Vogelgeist hatte den grünen Schleim, wahrscheinlich Blut des Landhais, bemerkt, der unablässig aus der Wunde quoll, die ihm der Minotaurus beigebracht hatte. »Mit meinen Heilkünsten kann ich mich um die Wunde kümmern, wenn du mich einfach anhörst.«
Argwöhnisch antwortete der Landhai: »Obwohl ich dein Gefangener bin, sollte es dir schwerfallen, mich zu töten, Kyrie. Dennoch kommt es mir so vor, als hätte ich kaum eine Wahl.«
»Minotauren aus Mithas haben auf dieser Insel einen Außenposten eingerichtet. Wie du wissen mußt, vernichten oder unterwerfen die Stiermenschen alles, was ihnen im Weg steht. Das verheißt nichts Gutes für dich oder alle anderen Lebewesen auf Karthay.« Vogelgeist legte eine Pause ein und versicherte sich, ob der Landhai zuhörte.
»Wir Kyrie haben unsere eigenen Gründe, weshalb wir die Minotauren schnellstmöglich von Karthay vertreiben wollen. Unsere Gruppe besteht nur aus einigen Kyriekriegern, ein paar Menschen, einem Zwerg und einem Elfen. Wir würden sehr davon profitieren, wenn ein erfahrener General wie du und alle Tiere, die du erwählst, an unserer Seite kämpfen würden.«
Vogelgeist rechnete damit, daß ein Appell an die übersteigerte Selbsteinschätzung des Landhais nützlich sein würde. Er behielt recht. Wenn ein großes, dickes, knopfäugiges Untier sich aufplustern kann, dann war das der richtige Ausdruck für den Landhai.
Das Untier kehrte jedoch fast augenblicklich zu seiner dickköpfigen Haltung zurück. »Ich brauche weder Kyrie noch irgend jemand anders, um die Minotauren zu vernichten. Wenn ich so etwas vorhätte, dann würde ich es selbst tun, langsam, einen nach dem anderen, mit der Zeit. Warum sollte ich mich euch anschließen?«
Vogelgeist hegte keine Zweifel, daß der Landhai wahrscheinlich recht hatte. Er konnte die Minotauren allein erledigen, sofern er genug Zeit hatte. Aber Wolkenstürmer, Caramon und die anderen konnten nicht auf dieses Irgendwann warten.
»Wenn du dich mit uns verbündest, versprechen wir, diese Insel dir und den anderen Tieren für die nächsten tausend Jahre als euer Reich zu überlassen. Als Anführer der Schlacht würdest du zweifellos als oberster Häuptling über die Insel anerkannt werden«, fügte Vogelgeist hinzu. In den kalten, ausdruckslosen Augen des Landhais konnte Vogelgeist nicht erkennen, welche Wirkung dieses Angebot hatte. »Und dann wäre da noch deine Wunde, die ich auf magische Weise heilen kann.«
Der Landhai blieb unentschlossen. Vogelgeist wartete geduldig. Die Wunde sonderte weiter grünen Schleim ab.
»Meine Verletzung zuerst«, sagte das Ungeheuer. »Dann können wir darüber reden, wer sich uns in einer Schlacht gegen die Minotauren anschließen würde. Die Stiermenschen haben keine Freunde unter den Tieren dieser Insel.« Er schien zu kichern. »Ich allerdings auch nicht.«Um die Wunde des Landhais zu verbinden, mußte Vogelgeist das Tier erst von dem Würgenetz befreien. Dazu zerhackte er den Kriechenden Würger dicht am Stengel und schnitt dann die Schlingarme an so vielen Stellen wie möglich durch. Später benutzte er ein paar von den Stücken, um eine Schlinge herzustellen, in der er das Ungeheuer zum Lager tragen konnte.
Vogelgeist brauchte all seine Kraft, um das Tier anzuheben und mit ihm zu fliegen. Caramon, Tanis, Sturm, Flint und die anderen schauten entsetzt auf, als der Kyrie den Landhai kurz nach Einbruch der Dämmerung in ihrer Mitte absetzte. Obwohl das Tier zahm wirkte, verzog es sich mürrisch an den Rand des Lagers und starrte mißtrauisch in die Wüste hinaus.
Wolkenstürmer begrüßte Vogelgeist. Die beiden Kyrie standen abseits und redeten kurz in ihrer eigenen Sprache miteinander. Dann brachte Wolkenstürmer seinen Freund strahlend zu den anderen.
»Was sollen wir mit so einem Tier?« fragte Caramon.
»Das Minotaurenlager ist gut bewacht. Wir sind zahlenmäßig weit unterlegen. Wir brauchen jeden Verbündeten, den wir finden können«, erklärte Wolkenstürmer. »Es gibt keinen furchtloseren Kämpfer als einen Landhai. Vogelgeist sagt, dieser hier hätte versprochen, andere Tiere dieses Landes herzurufen, damit sie uns helfen. Außerdem hat er von einem Schwarm Bergroche erzählt, die sich eventuell auch unserer Sache anschließen. Ich werde Zwillingsstern losschicken, damit er mit den Rochen redet und sie um Hilfe bittet.«
»Roche!« rief Flint aus. Obwohl Flint ein Hügelzwerg war, kein Bergzwerg, kannte er dennoch den Ruf dieser großen Raubvögel nur zu gut. Sie ähnelten überdimensionalen Adlern und hatten eine Spannweite von bis zu einhundertzwanzig Fuß. Bergzwerge, die in entlegenen Regionen Minen anlegten, wurden mitunter von Rochen angegriffen, die ihre Nester verteidigten.
»Es hat noch nie einen Roch gegeben, der einem Zwerg geholfen hätte – oder umgekehrt«, sagte Flint heftig.
Caramon sah Tanis bittend an. Dieser griff ein, um den Zwerg zu beruhigen. »Wolkenstürmer hat recht – wir brauchen Hilfe. Wenn Vogelgeist einen Landhai fangen kann, dann kann Zwillingsstern vielleicht die Roche für uns zähmen.« Tanis sah die Halbogerin an, die wie gewöhnlich nicht weit von Flint stand. »Kirsig und ich werden unser Möglichstes tun, die Roche von dir und dich von den Rochen fernzuhalten.«
Kirsig, die das Thema Roche und Zwerge sehr ernst nahm, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte nachdrücklich.
»Wann können wir damit rechnen, daß unsere ungewöhnlichen Verbündeten sich uns anschließen?« fragte Sturm. Seit seiner Rettung aus der Grube des Untergangs hatte der Solamnier allmählich einen tiefen Respekt vor den Kyrie entwickelt und sah keinen Anlaß, die Weisheit ihres ausgefallenen Plans in Frage zu stellen.
Vogelgeist neigte den Kopf zum Landhai und schien kurze Zeit zu lauschen. »Die Botschaft ist ausgesandt. Morgen früh sollten wir neue Freunde sehen. Am besten warten wir ab. Bis dahin sollten wir schlafen.«
Der Kyrie befolgte seinen eigenen Rat, hockte sich hin, schloß die Augen und schlief beinahe sofort ein. Jedenfalls wirkte es so. Kurz darauf schlug Vogelgeist noch einmal ein Auge auf. »Weckt mich zur Wache, falls nötig«, sagte er noch und schloß wieder die Augen.
»Ich habe mich heute ausgeruht, während ihr auf Kundschaft wart«, stellte Yuril fest. »Ich übernehme die erste Wache und wecke jemanden, wenn ich müde werde.«
Yuril hob eine Decke auf und ging zu einem großen Baum am Rand des Waldes, in dessen Deckung sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die anderen begannen, sich zu verteilen und bequeme Schlafplätze zu suchen. Einige Kyrie und die übrigen Seeleute von der Castor hatten sich bereits schlafen gelegt.
»Ich, äh, muß noch mein Schwert schärfen und meine anderen Waffen für morgen vorbereiten«, murmelte Caramon vor sich hin. »Ich denke, ich leiste Yuril Gesellschaft.«
Sturm und Tanis wechselten einen Blick. »Denk aber dran, daß einer von euch eigentlich Wache halten sollte«, rief Tanis ihm nach.
In Wirklichkeit machte Caramon sich seit Raistlins Verschwinden am Morgen unablässig Sorgen über den Verbleib seines Zwillingsbruders. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er einschlafen würde, selbst wenn er es wollte. Yurils Nähe war allerdings beruhigend.Flint schlief ebenfalls, aber nicht gut. Seine Träume waren vom Rauschen großer Flügel erfüllt, die sich über ihm herabsenkten. Kirsig, die sitzend über den Zwerg wachte, mußte dem Zwerg immer wieder die Decke umlegen, die er fortgeschoben hatte.
Als er am nächsten Morgen schließlich erwachte, sah Flint, daß die Geräusche, die seinen Schlaf gestört hatten, der Wirklichkeit entstammt hatten. Jedoch eher von seltsamen Landtieren als von den Bewohnern der Lüfte.
Am Südwestrand des Lagers stand der Landhai. Dahinter schien der Wüstenboden in der frühen Dämmerung zu wogen. Flint sah näher hin. »Großer Reorx!« rief er aus. Dutzende von riesigen Bodeninsekten, deren Rücken von harten, schwarzen, beweglichen Platten bedeckt war und deren Kopf in einem Paar kleiner, aber sicher wirksamer Kiefer endete, bedeckten den Wüstenboden.
»Horaxe.«
»Was?« fragte Flint den Kyrie, der neben ihm aufgetaucht war.
»Sie leben unterirdisch und werden fast so lang, wie wir groß sind. Sie greifen im Rudel an«, erklärte der Kyrie. »Ich hatte zum Glück noch nie das Pech, in eins hineinzugeraten. Ich habe gehört, sie quetschen einen mit ihren krummen Scheren zu Tode.«
Als er sah, wie Flints Kiefer herunterklappte, fügte der Kyrie hinzu: »Keine Sorge. Sie unterstehen dem Landhai, und der Landhai ist auf unserer Seite – vorläufig.«
»Ihre Scheren sind kräftig, das stimmt«, meldete sich Kirsig zu Wort, die sich zu ihnen gesellt hatte. Die Halbogerin schien über jedes beliebige Thema nützliches Wissen zu besitzen. »Mein Papa hat gesagt, sie könnten wirklich lästig werden, wenn sie einem in die unterirdischen Tunnel geraten. Normalerweise scheuen sie das Sonnenlicht. Ich nehme jedoch an, daß sie es während des Angriffs ein paar Stunden in der Sonne aushalten können.«
Inzwischen waren alle Freunde, die Kyrie und die Seeleute aufgestanden und starrten die seltsame Horde Tiere an – den Landhai, die Horaxrudel und ganz hinten seltsame Felsformationen, die sich bewegten. Flint rieb sich verwundert die Augen.
»Kirsig«, flüsterte er und zupfte die Halbogerin am Ärmel. Flint zeigte hinter die Horaxe.
Die rötlichbraunen Felsen hatten sich wieder bewegt und damit bewiesen, daß sie nicht unbelebte Steine, sondern die knubbelige Haut eines gigantischen Reptils waren. Flint schätzte das gewaltige, schlangenähnliche Tier auf annähernd zweihundert Fuß – von der langen, peitschenartigen Schwanzspitze bis zu seinem pfeilförmigen Maul mit den Reißzähnen. Das Ungetüm schien flach auf dem Boden zu liegen. Die Füße mit den Schwimmhäuten lagen auf beiden Seiten seines Schuppenkörpers.
Was Flint für Höhlen im Fels gehalten hatte, waren tatsächlich die Augenhöhlen des Tiers, die so tief lagen, daß man seine Augen nicht erkennen konnte. Das Monster schlug müßig mit seinem Schwanz über den Boden und köpfte dabei mehrere Felsvorsprünge.
»Das große Hatori, und der Größe nach ein sehr altes«, flüsterte Kirsig. »Auf dieser Insel wird es in den letzten Jahrzehnten wenig zu fressen bekommen haben, und ein hungriges Hatori ist ein hungriger Kämpfer, wie mein Papa immer sagte.«
Der Landhai starrte erst die Kyrie und ihre Freunde an, dann die Armee, die er zusammengerufen hatte. Obwohl keines dieser Raubtiere seine Konkurrenten liebte, mochten sie die Minotauren noch weniger, die in der Welt der Wüste als rücksichtslose, arrogante Antreiber bekannt waren.
Der Landhai hatte ihnen den Plan mitgeteilt, den Vogelgeist und Wolkenstürmer vorgeschlagen hatten. Die Tiere würden einen Tag lang gemeinsam kämpfen, und die Kyrie würden ihnen das verlassene Karthay für tausend Jahre überlassen. Da Kit und wahrscheinlich auch Raistlin in der Ruinenstadt waren, hatten die Wüstenräuber den strengen Befehl, keine Menschen oder andere Rassen anzugreifen, nur Minotauren. Diese konnten sie nach Belieben töten.
Ein plötzlicher Windstoß warf Flint beinahe um. Der Wind ließ nicht nach, er wehte Decken und Gepäck durch das Lager. Mit sinkendem Herzen blickte Flint nach oben. Genau über ihnen flatterten vier Roche, zwei Erwachsene und zwei kleinere, wahrscheinlich ihre halbwüchsigen Nachkommen. Durchdringende, schwarze Augen betrachteten die versammelte Gruppe. Mit den kräftigen Körpern, den schlanken, geschoßgleichen Köpfen und der enormen Spannweite war jeder Roch so groß wie ein Vallenholzbaum. Ihre glänzend braunen und gelben Federn und die starken, gekrümmten Schnäbel blinkten in den Strahlen der aufgehenden Sonne.
