DIE WITWEN
In den Monaten nach Alberts Tod hatte Klara einen Gesichtsausdruck, als wäre ihr Hirn außer Betrieb gesetzt. Sie saß in ihrem Wohnzimmer in der Snaregade und starrte mit abwesendem Blick vor sich hin. Wir sahen es, wenn wir vorübergingen und in die erleuchtete Stube schauten, in der sie vergessen hatte, die Gardinen zuzuziehen.
Anfangs dachten wir, sie trauere.
Es sollte einige Zeit vergehen, bis uns klar wurde, was bei Klara zu dieser tiefen Nachdenklichkeit geführt hatte, die sich leicht mit der Versteinerung des Gemüts verwechseln ließ, die Trauer so häufig hervorruft.
Es kommt ja vor, dass das Leben plötzlich ein Meer aus Möglichkeiten bietet – so viele, dass allein der Gedanke an die Auswahl zur vollständigen Lähmung eines Menschen führt. Wurde ihr dadurch der feste Boden unter den Füßen entzogen, durch diese unendlichen Möglichkeiten, dieser Sturmflut von Freiheiten, in der ein gewöhnlicher Mensch, der es nicht gewohnt ist, selbst zu entscheiden, ertrinken konnte?
Eines Tages bestellte sie einen Pferdewagen, um ihre Möbel abholen zu lassen. Dann rief sie Edith und Knud Erik und spazierte mit ihnen an der Hand in die Prinsegade, wo sie mit einem Schlüssel, den sie aus ihrem Portemonnaie holte, Albert Madsens leer stehendes Haus aufschloss. Die mitgebrachten Möbel ließ sie auf den Speicher bringen, Alberts Möbel blieben unangetastet. Sie saß auf seinem Sofa und schlief in seinem Bett, als wäre sie zu Gast im Leben eines Fremden. Die Haushälterin kündigte von sich aus.
Klara saß im Erker zur Straße und starrte weiter vor sich hin.
Klara Friis, eine Seemannswitwe von bescheidener Herkunft, hatte ein Herrschaftshaus, ein Maklerkontor und eine Flotte Schiffe geerbt. Mit einem Schlag war sie zu einem der größten Schiffsreeder der Stadt geworden. Mit der letzten Glut der Jugend auf den Wangen hatte sie nach dem großen Preis gegriffen und ihn gewonnen.
Albert hatte sie nicht geheiratet, als er noch lebte. Doch im Tod war er ihr entgegengekommen.
Wir begannen sofort darüber zu diskutieren, wie viel Geld sie wohl besaß.
Wir begriffen nicht, dass das Interessante an Alberts Erbe nicht die Höhe der Summe war, sondern die Macht, die sie verlieh. In diesen Monaten, in denen Klara wie festgefroren im Erker hockte, wurde über unser Schicksal entschieden.
Als sie mit ihren Überlegungen ans Ende gekommen war, begab sie sich als Erstes zur Witwe des Marinemalers in die Teglgade. Die lebenserfahrene Anna Egidia hatte erkannt, wie bedrückt der vaterlose Knud Erik gewesen war; sie hatte verstanden, dass es hier ein Kind gab, das einen erwachsenen Mann brauchte, an den es sich halten konnte. So war Klara Friis Albert begegnet, und nun wollte sie sich dafür revanchieren. Sie teilte der Witwe mit, dass sie sie gern bei ihrer unermüdlichen Hilfsarbeit unterstützen möchte. Und sie bot noch mehr an. Sie saß in dem Wohnzimmer mit den hohen Fenstern und den vielen Bildern an den Wänden und entwickelte ihren Plan, eines Tages in Marstal ein Kinderheim zu errichten.
«Es soll kein Kinderheim wie andere werden», erklärte sie. «Hier sollen die Kinder sich geliebt fühlen. Nicht als Wesen, die im Weg sind oder im besten Fall am Leben bleiben dürfen, weil sie sich nützlich machen können. Nein, sie sollen erfahren, dass sie aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeit ein Recht darauf haben, auf der Erde zu sein. Diejenigen, die am wenigsten gewünscht sind, sollen hier das Gefühl haben, erwünscht zu sein.»
Sie sprach diese Worte, die eigentlich durchdrungen von Licht und Energie sein sollten, mit einer seltsam zittrigen Stimme aus, obwohl es sich doch um Pläne handelte, die irgendwann einmal das Leben für die Stiefkinder des Daseins verbessern sollten.
Die Witwe Rasmussen sah sie lange an.
«Sie haben wahrscheinlich selbst einmal ein Kinderheim von innen kennengelernt, nicht wahr?», fragte sie sanft.
Klara Friis nickte und begann zu weinen. Es war tatsächlich ihre Geschichte, das Unsagbare, das sie nicht einmal Albert Madsen hatte erzählen können, sogar in ihrem vertrautesten Moment nicht, als er das Geheimnis der Stoffpuppe Karla verstand, die in den schwarzen Wassermassen der Sturmflut verschwand.
Sie war im Kinderheim von Ryslinge auf Fünen aufgewachsen. Dann hatte man sie abgeholt. «Abgeholt» sagte sie nur, nun, da unter dem mütterlichen Blick der Witwe endlich der Augenblick vertraulicher Mitteilungen gekommen war. Nicht adoptiert, das war nicht der Ausdruck, den sie benutzte, denn für sie gab es kein elterliches Mitgefühl oder Fürsorge, als ein Hofbesitzer aus Birkholm sie im Alter von fünf Jahren abholte. Er brauchte eine zusätzliche Hand, eine Hand, keinen Menschen; billig im Unterhalt, soweit es Lohn, Kost und Gefühle betraf.
Sie lachte bitter.
Nein, wenn es um Gefühle ging, hatte sie überhaupt nichts gekostet, denn Liebe war eine Luxusware, die allen anderen vorbehalten war, nicht aber einem Waisenkind.
Jeden Tag hatte sie das Meer vor Augen gehabt. Es war die Grenze der Insel, die Mauer um ihr eingesperrtes Leben, aber auch die Chance zu entfliehen. Sie träumte von keinem Prinzen auf einem weißen Pferd, sondern von einem Prinzen unter einem weißen Segel, und jedes Frühjahr sah sie ihn kommen. Hunderte von Segeln fuhren an der Insel vorbei – und verschwanden wieder. Sie kamen aus Marstal, und die Stadt wurde zum Ziel ihrer Sehnsucht.
Und dann kam eines Tages das Meer zu ihr, aber wie das Jüngste Gericht brach es als Sturmflut über die Insel herein. Es brachte keinen weißen Prinzen, sondern nahm ihr Karla.
Jetzt hatte sie endlich die notwendigen Mittel. Jetzt tauchte sie ihre Hand ins Wasser und zog Karla wieder herauf.
«Wollen Sie wissen, wie ich Henning begegnet bin?», fragte sie.
Die Bekenntnisse brachen aus ihr heraus, und bevor die Witwe antworten konnte, fuhr sie fort.
«Ich traf ihn in einer Winternacht auf dem gefrorenen Meer.»
«Auf dem Eis?»
Die Witwe schaute sie verblüfft an.
«Ich war so jung. Erst sechzehn Jahre alt. Ich wollte zu einem Ball nach Langeland.»
Das Meer lag zugefroren vor ihr, als hätte die flache Insel sich ausdehnen und unbedingt mit all den umliegenden Inseln verschmelzen wollen. An einem mondhellen Samstagabend, an dem leuchtende Schneekristalle ihr den Weg hinaus in die Welt wiesen, hatte das Fernweh sie unwiderstehlich gepackt. Sie hatte sich von einem der Mädchen auf dem Hof ein Ballkleid geliehen, sie selbst besaß ja keins, sich ein Fahrrad gegriffen und war hinaus aufs Eis in Richtung Langeland gefahren. Sie flüchtete nicht, radelte nur auf die erleuchteten Häuser auf der fernen Insel zu und suchte nach dem Vergnügen des Augenblicks.
Damals hatte sie noch den Traum in sich.
Weit war sie jedoch nicht gekommen, denn sie stieß auf das dunkle Wasser. Eine Fahrrinne hatte offen vor ihr gelegen, eben aufgebrochen von der A.L.B., der Fähre zwischen Svendborg und Marstal, die mit ihrem schwarzen, massiven Stahlrumpf als Eisbrecher diente. Glut stieg aus dem Schornstein auf. Die Luft und das Eis unter ihren Füßen bebten. In der gerade aufgebrochenen Fahrrinne folgte der Fähre die Hydra mit gesetzten Segeln, um auf der Heimfahrt in der frostigen Nacht auch noch die kleinste Bö zu nutzen.
Die Besatzung hatte sich an der Reling versammelt. Mit einem Mädchen im Ballkleid mitten auf dem Eis hatten sie bestimmt nicht gerechnet.
«Wo willst du hin?», hatten sie gerufen.
«Zum Ball nach Langeland», war ihre Antwort.
Sie luden sie stattdessen zum Ball nach Marstal ein und hoben sie mitsamt dem Fahrrad über die Reling.
