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Vater und Sohn

 

Er versiegelte die Tür mit einem Zauber, damit niemand hereinkam, und erkundete die Nische hinter dem Spiegel. Es war nur ein dunkler kleiner Raum, doch der Spiegel erwies sich als Einwegspiegel, der von der anderen Seite Licht durchließ.

Sam ließ sich mit untergeschlagenen Beinen am Rande des Bannkreises nieder und sah auf das Messer, das in der Mitte lag. Schließlich sagte er in die Luft hinein: »Es ist eigentlich ein unnötiges Ritual. Du bist überall, warum also sollte ich mein Blut vergießen müssen, um dich zu rufen? Das ist nur der schmerzhafte Teil eines Zaubers, den man erfunden hat, damit dumme Menschen sich bei ihrer schwachen Magie besser fühlen. Aber ich weiß es. Du bist überall. Du wirst immer überall sein, denn es gibt keine Möglichkeit, der Zeit zu entkommen. Also zeig dich. Rede mit mir.«

Und wo niemand gewesen war, stand jetzt einer. Oder hatte vielleicht sogar die ganze Zeit dort gestanden. Er trug einen silbernen Kronreif, das Gegenstück zu Sams, und in der Hand hielt er ein kurzes silbernes Schwert, ebenfalls identisch mit dem von Sam. Doch sein Haar war blond, und seine Kleider waren weiß, und anders als Sam trug er den Dolch im Gürtel und nicht irgendwo in der Kleidung versteckt, wo niemand ihn vermutete.

Sam erkannte ihn von den Gemälden im Himmel, und Baldur wusste, dass er ihn erkannte, denn er lächelte. Oder nicht Baldur, sondern jemand, der Baldurs Gestalt angenommen hatte; denn Sam wusste auch, dass Baldur tot und begraben war.

»Nun?«, sagte Baldur schließlich, als Sam nicht sprach. Seine

Stimme klang hell und unschuldig. »Du hast mich gerufen Was willst du?«

»Das weißt du.«

»Ich weiß, was du höchstwahrscheinlich willst. Ich kann Millionen und Abermillionen möglicher Zukünfte sehen, in denen du Antworten und Wahrheiten willst, und sehr, sehr wenige, in denen du etwas anderes willst. Doch um diese Zukünfte Wirklichkeit werden zu lassen, musst du fragen.«

»Du hast sie geschickt.«

»Ja«, sagte er einfach, ohne Skrupel.

»Wie lange hast du das geplant?«

»Seit vielen tausend Jahren. Ich hatte gedacht, es würde Baldurs Sache sein, diesen Kampf auszufechten, doch er ist tot. Du nicht. So ist das Licht dein, ist die Pflicht dein.«

»Alles, damit ich Seth aufhalte?«

Baldur zog die Augenbrauen hoch und sah Sam mit einem feinen Lächeln auf den Lippen an. Dann lachte er. »Wer hat dir denn das in den Kopf gesetzt?«

Sam hatte den Mund schon zu einer Antwort geöffnet, als Baldurs Worte in sein Gehirn durchschlugen. Er blickte mit Entsetzen in den Augen zu Baldur. »Du ... du hast Seth so weit kommen lassen, weil du willst, dass er Uranos befreit?«

Baldur zuckte die Achseln und ging im Kreis auf und ab, als kümmerte es ihn nicht und als wäre er milde amüsiert zuzusehen, wie ein bloßer Unsterblicher seine Pläne aufdeckte.

»Damit ich das Licht gegen Uranos einsetze«, fügte Sam hinzu. Ein weiteres Achselzucken, eine beiläufige kleine Sache, keiner besonderen Aufmerksamkeit wert. »Und dich von deinem großen Feind befreie.«

»Genau.«

»Und dein Sohn?«

Ein weiteres Achselzucken. »Jeder Krieg fordert Opfer.«

Sam folgte dem Auf-und-ab-Gehen und sprach mit leiser,

sanfter Stimme: »Du Mistkerl. Du hast die ganze Zeit hinter allem gesteckt... Aber warum befreist du Uranos nicht selbst? «

»Weil er den Braten riechen würde. Uranos hat einen begrenzten Einflussbereich, doch er kann spüren, ob jemand ihn wirklich in Freiheit sehen will. Seth will es. Also ist es notwendig, dass Seth die Tür zu Uranos' Kerker öffnet.«