Toth-Ur schritt rastlos vor seinem Zelt auf und ab. Die Nachmittagssonne setzte ihm zu, bis sein glänzend schwarzes Fell schweißnaß an ihm klebte. Der Nachtmeister und sein Gefolge waren unbehelligt zum Gipfel des Vulkans aufgebrochen. Nach außen hin schien alles in Ordnung zu sein, aber in Toth-Urs Schritten lag dennoch große Unruhe. Zedhar war von seinem Kundschaftsgang am Vortag nicht zurückgekehrt. Der Kommandant überlegte, ob er einen Suchtrupp losschicken sollte, aber weil seine Truppenstärke bereits um die Soldaten vermindert war, die den Nachtmeister begleiteten, zögerte Toth-Ur noch. Der Oberschamane hatte ihm eingeschärft, heute wachsam zu sein… besonders heute.
Sein Zelt lag nahe des westlichen Rands der Ruinenstadt Karthay an einem eingestürzten Wall. Die Hände in die Hüften gestemmt, musterte Toth-Ur die einsame, karge Landschaft. Ein paar Soldaten standen an der Seite und erwarteten seine Befehle.
Plötzlich brach eine riesige Gestalt keine zehn Fuß vor dem Zelt des Kommandanten aus dem Boden, sprang hoch in die Luft und landete dann schwer auf einem Minotaurensoldaten. Die Gestalt schnappte einmal zu und brach dem Stiermenschen den Hals.
Bevor die übrigen Soldaten noch ihre Schwerter ziehen konnten, drang ein Horax nach dem anderen aus dem Loch, das der Landhai gemacht hatte. Wo der erstaunte Toth-Ur auch hinsah, überall krochen die seltsamen, schrecklichen Tiere aus dem Boden und griffen seine kleine Armee von allen Seiten an.
Die Minotauren hatten keine Chance, denn der Angriff der wilden Tiere kam direkt aus ihrer Mitte. Einige starben auf der Stelle. Andere hielten durch und kämpften, obwohl ihre Schwerter und Speere von den Chitinpanzern der Insektoiden einfach abprallten. Wieder andere zogen sich in bessere Stellungen zurück.
Der Landhai war wie toll. Ungestraft sprang er weiter, um die Minotauren zu zermalmen und zu zerreißen.
Das Horaxrudel war im Blutrausch. Immer zu zweit oder zu dritt überwältigten die Tiere einen Minotaurus. Jeweils einer legte seine Kiefer direkt über dem Huf um ein Bein und brach den Knochen. Ein dritter Horax griff die Weichteile des Minotaurus an, wenn der Soldat auf den Boden gefallen war. Dann fraßen die Tiere ihr Opfer.
Im Süden nahte noch schlimmeres Unheil. Die Wüste selbst schien sich gegen die Minotauren zu wenden. Das große Hatori war aufgetaucht und glitt rückwärts auf eine Reihe Minotauren zu, die tapfer ihre Stellung behaupteten. Mit seinem Knochenschwanz peitschte es hin und her und erwischte ein halbes Dutzend Soldaten auf einmal, die es gnadenlos zerquetschte.
Im Norden stießen die riesigen Roche aus den Wolken herab. Ihre Flügel verdeckten beinahe die Sonne. Sie kreisten außer Reichweite der Speere, während die Stiermenschen mit allem warfen, was ihnen in die Finger kam. Bevor Verstärkung eintraf, brauste jeder Roch auf die Ruinen zu und packte sich gewaltige, ascheverkrustete Steine, die er auf je zwei oder drei Minotauren gleichzeitig fallen ließ, um den Feind zu zermalmen. Kyrie flogen zwischen den Rochen und gaben den Riesenvögeln Befehle.
Überall versuchten die Minotauren, sich neu zu formieren. Für einen Minotaurus war es undenkbar, einem Kampf auszuweichen, aber dieser Angriff einer Armee von Monstern irritierte sie. Ihre Augen quollen hervor. Sie reagierten schlecht organisiert und wirkungslos. Toth-Ur hatte so etwas noch nie gesehen, nicht einmal im Traum. Der Kommandant der Minotauren befahl den Rückzug.
Sturm, Flint, Kirsig, Yuril und die anderen Frauen von der Castor näherten sich hinter dem Hatori. Sie wichen Speeren und Testos aus, den Stachelkeulen, die viele Minotauren schätzten.
Während eines Zweikampfs mit einem sieben Fuß großen Ungeheuer, das einen Katar schwang, hörte Sturm, wie Yuril aufschrie. Mit einem letzten Stoß stach der Solamnier den Minotaurensoldat in den Bauch und wich dann dem fallenden Körper aus. Er drehte sich um, um Yuril zu suchen.
Etwas weiter weg stand die Frau über dem verkrümmten Körper einer ihrer Gefährtinnen, die neben einem geköpften Minotaurus lag.
»Das ist Dinchie«, sagte sie und sah Sturm aus nassen Augen an. »Wir – wir sind viele Jahre zusammen zur See gefahren.« Yuril trat dem kopflosen Minotaurus in die Seite. Dann stürzte sie sich wieder in den Kampf. Sturm dachte daran, den Körper der Seefahrerin für ein späteres Begräbnis an die Seite zu ziehen, aber ehe er dazu kam, standen zwei behaarte, gespaltene Hufe vor ihm.
Der Solamnier sah gerade rechtzeitig hoch, um ein niederfahrendes Zweihänderschwert abzuwehren. Der mächtige Schlag ließ sein Schwert zerspringen. Die Nüstern des Minotaurus blähten sich auf, als er sein Schwert wieder hob. Sturm fummelte an dem Dolch in seinem Gürtel herum. Verzweifelt riß er ihn heraus und warf. Er traf seinen Gegner in den Magen. Der Minotaurus klappte zusammen. Sturm griff zu und zog das Messer erst mit einem Ruck nach oben, dann heraus. Dem Stiermenschen quollen die Eingeweide heraus.Der Kommandant der Minotaurenarmee hatte sich ins Innere der Stadt zurückgezogen. Aber seine Soldaten waren nicht formiert, und der Feind schien überall unter und über ihnen zu sein, um sie unablässig anzugreifen.
Ein Läufer kam zu Toth-Ur. »Eine Bande Kyrie, ein Elf und ein Mensch sind in die innere Stadt vorgedrungen und haben das Lager des Nachtmeisters erreicht, wo die Menschenfrau gefangengehalten wurde.«
Fluchend schrie Toth-Ur: »Folgt mir!« Mit einer kleinen Gruppe Soldaten stürmte er zu der alten Bücherei.Der Plan war gewesen, daß die Wüstentiere und die Roche die äußeren Truppen beschäftigen sollten, bis Caramon, Tanis, Wolkenstürmer, Vogelgeist und die anderen Kyrie zum Schlupfwinkel des Nachtmeisters durchgestoßen waren, um Kitiara zu retten. Inzwischen würde bald die Sonne untergehen, aber Kitiara hatten sie noch nicht gefunden – und Raistlin ebensowenig.
Seite an Seite hatten sich Caramon und Tanis zum Lager des Oberschamanen durchgekämpft und die wenigen Minotauren vertrieben, die als Wachen zurückgeblieben waren. Aber als sie den Verschlag erreichten, der nach den Worten des Kyrie Kitiara festgehalten hatte, war der Käfig leer.
Obwohl es ohne jede Deckung gefährlich war, bot Vogelgeist an, rasch den inneren Bereich der Ruinenstadt zu überfliegen, um sie zu suchen.
Bevor er abheben konnte, fuhr ein Shatang, ein Wurfspeer mit Widerhaken, zwischen ihnen nieder. Caramon drehte sich gerade rechtzeitig um, um sich vor dem Abwärtsschlag von Toth-Urs beschlagener Keule zu ducken. Der Kommandant, der in der einen Hand seinen Testo, in der anderen einen Clabbard hielt, stürzte sich auf den Majerezwilling. Aus dem Grunzen und Waffengeklirr um sich her schloß der junge Krieger, daß auch seine Freunde im Zweikampf standen.
Die einfachen Steinwaffen wären gegen das gehärtete Metall der Minotauren eindeutig im Nachteil gewesen, doch die Vogelmenschen konnten sich schließlich im Nu in die Luft erheben und die Minotauren mit ihren Klauen angreifen, während sie die Angriffsrichtung änderten und ihre Gegner aus dem Konzept brachten, deren Schwerthiebe oft ins Leere gingen.
Einer der Minotaurensoldaten schleuderte einen Speer, der Wolkenstürmer in den Flügel traf. Mit dem anderen Arm riß der Kyriekrieger die Waffe heraus und stieß sie dann dem Soldaten in den Bauch, der ihm zu nahe gekommen war.
Caramon, der nur ein Schwert hatte, begann angesichts von Toth-Urs ausgezeichnetem, zweihändigen Angriff zurückzuweichen. Plötzlich ging ein überraschter Ausdruck über das Gesicht des Kommandanten. Seine Waffen fielen auf die Erde. Mit einem unwillkürlichen Griff an seinen Rücken fiel der riesige Minotaurus vornüber. Yuril beugte sich hinunter und setzte dem Stiermenschen den Fuß auf den Rücken, um in einer fließenden Bewegung ihr Schwert herauszuziehen. Ungerührt wischte sie es am Boden ab und salutierte Caramon, indem sie es an die Stirn führte.
»Gern zu Diensten«, sagte sie mit flüchtigem Lächeln, bevor sie davonrannte.Als Sturm, Flint und Kirsig durch einen eingestürzten Säulengang liefen, sprang ein Minotaurus, dem es gelungen war, dem Hatori und den Horaxen zu entgehen, auf den Zwerg los. Er wirbelte einen Testo. Flint duckte sich, fiel jedoch hin und stieß sich den Kopf an. Benommen sah der Zwerg zu, wie der Soldat sich mit erhobener Keule breitbeinig über ihn stellte.
Kirsig stieß einen Schrei aus wie von einer Todesfee, warf sich mit ganzem Gewicht auf den Soldaten, wollte ihn umstoßen. Flint kroch zur Seite. Er schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Beim Blick zurück sah der Zwerg, wie der Minotaurus unter Kirsigs Überraschungsangriff taumelte, sich dann aber fing. Der Stiermann schnappte sich die Halbogerin mit einer Hand, um ihr dann mit der anderen den Schädel einzuschlagen.
Zu spät war Sturm bei dem Minotaurus und bohrte ihm treffsicher das Schwert zwischen die Hörner. Ihre tapfere Gefährtin Kirsig war tot.»Mein Held.«
Vogelgeist, der Tanis trug, hatte die Menschenfrau entdeckt, die in einem nahen Stadtteil an eine zerbrochene Säule gefesselt war. Ein einsamer Minotaurus bewachte sie nach wie vor, doch der Kyrie und der Halbelf machten kurzen Prozeß mit dem hartnäckigen Soldaten.
Da Kitiara vom Ringen mit ihren Fesseln erschöpft und zudem enttäuscht war, weil sie nicht an der Schlacht teilnehmen konnte, die sie in der Ferne wahrgenommen hatte, begrüßte sie Tanis gereizt.
»Du hast die schlechte Angewohnheit, mich zu retten«, sagte sie, als der Halbelf sie losband. Mit großen Augen sah sie Vogelgeist an, der den Blick grinsend erwiderte. »Diesmal habe ich allerdings wohl wirklich ein bißchen Hilfe gebraucht«, fügte sie grollend hinzu.
»Keine Ursache«, erwiderte Tanis. Er wußte, ein ausdrücklicheres Dankeschön würde er von Kitiara Uth Matar niemals bekommen.
In seinen Augen sah Kit ausgehungert und schmutzig aus. Eilig holte Tanis ein Stück Trockenfleisch aus einem Beutel und gab es ihr. Kitiara schlang es hungrig herunter. Als er ihr zusah, wurde sich Tanis trotz ihres halbverhungerten, schmierigen Aussehens erneut ihrer herben Schönheit bewußt.
Caramon kam angerannt und schloß Kitiara ungestüm in die Arme. Sturm war dicht hinter ihm, dann kam Yuril.
»Wo ist Raist?« fragte Caramon.
Vogelgeist schüttelte den Kopf. Tanis fragte zurück: »Wo sind Flint und Kirsig?«
»Die Halbogerin ist tot«, sagte Sturm finster. »Sie ist tapfer im Kampf gefallen. Flint geht es gut.« Er winkte mit dem Arm. »Er ist da drüben und kämpft.«
Kit hatte sich Knöchel und Handgelenke massiert. Sie wirkte bereits munter und voller Tatendrang. Sie zeigte zum Dach der Welt. »Raistlin war hier, aber er hat angeboten, meinen Platz als Opfer des Nachtmeisters einzunehmen. Ich glaube, sie sind da oben. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Die Nacht brach herein. »Aber wie erreichen wir rechtzeitig den Gipfel?«
Wolkenstürmer und die drei anderen Kyrie waren inzwischen gelandet. »Wir können im Nu hinauffliegen«, sagte der Kyriekrieger.
Kit schien zu zweifeln. Tanis versicherte ihr, daß es möglich war.
»Sturm«, befahl Caramon, »such Flint und sag ihm und den anderen, daß wir uns zurückziehen. Überlaßt die Minotauren der Armee der Tiere. Verschwindet aus der Ruinenstadt. Wir treffen uns am Lagerplatz von letzter Nacht.«
»Aber – «, protestierte der Solamnier.
»Keine Zeit. Wir haben nicht genug Kyrie, um alle hochzubringen«, warf Tanis ein, »und jemand muß Flint warnen.«
Sturm nickte und rannte davon.
Wolkenstürmer ergriff Caramon und hob ab. Vogelgeist nahm Tanis. Die anderen beiden Kyrie folgten ihnen mit Yuril und Kitiara.
Sie brausten hoch zum Dach der Welt.
Die wütende Schlacht ließen sie hinter sich. Heute nacht würden der Landhai, das Hatori und die Roche sich sattfressen können.