«Du siehst so durchgefroren aus», sagte Henning. Er war der Schönste von ihnen. Und durchgefroren war sie, bis weit die nackten Beine unter dem Kleid hinauf. Er hatte sie mit in die Mannschaftsunterkunft genommen, damit sie sich in einer der oberen Kojen aufwärmen konnte; so war sie seine Frau geworden, mit zitternden blauen Lippen und einer drohenden Blasenentzündung in dem armen Eisklumpen, in den sich ihr ungeschützter Unterleib verwandelt hatte. Sie wurde nicht sofort schwanger, Knud Erik kam erst später. So verhielt es sich auch mit Hennings Sauferei, den Wirtshausbesuchen und den endlosen Reisen.
Eines Tages war Henning mit einer Meerkatze zu Hause aufgetaucht.
«Meerkatzen sind die gottlosesten aller Tiere», hatte er gesagt, «der Sohn, der Enkelsohn und der Sohn des Enkelsohns der Ungerechtigkeit.»
Das hatte ihm ein Araber erzählt.
«Und was soll ich damit?», fragte sie.
«Du kannst sie dir ja ansehen, wenn du mich zu sehr vermisst», hatte er erwidert, und seine Stimme troff vor Hohn. So stand es zwischen ihnen.
«Das Schlimmste an einem Seemann ist nicht, dass er dir deine Unschuld raubt. Das Schlimmste ist, dass er dir deine Träume nimmt», sagte sie zur Witwe des Marinemalers.
Und nun war die Hydra verschwunden und Henning mit ihr.
«Marstal soll ein guter Ort werden, um hier aufzuwachsen», erklärte sie. «Kein Ort, in dem man die Jungen zu Fischfutter und die Mädchen zu Witwen macht.»
«Glauben Sie wirklich, Sie können den Marstalern den Seemann austreiben? », fragte die Witwe.
«Ja, ich glaube schon. Ich habe die Mittel. Ich weiß, wie man so etwas machen muss.»
Eine neue Form der Verbissenheit war in Klara Friis’ Stimme zu hören, ihr Gesicht wurde hässlich vor Trotz.
Die Witwe fragte sich, ob der Verstand der jüngeren Frau möglicherweise Schaden genommen hatte, entweder vor Trauer oder weil ihr das viele Geld zu Kopf gestiegen war.
Sie lenkte das Gespräch sofort zurück auf das Kinderheim, und Klara Friis wurde zu ihrer Erleichterung wieder vernünftig.
Über den wichtigsten Teil ihres Plans sprach Klara niemals.
An dem Tag, an dem Albert starb, ging Ingenieur Henckel bankrott.
Auf einer Generalversammlung der Aktiengesellschaft Kalundborg Skibsværft, an der er neunundneunzig Prozent des Aktienkapitals besaß, trat er zur allgemeinen Überraschung für eine Liquidierung seiner eigenen Gesellschaft ein. Hinterher zeigte sich, dass die Werft der Bank von Kalundborg zwölf Millionen Kronen schuldete. Die Bank brach zusammen, und die Dominosteine begannen zu purzeln. Der letzte Stein war die Stahlschiffswerft von Marstal, die in Erfüllung von Bootsbauer Raahauges längst geäußerter Prophetie kollabierte: «Denn das hier – das geht nicht lange gut.»
Nein, es ging nicht gut. Alles war verloren. Beinahe eine Million Kronen war in die Stahlschiffswerft investiert worden. Nun wurde sie versteigert und für fünfunddreißigtausend Kronen verkauft. Der Hotelbesitzer Egeskov würde überleben. Er besaß das Hotel, auf das er zurückgreifen konnte. Aber Herman hatte das Haus in der Skippergade und die Tvende Søstre eingesetzt, nun stand er mit leeren Händen da und hatte Schulden.
Gerichtsverfahren folgten. Edvard Henckel und der Direktor der Bank von Kalundborg wurden verhaftet. Doch selbst der Teufel fand sich in dieser Buchführung nicht zurecht. Henckel war zu schlau für sie gewesen. Er war offensichtlich eine Art Genie, das lediglich die Gesetze des Landes nicht berücksichtigt hatte und auf die falsche Seite geraten war. Ganz offen gestand er alles ein. Er war unverantwortlich gewesen, ja gedankenlos. Aber er hatte doch nur das Beste gewollt.
Wir sahen ihn vor uns. Er erhob sich von der Anklagebank, schwer und massig, mit dem breitkrempigen Hut und den flatternden Rockschößen, als hätte er den frischen Wind der Unternehmungslust, der ihn stets umgab, mit in den Gerichtssaal gebracht. Seine rot gesprenkelten Augen strahlten vor Energie. Er breitete die Arme wie zu einer Umarmung aus, während er all seine Fehler eingestand, als ob er den Richter, die Journalisten, den Verteidiger und den Staatsanwalt zu einer Runde Champagner einladen wollte.
Im Übrigen war er gar kein Ingenieur. Es stellte sich heraus, dass der Titel – wie alles in seinem Leben – selfmade war. Nun musste er ins Gefängnis. Das Urteil von drei Jahren nahm er erhobenen Hauptes entgegen. Er ließ sich nicht unterkriegen, er stürmte durchs Leben, voller großer Pläne für sich und andere. Und wenn sein Weg dabei in eine verschlossene Zelle führte, dann doch nur für eine gewisse Zeit. Er kam ja auch wieder heraus, und dann würden wir schon sehen.
Wir gingen nicht mehr ins Hotel Ærø. Die weißen Hemden ließen wir zu Hause. Sie waren wieder Hochzeiten, Konfirmationen und Begräbnissen vorbehalten. Wir kehrten zurück zu dem abgestandenen Bier in Webers Café, an dessen Geschmack wir uns erst wieder gewöhnen mussten. Wir triumphierten nicht, als wir von der Verurteilung hörten. Wir konnten nicht einmal richtig wütend auf Henckel sein. Sicher, er hatte uns betrogen. Aber zu einem Betrug gehören zwei, und wir hätten unserem eigenen Urteilsvermögen nur etwas mehr vertrauen müssen. Wir fanden nichts Boshaftes an ihm, sein Eifer und sein Tatendrang waren echt gewesen. Sein Problem war nur, dass er seine vielen Ideen selbst nicht mehr im Griff gehabt hatte, bis sie so hoffnungslos verworren waren, dass sie ihm aus den Händen glitten. Aber der Mann war gewillt, etwas aufs Spiel zu setzen. Davor hatten wir Respekt. Wir selbst taten ja nichts anderes. Irgendetwas in Ingenieur Henckel erkannten wir in uns wieder. Nicht seine Schwindeleien, sondern sein Draufgängertum.
Wir stießen auf ihn an, wie wir auf ein Schiff anstießen, das mit Mann und Maus untergegangen war.
Herman suchte die Reedereibüros auf und fragte nach einer Heuer. Wir hatten erwartet, dass er einfach alles liegen und stehen lassen würde, so wie er es damals getan hatte, als Hans Jepsen ihn zurechtstutzte und ihn nicht als Matrose auf der Tvende Søstre anheuern ließ. Er war als großer Mann zurückgekommen. Nicht nur mit dem Mundwerk, sondern eine Weile auch mit dem Geldbeutel, aber dann hatte er alles verloren und war schließlich wieder dort gelandet, wo er begonnen hatte. Man hatte ihn an der Nase herumgeführt. Aber da war er nicht allein. Nicht wenigen von uns war es ebenso ergangen. In gewisser Weise saßen wir im selben Boot.
Wir hatten nicht erwartet, dass Herman aufgrund seiner Niederlage devot würde. Das lag nicht in seiner unbeugsamen, stolzen Natur. Wir waren davon ausgegangen, dass er vor der Demütigung fliehen und erst wieder auftauchen würde, wenn er Geld in der Tasche hatte und sich auf die großsprecherische Art präsentieren konnte, die seinem Wesen nun einmal entsprach. Stattdessen blieb er in der Stadt, die Zeugin seiner Niederlage war, und wollte auf der Albatros anheuern. Uns schien es, als hätte er seine Lektion gelernt und eingesehen, dass das Leben nicht vorhatte, ihn anders zu behandeln als alle anderen, und eine gewisse Bescheidenheit daher angebracht war.
Im Übrigen benahm er sich so wie immer: angriffslustig und unberechenbar.
Allerdings verstand Herman sein Handwerk an Deck, und daher fiel es ihm nicht schwer, eine Heuer zu finden.
Nach der ersten Reise kehrte er nach Hause zurück wie ein Held, obwohl der Krieg längst vorbei war. Seine Tat für Dänemark hatte er in einem Wirthaus in Nyborg vollbracht, zusammen mit zwei anderen Marstallern, die ebenfalls auf der Albatros angemustert hatten. Es waren Ingolf Thomsen und Lennart Krull.
Er saß in Webers Café und berichtete ausführlich über seinen Einsatz. Ingolf und Lennart nickten. Hin und wieder flochten sie eine Bemerkung ein, die jedoch zumeist darin bestand, «ja», «na klar» oder «bestimmt» zu sagen, wenn Herman ihnen einen auffordernden Blick zuwarf.
Wie gesagt, er hatte mit der Besatzung in einem Wirtshaus in Nyborg gesessen und dann eine Unterhaltung mit diesem Automechaniker begonnen. Ravn hieß er, ein schmieriger kleiner Kerl mit einer Knollennase voller Mitesser und Motoröl an den Händen. Als er hörte, dass sie Seeleute aus Marstal waren, zog er seine Brieftasche heraus und zeigte ihnen die Fotografie eines Schoners, der in Flammen stand.