»Du wusstest, dass es so kommen würde. Du hast Freya ausgeschickt, um sicherzugehen, dass ich mit von der Partie wäre. Du wusstest, dass Jehova sich dann dir zuwenden, dir seine Seele verkaufen würde. Du wusstest, dass ich bei den Ashen'ia landen würde. Deshalb hast du dafür gesorgt, dass Jehova mich überwachen und beschützen ließ, um sicherzugehen, dass ich nicht starb. Du musst aber noch mehr gewusst haben. Du musst gewusst haben, dass ich Adam erstechen würde, wenn ein Pandora-Geist von ihm Besitz ergriffe, dass all dies geschehen würde, dass ich Freya lieben würde! Du hast es gewusst!«

»Natürlich«,- sagte Baldur. »Aber du hast etwas verändert, nicht wahr? In nahezu allen Zukünften, die ich sah, hast du deinen Freund Adam getötet. Aber du hast es nicht getan. Du bist der Wunderwirker, du musst dich einfach gegen das Schicksal auflehnen. Von jenem undenkbaren Ereignis haben sich mögliche Zukünfte eröffnet, die ich vorher nicht gesehen hatte.« Er hob seine Stimme nicht, blickte nicht einmal in Sams Richtung, wanderte einfach im Kreis herum mit dem irritierten Interesse eines Touristen, der etwas mehr erwartet hatte.

Sam bebte vor Zorn. »All das? Nur damit du Uranos ein für alle Male vernichten kannst?«

»Du wirkst überrascht. Ich hatte mehr von dir erwartet, Sohn.«

»Du hast Welten in Aufruhr versetzt, um dich von einem hilflosen Feind zu befreien!«, schrie Sam. »Du hast die Hölle auf den Kopf gestellt, Hades dem Erdboden gleichgemacht, Tausende und Abertausende von Dämonen gegen die Ashen'ia in

Marsch gesetzt, die die ganze Zeit nichts anderes sind als Figuren in deinem großen Spiel! Auf der Erde sollte mein Freund Adam unter dem Einfluss der Pandora-Geister sterben, zusammen mit wer weiß wie vielen anderen! Im Himmel hat Jehova den Argwohn losgelassen, und jetzt ducken sich all deine Kinder in Angst! Und das alles, um Uranos zu vernichten?«

Baldur seufzte, als würde er durch eine lästige Fliege gestört. »Du kannst die Zukunft nicht sehen. Mehr Gutes wird daraus erwachsen, als du weißt.«

Sam stieß ein seltsames, verzerrtes Lachen aus. »Oder als ich je wissen werde, Vater. Denn ich werde tot sein oder wahnsinnig oder ein wandernder Geist, dessen Seele auf Milliarden andere Geister verteilt ist, ob Ameisen, Engel, Menschen oder Mäuse. Das also ist dein großer Plan. Seth zu überzeugen, dass er Uranos aus eigenem Antrieb und eigener Kraft befreit, damit es für Uranos den Anschein hat, als würde einer seiner Diener das Tor öffnen. Und Uranos wird herausstürmen, und dein kleiner Sohn, kleines Licht und kleines Feuer, wird vor ihm stehen wie ein Zwerg, der sich einem Riesen in den Weg stellt. Und ich werde das Licht aussenden, und wir werden beide sterben.

Glückwunsch, Vater, du hast die Welt auf einen Schlag von zwei Teufeln befreit. Hurra für die neue Weltordnung, gestiftet von Vater Zeit! Denn er hat nichts mehr zu furchten, während kleines Licht und kleines Feuer von allen, die er liebte, verraten und betrogen wurde.«

Sam hielt inne, um Atem zu holen. Sein Zorn brodelte wie siedendes Öl, seine Finger öffneten und schlossen sich, als suchten sie nach einer geeigneten Waffe. Aber du hast eine Waffe, kleines Licht, kleines Feuer, flüsterten die Stimmen in seinem Kopf. Wir sind deine Waffe. Wir sind der Plan und die Tat, die Stärke und die Schwäche, die...

Seid still!

Es gibt einen Teil von uns, der stärker ist als die Zeit. Denn die Zeit ist Einer, und wir sind Viele. Schweigt!

Du entgleitest, Sebastian...

»Fertig? «, fragte Baldur, als er Sam elend vor sich stehen und von einem Fuß auf den anderen treten sah, als wäre ihm in seinem eigenen Körper nicht mehr wohl.