Kapitel 8

Der Zauber für Sargonnas

Der Legende nach war das Dach der Welt während der Umwälzung zum letzten Mal ausgebrochen. Der vulkanische Todesregen hatte die Stadt Karthay und ihre Bewohner völlig vernichtet. Karthay war seit dieser Zeit unbewohnt gewesen, bis der Nachtmeister und seine Jünger gekommen waren, um ihre geheimen Vorbereitungen zu treffen, damit Sargonnas in die Welt Einzug halten konnte.

Das Dach der Welt stand wie ein riesiger, zerklüfteter Zahn am Rand der Stadt, wo der Berg eine ausgezeichnete Barriere nach Norden und Westen darstellte. Seine Hänge waren von tiefen Schluchten und undurchdringlichen Haufen erstarrter Lava durchzogen. Der Nachtmeister und seine Akolythen hatten Monate damit zugebracht, einen Pfad zum Gipfel zu brechen, einem schwarzen, leblosen Krater.

Aus der Ferne sah es so aus, als wäre die Spitze des Berges abgeschnitten. Unzählige steile Glutkegel übersäten den ungewöhnlich breiten Krater. Überall waren Zeichen vulkanischer Aktivität zu sehen, einschließlich Basaltbrocken, Abdrücken von Baumstämmen und Riesenkreuzkraut, die von inzwischen erstarrter Lava umflossen worden waren. Geysire brodelten. Dampf- und Gasfontänen zischten aus Bodenspalten empor.

Eine ovale Mulde im Krater war größer und lebhafter als die übrigen. Das war das Herz des Vulkans, das von abgekühlter Lava überkrustet war. Sein Zentrum bestand aus einem Felspfropf, der sich tief im Auslaß des Vulkans verhärtet hatte.

Der Nachtmeister glaubte, daß unter der ovalen Vertiefung der eigentliche Vulkankrater lag, dessen Ausbruch dem Einbruch der Spitze ins Zentrum des Berges vorausgegangen war. Und unter dem ursprünglichen Krater wartete wiederum die Feuerfontäne, die die vulkanische Aktivität erneut entfachen konnte. Seit Wochen hatten die Gefolgsleute des Nachtmeisters zusammen mit den Minotaurentruppen daran gearbeitet, die Öffnung freizulegen.

Von seinem Lager an der aschebedeckten Terrasse der einst großartigen Bibliothek der alten Stadt war der Nachtmeister regelmäßig zu einem Bergplateau im Westen von Karthay gewandert, um die Zeichen zu deuten. Der Zauberspruch, der Sargonnas rief, würde hier gewirkt werden, auf dem Gipfel und im Herzen des Vulkans.

Alles war vorbereitet. Die Akolythen und eine ausgewählte Anzahl Minotaurensoldaten lagerten seit Tagen auf dem Gipfel, wo sie das benötigte Labor aufgebaut, die verschiedenen Zutaten – Talismane, Steine und tote Tiere – aufgereiht und die Bücher und Spruchrollen bereitgelegt hatten, die der Nachtmeister brauchen würde, um den Zauber zu sprechen.

Nach langen, arbeitsreichen Stunden war jetzt die Spitze des ursprünglichen Vulkans ausgegraben und der Mund der Feuerfontäne freigelegt. Der Durchmesser der Öffnung betrug rund ein Dutzend Fuß. Tief unten konnte man feurige, orangerote Lava blubbern und brodeln sehen.

Die Soldaten hatten am Rand der Öffnung ein Holzgerüst gebaut. Ein Dutzend Stufen führten zu einer Plattform, von der aus man die Feuerfontäne überblicken konnte.

Die Sterne standen beieinander. Der Tag wich der Nacht. Alles war bereit, als der Nachtmeister und seine Gruppe den Gipfel erklommen. In seinen zeremoniellen Pelzen und Federn schritt der Nachtmeister mit klingenden Glöckchen stolz auf die ovale Vertiefung zu, die den eigentlichen Krater beherbergte. Er lief zwischen einem Spalier von Akolythen und Soldaten hindurch, die sich aufgestellt hatten, um ihn zu begrüßen.

Dem Nachtmeister folgten zahlreiche bewaffnete Minotauren und die Hohen Drei, die Schamanen. Dahinter kam ein junger, dünner Mensch in dunkler Robe, der stolpernd von dem mürrischen Dogz mitgezerrt wurde, und ein Kender ohne Haarknoten, der begeistert von dem glorreichen Schauspiel des Bösen plapperte, dessen Zeuge er nun werden würde.»Raistlin, verrate mir, wie du herausgefunden hast, daß ich diesen alten, allgemein vergessenen Zauber wirken will. Befriedige meine Neugier. Du weißt, du stirbst ohnehin.«

Der Nachtmeister beugte sich mit triumphierendem Grinsen über Raistlin.

Der junge Magier saß eisern schweigend auf einem Stein in der Nähe des Kraters. Die Arme waren ihm hinter dem Rücken zusammengebunden, und auch die Füße waren mit einem Seil gefesselt. Aber Raistlin weigerte sich, seine Niederlage einzugestehen. Statt dessen lächelte er den Nachtmeister bei seiner Antwort rätselhaft an.

»Das war Zufall. Es war nur eine zerrissene Seite in einem vergilbten Zauberbuch, die mir auffiel. Ich wußte, daß der Spruch etwas mit minotaurischen Ritualen zu tun hatte. Soviel war klar. Und es wurde Sargonnas erwähnt, der Herr der Finsteren Rache. Aber ich hatte keine Chance, die Zutaten zusammenzubekommen, und mehr kümmerte mich nicht.

Dann erwähnte mein Freund, Tolpan Barfuß«, hier nickte Raistlin in Richtung des Kenders, der zwischen den Mitgliedern der Hohen Drei herumsprang, denen er beim Mischen von Tränken und Ingredienzien helfen wollte, aber vor allem im Weg war, »zufällig einen kräuterkundigen Minotaurus auf der Insel Südergod. Ein kräuterkundiger Minotaurus… meine Neugier war geweckt. Ich fragte einen Freund von Tolpan, einen Kender, der mir manchmal Wurzeln, Kräuter und anderes verkaufte, nach bestimmten, speziellen Zutaten, die auf der zerfledderten Seite des vergilbten Zauberbuchs erwähnt wurden.

Eine dieser Zutaten war das Jalopwurzpulver, und der Kender versicherte mir, daß der Minotaurus es vorrätig hätte. Zusammen mit meinem Bruder und einem Freund bot sich Tolpan freiwillig an, nach Südergod zu reisen, um das Jalopwurzpulver zu kaufen.«

Hier legte Raistlin eine Pause ein und blickte sich um. Der fahle Abend war angebrochen und versprach eine kalte Nacht, in der man die Sterne deutlich sehen würde.