Sie schauten genau hin, es war die Hydra, die im September 1917 spurlos auf dem Atlantik verschwunden war. Sechs Männer waren umgekommen, der Kapitän stammte aus Marstal, ebenso der Matrose Henning Friis, der eine Witwe, Klara, und den Sohn Knud Erik hinterließ. Spurlos verschwunden. Das bedeutete: nie wieder gesehen, nicht eine Leiche, die es zu bergen und zu begraben gab, nicht einmal ein Rettungsring mit dem Namen darauf, gar nichts.
Ravn stammte aus Sønderborg. Er war während des Krieges von den Deutschen eingezogen worden und hatte auf einem U-Boot gedient. Dort wurden sämtliche Schiffe fotografiert, die das U-Boot versenkte, und die Mannschaft bekam einen Abzug. Zu Hause hatte er ein ganzes Fotoalbum.
«Ich habe die Fotografie hier», sagte Herman, «wollt ihr sie sehen?»
Er reichte das Foto quer über den Tisch und bestellte eine weitere Runde.
Wir erkannten die Hydra sofort. Fast mussten wir seufzen beim Anblick des brennenden Schiffs. Aus dem Schwarzweißfoto hörten wir das Echo all der anderen Schiffsuntergänge, die wir erlebt hatten.
«Nun ja», sagte Herman. «Ravn läuft jedenfalls nicht mehr herum und prahlt damit, dänische Schiffe versenkt zu haben.»
«Wir haben ihn vielleicht ein bisschen zu hart angefasst», sagte Lennart.
Wir bemerkten eine gewisse Unsicherheit in der Stimme.
«Es war ein ehrlicher Kampf. Ravn hätte nur zurückschlagen brauchen. Es gibt keinen Grund, etwas zu bereuen.»
Herman klang wie ein Priester, der die Absolution erteilte.
«Er bekam, was er verdient hat», sagte er zu uns. «Ich schlug für die Toten. Ich schlug für die Hydra.»
Herman absolvierte einen Besuch bei Klara Friis, um ihr die Geschichte von Ravn zu erzählen. Er hoffte wohl, davon profitieren zu können.
«Ich schlug für Henning», sagte er diesmal.
Klara öffnete die Tür.
«Was willst du?», fragte sie unhöflich, als sie Herman draußen auf der Treppe stehen sah. Als er sie das letzte Mal aufgesucht hatte, war nichts Gutes dabei herausgekommen.
«Ich habe Neuigkeiten über Henning», antwortete er.
Sie schwieg, als er seine Geschichte erzählte. Sie war weiß geworden, als er erklärte, er bringe Neuigkeiten über Henning. Sie wurde rot, als er ihr gegenübersaß und damit angab, dass er den Mann windelweich geprügelt habe, der die Hydra versenkt hatte. Als er schließlich behauptete, dass er es für Henning getan habe, wechselte ihre Farbe zurück ins Weiße, und ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich, während sie ihn durch ihre zusammengekniffenen Augen anstarrte.
Es war nicht klar, was dieser Gesichtsausdruck bedeutete, und einen Moment wurde er unsicher.
«Sie machen sich möglicherweise nichts aus Prügeleien?»
Plötzlich verfiel er ihr gegenüber ins Sie.
Noch immer sagte sie kein Wort. Herman rutschte auf seinem Stuhl herum und bereute, gekommen zu sein.
Schließlich war sie es, die das Schweigen brach.
«Ich möchte Sie bitten, mich nach Kopenhagen zu begleiten», sagte sie.
Klara Friis hatte ein Dienstmädchen eingestellt, das sich während ihrer Abwesenheit auch um die Kinder kümmern sollte. Sie war bei I. C. Jensen gewesen und hatte neue Teppiche bestellt und Schreiner Rosenbæk wegen der Größe eines neuen Betts, das ihrem Status als Witwe entsprach, um Rat gefragt. Sie war voller Tatendrang, doch was sie wollte – abgesehen davon, dass sie sich ein Leben einrichtete, das ihren neuen Vermögensverhältnissen entsprach –, wusste niemand.
Auch auf der Fähre verriet sie Herman nichts. Sie war ihm gegenüber wenig entgegenkommend, was er allerdings auch nicht anders erwartet hatte. Sie hatte ihn neugierig werden lassen, aber er machte sich keine Hoffnungen über das Ergebnis dieser Reise nach Kopenhagen. In ihrem Blick hatte keinerlei Versprechen gelegen. Seine eigene Neugierde war der Grund, dass er sie begleitete. Er war ein Mann, der im Leben nach Möglichkeiten Ausschau hielt, und hier ergab sich vielleicht eine Gelegenheit, obwohl er nicht einzuschätzen vermochte, welcher Art sie sein könnte.
«Sie kennen doch die Geldleute in Kopenhagen», sagte sie zu ihm.
Sie verwendete noch immer das formelle Sie, und er zog es ebenfalls vor. Es entwickelte sich dadurch ein geschäftsmäßiger Ton zwischen ihnen, und an Geschäften hatte er Interesse.
«Ich wünsche, dass Sie mich mit ihnen in Verbindung bringen.»
Er starrte sie an. War sie dumm oder nur hoffnungslos naiv? Saß sie wirklich da und bat darum, getäuscht zu werden? Er hatte sich keine Gedanken über Klara Friis’ Verstand gemacht, aber es gab keinerlei Grund zu der Annahme, dass sie einfältig war. Vielleicht wollte sie ihn ja nur auf die Probe stellen? Er entschied sich, ihr gegenüber ehrlich zu sein. Das bedeutete allerdings auch, dass er sich selbst gegenüber einen Augenblick lang ungewohnt ehrlich sein musste.
«Meinen Sie Ingenieur Henckel? Na ja, er war ein Schwindler. Wissen Sie denn nicht, dass er im Gefängnis sitzt?»
«Das weiß ich wohl. Aber Sie müssen doch noch andere als ihn gekannt haben. Sie verkehrten immerhin an der Börse. Ich muss mit jemandem sprechen, der etwas von Geld versteht.»
«Meinen Sie Leute wie Negerklatscher oder den Rollenden Fußweg? Ich fürchte, das sind Leute vom gleichen Schlag wie Henckel. Von ihnen sollten Sie nichts Gutes erwarten, wenn Ihnen Ihr Geld lieb ist.»
«Sie können doch wohl nicht allesamt Betrüger sein?»
«Vielleicht nicht. Aber für uns gewöhnliche Menschen ist das schwer auseinanderzuhalten.»
Er sah auf seine großen Hände. Einen Moment hörte er seine eigene Stimme. Es schwang Demut darin mit. Er war es nicht gewohnt, so zu reden. Er sprach über seine eigene Niederlage. Eine Ehrlichkeit lag darin, ja ein geradezu reuevoller Ton, der sich so gut wie nicht mehr verstellte. Er war der Himmelsstürmer, der bereute und aus seinen Fehlern gelernt hatte.
«Ich bin klüger geworden», sagte er, «ich habe mich an der Nase herumführen lassen. Wieso lassen Sie Ihr Geld nicht einfach dort, wo es ist? Es liegt doch gut da.»
«Sie verstehen nicht», sagte sie, «ich will etwas anderes.»
Als sie am Kopenhagener Hauptbahnhof ankamen, schwand ihre Entschlossenheit. Sie fasste ihn unter den Arm wie ein Kind, das vor lauter Angst, in der Menschenmenge verloren zu gehen, die Hand seines Vaters sucht. Er hatte es bereits geahnt, als sie in Korsør den Zug bestiegen. Sie trug den Kopf hoch, als sie den Fuß auf das Trittbrett setzte, und doch durchfuhr sie ein Beben, geradezu ein Schreck, den zu beherrschen sie außerstande war. Steif saß sie ihm im Abteil gegenüber und vermied es, aus dem Fenster zu sehen. Erst nach Slagelse erwachte sie aus ihrer hypnotischen Starre und fing an, die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten – sie musste sofort die Augen schließen. Sie hatte nie etwas anderes gesehen als die flachen Wiesen Birkholms. Für sie war Marstal die Stadt, aber eine Stadt, die mit dem Markt, der Kirche und der Hauptstraße bequem unter der Deckenwölbung des Hauptbahnhofs Platz gefunden hätte, wo der Lärm der unzähligen Reisenden sich in einem großen brüllenden Echo sammelte.
Er ging mit ihr direkt zur Börse. Er wählte absichtlich einen Zeitpunkt am späten Nachmittag, an dem die Tageskurse feststanden und in dem großen Vestibül der grobe Zirkus begonnen hatte, der sich Nachbörse nannte. Seine Absicht war es ganz einfach, sie abzuschrecken. Er entdeckte in sich einen Beschützerinstinkt, den er, hätte er sich über seine eigene Psychologie Gedanken gemacht, uneigennützig genannt hätte. Es gab keinen Grund, dass man ihr das Geld abschwatzte, so wie man es ihm abgeschwatzt hatte. Und wollte sie mit ihm nicht über die vagen Pläne sprechen, die sie offensichtlich mit großer Entschlossenheit auszuführen bereit war, so konnte er zumindest sich selbst als Spielball der abschreckenden Mächte anführen.
In der Mitte des Vestibüls war mit Hilfe von Pfosten und Seilen ein Platz eingefriedet, der an einen Boxring erinnerte. Hier standen die Effektenhändler und schrien ihre Angebote hinaus.