»Nein«, schnappte dieser. »Wie viel von meinem Leben hast du vorausgeplant?«

»Alles«, sagte Baldur gnadenlos, trieb das Wort in Sam hinein wie eine Turnierlanze. »Von deiner Geburt bis zum heutigen Tag bin ich immer um dich gewesen. Ich bin die Zeit Ich bin das Schicksal. Ich bin das Unvermeidliche. Du kannst mir nicht entkommen.«

»Nicht ein Mal?«, fragte Sam und schien in sich zusammenzuschrumpfen. »Habe ich dir kein einziges Mal getrotzt und gewonnen?«

Baldur schien zu zögern, für den Bruchteil eines Augenblicks. Dann seufzte er und blickte weg. »Doch, ein Mal. Ich wollte nicht, dass man dich wegen der Sache mit Eden aus dem Himmel verstieß. Ich wollte dich dem Himmel entfremden, nicht durch deine eigene Tat daraus verbannen.«

»Aber du musst vorhergesehen haben, dass ich den Weg nach Eden versiegeln würde.«

»Ich habe es gesehen. Aber ich glaubte, es ginge über deine Kräfte hinaus.«

Er wandte sich wieder Sam zu, und da war etwas in seinem Gesicht, das Sam nicht deuten konnte. Es war nicht Zorn, es war nicht Hass, auch wenn es beidem nahe kam. Etwas anderes verzerrte seine geliehenen Züge - senkte die Augenbrauen, verdrehte den Mund und ließ die Haut erbleichen.

»Du hast wahrlich ein Wunder gewirkt, indem du den Weg nach Eden versiegelt hast. Ich glaubte, dass du weder den Mut noch die Stärke noch das Wissen dazu hättest. In allen drei Punkten lag ich falsch.« »Ich kann keine Wunderwirken, wenn ich tot bin«, sagte Sam. »Nein«, antwortete Baldur mit einem leisen, beinahe traurigen Lächeln. »Aber vielleicht, solange du lebst?«

»Wenn ich dich durch ein Wunder aufhalten kann, werde ich es tun. Ich werde nicht zulassen, dass du wegen einer Millionen Jahre alten Fehde, die solche Zerstörung nicht braucht, Welten ins Unglück stürzt.«

»Nicht zulassen?«, wiederholte Baldur, und sein Lächeln wurde zynisch. »Wie willst du das anstellen?«

»Ich bin der Wunderwirker, ich werde einen Weg finden. Du hast mich schon einmal unterschätzt, nicht wahr, Vater? Warum sollte ich nicht imstande sein, auch jetzt deine Pläne zu vereiteln?«

Baldur sprach ruhig, seine blauen Augen bohrten sich in Sam. »Du hast natürlich Recht. Ich habe dich fast zu gut geschaffen für das, was du tun sollst. Doch du bist immer noch nicht fähig, eine Höhere Macht herauszufordern.« »Und doch soll ich für dich Uranos vernichten.« »Uranos fordert dich heraus, nicht du ihn. Dein Konflikt mit ihm ist nicht zu vermeiden.«

»Wetten?« Sam fühlte nach der Magie in seinem Innern, formulierte seine Gedanken, sein Ziel. Seth. Sage Seth, was hier vor sich geht, warne ihn.

»Wenn du versuchst, Seth zu kontaktieren«, sagte Baldur mit so leiser Stimme, dass es kaum hörbar war, »werde ich Freya töten.« Er trat auf Sam zu, drohend, anmutig wie eine Katze; doch Sam zweifelte nicht daran, dass diese Katze Krallen hatte. »Du verlierst bereits die Kontrolle«, flüsterte Baldur. »Du entgleitest.«

Es gibt einen Teil von uns, der stärker ist als die Zeit. Denn die Zeit ist Einer, und wir sind Viele.

»Nicht einmal die Magie kann dich jetzt noch halten, nicht wahr?«

Wir sind der Plan und die Tat, die Stärke und die Schwäche.

»Du hast das Licht zu oft angewandt, Sohn.« Vater Zeit streckte die Arme aus und fasste Sams Kopf mit beiden Händen, als wüsste er um die Stimmen, die in Sams Schädel vor sich hin summten und ihm das Gehirn zu sprengen drohten.

das Licht und das Dunkel, der Einzelne und das Ganze...