Die Akolythen und Truppen hatten sich an den Rand des Gipfels zurückgezogen, wo sie in sicherer Entfernung auf das kommende Schauspiel warteten. Schweigend und ernst hielten sich die wenigen Soldaten vom Nachtmeister, Raistlin und den anderen fern. Sie hielten ihre Waffen hoch, so daß der Stahl und die eingelassenen Edelsteine im Licht der Zwillingsmonde glänzten.

Dogz stand neben dem Nachtmeister, um Raistlin zu bewachen.
»Selbst da habe ich mir noch nicht viel dabei gedacht«, fuhr der junge Magier fort. »Es gehört zu meinem Beruf, mich für exotische Kräuter und seltene Sprüche zu interessieren. Dann verschwanden allerdings mein Bruder, sein Freund und Tolpan. Und vor ihrem Verschwinden schickte mir Tolpan eine magische Flaschenpost, die mir alles über die seltsame Hinrichtung des kräuterkundigen Minotaurus berichtete.
Der Überbringer der Flaschenpost fügte ein paar seltsame Einzelheiten über das vermißte Schiff und seinen verräterischen Kapitän hinzu. Nach Erfüllung seiner Aufgabe schien der Kapitän auf eine Weise umgekommen zu sein, die mir eindeutig magisch erschien.«
Raistlins Augen glitzerten schlau.
»Das meiste habe ich mir danach zusammengereimt. Ich ging wieder an mein zerfallenes Zauberbuch und las und prüfte diesen einen Spruch. Ich besprach meine Schlußfolgerungen mit«, hier zögerte er, »sagen wir, einem erfahrenen Ratgeber. Durch diese Bemühungen dämmerte mir allmählich, daß das Jalopwurzpulver nur ein kleiner Teil eines magischen Vorhabens war, das gewaltiger war als alles, was ich vermutet hatte. Dieser ehrgeizige Spruch mußte Minotauren von höchstem Rang einbeziehen, und der geplante Zauber würde im Erfolgsfall Sargonnas, den Gott der Minotauren, auf die materielle Ebene bringen. Der logische Ort für solch ein Ritual würde hier bei den Ruinen von Karthay sein, am letzten bekannten Ort auf Krynn, wo der Herr der Rache seinen feurigen Zorn gezeigt hat.«
»Du hast meine magische Flaschenpost also erhalten!« zirpte Tolpan. Der Kender war hinter Raistlin aufgetaucht. »Ich bin froh, daß sie nicht verschw-«
Der Nachtmeister schnappte sich Tolpan, dessen Gewohnheit, einfach loszuplappern, ihn allmählich ärgerte. Er klemmte sich den Kender ziemlich grob unter einen Arm und hielt ihm mit seiner riesigen Hand den Mund zu.
Raistlin sah die beiden kühl an.
»Ja«, schnurrte der Nachtmeister, während Tolpan sich größte Mühe gab, aus dem festen Griff des Oberschamanen zu entkommen. »Tolpan hat dir eine magische Flaschenpost geschickt. Ihr zwei seid alte Freunde, nicht wahr? Wie gefällt dir denn der neue, bessere Tolpan – dem einer meiner Jünger einen Trank verabreicht hat? Der macht ihn zu einem bösen Kender. Er war uns bisher«, der Nachtmeister drückte Tolpan fest, »von größtem Nutzen, und ich denke doch, daß er uns auch in Zukunft nützlich sein wird.«
Raistlin sah den zappelnden Kender an. Dann ging sein Blick zum Nachtmeister zurück. »So habt ihr es also geschafft«, sagte Raistlin. »Ein Trank.«
»Zweifelst du daran?« grollte der Nachtmeister. Einen Augenblick nahm der Nachtmeister seine Hand von Tolpans Mund.
»Es stimmt«, sagte Tolpan, der sein Gesicht zu einer möglichst gräßlichen Fratze verzog. »Ich bin jetzt unglaublich böse. Tolle Veränderung, was?«
Der Nachtmeister schlang seinen Arm wieder um den Kender, und Tolpan zappelte weiter.
»Ich hätte erwartet«, sagte Raistlin schlicht, »daß so ein Trank keine Langzeitwirkung hat.«
Der Nachtmeister lächelte. »Du hast ganz recht«, knurrte er. »Dogz!« Dogz kam näher, und der Nachtmeister reichte ihm den Kender. »Gib Tolpan seine doppelte Dosis – jetzt!«
Dogz sah den Nachtmeister an, wandte den Blick jedoch sofort zur Seite. Seine Augen trafen kurz die von Raistlin. Dann nickte Dogz dem Nachtmeister zu.
Dieser richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Raistlin. »Ich danke dir, daß du mich erinnert hast.«
Dogz führte den Kender trotz seiner Proteste in eine abseits gelegene Ecke, wo ein kleiner Tisch aufgebaut war. Raistlin sah, wie Dogz den Kender an den Schultern hinsetzte, etwas in einem Becher umrührte und dem Kender den Inhalt einflößte. Anschließend beobachtete Raistlin, wie Dogz den Kender eine Weile ansah, bis der Kopf des Kenders nach vorn sackte und er friedlich auf seinem Stuhl einschlief.
Um sie herum waren die Vorbereitungen für den Zauberspruch in vollem Gang. Fesz und die anderen beiden Minotaurenschamanen warfen händeweise Zutaten, die sie aus Gläsern und Bechern nahmen, in den geöffneten Krater. Nach jahrhundertelangem Schlaf hatte der Vulkan begonnen, zu zischen und zu fauchen. Ein blaßorangefarbenes Licht drang aus der Öffnung des Feuerlochs.
Dogz trottete zu Raistlin und dem Nachtmeister zurück. »Ich hätte den Kender als Blutopfer in Betracht gezogen«, grollte der Nachtmeister, »wenn Kender nicht eine so unbedeutende Rasse wären. Sargonnas würde einen Menschen weitaus vorziehen, und ein junger Magier wie du wird die Wirkung des Spruches deutlich erhöhen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.« Hier hielt er inne und musterte Raistlin genau.
»Ich weiß so wenig von den Sitten der Menschen. Erkläre mir, warum du weder die weißen, die roten noch die schwarzen Roben trägst.«
»Ich habe die Prüfung noch nicht abgelegt«, sagte Raistlin, »und ich habe noch nicht gewählt, welche Farbe ich eines Tages tragen werde.«
»Wenn du eine schwarze Robe hättest«, überlegte der Nachtmeister, »wären wir auf derselben Seite. Du würdest Sargonnas verehren wie ich.«
»Ich weiß nur sehr wenig über Sargonnas. Das ist einer der Gründe, weshalb ich gekommen bin.«
»Du bist gekommen, um deinen Bruder zu retten«, sagte der Nachtmeister höhnisch.
»Teilweise«, antwortete Raistlin, »und teilweise, weil mich alle magischen Orden interessieren – der schwarze, der weiße und der neutrale.«
»Wirklich?«
Die Hohen Drei hatten ihre Vorarbeiten beendet. Dogz stand mit verschränkten Armen im Schatten. Fesz kam zu ihnen und unterbrach ihr Gespräch.
»Verzeihung, Exzellenz«, sagte Fesz, »aber wir sind soweit.«
Der Oberschamane nickte ihm zu. Fesz drehte sich um.
Der Nachtmeister beugte sich zu Raistlin herunter und blies ihm seinen heißen, stinkenden Atem ins Gesicht. Der Oberschamane untersuchte den jungen Magier aus Solace mit neuem Interesse. Raistlin zuckte nicht mit der Wimper.
»Also deshalb«, knurrte der Nachtmeister, »wolltest du freiwillig den Platz deiner Schwester einnehmen… weil du den Spruch beobachten und Sargonnas persönlich kennenlernen wolltest – was dir sicher gelingt, denn du bist das Opfer, das seinen Eintritt in diese Welt ermöglicht.«
Raistlin wartete lange, bevor er seine Antwort gab. »Teilweise«, sagte er nur.
Der Nachtmeister holte aus und schlug Raistlin ins Gesicht, worauf der von dem Stein rollte, der ihm als Stuhl gedient hatte. Blut rann über Raistlins Gesicht. Um das Maß vollzumachen, trat der Nachtmeister den jungen Magier fest in die Seite, als der schon am Boden lag. Noch immer schrie Raistlin nicht auf.
Dogz wartete mit verschränkten Armen und ungerührtem Gesicht.
»Wachen!« schrie der Nachtmeister. Zwei bewaffnete Minotauren lösten sich von den anderen am Rand des Gebiets und rannten herbei. »Bringt diesen armseligen Menschen zum Krater und haltet ihn fest, bis ich ihn brauche!«
Die Soldaten hoben Raistlin hoch und schleppten ihn so nahe an den Kraterrand, daß die Hitze von unten ihn versengte.
Die Hohen Drei stellten sich auf der anderen Seite des Kraters auf.
Der Nachtmeister legte einen scharlachroten Mantel über und stieg über die Stufen das Gerüst hoch. Oben lag auf einem Pult ein dickes Buch.
Raistlin schüttelte den Kopf, um ihn nach dem Schlag des Nachtmeisters wieder klarzubekommen. Er war nur etwas benommen. Obwohl die Soldaten ihn gut festhielten, konnte der junge Zauberer sich verrenken und Tolpan hinter den Hohen Drei erkennen. Der Kender saß immer noch zusammengesunken auf seinem Stuhl.
Auf dem Gerüst hob der Nachtmeister seinen gehörnten Kopf, holte tief Luft und blickte zum Himmel.
Kälte umklammerte den Gipfel, obwohl kein Wind ging. Die Wolken, die den Himmel während der letzten Nächte verdeckt hatten, waren verschwunden. Die Sterne glänzten wie Leuchtfeuer.
Raistlin fühlte nicht nur die durchdringende Hitze des Vulkans, sondern jetzt hörte er auch deutlich die feurige, orangefarbene Flüssigkeit, die allmählich an die Oberfläche hochbrodelte.
Der Nachtmeister begann, in einem alten minotaurischen Dialekt aus dem Buch vorzulesen. Seine kehlige Stimme wurde immer lauter.
Die Hohen Drei begannen im Hintergrund zu murmeln. Raistlin konnte kaum ein Wort verstehen, nur gelegentlich eine Anrufung von Sargonnas. Während der Nachtmeister den Zauber sagte, bewegte er seine kraftvollen Arme auf seltsam schöne Weise. Mit den Händen malte er komplizierte Zeichen in die Luft. Hinter ihm bauschte sich sein Mantel. Die kleinen Glocken an seinen spitzen, gekrümmten Hörnern klingelten eine Begleitmusik zu jeder seiner Bewegungen. Seine tiefe Bullenstimme, die geheimnisvolle Sätze ausstieß, stand in seltsamem Kontrast zu seinen tänzerischen Bewegungen.
Zack! Aus dem Nichts traf ein Gegenstand eine der Minotaurenwachen so kräftig an den Hals, daß der Stiermensch Raistlin auf der Stelle losließ, sich an die Kehle griff und tot umfiel.
Bevor jemand reagieren konnte, erkannte Raistlin im Augenwinkel noch etwas, das vorbeiflog, diesmal noch größer. Es war Tolpan Barfuß.
Aus dem Schatten sprang Tolpan auf den Rücken des anderen Minotaurus, der Raistlin festhielt. Er tat sein Bestes, ein Wesen zu erdrosseln, das dreimal so groß und sechsmal so schwer wie der Kender war. Allerdings machte er seine Sache recht ordentlich, denn der Kender war so hoch oben gelandet, daß der Minotaurus nicht hoch genug greifen konnte, um Tolpan zu erwischen.
Aber gleich darauf kam Fesz angesprungen und riß Tolpan herunter. Obwohl der gleich wieder aufstand, bewegte er sich unsicher. Fesz konnte ihn leicht am Kragen ergreifen und den zappelnden Kender mehrere Fuß hoch in die Luft heben.
»Du machst mir Schande, Kender!« donnerte Fesz, der Tolpan so heftig schüttelte, daß der Kender Schluckauf bekam. »Du, dem ich geglaubt und vertraut habe – du, den ich böse gemacht habe – du, den ich mit dem großen Privileg beehrt habe, die Ankunft von Sargonnas mitzuerleben – du – du – «
Der Minotaurenschamane schäumte vor Wut und Enttäuschung.
Inzwischen hatte sich der Minotaurensoldat wieder gefangen. Er hatte Raistlin nicht einmal losgelassen.
Dem jungen Zauberer fiel kein Spruch ein, den er ohne Zuhilfenahme seiner Hände hätte sagen können. Immer noch gefesselt, blieb Raistlin nichts weiter übrig, als gebannt zu beobachten, wie sich alles entwickelte.
»Großes Privileg« – hicks – »pfui!« Tolpan spuckte Fesz in sein stinkendes Stiergesicht. »Ihr Hornochsen könnt doch Ehre nicht von« – hicks – »Kuhfladen unterscheiden. Ich habe genug von eurem scheußlichen Atem, euren arroganten Hörnern, die sich jeder blöde Ochse wachsen lassen könnte« – hicks – »euren stinkenden Schränken, euren ungehobelten Manieren« – hicks, hicks…
Tolpan war fast lila vom vielen Schütteln.
Plötzlich brachte donnerndes Gebrüll beide zum Schweigen. Alles blickte zur Spitze des Gerüsts, wo der Nachtmeister stand, der bei dem Handgemenge kurzfristig in Vergessenheit geraten war. Mit seinen geballten Fäusten und den wütend gefletschten, spitzen Zähnen war der Nachtmeister wie der Zorn persönlich.
»Ruhe!« brüllte der Nachtmeister herunter. »Ihr unterbrecht den Zauber!«
»Aber – «, grollte Fesz flehentlich, »aber der Kender – «
»Mach Schluß mit ihm«, befahl der Nachtmeister. »Schmeiß ihn in den Krater!«
»Ja«, sagte Fesz schwach.
»Nein!« brüllte eine andere Stimme.
Raistlin, der zum Nachtmeister hochgeschaut hatte, drehte gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie Fesz sich an die Kehle griff. Dort steckte so tief, daß der Schamane ihn nicht herausziehen konnte, ein Dolch mit einem Hförmigen Griff – der sorgsam polierte Katar von Dogz. Fesz ließ Tolpan fallen, der mit einem Bums aufkam. Dann fiel der Minotaurenschamane um. Er war tot.