Vom anderen Ende des Vestibüls kam ein Mann mit einem eigentümlich schaukelnden Gang auf sie zu. Die Menge wich ihm aus, um nicht mit ihm zu kollidieren. Er glich ganz und gar einem Seemann, der versucht, bei Sturm auf einem Schiff das Gleichgewicht zu halten; seine Kollegen, die niemals auf einem Schiffsdeck gestanden hatten, nannten ihn deshalb «Der Rollende Fußweg».
Er lüpfte den Bowlerhut, als er Herman erblickte. Sie waren alte Bekannte. Herman erwiderte seinen Gruß mit einem Lächeln, und sofort ging der Mann auf sie zu.
«Ajax Hammerfeldt», sagte er und nahm galant Klaras Hand, auf der er mit spitzen Lippen einen Kuss platzierte.
Bei der ungewohnten Begrüßung zuckte sie zusammen. Dann schlug sie den Blick nieder, wurde rot und vergaß vollkommen, sich vorzustellen.
Herman tat es für sie und fügte hinzu: «Frau Friis hat gerade ein größeres Vermögen geerbt. Sie braucht einen guten Rat.»
«Dann sind Sie bei mir an dem Richtigen, liebe Frau Friis», sagte der Rollende Fußweg und hob noch einmal den Hut, als würden sie sich erst jetzt wirklich kennenlernen. Er warf einen raschen Blick auf Herman, um sich zu vergewissern, dass er für das nun Folgende sein Einverständnis hatte.
Herman stand reglos da, und der andere fasste es als Zustimmung auf.
«Ja, die Schiffsindustrie ist stark auf dem Vormarsch», sagte er. «Haben gnädige Frau schon von den schornsteinlosen Schiffen gehört?»
Klara schüttelte beeindruckt den Kopf.
«Der Dampfer ist der Nachfolger des Segelschiffs. Doch das schornsteinlose Schiff ist der Nachfolger des Dampfers. Das ist die Zukunft, und Sie haben die Möglichkeit, zu den Ersten zu gehören, die ihr Geld darin investieren. Sie sind jung …»
Er warf ihr einen einschmeichelnden Blick zu und fügte in einem Ton hinzu, der andeutete, dass er nun sein entscheidendes Argument anführte: «… und der Jugend gehört die Zukunft.»
Herman sah von einem zum andern. Er konnte nicht anders, als den Rollenden Fußweg zu bewundern. Der verstand sein Metier, auch wenn dieses der Betrug war, diese durchtriebene Mischung aus Wahrheit und Lüge. Das schornsteinlose Schiff! Es klang wie ein geschickter Kniff, entsprach jedoch der Wahrheit. Einige Jahre zuvor war das dieselbetriebene Motorschiff Selandia auf der B & W-Werft vom Stapel gelaufen und ohne Zweifel der Nachfolger des Dampfers. Er wartete nur darauf, dass der Rollende Fußweg fortfuhr. Erst die Wahrheit, dann die Lügen.
«Die Kalundborger Werft», erklärte der Rollende Fußweg, «hier werden die Schiffe der Zukunft zu Wasser gelassen. Die Aktien sind soeben aufgelegt worden. Wenn der Tag vorbei ist, wird die letzte verkauft sein. Es geht darum, sofort zuzugreifen, nicht wahr, Seemann?»
Er blinzelte Herman zu, den er noch immer für einen Mitverschworenen hielt.
Klaras Gesichtsausdruck zeigte Verblüffung, als könnte sie nicht glauben, was sie da gerade hörte.
«Die Kalundborg Skibsværft! Ja aber, ist das nicht Ingenieur Henckels Betrieb? Der sitzt doch im Zuchthaus.»
Sie sah Herman hilfesuchend an. Er nickte.
«Tja», sagte er, «das hat seine Richtigkeit.»
Sie wandten sich beide dem Rollenden Fußweg zu. Doch der selbstsichere Feilbieter zukünftigen Reichtums war bereits in der schreienden Menge verschwunden.
Klara Friis hatte ihre Lektion erhalten.
Über die Brücke an der Börse gingen sie zur Schlossinsel. Auf dem Kai pulsierte das Leben. Mit frisch duftendem Holz aus dem Bottnischen Meerbusen beladene bark- oder brigggetakelte Schiffe aus Finnland lagen hier vertäut und wurden gerade gelöscht. Er sah verstohlen zu ihr hinüber. Die Ängstlichkeit in ihrer Miene war zurückgekehrt. Er wollte ihr eigentlich nur die Augen öffnen, nun hatte er ihr jedoch den Mut genommen; das war keineswegs seine Absicht gewesen, obwohl er sich noch immer fragte, was sie mit ihrem Wagemut letztlich beabsichtigte. Was wollte sie wirklich?
Sie überquerten den Platz an der Ecke Holbergsgade und Niels Juelsgade. Er sah hinauf zur Bronzestatue des Seehelden, der mit ausgestrecktem Arm dastand, als dirigierte er den Verkehr.
«Das ist Niels Juel», sagte er.
«Genauso wie zu Hause?»
Sie dachte offenbar an die Niels Juelsgade zu Hause. Marstal war ihr Maßstab für alles. Vielleicht glaubte sie, die Statue habe ihren Namen nach einer Straße in ihrem kleinen Flecken erhalten. In Marstal gab es keine Statuen. Es gab lediglich den Gedenkstein, den Kapitän Madsen für die Einigkeit gesetzt hatte. Nun konnte sie vergleichen und ein Gespür für den Mangel an Format bei ihrem Wohltäter bekommen. Hier war die wirkliche Welt. Hier wuchtete man keinen alten Stein aus dem Meer und stellte ihn mit einem in den Granit geschlagenen Spruch auf. Hier dachte man groß und schuf etwas Großes.
Herman hatte plötzlich einen Einfall. Er deutete auf ein fremdartig aussehendes Gebäude an der Ecke, dessen hohe, schmale Fenster mit asiatisch anmutenden Spitzbogen bekränzt waren. Das Dach lag darauf wie ein schwerer Deckel, der auf die Straße zu rutschen drohte. Eine Treppe führte zu einer massiven Holztür, die in die meterdicke Mauer eingefügt war. Das Haus sah aus, als würde es der übrigen Stadt den Rücken kehren.
«Fernöstliche Gesellschaft» stand auf einer Messingplatte neben der Tür.
«Dort wohnt ein Mann, der Ihnen gute Ratschläge erteilen kann.»
Sie sah ihn fragend an. Dann drehte sie den Kopf und betrachtete das sandfarbene Gebäude mit skeptischer Miene.
«Wer ist er?», wollte sie wissen.
«Er ist ein ganz gewöhnlicher Mann und heißt Markussen. Früher war er einmal Matrose. Jetzt verkehrt er beim König. Er behauptet, er bestimme über den König. Er kann Ihnen helfen.»
Sie überquerten den Platz in Richtung des Eckhauses. Vor dem Eingang blieben sie stehen. Ihr Blick wanderte die Fassade hinauf.
«Es ist ein großes Haus.»
«Seine Häuser in Wladiwostok und Bangkok sind ebenso groß».
«Soll ich wirklich hineingehen?», fragte sie.
Er nickte ermunternd, obwohl er seinen Einfall bereits bereute.
Etwas anderes war es ja nicht. Er hatte ein Gefühl von Edelmut verspürt, als sie die Börse verließen. Dann hatte er bemerkt, wie ihr Gesichtsausdruck immer mutloser wurde, und sich verpflichtet gefühlt, irgendetwas zu unternehmen, damit ihre Stimmung sich wieder besserte.
Edelmut war ein neues und unbekanntes Gefühl für ihn. Es gefiel ihm eigentlich gut, und er hatte Lust, noch eine gewisse Zeit im Licht der Uneigennützigkeit zu baden. Doch dieser Vorschlag war einfach töricht. War sie zuvor enttäuscht worden, würde ihre Enttäuschung durch die Zurückweisung, die sie jetzt erwartete, nur noch größer werden. Innerlich fluchte er. Zum Teufel aber auch! Er hätte sie niemals auf diese mysteriöse Mission nach Kopenhagen begleiten dürfen, aber er war einen Moment lang schwach genug gewesen, um der Versuchung nachzugegeben, in den Augen eines anderen Menschen bedeutungsvoll zu erscheinen.
«Ich warte hier auf Sie», sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu.
Es wird nicht lange dauern, dachte er.
Sie verschwand durch die schwere Tür. Es verging einige Zeit, ohne dass sie zurückkam. Herman begann, auf dem Bürgersteig auf und ab zu laufen, bald in die eine, bald in die andere Richtung. Wieso schickte man sie nicht wieder weg?
Er stieg die Treppe hinauf und öffnete die schwere Tür. Ein uniformierter Mann trat ihm in den Weg und erkundigte sich nach seinem Anliegen. Herman war verwirrt,wusste keine Antwort. Er warf einen Blick über die Schulter der Wache, konnte Klara aber in der großen Vorhalle nicht ausmachen. Der Mann bat ihn noch einmal, sein Anliegen zu nennen. Herman zuckte mit den Achseln und ging die Treppe wieder hinunter.
Eine Stunde später erschien sie.
«Ich muss mich heute Abend noch einmal mit dem Etatrat treffen», erklärte sie.