»All diese Stimmen werden in deinem Geist zu einer, nicht wahr? So viele Stimmen, du kannst sie nicht mehr auseinander halten. Und wie sie ihre individuelle Existenz verlieren und mit einer Stimme sprechen, so beginnen deine Gedanken mit ihnen zu sprechen. Du erinnerst dich schon an Dinge, die nicht aus deinem eigenen Erleben kommen.«

...du entgleitest, von dem Einen in die Vielen...

»Sie sagen ... ich kann dich vernichten«, sagte Sam, überrascht über die Schwäche seiner eigenen Stimme und das Rasen seines Herzens. »Sie sagen, sie sind das Leben, denn das Leben ist viele Dinge, und du bist nur ein anderer Teil des Seins. Sie sagen, es gibt viel in diesem Universum, das zeitlos ist; du wirst nicht unbedingt gebraucht.«

»Es sind nur Erinnerungen. Bruchstücke von anderen Gedanken, die sich in deinem Geist eingenistet haben.«

»Nein«, flüsterte Sam und umfasste die Handgelenke seines Vaters mit seinen Händen, hielt sie fest, als fürchtete er, die Hände um seinen Kopf könnten abrutschen und die Stimmen würden hervorbrechen, die Welt erfüllen, ihn in ihrem Gesang ertränken. »Wenn ich das Licht anwende, wird ein Teil meines Geistes den Geistern derer, die ich berühre, einbeschrieben. Und umgekehrt. So viele Geister, alle verbunden durch das Licht, und durch das Licht sprechen sie als Einer. Viele werden Einer, doch es gibt nur Einen der Vielen, so viele Geister in meinem Geist, und sie gehen nie weg, sie bleiben ewig da, und je

mehr Geister ich in meinem eigenen Geist habe, desto lauter werden sie, bis ich mich kaum selbst noch denken hören kann!« ... so viel in so wenig, so viel in mir...

Baldur lächelte immer noch. »Wenn man es so sieht«.

er, »was ist dann am Tod noch zu furchten?« »Ich fürchte mich«, flüsterte Sam.

»Ich weiß.« Baldur zog Sam näher, schlang seine langen Arme um ihn und hielt ihn fest. »Ich weiß. Wer hat keine Angst vor dem Unbekannten?«

»Seth, zum Beispiel. Uranos ist nicht das Ende des Universums, Vater. Er ist das Ende des Universums, wie wir es kennen. Das ist ein großer Unterschied. Vielleicht ist Uranos ganz nett« »Glaubst du das wirklich?«

»Nein. Aber ich habe nie einen Beweis dafür gesehen, dass der Mensch auf dem Mond gelandet ist oder dass Odins Krone mehr ist als bemaltes Stanniolpapier. Doch ich glaube dies alles. Warum kann ich dann nicht daran glauben, dass Uranos uns Glück und Frieden bringen wird?«

»Wegen des Lichts«, entgegnete Baldur, neigte seine Wange gegen Sams Haar und rieb dessen schlaff herunterhängenden Arme. »Das Licht berührt alle Geister, und alle zusammen enthalten sie jeden Aspekt des Lebens: Vertrauen, Hass, Argwohn, Gier, Liebe, Eifersucht Zorn, Frieden, Zufriedenheit, Unwillen - es ist alles da. Und auch wenn es dich in den Wahnsinn treibt, hast du gelernt das Leben zu lieben und dessen Ende zu furchten.

Das ist auch der Grund, weshalb du instinktiv gegen mich kämpfst. Weil auch ich letztendlich der Tod bin, und auch der ist unvermeidlich. Und indem du alle Geister des Universums berührt hast, hast du auch für einen Augenblick in einem kleinen Maße den meinen berührt. Daher weißt du, dass ich sie töten werde.«

»Ich brauche...« - ein mattes Lächeln umspielte Sams Lippen in Anbetracht der Ironie - »Zeit.«

sagte

»Du hast drei Tage, bis Seth Tartarus erreicht. Es sei denn, er wird durch ein Wunder davon abgehalten. Aber ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird, oder?«

»Lass mich nicht allein«, flüsterte Sam und presste die Augen gegen die brennenden Tränen zusammen, die erneut zu fließen begannen.

»Du bist nie allein. Du bist der Träger des Lichts. Ich werde dir deine Zeit geben, aber in drei Tagen sei bereit.«

Und Sam starrte in die Luft. Oder vielleicht war da die ganze Zeit nichts gewesen. Er sank auf den Boden und ließ sich zurückfallen. Mit weit offenen Augen starrte er auf die Decke, während ihm in seinem Kopf tausend Stimmen etwas zuflüsterten.