Vom Gerüst donnerte der Nachtmeister: »Bringt ihn um!«
Dogz versuchte noch nicht einmal davonzurennen und wehrte sich auch nicht, als ihn einige Soldaten umstellten und drohend Speere und Schwerter erhoben. Um die Wahrheit zu sagen, hätte der Minotaurus nicht sagen können, warum er getan hatte, was er getan hatte – das Undenkbare: Verrat. Nur, daß er den Kender, Tolpan Barfuß, mochte. Besonders jetzt, wo Tolpan anscheinend sein altes Selbst wiedergefunden hatte. Dogz hatte aus einem Instinkt heraus reagiert, von dem er vorher nichts geahnt hatte – dem Instinkt der Freundschaft.
Dogz ging in die Knie.
Der Kender kam von seinen hoch.
Hicks.
Obwohl Raistlin von der verbliebenen Minotaurenwache gut festgehalten wurde, versuchte er, einen Spruch zu finden, den er in dieser verzweifelten Lage zustande bringen könnte. Da brachte ihn Tolpans Schluckauf auf etwas: der Unsichtbarkeitszauber, den Raistlin an diesem Tag bereits benutzt hatte, um durch die Minotaurenwache zu schleichen. Er würde Raistlin jetzt nicht viel helfen, aber wenn er ihn auf jemand anderen sprechen konnte… Er würde nicht lange halten, aber doch so lange, daß Tolpan fliehen konnte. Der junge Magier konzentrierte sich. Hinter seinem Rücken bewegte er die Finger in den Fesseln.
Raistlin murmelte die Worte für den Zauber, setzte Tolpans Namen ein und konzentrierte sich mit aller Macht auf die Stelle, an der Tolpan stand.
Mit einem leisen Plopp verschwand der Kender.
Der Nachtmeister, der einen Blitzschlag auf Tolpan vorbereitete, verfluchte sich selbst. »Trottel! Ich bin ein Trottel!« tobte er. »Daran hätte ich denken müssen.« Der Oberschamane lehnte sich über die Brüstung des Gerüsts und schrie dem Soldaten, der Raistlin hielt, zu: »Steck ihm einen Knebel in den Mund und sorg dafür, daß der Zauberer nicht sprechen kann. Dann bring ihn zu mir hoch.«
Der Wächter warf Raistlin auf den Boden und band ihm grob mit einem schmutzigen Stück Stoff den Mund zu. Dann begann er, Raistlin zur Treppe hinzuschleifen.
Der Nachtmeister beugte sich auf der anderen Seite über die Brüstung und brüllte einigen seiner Jünger, die außerhalb der Soldatenreihe standen, zu: »Der Kender ist unsichtbar! Sucht ihn und tötet ihn!«
Vier Minotauren rannten dorthin los, wo der Kender gerade noch gestanden hatte, und begannen, herumzusuchen. Sie bückten sich und sahen argwöhnisch in die dünne Luft.
Hicks.
Jedesmal, wenn die Soldaten einen Hickser hörten, fuhren sie herum und rannten zu einem anderen Fleck, wo sie nach etwas stachen, das nicht da war, und miteinander zusammenstießen.
Der Nachtmeister beugte sich zu den Hohen Drei hinunter, die nach Fesz’ Tod nur noch die Hohen Zwei waren, und rief: »Weitermachen! Der Spruch ist fast vollendet!«
Die beiden Minotaurenschamanen, die durch den unerwarteten Tod von Fesz, dem Nachfolger des Nachtmeisters, erschreckt worden waren, hatten aufgehört zu singen. Sie wirkten verstört. Aber der mörderische Ausdruck im Gesicht des Nachtmeisters reichte aus, damit sie wieder ihre unterstützende Rolle für den Spruch übernahmen und die notwendigen Sätze anstimmten.
Der Nachtmeister richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Raistlin, der gerade von dem Bewaffneten auf die oberste Stufe gezerrt wurde. Der Oberschamane ergriff den Arm des jungen Magiers und befahl dem Soldaten, sich den Truppen unten anzuschließen. Das tat der Minotaurensoldat mit Freuden.
Raistlin konnte weder Arme noch Beine bewegen. Sein Mund war so fest verschlossen, daß er fast erstickte. Der Nachtmeister brachte ihn an den Rand des Gerüsts und hielt ihn über die Kante.
Von diesem Punkt aus schien das flüssige Feuer in der Vulkangrube überzukochen. Die Hitze versengte dem jungen Magier das Gesicht.
»Merk’s dir gut, Zauberer«, zischte der Nachtmeister, »denn bald wirst du vom Herrn der Vulkane verschlungen.«
Mit einer kräftigen Drehung warf der Nachtmeister Raistlin in eine Ecke des Gerüsts. Der Oberschamane wandte sich wieder dem dicken Zauberbuch zu und machte an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte.
Hicks.
Unten versuchten die Akolythen des Nachtmeisters, dem Hicksen nachzulaufen und den unsichtbaren Kender zu fangen. Wieder und wieder griffen sie ins Leere.
Der Nachtmeister verdrängte die Geräusche. Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Erneut begann er, in einem alten Dialekt zu grummeln. Erneut bewegte er die Arme, um den mächtigen Spruch zu sagen.
Raistlin lag zusammengekrümmt in der Ecke der Plattform. Er fühlte sich besiegt. Mit seinen feinen Ohren konnte er das Hicksen unten hören. Der junge Magier wünschte, Tolpan würde Hilfe holen oder flüchten oder wenigstens aufhören zu hicksen.
Der Nachtmeister drehte eine Seite um.
Hicks.
Der Schluckauf kam jetzt seltener – wie Donnern nach dem Durchzug des Sturms. Die Jünger des Nachtmeisters hatten aufgegeben. Sie hatten keine Ahnung, wie sie einen unsichtbaren Kender fangen sollten. Diejenigen, die Tolpan suchen sollten, versammelten sich, weil sie der Anblick fesselte, wie der Nachtmeister auf dem Gerüst seinen großen Zauber wiederaufnahm.
Hicks.
Ein Minotaurensoldat merkte, wie ihm das Schwert aus der Scheide gezogen wurde. Gerade noch rechtzeitig hielt er den Griff fest und eroberte ihn nach einigem Gezerre mit etwas Unsichtbarem zurück. Der Minotaurus schlug nach dem Etwas, traf jedoch daneben. Einer nach dem anderen schlugen die Soldaten um ihn her zu, verfehlten aber ebenfalls. Dann zog ein Soldat sein Schwert, holte wild aus und schnitt dabei dem Minotaurus direkt neben ihm das Ohr ab.
Hicks.
Das Geräusch erklang dort, wo Dogz auf den Knien wartete. Er war von einem Pulk Minotaurensoldaten umgeben. Die Soldaten gingen dem Hickser nach, konnten jedoch nicht genau feststellen, woher er gekommen war. Ein paar von ihnen verließen Dogz, umklammerten ihre Waffen und schnupperten mißtrauisch. Damit verblieben nur drei Wachen bei dem Verräter.
Auf dem Gerüst blätterte der Nachtmeister die Seite um und las mit seiner tiefen Stimme die geheimnisvollen Sätze längst vergangener Zauberei weiter vor.
»Psst, Dogz! Ich bin’s, Tolpan.«
Dogz’ traurige Augen gingen auf, doch er sorgte sich mehr um die Sicherheit des Kenders als um sich selbst. Die drei Wachen standen einige Fuß weiter mit dem Rücken zu ihm, denn sie beobachteten den Nachtmeister. Sie hatten Tolpan nicht gehört.
Mit den Augen gab Dogz zu verstehen, daß er ihn gehört hatte.
»He, ich möchte dir danken, daß du Fesz getötet hast! Das war wirklich eine tolle Sache. Du bist ein wahrer Freund! Natürlich hätte ich das auch schon längst getan, wenn nur – «
Mit den Augen versuchte Dogz, dem Kender mitzuteilen, daß er von hier verschwinden sollte – weit fort von Dogz –, bevor die bewaffneten Wachen sich umdrehten.
»Sag mal, Dogz, du hast nicht zufällig einen kleinen Dolch oder so was-«
»Fesz«, knurrte Dogz so leise wie möglich.
Eine der Wachen hörte ihn. Sie drehte sich um und starrte Dogz argwöhnisch an. Der zuckte mit den Achseln. Die Wache kam herbei und stocherte mit ihrem Speer in der Luft herum, ohne etwas zu treffen.
Hicks.
Die Minotaurenwache rammte Dogz das stumpfe Ende des Speers in den Bauch. Dogz klappte japsend zusammen.
Auf dem Gerüst blätterte der Nachtmeister die letzte Seite um. Er ließ sich einen Augenblick Zeit, atmete tief durch und zog ein paar trockene Blätter und andere Dinge aus kleinen Beuteln an seinem Gürtel. Diese magischen Zutaten warf er in den Vulkan.
Ein Teilchennebel erhob sich aus dem Krater, breitete sich aus und erfüllte mit seinem orangeroten Licht die Luft. Der Nebel war heiß und trocken.
»Die Jalopwurz«, knurrte der Nachtmeister und nickte Raistlin zu, »und der Rest der übrigen Ingredienzien, die man für den Spruch braucht.«
Raistlin, der an einem der Eckpfosten lehnte, starrte teilnahmslos geradeaus. Sobald der Nachtmeister sich wieder seinem Zauberbuch zuwandte, nahm er seine verzweifelten Bemühungen wieder auf, das Seil durchzutrennen, indem er es an der Holzecke des Gerüsts rieb.
Hicks.
Auf dem Boden versuchte etwas Unsichtbares, den Katar aus Fesz’ Hals zu ziehen. Keiner achtete mehr auf den toten Schamanen, so daß Tolpan seinen Fuß auf Fesz’ Kopf stellen und mit beiden Händen ziehen konnte. Keiner bemerkte, wie der Katar aus dem Körper des Minotaurus glitt und unter Tolpans Tunika verschwand.
Zum Glück hatte Tolpan den Schluckauf endlich überwunden.
Zu seinem Pech würde er nicht mehr lange unsichtbar bleiben.
So vorsichtig, wie er konnte, schlich sich der unsichtbare Tolpan leise an der Minotaurenwache vorbei, die unten am Gerüst stand. Auf Händen und Knien kroch er eine Stufe nach der anderen zu Raistlin hoch.
Der Zauberer hörte das seltsame Kratzen und Rascheln auf den Stufen hinter sich und erstarrte. Noch während er das tat, merkte er, wie eine scharfe Klinge die Seile durchzuschneiden begann, die seine Hände banden.
Bei einem Blick über die Schulter sah Raistlin Tolpan auf der vorletzten Stufe. Der Kender wurde allmählich sichtbar. Raistlin schüttelte heftig den Kopf, um den Kender zu warnen, aber Tolpan war so in seine Aufgabe vertieft, daß er Raistlin nicht ansah. Selbst wenn er das getan hätte, hätte der Kender nicht die leiseste Ahnung gehabt, was der Magier ihm sagen wollte.
Der Nachtmeister hörte ein Geräusch zu seinen Füßen.
Als Tolpan aufschaute, sah er, wie der Nachtmeister nach ihm griff.
Pfeilschnell zog Tolpan den Katar zurück und warf sich nach links. Auf dem Boden des Gerüsts kam er hoch und stach nach vorn und nach unten. Der Katar sank in den gespaltenen rechten Huf des Nachtmeisters.
Der Oberschamane der Minotauren heulte vor Schmerz auf, riß den Katar heraus und schleuderte ihn über die Seite des Gerüsts. Schäumend vor Wut riß der Nachtmeister einen Fetzen Tuch von seinem Mantel ab und wickelte ihn um seinen Fuß, aus dem das Blut nur so strömte. Dann warf er den Kopf hoch und suchte mit geblähten Nüstern nach Tolpan.
Tolpan war einer Panik so nahe, wie ein Kender das überhaupt sein kann. Erstarrt vor Schreck versuchte er zu entscheiden, ob er bleiben oder davonrennen sollte. Da sah er, wie die hervorquellenden Augen des Nachtmeisters ihn suchten. »Oh-oh«, murmelte er und entschied sich sofort fürs Rennen.
Aber es war zu spät. Der Nachtmeister hatte die kurze Entfernung zwischen ihnen im Nu überwunden und schnappte sich den Kender mit seiner Riesenhand. Mit ohrenbetäubendem Brüllen holte der Oberschamane aus und schleuderte Tolpan weit hinaus über den Schlund des Vulkans.
Tolpan fiel und fiel dem flüssigen Glutofen entgegen…
…nur um von etwas aufgefangen zu werden, das zu ihm heruntersauste.
Dem Nachtmeister blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen, als ein Kyriekrieger den Kender mit seinen Klauen im Flug auffing. Der Kyrie brauste nach oben, an dem Schamanen vorbei und zum Boden, wo er den verblüfften Tolpan Barfuß ein Stückchen weiter absetzte.
Als der Nachtmeister von einer Seite des Gerüsts zur anderen rannte und hinunterblickte, sah er, daß eine kleine Gruppe Kyrie und Menschen seine Minotauren in einen Kampf verstrickt hatte. Zahlreiche Minotauren lagen tot oder verwundet auf dem Boden, während andere sich zurückgezogen hatten, um sich hinter Lavabrocken zu sammeln, von wo aus sie Speere warfen und mit Pfeilen auf die Eindringlinge schossen.
Der Nachtmeister konnte die Menschenfrau, Kitiara, unter den Angreifern erkennen, doch er hielt vergeblich nach seinen zwei Schamanen Ausschau, die ihre Posten verlassen hatten und in dem Getümmel untergegangen waren.
Am Fuß des Gerüsts sah der Nachtmeister einen starken, braunhaarigen Menschen die einzige Wache bedrohen. Mit einem Schwert kämpfte er gegen die Stange des Minotaurus. Obwohl er dem Wächter schwer zusetzte, hielt dieser wacker die Stellung, denn er nutzte seinen größeren Körper aus, um die Schläge abzuwehren und den Menschen nicht auf das Gerüst zu lassen.