Hermans Gesicht war ein großes Fragezeichen.
«Ja, also Markussen. Er hat mir viele gute Ratschläge gegeben. Und bei dir möchte ich mich für die Hilfe bedanken, so wie es sich gehört.»
Er verstand kein Wort. Ihr Ton hatte sich verändert. Sie duzte ihn. Eine Weile hatte sie ihn mit Sie angeredet, und er hatte es als Zeichen des Respekts aufgefasst. Nun war sie auf einer Audienz bei Markussen gewesen und er auf das Niveau eines Dienstboten gesunken.
Sie griff in ihre Tasche und zog ein Portemonnaie heraus.
«Ich bin sehr froh, dass du mich mit Markussen zusammengebracht hast», erklärte sie. «Ich möchte dir gern etwas für deine Mühe geben.»
Sie zog einen Hundertkronenschein aus dem Geldbeutel. Sein erster Impuls war, das Geld abzulehnen. Wofür hielt sie ihn? Glaubte sie, er hätte nicht auch seinen Stolz? Dann dachte er noch einmal darüber nach. In der Tat hatte er ihr einen Dienst erwiesen, außerdem seine Zeit geopfert. Und hundert Kronen waren viel Geld. Er wollte sich mal wieder ordentlich besaufen und sich mit einer Frau vergnügen. Ein guter Grund nach dem anderen fiel ihm ein, das Geld zu nehmen, bis die Waagschale, in die er seinen kostbaren Stolz gelegt hatte, zu leicht wurde und in die Höhe ging. Er steckte den Schein in die Innentasche seiner Jacke, ohne sich zu bedanken.
«Na, und was hast du mit Markussen vereinbart?», fragte er in einem Tonfall, der mit Absicht beiläufig klingen sollte.
«Der Etatrat meinte, dass unser Gespräch entre nous bleiben solle.»
Klara Friis sprach diesen Begriff langsam und sorgfältig aus, als wollte sie sichergehen, dass Herman jede Silbe davon verstand. Der Begriff entre nous war ganz sicher auch für sie neu. Dann lächelte sie.
Es war das erste Mal, dass er sie lächeln sah.
Sie war in das Gebäude gelangt, dessen Inneres ebenso abweisend wirkte wie sein Äußeres. Sie hatte die schwere Tür kaum zufallen hören, als bereits ein uniformierter Mann mit einem Gesichtsausdruck auf sie zutrat, als wollte er sie darüber informieren, dass sie den Haupteingang mit dem Kücheneingang verwechselt habe. Sie wusste sofort, dass sie unmöglich durchgelassen würde.
Ein kleiner Mann mit einem schwarzen Seidenhut trat auf sie zu und fragte höflich, ob er ihr irgendwie behilflich sein könne.
Es war Markussen.
Sie war schrecklich verwirrt. Sie hatte Alberts Namen genannt, sein Erbe, und beobachtete, wie in seiner Miene die Höflichkeit der Ungeduld wich. Er war schlank, die Augenbrauen und der gepflegte Schnurrbart sahen weiß aus. Er hatte markante Gesichtszüge, eine große Nase und ein kantiges Kinn, aber seine Züge wirkten eingefallen; ein Beleg dafür, dass das Alter begonnen hatte, sich bemerkbar zu machen. Sein Blick wurde inquisitorisch. Wieder trat der Türwächter heran, als wartete er nur auf ein Zeichen, bevor er sie des Gebäudes verwies.
Das Schlimmste war, dass sie ihren hektischen Redestrom nicht unterbrechen und gehen konnte. So hätte sie sich zumindest ein wenig von ihrer Würde bewahrt. Stattdessen verstrickte sie sich immer weiter in ihrer Geschichte, die im Grunde gar keine Geschichte war, sondern nur wahllos aneinandergereihte Erklärungen. Irgendein Anliegen hatte sie offenbar nicht vorzubringen. Sie brauchte lediglich einen Zuhörer.
Plötzlich veränderte sich sein Blick. Sie konnte sich diesen Ausdruck, der sich nun auf seinem Gesicht spiegelte, nicht erklären, obwohl sie es später häufig versuchte, denn sie spürte, dass er der Schlüssel zu weit mehr als nur zu Markussen gewesen war. Plötzlich geweckte Neugierde? Ja, durchaus. Dunkelheit, Schmerzen, Sehnsucht, Reue? Vielleicht.
Jedenfalls war die Ungeduld mit einem Schlag verschwunden. Er beugte sich zu ihr hinüber und starrte ihr mit einer Intensität in die Augen, die sie erschreckte. Sie verstummte.
Was habe ich gesagt?, dachte sie. Wieso sieht er mich so an?
Er nahm ihre Hand.
«Kommen Sie», sagte er nur.
Sie nahmen den Fahrstuhl zu seinem Büro im dritten Stock. Es war der erste Fahrstuhl, in dem sie stand. Als der Boden unter ihren Füßen bebte, zitterte ihre Hand auch in seiner.
Er gab seinem Sekretär Bescheid, eine Sitzung, zu der er gerade auf dem Weg gewesen war, telefonisch abzusagen. Noch immer hielt er sie an der Hand. Als würde er fürchten, dass sie ganz einfach verschwände, wenn er sie auch nur einen Moment losließe.
Mit einer Handbewegung lud er sie in sein Büro ein.
«Ich will nicht gestört werden», wies er den Sekretär an. Er zog ihr einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber auf die andere Seite eines großen Schreibtisches aus dunklem Holz. Durch das Fenster konnte sie nach unten auf die Statue von Niels Juel schauen.
«Der Zufall ist etwas Merkwürdiges», sagte er und strich sich über den weißen Schnurrbart. «Sie suchten mich aus Gründen auf, die mir vollkommen unklar erschienen, und ich war drauf und dran, Sie wegzuschicken. Aber in Wahrheit haben wir beide sehr viel mehr gemein, als Sie sich vorstellen können.»
«Irgendetwas habe ich gesagt», murmelte sie und blickte zu Boden.
«Ja, es war durchaus etwas, das Sie gesagt haben. Aber möglicherweise sind Sie sich gar nicht im Klaren darüber, was es war?»
Sie schüttelte den Kopf. Wieder spürte sie ihre Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit.
«Ich habe verstanden, dass Sie Papiere besitzen, die Sie mir gern zeigen wollen. Lassen Sie uns das zuerst hinter uns bringen.»
Er streckte seine Hand aus. Sie griff gehorsam in ihre geräumige Wachstuchtasche und reichte ihm das Konvolut, in dem sich das Testament zusammen mit den dazugehörigen Kaufverträgen und Wertpapieren befand.
Ein Weile saß er über den Papieren. Hin und wieder schaute er auf und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie sagte nichts. Schließlich schob er die Papiere auf dem Schreibtisch zur Seite.
«So, wie ich dachte», sagte er. «Die Reederei ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Das eigentliche Vermögen ist in Plantagen in Südostasien und Fabriken in Schanghai investiert. Sie sind reich, Frau Friis, nicht ganz so reich wie ich, aber doch beachtlich reich. Ihre Besitztümer in Asien sind praktisch eine Art Zwillingsunternehmen meiner eigenen. Das ist gar nicht so seltsam, wie es sich vielleicht anhören mag. Es handelt sich nämlich um dieselbe Person, die beide Vermögen erwirtschaftet hat.»
Sie starrte ihn verblüfft an.
«Sie haben doch selbst ihren Namen genannt. Ich spreche von Cheng Sumei. Soweit ich verstanden habe, war sie die Geliebte dieses Albert Madsens – und einst auch meine. Sie war keine Frau, die ihre Männer mit leeren Händen zurückließ.»
Er faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch und hing einen Moment seinen Gedanken nach. Sein Blick verdunkelte sich.
«Ich habe viele Jahre nichts über ihr Schicksal gewusst», sagte er.
Dann riss er sich los und sah sie mit neuer Energie an.
«Jetzt möchte ich aber von Ihren Plänen erfahren.»
Sie legte sie ihm dar. Da sie sie nie zuvor jemandem erzählt hatte, war sie unsicher, wie sie in den Ohren anderer klangen. Einen Moment durchbrach sie die Einsamkeit, in der sie so viele Monate gelebt hatte.
Als ihr Redestrom schließlich versiegte, saß er lange still da.
«Haben Sie je von dem persischen König Xerxes gehört?», fragte er. «Es war Xerxes, der die Idee hatte, das Meer zu bestrafen, weil vor einer entscheidenden Schlacht gegen die Griechen ein unerwarteter Sturm aufkam und das Meer seine Flotte in Wracks verwandelt hatte. Die Methode, die er wählte, war ein wenig ungewöhnlich. Er ließ das Meer mit Eisenketten auspeitschen. Frau Friis, Sie sind ein moderner Nachkomme des Xerxes.»
Er sah sie an, wie um die Wirkung seiner Worte zu prüfen. Sie reagierte nicht. Seine Worte hatten keinen Eindruck auf sie gemacht.
«Aber Sie verstehen hoffentlich, dass Ihre Pläne vernichtende Konsequenzen für Ihre kleine Stadt haben werden?»
«Es verhält sich genau umgekehrt», antwortete sie, indem sie all ihren Mut aufbot. «Ich will die Stadt retten.»
Noch am selben Abend aß sie mit Markussen in einer Suite des Hotel d’Angleterre, die zu seiner ständigen Verfügung stand. Er benutzte sie für Geschäftsessen und wichtige Treffen. An diesem Abend war sie für die Geschichte von Cheng Sumei reserviert.
«Frauen», sagte er, «sehen sich selbst als Versöhner. Sie sind stets diplomatisch, nicht von Natur aus, sondern aus Not. Frauen müssen geschickte Hände haben. Die besaß Cheng Sumei auch. Aber nur, bis sie ihr Ziel gefunden hatten. Dann wurden ihre Hände hart wie Stahl.»
Während er sprach, begriff sie instinktiv, dass er diese Geschichte noch nie einem anderen Menschen anvertraut hatte. Ihr ging es ganz genauso. Nur einem Fremden hatte sie ihr Herz öffnen können.
Sie brauchten einander.
Markussen war Cheng Sumei in Schanghai begegnet. Er hatte versucht, in den chinesischen Markt zu kommen, aber es war ihm übel ergangen. Er war zu unerfahren und zu schlecht gerüstet, um die Verluste aufzufangen, die den Neuling stets erwarten.
Cheng Sumeis Hintergrund war ungewöhnlich, jedenfalls für dänische Ohren, allerdings nicht außergewöhnlich für die Art von Frauen, die Ausländern in einer Stadt wie Schanghai begegneten. Sie hatte früh ihre Eltern verloren und als Blumenverkäuferin auf der Straße überlebt. Und sie verkaufte nicht nur Blumen. Dennoch hatte Markussen sie nicht auf der Straße getroffen. Ein wohltätiger jüdischer Geschäftsmann aus Bagdad hatte sie adoptiert, ein gewisser Mr. Silas Hardoon, der sich der Unglücklichen der Straße annahm, um ihnen ein Heim, eine Erziehung und eine Schulausbildung zu geben, in der sie über die konfuzianische Ethik hinaus auch Englisch und Hebräisch lernten. Er war früh gestorben und hatte jedem seiner zwölf Adoptivkinder einen gewissen Betrag vererbt. Diese Summe hatte es ihr ermöglicht, einen Anteil der populären Bar «Saint Anna» zu erwerben. Hier hatte Markussen ihre Bekanntschaft gemacht. Sie war auf ihn, der sich dort als Außenseiter fühlte, zugegangen.
Er hatte durchaus bemerkt, dass sie hübsch war, doch es war ihre Intelligenz, die ihn anzog, nicht die vollkommenen Züge ihres Gesichts.
Sie hatten nie über etwas anderes als Geschäfte miteinander gesprochen.
«Ich kann ja über nichts anderes reden», meinte Markussen kokett.
Klara Friis erkannte es als eine Bemerkung, die er häufiger benutzte.
Er war nach China gekommen, um – wie es damals hieß – dabei zu sein, wenn der Kuchen verteilt wurde. Doch andere hatten sich bereits vor ihm ihre Stücke gesichert: die Engländer, die Franzosen, die Amerikaner, sogar die Norweger standen besser da als ein einsamer Däne ohne Verbindungen.
In Anbetracht der Umstände hatte er sich gut geschlagen. Er ließ sich am Bund in Schanghai nieder, charterte Schiffe für die Küstenschifffahrt, baute Packhäuser und gründete eine Werft. Doch der Gewinn blieb aus.
«Füll die Packhäuser», hatte Cheng Sumei ihm geraten.
Er hatte sie verwundert angesehen. Womit denn? Mit noch mehr Waren, die er nicht loswurde?
Sie hatte den Kopf geschüttelt und ihn ausgelacht.
«Auf dem Papier, lao-yeh. Füll die Warenlager, aber nur in deinen Büchern.»
«Und wenn es entdeckt wird, dass ich die Bücher gefälscht habe?»
«Besetz den Aufsichtsrat deiner Firma mit bedeutenden Männern aus der Spitze der Gesellschaft. Dann wird es nicht entdeckt. That is the Shanghai way, lao-yeh.»
Als die Krise überstanden war, schlug sie vor, dass er die Aktivitäten der Reederei nach Port Arthur verlegte; denn hier hatte der russische Expansionsdrang in China sein Zentrum, nicht in Schanghai.
«Aber es kommt zum Krieg.»
Er wusste über die politische Entwicklung Bescheid. Das war einfach notwendig. Er hatte den russischen Innenminister Plehve sagen hören, dass nicht Diplomaten, sondern Bajonette Russland groß machen würden. Und Japan hatte die gleichen Pläne wie Russland. Die Frage, wer das Recht bekam, den wehrlosen Giganten China auszuplündern, würden Waffen entscheiden, und er hatte keinen Zweifel, wer gewänne.
«Genau», sagte sie. «Aber es kommt eine Zeit nach dem Krieg, aus der du deinen Vorteil ziehen kannst.»
Der Krieg kam. Port Arthur wurde belagert. Auf ihren Rat hin hielt er aus, statt sein Personal abzuziehen und sein Engagement zu beenden, wie es die meisten anderen taten. Konnte er den Verlust verkraften, wenn die Stadt fiel? Die Belohnung kam unerwartet. Als die Stadt fiel, wurden die russischen Truppen und Flüchtlinge an Bord der Schiffe seiner Reederei evakuiert, und er ließ es sich gut bezahlen. Es waren seine Schiffe, die Kriegsmaterial zu den bedrängten Russen schafften, als Wladiwostok von der japanischen Flotte blockiert wurde und man neutral aussehende Schiffe benötigte, die beladen und umgeladen werden konnten, bis ihre Fracht endlich die russischen Befestigungen bei Nikolajewsk an der Mündung des Amurflusses erreichten.
«Hast du die Lektion jetzt begriffen?», fragte sie, indem sie die Einsicht, die sie ihm vermitteln wollte, wie immer als spöttische Frage formulierte.
Wieder hatte sie ihn auf ein Fragezeichen reduziert.
«Hör auf dein kleines sampan girlie. Es gelang dir in Port Arthur aus genau dem gleichen Grund, aus dem es dir in Schanghai misslungen ist, lao-yeh.
Es misslang dir in Schanghai, weil die Großmächte den Kuchen bereits unter sich aufgeteilt hatten. Dort war kein Platz für einen kleinen Dänen. Ein englischer, französischer oder amerikanischer Geschäftsmann kann seine Forderungen immer mit Kanonenbooten unterfüttern. Ein Däne kann das nicht, und daher gibt es Orte auf der Welt, an denen gerade er willkommen ist, weil niemand ihn verdächtigt, dass im Kielwasser seiner Handelsschiffe Kriegsschiffe folgen. Als Däne verfügst du über nichts anderes als deine geschickten Hände. Die hast du zu gebrauchen, denn es gibt viele Orte auf der Welt, an denen der Gast am liebsten gesehen ist, der seine Hände ausstreckt, ohne dass sich darin Waffen befinden. Ein Mann aus einem kleinen und schwachen Land ist so gut wie vaterlandslos. Wedle nur mal mit deiner Flagge. Ein weißes Kreuz auf rotem Untergrund. Sie werden darin nicht das Symbol der christlichen Kreuzfahrer sehen, sondern lediglich einen weißen Lappen. Hüll dich in den weißen Umhang der Unschuld, lao-yeh.»
Er war nicht beleidigt, er war kein Patriot. Sein Vaterland war seine Buchführung, wenn auch eine gefälschte, und er erkannte die Klugheit ihres Rats.
Er nutzte seine dänische Staatsbürgerschaft, um damit seine Ungefährlichkeit zu signalisieren, bevor er zuschlug. Er bekam die geschickten Hände einer Frau.
«Wieso habt ihr euch getrennt?», wollte Klara wissen.
Ihre Vertrautheit hatte dazu geführt, dass sie sich duzten, ohne groß darüber nachzudenken.
«Eines Tages verrate ich es dir. Aber nicht jetzt. Ich habe dir die Geschichte erzählt, weil ich möchte, dass du etwas daraus lernst, nicht über mich, sondern darüber, wie eine Frau Geschäfte macht. Ich habe drei Kinder, aber nur meine Tochter kommt nach mir. Meine beiden Söhne sind vollkommene Versager. Würde ich ihnen das Geschäft überlassen, würde es den augenblicklichen Ruin bedeuten. Meine Tochter verfügt über das Talent – doch ihr Geschlecht steht ihr im Weg. Also muss ich einen Strohmann einsetzen, obwohl ich sie gleichzeitig zur eigentlichen Leiterin des gesamten Unternehmens ernenne. Sie wird nie Anerkennung für ihre Arbeit finden. Das wird ihre Tragödie sein. Sie wird durch Betrug agieren, aber das wiederum wird ihre Stärke sein. Du musst das Gleiche tun. Von nun an bist du eine Betrügerin.»
Klara Friis bekam einen unerwarteten Verbündeten.
Es war der Tod.
Die Spanische Grippe brach in Marstal aus und forderte wie überall auf der Welt auch hier ihre Opfer. Die Grippe war nicht wie das Meer, das nur die Männer nahm. Die Spanische Grippe nahm, wer auch nur in ihre Nähe kam. Sie ließ ihre Opfer gnädig im Bett sterben, und es gab ein Grab, das man besuchen konnte.