Da der Nachtmeister von diesem Anblick zunächst erschüttert war, taumelte er zurück. Alle seine Pläne – verdorben von einem Kender, ein paar Kyrie und einer Handvoll armseliger Menschen! Dieser Gedanke ließ seinen wahnsinnigen Zorn neu auflodern.
Der Oberschamane trat vor und hob beide Arme zum Himmel. Er rief einen magischen Befehl. Sein rechter Arm fuhr hinunter.
Ein Dutzend gleißender Feuerbälle explodierten bei der Gruppe der Menschen und Kyrie.
Zwei Minotaurensoldaten, die gegen die Eindringlinge gekämpft hatten, waren sofort eingeäschert. Einer der Kyrie wand sich auf dem Boden, wie der Nachtmeister zufrieden feststellte. Seine Flügel standen in Flammen. Ein anderer Kyrie beugte sich über seinen Kameraden und versuchte, die Flammen zu ersticken.
Lachend über ihre nutzlosen Versuche bereitete der Nachtmeister seinen nächsten Spruch vor.
Da erinnerte ihn ein Geräusch von hinten an Raistlin Majere.Unten am Boden wich Tolpan hüpfend den Feuerbällen aus, die überall um ihn herumsausten. Er wunderte sich über die Vogelwesen, die auf der Seite von Caramon und, wie er glücklich feststellte, von Tanis und Kitiara zu kämpfen schienen.
»Hei, Kitiara! Wie bist du denn entkommen?« schrie der Kender, als er zur Seite rannte und dann auf Händen und Knien durch den Rauch kroch, weil er anscheinend etwas suchte.
Ihm fiel auf, daß Kitiara ihm nur einen kurzen, finsteren Blick zuwarf, ehe sie einem heranstürmenden Minotaurus ihr Schwert in die Seite stieß. Sie wich in einen verrauchten, dunklen Abschnitt zurück, gefolgt von einigen der Vogelmenschen. Warum hatte Kit immer so schlechte Laune? Er hatte sie doch nett begrüßt?
Der Rauch ließ Tolpans Augen tränen. Er tastete auf dem Boden herum, bis seine Hände endlich das fanden, wonach er gesucht hatte. Bevor er aufstehen konnte, stellte sich ein Fuß fest auf seine Hand.
Tolpan sah hoch und grinste dann erleichtert. »Hallo, Tanis! Mann, tut das gut, dich zu sehen. Und Caramon und Kitiara. Wo ist Flint?«
Der Halbelf starrte ihn forschend an. »Auf wessen Seite stehst du, Tolpan?« fragte er streng.
»Aber, Tanis«, sagte Tolpan zutiefst gekränkt. »Was für eine Frage! Ich bin natürlich auf deiner Seite. Bist du nicht auf meiner? Es stehen nur Raistlin und ich gegen all diese Minotauren, und wir könnten wirklich etwas Hilfe gebrauchen.«
Tanis sah den Kender an. Dann nahm er langsam seinen Fuß hoch. Tolpan griff nach seinem Hupak und kam dann mit Tanis’ Hilfe auf die Beine. Betrübt rieb sich Tolpan die Hand.
»Du hast nicht zufällig ein Schwert übrig, hm?« fragte der Kender bittend.
Tanis schüttelte den Kopf, zog jedoch einen Dolch aus der Scheide und gab ihn Tolpan mit dem Heft voran.
Der Kender nahm ihn eifrig. Das Messer würde reichen. Immerhin hatte er seinen geliebten Hupak wieder.
Der Halbelf lächelte ihm zu. »Klar bin ich auf deiner Seite… wenn du auf meiner bist. Es hat da in letzter Zeit ein paar komische Gerüchte über dich gegeben.«
»Wirklich?« meinte Tolpan mit breitem Grinsen. »Tja, ich habe einiges erlebt. Erst wurden wir von dem Kapitän der Venora verraten – ich mochte ihn sowieso nicht. Ich habe ihn Alte Walroßfratze genannt. Dann kam dieser unglaublich große Sturm, bloß war das gar kein richtiger Sturm, sondern – «
Drei Minotauren mit beschlagenen Keulen und Schwertern brachen durch den Rauch und griffen sie an.
Tanis fuhr wütend herum, bremste ihren Angriff ab und rannte dann nach einer Seite davon. Tolpan lief in die andere Richtung.
Einer der Kyrie war bei dem Feuerballbeschuß gefallen. Ein anderer hatte seinen Kameraden zur Seite gezogen und war von der Gruppe getrennt worden.
Tanis war verschwunden.
Die anderen sammelten sich an einem kleinen Vorsprung. Eine Gruppe Minotaurensoldaten setzte ihnen zu. Kitiara und Yuril schlugen mit dem Rücken zum Fels mit ihren Schwertern nach zwei Stiermenschen. Wolkenstürmer und drei andere Kyriekrieger kämpften in der Nähe und wehrten mehrere Minotauren mit gekrümmten Keulen ab.
Einer der Minotauren kam näher und stach mit dem Schwert nach Yuril. Er traf sie in die Seite. Sofort fuhr Kitiara herum und schlitzte dem Angreifer am Ellbogen den Arm auf. Der Minotaurus wich zurück. Er umklammerte den Arm, um den Blutfluß zu stoppen. Sein Kamerad schubste ihn beiseite und stürzte sich auf Kitiara, solange sie ihre Stellung noch nicht wieder eingenommen hatte.
Wenigstens dachte Kit, er hätte sich gestürzt, aber als sie ungeschickt auswich, fiel der Minotaurus einfach weiter und blieb mit dem Gesicht nach unten tot liegen. In seinem Nacken steckte ein kleines Messer.
Sie erhaschte gerade noch einen Blick auf den Kender, der davonrannte.
Yuril brach zusammen. Kitiara hielt sie an den Schultern fest. »Schaffst du’s?« fragte sie. Yuril nickte schwach und wurde ohnmächtig.Tolpan konnte Dogz einfach nicht finden.
Die Minotauren hatten den Verräter zum Rand des Schauplatzes geschleppt, wo ein Stiermann den Gefangenen abseits vom übrigen Geschehen nervös bewachte. Dogz saß betroffen da und starrte auf seine Füße. Er war in seiner eigenen Welt. Plötzlich hörte er einen lauten Rums. Als er hochsah, ging der Minotaurensoldat in die Knie, griff sich an den Hals und kippte dann vornüber in den Staub.
Tolpan schlenderte heran.
»Liegt alles im Handgelenk«, prahlte er. »Nicht jeder Kender kann einen Hupak so gut werfen wie ich. Ach, ich könnte wirklich behaupten, kaum ein Kender kann einen Hupak so gut werfen wie ich. Gut, vielleicht Onkel Fallenspringer, aber der hat es mir schließlich beigebracht!«
Mitten in dem lärmenden, rauchverhangenen Getümmel um sie herum band Tolpan Dogz rasch los.
Dogz bewegte sich nicht. »Du bist zurückgekommen, Freund Tolpan«, sagte er, doch seiner Stimme fehlte der gewohnte hallende Klang.
»Das war ich dir doch schuldig, oder?«
»Es ist schön, daß du wieder so bist wie früher«, sagte der Minotaurus. »Also hat das Gegengift der Frau gewirkt.«Der Minotaurensoldat erwies sich als zäh, wild und kampferfahren. Caramon kam nicht an ihm vorbei.
Es schien ein Patt zu sein, bis Tanis angelaufen kam und Caramon mit seinem Schwert unterstützte. Der Halbelf schlug zu, während Caramon weiter zustach. Ihre Waffen trafen gegen die Stange des Minotaurus.
Zum ersten Mal sah Caramon einen Anflug von Panik in den Augen des Soldaten. Der Minotaurus stolperte und zog sich ein paar Schritte zurück. Alle seine Bewegungen waren jetzt nur noch Verteidigung, und Tanis und Caramon nutzten ihren Vorteil. Der Minotaurus ermüdete offensichtlich allmählich unter ihrem Angriff und würde nicht mehr lange durchhalten.Auf dem Gerüst stellte sich der Nachtmeister Raistlin Majere.
Nachdem Tolpan das Seil um seine Hände durchtrennt hatte, hatte der junge Magier rasch auch den Strick um seine Füße gelöst. Jetzt stand er blaß und schwitzend mit festem Blick da wie ein Tier, das gleich losspringen würde.
»Die Dinge laufen nicht gerade gut… was?« sagte Raistlin mit leiser, entschlossener Stimme.
Der Nachtmeister war vom alptraumhaften Ablauf der Ereignisse überrollt worden. Aber jetzt weckte der Mensch vor ihm, der irgendwie seine Pläne durchschaut und sich mit anderen verschworen hatte, um sie scheitern zu lassen, erneut seine Entschlossenheit. Der Oberschamane der Minotauren starrte auf den viel kleineren Raistlin herab. Zufrieden stellte er fest, daß der winzige Mensch keine Waffe hatte.
»Der Spruch ist gesagt«, grollte der Oberschamane. »Jetzt fehlt nur noch das Opfer. Und wie ich sehe, bist du immer noch hier, Raistlin Majere aus Solace. Mir scheint, es hat genug Unterbrechungen und Verzug gegeben. Die Stunde deines Todes ist da. Sargonnas wartet!«
Raistlin war weiter vorgerückt, während der Nachtmeister gesprochen hatte. Jetzt sprang er los – von dem Oberschamanen zum Zauberbuch, das auf dem Pult lag. Er riß das Buch hoch und hielt es vor sich.
Der Nachtmeister hielt inne und hinkte überrascht auf Raistlin zu. »Was soll das, Zauberer?« sagte der Minotaurenschamane höhnisch. »Glaubst du, dir bleibt noch Zeit, einen Spruch zu lernen, um mich zu besiegen? Oder willst du mein Zauberbuch bloß als Schild verwenden?«
Raistlin fuhr herum und schleuderte das Zauberbuch über den Schlund des Vulkans.
»Nein!« schrie der Nachtmeister, der vergeblich dem Buch nachsetzte. »Nei-i-i-n!«
Gerade als der Minotaurus Raistlin den Rücken zudrehte, kamen Tanis und Caramon oben auf dem Gerüst an. Sie warfen ihre Waffen auf die große Gestalt. Zwei Schwerter fuhren in den Rücken des Nachtmeisters. Der Oberschamane hing noch einen Augenblick am Rand des Gerüsts, verlor dann den Halt und stürzte kopfüber in den Feuerkrater.
Caramon und Tanis umarmten Raistlin.
Fragend schaute der junge Magier auf den Kampf, der unten weiterging.
»Kit geht es gut«, erklärte Caramon schnell. »Tolpan auch. Wir tun unser Bestes, die Minotauren zu besiegen!«
»Wir haben keine Zeit mehr«, sagte Raistlin angespannt. »Wir müssen uns beeilen.«
Caramon und Tanis sahen, daß aus dem Schlund des Vulkans bereits eine rote Wolke drang. Wie ein feuriger Wirbelwind wuchs sie an. Sie mußten das Gesicht von der sengenden Hitze abwenden.
Ein Geräusch wie das von hunderttausend Pferdehufen begleitete die Wolke. Caramon warf einen kurzen Blick in den orangeroten Feuersee, dessen riesige Wellen hochschwappten, bevor Raistlin ihn fortriß. Caramon und Tanis wurden von dem jungen Magier die Stufen des Gerüsts hinuntergedrängt.»Kitiaras Gegengift?« fragte der Kender begriffsstutzig.
»Ich habe es dir statt deiner üblichen Doppelportion verabreicht«, sagte Dogz ernst.
»Ja, genau, darüber hatte ich noch mit dir reden wollen. Der Trank hat noch nie besonders gut geschmeckt, aber beim letzten Mal war es noch schlimmer…«
Plötzlich hielt der Kender inne. Er hörte ein seltsames Geräusch, das ganz anders klang als die Kampfgeräusche, die er bisher gehört hatte. Tolpan schaute zum Gerüst hoch. Es stand leer. Ein Feuersturm brauste aus dem Maul des Vulkans empor und loderte über den Platz.
»Oh-oh«, schluckte Tolpan. »Darüber reden wir später. Jetzt verschwinden wir lieber.« Er zupfte an Dogz, der noch nicht aufgestanden war.
»Ich komme nicht mit«, sagte Dogz.
»Was machst du?«
»Ich komme nicht mit«, wiederholte Dogz. Jetzt stand er auf, bückte sich und legte dem Kender die Hände auf die Schultern. Dogz sah seinem Freund in die Augen. »Ich habe meiner Rasse Schande gemacht«, sagte der Minotaurus. »Ich habe Befehle mißachtet. Ich bin entehrt.«
»Wie?« stotterte Tolpan, der sich wild umsah. Minotauren rannten schreiend an ihnen vorbei und warfen ihre Waffen weg. In dem Durcheinander von Feuer und Rauch konnte er keinen seiner Freunde entdecken. »Was soll das heißen? Du hast mir das Leben gerettet! Für mich bist du ein Held!«
Dogz drückte Tolpans Schultern. Seine Augen waren feucht. »Geh, Freund Tolpan«, sagte Dogz traurig. »Rette dich. Ich bin es nicht wert, gerettet zu werden. Ich bin entehrt.« Er setzte sich wieder hin.
Tolpan wollte wütend etwas erwidern, als eines dieser riesigen, gefiederten Wesen herunterstieß und ihn in die Luft hob. Das Wesen schloß sich einigen anderen fliegenden Vogelmenschen an. Jeder schien einen Menschen mitzuschleppen.
Die Kyrie wendeten scharf und stiegen dann auf. Sie hatten sich gerade über den Rauch und das Feuer erhoben, als sie eine furchtbare Explosion hörten. Als Tolpan und die anderen sich umschauten, konnten sie eine kolossale, rote Flammensäule aus dem Mund des Vulkans hochschießen sehen. Die Säule stand in der Luft und formte sich zu einer Gestalt, die einem Riesenkondor sehr ähnlich sah. Minutenlang ließ der Kondor tödliches Feuer auf jeden herunterregnen, der noch auf der Spitze des Vulkans ausharrte. Nach einiger Zeit löste sich der Kondor auf, die Säule zog sich zurück, und der Vulkan beruhigte sich.
Sargonnas war gekommen und wieder gegangen.