Pastor Abildgaard machte seine Runden, sprach mit den Hinterbliebenen und führte die Beisetzungszeremonien durch. Die Grippe fürchtete er längst nicht so wie den Krieg. Der Friedhof bekam neue Grabstätten, die jeden Sonntagnachmittag begossen wurden. Die Trauernden sprachen leise mit den Toten. Hin und wieder war ein Schluchzen zu hören, doch wenn sie aufschauten und ihr Blick auf den Nachbarn an der Grabstelle gegenüber fiel, begannen sie sofort eine eifrige Unterhaltung über die jüngsten Neuigkeiten. Die Kinder vergaßen sich und liefen lärmend über die frisch geharkten Wege, bis jemand ihnen bedeutete, leise zu sein.
Es war schlimm für die Hinterbliebenen. Und doch war es das Leben, wie es nun einmal ist. Wir hatten die Köpfe zu senken und es zu akzeptieren. Niemand empörte sich oder schimpfte, weder auf die höheren noch auf die irdischen Mächte.
«Es geht. Es muss ja», antworteten wir, wenn wir uns begegneten und nachfragten.
Die Spanische Grippe unterschied nicht zwischen oben und unten. Dennoch schien es, als hätte sie ein besonderes Auge auf die Nachkommen von Bauern-Sofus geworfen. Er selbst hatte schon vor vielen Jahren das Zeitliche gesegnet, doch die Reederei war in den Händen der Familie Boye geblieben. Im Jahr nach Henckels Konkurs gründeten sie eine neue Stahlschiffswerft etwas weiter nördlich am Hafen. Jedes Mal, wenn wir hörten, wie die Niethämmer ihre glühenden Nägel in einen dröhnenden Stahlrumpf rammten, dachten wir das Gleiche: «Noch können wir es.» Es war eine Familie aus unserer eigenen Stadt, die die Werft begründet hatte. Während sich in diesen Jahren alles andere als flüchtig und zum Niedergang verurteilt erwies, blieb das, was wir selbst geschaffen hatten, genauso stehen wie die Mole, die den Hafen schützte und es bis in alle Ewigkeit tun würde.
Poul Victor Boye indes blieb nicht stehen. Er war groß und stattlich, mit einem wogenden Vollbart bis über die Brust, ein Schiffszimmermann und ausgebildeter Schiffsingenieur, der die Werft gegründet hatte und leitete; er bewies ebenso viel Tüchtigkeit im Büro wie an der Helling, wo er jederzeit bereit war, mit anzufassen, wenn die Werft mit den Aufträgen nicht nachkam. Die Grippe hauchte ihn mit ihrem kranken Atem an, und sein Licht verlosch.
Einen Monat später hatten seine beiden Schwestern, Emma und Johanne, ebenfalls von ihren Ehemännern Abschied nehmen müssen. Solide, grundvernünftige Männer, die an der Spitze der Reederei gestanden und während des Krieges die heikle Balance zwischen Gewinn und Verlust gemeistert hatten. Sie verloren Männer und Schiffe, jedoch kein Geld. Sie glaubten, dass jetzt die Zeit für den großen Wechsel vom Segel- auf das Dampfschiff gekommen sei.
Die Grippe war anderer Meinung.
Dreimal folgte die halbe Stadt einem Sarg den Ommelsvej hinaus. Vorn liefen Mädchen, die das Pflaster mit Blumen bestreuten, um so den Weg ins Paradies vorzubereiten. Wer statt auf See zu Hause starb, verdiente doch, dass ein wenig Aufwand getrieben wurde. Es war ein alter Brauch, an dem wir festhielten. Dann folgte der von einem schwarzen Pferd gezogene Leichenwagen.
Mit wenigen Wochen Zwischenraum kamen sie unter die Erde. Einer nach dem anderen.
Zunächst ahnten wir nichts. Doch beim dritten Mal wussten wir es. Wir hatten mehr als nur Männer begraben.
«Jetzt sind nur noch die Matrosen übrig», sagte der Steinmetz Petersen und kratzte sich mit seiner Schiebermütze, die er nur selten vom Kopf nahm, im Nacken. «Die Kapitäne und Steuermänner haben wir beerdigt.»
Wir nannten Steinmetz Petersen auch den Totensammler, weil er jeden Verstorbenen als Holzfigur schnitzte. Unter dem Mützenschirm befanden sich scharfe Augen, und wir wussten, dass er Maß bei uns nahm, nicht wie der Totengräber, aber beinahe so. Kaum war jemand beerdigt, schon tauchte eine kleine Figur im Regal der Werkstatt des Totensammlers auf. Die Werkstatt lag dem Friedhof gegenüber. Das war nicht nur praktisch für diejenigen, die einen Grabstein bestellen wollten, sondern auch für ihn, denn so brauchte er die blank geschliffenen Steine mit Kreuzen, Engeln und Ankern nicht so weit zu schleppen. Die Werkstatt des Totensammlers stellte einen Friedhof im Puppenstubenformat dar, nur mit dem Unterschied, dass sich die Toten hier betrachten ließen. Seine Figuren den Angehörigen schenken wollte der Totensammler nicht, und wenn er gefragt wurde, warum er nicht die Lebenden aus Holz schnitzte, antwortete er stets, dass er niemanden verärgern wolle. Seine kleinen Holzfiguren waren schon sehr ähnlich, allerdings auf eine etwas grobe Art. Eine große Nase wurde größer, ein gekrümmter Rücken noch ein wenig gebückter, und O-Beine wirkten, als hätte ihr Besitzer eine unsichtbare Tonne zwischen die Beine geklemmt. Die Toten besaßen ja nahezu alle Spitznamen, denen sie auch ähnlich sahen, wenn der Totensammler sie nach ihrem Fortgang verewigte. Er lächelte entschuldigend und meinte, das reine Unvermögen sei schuld an den möglicherweise etwas übertriebenen Extremitäten seiner Figuren, kein böser Wille.
«Habt Nachsicht mit mir», bat er, «ich kann es nicht besser.»
Der Totensammler hatte viel zu tun während der Grippeepidemie. Tagsüber schleppte und bearbeitete er seine Steine. Und abends saß er mit der Pfeife im Mund da und schnitzte. Immer mehr Figuren standen auf seinem Regal.
«Wer soll denn jetzt das Kommando übernehmen?», fragte er Kapitän Ludvigsen, den man den Kommandeur nannte, als der einen Grabstein für seine Frau bestellte.
Der Totensammler beantwortete seine Frage selbst.
«Es werden die Frauen machen. Warten Sie nur ab. Oder schauen Sie sich Klara Friis an. Denken Sie an meine Worte. Die Frauen werden es jetzt übernehmen.»
Ludvigsen schüttelte den Kopf.
«Den Verstand dazu haben Frauen doch gar nicht.»
«Ich habe auch nicht gesagt, dass sie den Verstand dazu hätten. Ich habe nur gesagt, dass sie von nun an bestimmen werden.»
Knud Erik weinte nachts. Er weinte allein.
Vor der Mutter konnte er nicht weinen. Er war doch ihr kleiner Mann, und ein Mann, egal, ob groß oder klein, weinte nicht vor einer Frau. Er hatte sich auf ihr Weinen vorbereitet, als Albert starb. Er wollte der Tröstende sein, der Mann an ihrer Seite, nun, da ein weiterer fortgegangen war. Es war seine Aufgabe, sich ganz ihres Kummers und ihrer Trauer anzunehmen. Das konnte er. Darauf hatte er sich vorbereitet, und ihre geröteten Augen und ihr freudloses Gesicht versicherten ihm immer wieder, dass er unentbehrlich war. Nur er verstand sie und hörte ihr ernsthaft zu.
Eines Tages, als sie wieder nur dasaß und vor sich hin starrte, legte er eine Hand auf ihren Arm.
«Mutter, bist du traurig?», fragte er. Seine Stimme klang einladend. Sie konnte sich ihrem kleinen Mann anvertrauen.
Ihr Weinen war eine Last, die ihn niederdrückte. Darauf verzichten konnte er allerdings auch nicht. Mit der Last auf seinen Schultern war er jemand. Ohne sie wusste er nicht, ob sie ihn wahrnahm.
«Nein, ich bin nicht traurig», sagte die Mutter. «Lass mich ein bisschen in Ruhe. Ich denke nach.»
Er begann mit Edith zu spielen.
«Wo ist Vater? Wo ist der Mann?», fragte sie.
Ihre Fragen waren nicht ernst gemeint, sie hatte Albert kaum gekannt. «Vater» war nur ein Wort für sie. Wahrscheinlich glaubte sie, es sei sein Name gewesen. Sie war nur ein Kind.
Doch auch Kund Erik wusste inzwischen nicht mehr, was er war. Seine Mutter reagierte auf das Angebot, sie zu trösten, mit einem nie zuvor an ihr gesehenen stieren Blick. Der Pakt zwischen ihnen war aufgehoben, also war er auch nicht länger ihr kleiner Mann. Aber was war er dann?
Knud Erik hatte als ganz kleiner Junge gelernt, dass die Welt einem abhanden kommen und dann von ganz allein wieder auftauchen konnte. Ein Rollo wurde herabgelassen, und alles war verschwunden und finster. Mit einem Knall rollte es wieder nach oben, und die Welt erschien aufs Neue. Das leuchtend blaue Zelt des Tages wich der dunklen Nacht und kam dann erneut zurück.