Epilog

Die Orughi warteten zu Hunderten vor der Küste von Spornheim, bis sie langsam erkannten, daß der Zauber nicht gewirkt hatte. Sargonnas kam nicht – noch nicht. Mit Enttäuschung in den Knopfaugen drehten die Orughi von Karthay ab und hielten auf die kleineren, noch ungastlicheren Inseln zu, die sie bewohnten. Sie schwammen nach Norden. Die vielen hundert starken Flossen wühlten das Wasser so auf, daß man nach ihrem Abzug eine meilenlange Schaumspur sehen konnte. Die Oger in ihren Kriegsschiffen nahe der Staße am Land Ho erkannten ebenfalls, daß die Zeit vorüber war. Oolong Xak, der Kommandant der Flotte der Ogerstämme, gab den Dutzenden von Kriegsschiffen das Zeichen zum Umkehren – zurück nach Ogerstadt und zum Kontinent Ansalon. Wenigstens, dachte Oolong Xak aufatmend, hatten die Oger kein Bündnis mit den verachteten Orughi geschlossen. Schlimm genug, daß die Ogerhäuptlinge zugestimmt hatten, sich den Minotauren anzuschließen. Die Stiermenschen hatten mit ihrem verrückten Traum von Sargonnas Rückkehr jedermann an der Nase herumgeführt.

Weitab im Palast der Stadt Lacynos nahmen die acht Minotauren vom Obersten Kreis die Nachricht vom Mißerfolg des Nachtmeisters unterschiedlich auf.

Eines war jedenfalls sicher. Diese Wendung der Ereignisse bedeutete einen großen Ehrverlust für ihren König. Nachdem dieser von dem Fehlschlag gehört hatte, verließ er auf der Stelle den Obersten Kreis und kehrte in seine Residenz zurück.

Obwohl Atra Cura den König unterstützt hatte, warf diese politische Fehleinschätzung kein schlechtes Licht auf den Anführer der minotaurischen Piraten. Statt dessen bestärkte sie ihn in seinem größenwahnsinnigen Glauben, daß der König stürzen und daß er, Atra Cura, sein Nachfolger sein würde – vielleicht schon im nächsten Jahr.

Der Marinekommandant, Akz, der Kommandant der minotaurischen Armee, Inultus, der Gelehrte und Historiker, Juvabit, der Schatzmeister, Groppis und der Meister der Baugilde, Bartill – diese fünf Ratsmitglieder verharrten noch lange im Saal, nachdem sie die bestürzende Nachricht vom Tod des Nachtmeisters erhalten hatten. Sie versuchten einander mit ihren Beteuerungen zu übertrumpfen, daß jeder insgeheim die Schwächen an den Plänen des arroganten Oberschamanen erkannt hätte.

Vor seiner Abreise sprach Victri, der Führer der Landminotauren, eindringlich über den Patriotismus, der im Herzen jedes Stiermenschen brannte, und wie das minotaurische Königreich trotz gelegentlicher Rückschläge eines Tages ganz Ansalon überrennen würde.

Was Kharis-O, die Vertreterin der minotaurischen Nomaden, anging, so funkelte sie die anderen wütend an und verschwand ohne ein Wort.Auf der Insel Karthay sammelten sich die Gefährten wieder auf dem hochgelegenen Platz, wo sie in der Nacht vor dem Angriff auf die Ruinenstadt gelagert hatten.

Die minotaurischen Truppen waren versprengt. Wer sich noch auf dem Gipfel des Vulkans aufgehalten hatte, war von der Säule aus Feuernebel verbrannt worden, die kurz aus dem Krater aufgeflammt war. Nach dem Ende der Kämpfe war die Armee der Wüstentiere und Roche, die den Gefährten geholfen hatte, die Minotauren zu besiegen, in ihre Baue und Höhlen zurückgekehrt.

Kirsigs Körper wurde von Flint ins Lager zurückgetragen. Der Zwerg hatte ganz allein ein einfaches Grab ausgehoben, an einer Stelle, wo der Boden nicht allzu hart war. Er steckte ihr Schwert in den frischen Hügel, damit es alle sehen konnten.

»Kirsig sagte, sie wäre Putzfrau und Heilerin«, sprach der Zwerg an ihrem Grab. Er zupfte an seinem Bart und schaute zu Boden. »Aber diejenigen von uns, die an ihrer Seite gekämpft haben, wissen, daß sie das wahre, nicht wankende Herz eines Kriegers hatte. Und wir werden sie vermissen«, fügte er hinzu, während er ein paar Tränen, die man selten bei ihm sah, aus den Augen wischte.

Zwei der Seglerinnen von der Castor und drei der Kyriekrieger waren bei dem Angriff umgekommen, einschließlich Vogelgeist. Es war Vogelgeist gewesen, der auf dem Gipfel des Dachs der Welt verbrannt war.

Sturm trauerte um den Kyrie, der ihn vor dem sicheren Tod in der Grube des Untergangs bewahrt hatte.
Wolkenstürmer trauerte um seinen Freund. Ja, Vogelgeist war in der Schlacht gestorben, und das war für jeden Kyrie ein ehrenvoller Tod. Aber sein Körper war auf der Bergspitze zurückgeblieben, als der Vulkan mit seinem tödlichen Feuerregen ausbrach. »Unsere Toten werden immer in einem Scheiterhaufen über der Erde verbrannt«, erzählte Wolkenstürmer Sturm traurig. »Aber die Asche muß in alle vier Himmelsrichtungen verstreut werden. Sicher hat die Lava den Körper von Vogelgeist bedeckt. Im Tod wird er nie frei werden.«
Wo sie verletzt worden war, fühlte Yurils Seite sich wund an, eine Wundheit, die sie für den Rest ihres Lebens begleiten würde. Aber sie würde sich erholen und überleben. Caramon versorgte sie während ihrer Genesung, brachte heißen Tee und Heilmittel bei Tag und Decken bei Nacht.
Wenn Flint die beiden beobachtete, beschwerte er sich jammernd bei Tanis: »Er erinnert mich an Kirsig – verhält sich wie eine Frau.« Tanis nickte nur, denn er bewunderte Caramons Zärtlichkeit.
Die Kyrie flogen weiterhin lange Kundschaftsflüge. Eines Tages kehrte einer zurück und berichtete Wolkenstürmer, daß ein Schiff, die Castor, an der Südküste wartete. Als Yuril und die beiden überlebenden Seefahrerinnen das hörten, berieten sie sich und gaben bekannt, daß sie beschlossen hätten, wieder in See zu stechen. Erstaunt versuchte Caramon, Yuril zu überreden, bei ihnen zu bleiben.
»Nein«, lachte die große, starke Steuerfrau. »Du verstehst das nicht, was? Mit Kapitän Nugeter ist nicht gut Kirschenessen, aber ich gehöre aufs Meer, und das weiß er. Du hast deinen Bruder wieder. Ich muß wieder aufs Meer zurück.«
Raistlin und Tanis verabschiedeten sich von Yuril und gelobten ewige Dankbarkeit. Flint schüttelte ihr und den anderen feierlich die Hand. Kit umarmte Yuril. Caramon drückte Yuril nach kurzem Schmollen einen Kuß auf die Lippen, der so lange dauerte, daß Tolpan ihn antippen mußte.
Drei der Kyrie trugen die Seefahrerinnen zum Schiff zurück, das sie erwartete.
Vier Kyrie kehrten zurück – die drei, die zur Castor geflogen waren, und ein Bote von der Insel Mithas.
Ein Posten brachte Nachricht aus dem Kerker in Atossa. Morgenhimmel war tot. Der gebrochene Vogelmann, Wolkenstürmers Bruder, war gestorben, ohne seinen grausamen Häschern etwas zu verraten.
Wolkenstürmer weinte, als er dies erfuhr.
»Du mußt zurück«, sagte der Kyriebote zu Wolkenstürmer. »Sonnenfeder ruft dich. Er sagte, ich sollte dir ausrichten, daß die Herrschaft nun an dich fallen wird.«
Wolkenstürmer sammelte seine Himmelskrieger und gab bekannt, daß sie sofort nach Mithas zurückkehren würden. Die Gefährten kamen zusammen, um sich traurig von dem alten Volk zu verabschieden, das ihnen dabei geholfen hatte, Sargonnas aufzuhalten.
»Wir werden uns wiedersehen«, sagte Raistlin feierlich.
»Das werden wir ganz bestimmt«, sagte Wolkenstürmer.
Sturm schloß Wolkenstürmer steif, aber herzlich in die Arme.
Caramon trat vor, ohne zu wissen, was er sagen oder tun sollte. Er hatte Wolkenstürmer in der kurzen Zeit so gut kennengelernt. Er würde seinen Kyriefreund nie vergessen.
Wolkenstürmer sah den Menschen an. Er hob Caramons Arm an und zog den Ärmel hoch, bis er die Narbe von der Nacht des Seedrachens fand. Der Kyrie berührte die Narbe mit zwei Fingern und führte dann die beiden Finger an seine Lippen.
»Krieger«, sagte Wolkenstürmer. »Bruder.«
»Krieger«, wiederholte Caramon. »Bruder.«
Als die Kyrie losflogen, erzeugten sie mit ihren riesigen Schwingen ein eindrucksvolles Rauschen.Seit dem Angriff auf die Ruinenstadt und der Niederlage des Nachtmeisters waren sieben Tage vergangen, seit der Abreise der Kyrie zwei Tage.
Es herrschte Aufbruchstimmung unter den Gefährten. Obwohl einige verletzt waren und ihre Wunden pflegten, ging es keinem so schlecht, daß er oder sie nicht weiterziehen konnte. Dennoch verharrten die sieben Freunde auf dem hohen Plateau über der zerstörten Stadt, wo sie in der Ferne noch den rauchenden Gipfel des Dachs der Welt ausmachen konnten.
Tolpan hatte versucht, alle zu überzeugen, daß er eigentlich nie richtig böse gewesen war. Es war alles ein fabelhaftes Theater gewesen, erklärte der Kender beharrlich.
Dennoch hatte Sturm dem Kender eine ausführliche Predigt gehalten. Insgeheim glaubte er, daß der böse Kender ihn in Atossa um ein Haar umgebracht hätte. Keiner konnte den Solamnier vom Gegenteil überzeugen. Und keiner wußte so recht, ob er es überhaupt versuchen sollte.
Am späten Nachmittag, als die Essenszeit nahte, sah Flint, wie Tolpan und Sturm wieder heftig stritten. Auf einmal krümmte sich der Zwerg und hielt sich den Bauch vor Lachen. Sturm wollte wissen, was Flint so komisch fand.
»Ke – Ke – Kender ohne Zopf!« platzte der Zwerg heraus. »Solamnier mit halbem Schnurrbart!«
Alle lachten mit – bis auf Sturm, der nicht verstand, was daran so überaus lustig sein sollte.
Tolpan lachte am längsten. Als er sich schließlich wieder beruhigt hatte, wurde er ganz ernst. »Du glaubst mir doch, nicht wahr, Raistlin?«
»Ja, das tue ich«, sagte Raistlin schlicht.
»Seht ihr! Raistlin glaubt mir!« rief der Kender strahlend.
»Mein Bruder ist sehr klug«, sagte Kitiara, die ein Feuer für das Abendessen aufbaute, »aber er hat eine Schwäche für Kender.«
»Was glaubst du, Kitiara?« fragte Sturm, der auf eine Verbündete hoffte.
»Das habe ich schon gesagt«, antwortete Kit. »Er war böse, bis Dogz seinen Trank durch mein Gläschen Leucrottaspeichel ersetzte. Ohne Dogz wäre Tolpan immer noch böse – und wir vielleicht alle tot.«
»Leucrottaspeichel?« wiederholte Sturm verwirrt.
»Er wirkt bei Liebestränken als Gegengift«, warf Tanis ein, »und Kitiara dachte, wenn er bei Liebestränken wirkt, könnte er bei dem Gesinnungstrank dieselbe Wirkung haben. Hat er wohl auch, denn Tolpan ist hier und ist nicht mehr böse.«
»Der große Experte für Liebestränke«, murmelte Flint, der die Augen verdrehte. Er gab Kit einen großen Topf, damit sie Wasser holen ging.
Tolpan grinste breit, um jedem zu beweisen, daß er nicht mehr böse war.
»Hm, vielleicht«, sagte Sturm zweifelnd.
»Ist das möglich?« fragte Caramon Raistlin.
»Möglich«, sagte sein Bruder unbeteiligt.
»Was ich schon lange mal fragen wollte, Kit«, sagte Tanis, »wenn du mit Onkel Nelltis eine Leucrotta gejagt hast, wie bist du dann so schnell nach Karthay gekommen?«
Auch die anderen waren auf die Antwort gespannt. Aber Kit war verschwunden, um den Kochtopf zu füllen.
Als sie wiederkam, diskutierten die anderen bereits über ein neues Thema – die vertraute Debatte der letzten Woche: Wo sollten sie hinziehen, und was sollten sie als nächstes tun?
Seit acht Tagen lagerten sie hier oben, begruben die Toten, verabschiedeten sich von heimkehrenden Freunden und schoben ihre eigenen Pläne auf.
»Ich sage euch, was ich gerne tun würde«, sagte Caramon kühn. »Ich würde gerne nach Mithas zurückkehren und Wolkenstürmer und die Kyrie im Krieg gegen die Minotauren unterstützen. Ich möchte den Tod von Morgenhimmel rächen!«
»Ich würde auch gern nach Mithas zurückgehen«, stimmte Sturm zu. »Ich würde diesem Gladiator, Tossak, gern noch einen Hieb versetzen, jetzt, wo ich wieder fit bin.«
»Gibt es viele Schätze in diesen Minotaurenstädten?« fragte Kit.
»Klar!« rief Tolpan.
»Ich weiß nicht«, sagte Tanis nachdenklich. »Ich vermisse Solace, aber wenn wir schon einmal so weit weg sind – nämlich auf der anderen Seite der Welt –, finde ich doch, daß wir das nutzen sollten, um Land und Leute kennenzulernen. Was meinst du, Raistlin?«
Der Wind hatte aufgefrischt. Die Nacht brach an, und mit ihr wurde es kälter. Lunitari und Solinari gingen auf.
Der junge Magier lächelte dünn. »Wir können nicht für immer hierbleiben. Und der Heimweg wird sicherlich kein Zuckerschlecken. Also finde ich, wir sollten morgen früh abstimmen. Wie das auch ausfällt, wir machen das, was wir beschließen, und brechen auf.«
Sie wurden von ungewohntem Krach unterbrochen. Die Gefährten sahen zu Flint hinüber, der am Feuer stand. Ein appetitlicher Geruch wehte aus dem großen Topf herüber. Der graubärtige Zwerg funkelte sie an, während er mit einem großen Holzlöffel gegen den Topf schlug.
»Reden, reden, reden!« schäumte der Zwerg. »Kommt essen!«