Verlust bedeutete, dass das Rollo nicht wieder in die Höhe schoss. Verlust war eine Nacht, die niemals zu Ende ging.
Sein Vater war nachts verschwunden, doch lange Zeit hatte er gehofft, dass das Rollo, hinter dem er verschwunden war, sich wieder aufrollen würde. Er suchte am Horizont nach einer Schnur, um kurz daran zu ziehen, damit der Vorhang in die Höhe ging und der Vater zum Vorschein kam. Der Vater, dessen Gesichtszüge sich bereits in einem Nebel auflösten, die er sich jedoch immer wieder heraufzubeschwören versuchte, niemals sicher, ob es tatsächlich dasselbe Gesicht war, an das er sich zuletzt erinnerte. Zurück blieb nur dieses eine Wort. Vater. Einst hatte er einen Vater gehabt, und diese Gewissheit bohrte sich wie ein Loch in sein Gemüt, wie ein weißer Fleck auf der Leinwand seiner Erinnerung.
Nun musste er den Verlust von Albert überwinden.
Er erinnerte sich bei Albert nur an all das Gute und was er ihm bedeutet hatte. Sie waren doch Kameraden gewesen, Freunde; alles war Albert für ihn gewesen, eine ganze Welt in einer Person, die ihn mit Armen umschlang, die so stark waren, dass nichts Böses ihm etwas anhaben konnte. Er wusste, dass der alte Mann ihn geliebt hatte, obwohl dieses Wort nie ausgesprochen worden war.
Im Tod sollte Albert ihm ein letztes Mal helfen.
Anton war rothaarig, und in seinem sehnigen Körper, der mit Sommersprossen übersät war, die die Farbe von Brotsuppe hatten, steckte so viel Kampfeslust, dass Jungen, die weitaus größer waren als er, ihm respektvoll aus dem Weg gingen. Er besaß eine halbzahme Sturmmöwe, die er «Tordenskjold» getauft hatte. Die Möwe ließ es zu, dass er sie in einen aus Peddigrohr zusammengeflickten Bauer steckte, der im Garten seiner Eltern stand. Wenn jemand sich mit Anton gut stellen wollte, betrug der Eintrittspreis einen Hering, der an Tordenskjolds gierigen Schlund zu entrichten war. Die Möwe hatte er als Jungtier auf Langholms Hoved gefunden, wohin er jedes Frühjahr ruderte, um Eier aus den Nestern zu stehlen, die er Bäcker Tønnesen verkaufte. Der verwendete sie für Sandkuchen und Vanillekringel und hieß daher nur noch «der Möwenbäcker».
Anton wurde als der Schrecken Marstals bezeichnet. Er hatte seinen Spitznamen erworben, als er mit einem Schuss aus einem Luftgewehr die Porzellanisolation an der Spitze einer Straßenlaterne zerschoss, woraufhin die Hälfte der Stadt im Dunkeln lag. Das Gewehr, das er sich von einem Vetter geliehen hatte, benutzte er im Übrigen dazu, für einen Hofbesitzer in Midtmarken Spatzen zu schießen, der ihm vier Öre für jeden Vogel gab. Die Vögel schmiss der Hofbesitzer auf den Mist, wo Anton sie wieder einsammelte und ihm dieselben Spatzen noch einmal verkaufte. Er konnte denselben Vogel bis zu viermal an den gutgläubigen Bauern verkaufen, der inzwischen eine ziemlich übertriebene Vorstellung von der Größe der Spatzenpopulation hatte, die seine Äcker heimsuchte.
Anton stammte aus dem Møllevej, der im nördlichen Teil der Stadt lag, während Knud Erik, der in der Prinsegade wohnte, zum südlichen gehörte. Zwischen den beiden Stadtteilen verlief eine Grenze, die in den Augen der Jungen nicht weniger ernst genommen wurde als die Fronten des gerade überstandenen Weltkriegs. Es gab zwei Banden, die einen gnadenlosen Krieg gegeneinander führten, die Südbande und die Nordbande. Und Knud Erik und Anton gehörten wie selbstverständlich jeder zu ihrem Teil der Stadt. Knud Erik, der auch auf dem Schulhof und dem Heimweg von der Schule für sich blieb, gehörte ganz sicher zu keiner Bande, Anton jedoch war ein geachtetes Mitglied der Nordbande.
An einem Frühlingstag, als der Wind draußen vor der Mole mit den Wellenkämmen spielte, passte Anton Knud Erik auf dem Nachhauseweg von der Schule ab. Knud Erik wusste um Antons Ruf und zog aus Gründen des Selbstschutzes die Schultern hoch. Er war kein Raufbold und wusste daher nicht, dass eine solche Haltung genau die Prügelei provozierte, die er am liebsten vermeiden wollte.
«Ich habe Kapitän Madsen gefunden», prahlte Anton.
Knud Erik machte sich noch kleiner. Er wünschte sich plötzlich, dass der andere es dabei belassen würde, ihn zu verprügeln.
«Ich will dir bloß sagen, dass ich ihn ganz unglaublich finde», sagte der ältere Junge. «Mit Stiefeln an den Füßen zu sterben. Aufrecht. So würde ich auch gern sterben.»
Knud Erik wusste nicht, was er sagen sollte, doch die Anspannung fiel von ihm ab.
«Du kanntest ihn doch. Er war doch so etwas wie ein Großvater für dich, oder?»
Es lag kein Spott in Antons Tonfall.
«Schon», antwortete Knud Erik. Noch immer lag ein Zögern in seiner Stimme.
«Wie sah er aus?», fragte er kurz darauf.
Er wollte wissen, ob Albert in seinen letzten Stunden gelitten hatte. Konnte man seinem Gesicht etwas ansehen? Aber die Frage war möglicherweise zu rührselig.
«Er hatte Raureif im Bart und im Haar, ja, am ganzen Kopf. Das sah ziemlich toll aus», meinte Anton.
Knud Erik nahm all seinen Mut zusammen.
«Und wie sah er sonst aus?»
«Was meinst du? Er sah eigentlich ziemlich normal aus. Er war doch tot.»
Ohne ein weiteres Wort liefen sie eine Weile nebeneinander her. Über ihren Köpfen zogen sich die Wolken zusammen und nahmen eine dunklere Färbung an. Sie gingen durch die Markgade und überquerten den Marktplatz. Knud Erik war gleich zu Hause, und Anton würde ihn vielleicht nie wieder ansprechen. Aber er wollte die Freundschaft des großen Jungen gewinnen, und er bekam einen abwesenden Blick, als er sein Gehirn zermarterte, was er Interessantes sagen konnte.
Dann hatte er eine gute Idee.
«Hast du jemals einen Schrumpfkopf gesehen?», fragte er.
Einen erwachsenen Mann gab es in Knud Eriks Leben nicht mehr. Doch nun hatte er Anton, der über seine eigene Lebenserfahrung verfügte, die er in unzähligen Konfrontationen mit den Erwachsenen erworben hatte. Er kannte ihre Welt, allerdings auf die gleiche Art, wie der Spion eines aufständischen Heeres das Lager des Feindes kennt: Je mehr man darüber weiß, desto besser lässt es sich einnehmen.
Eines Tages nach der Schule ging er mit Knud Erik nach Hause in die Prinsegade. In seinen Augen hatte er während des ganzen Besuchs beinahe den Status eines Beobachters. Er kam hierher, um seinen Gegner besser kennenzulernen.
Sie wurden von dem jungen Mädchen empfangen, das sich der im Haus anfallenden Arbeit annahm. Sie trug eine gestärkte Schürze und hatte das Haar aufgesteckt. Anton musterte sie mit Kennermiene von oben bis unten, als überlegte er, sie an diesem Abend einzuladen. Sie schaute nur auf seine Füße und beschied ihm in barschem Ton, dass er seine Holzschuhe auszuziehen habe, bevor er das Wohnzimmer betrete.
Klara Friis gegenüber benahm er sich vorbildlich. Er antwortete höflich auf alle Fragen nach seinen Eltern und seinen Noten in der Schule. Er erwähnte nicht, dass er das monatliche Notenheft, von dessen Existenz seine Mutter überhaupt nichts wusste, stets selbst unterschrieb. Klara war beeindruckt von diesem Musterschüler, dessen Freundschaft ihr Sohn errungen hatte. Bestimmt könnte er ihm mit gutem Beispiel vorangehen. Das Einzige, was sie an Anton nicht mochte, war sein unsteter Blick, der die ganze Zeit über im Wohnzimmer umherschweifte, als würde er sämtliche darin befindlichen Gegenstände registrieren. Unter dem Tisch schwang sein Bein unruhig hin und her. Es kostete ihn gehörige Mühe, sich so ruhig zu verhalten, wie es die Etikette verlangte, wenn man zusammen mit Müttern war.
Sie erkundigte sich nach seinen Plänen für die Zukunft. Vielleicht war es eine etwas seltsame Frage an einen Jungen im Alter von nur elf Jahren, aber schließlich wurde er in zwei oder drei Jahren konfirmiert und verließ die Schule; daher hielt sie es nicht für abwegig, dass er sich bereits Gedanken in dieser Richtung machte.
«Ich werde zur See fahren», erklärte Anton nüchtern, eine Feststellung, die weder Begeisterung noch Resignation ausdrückte, höchstens eine gewisse Verwunderung, dass jemand überhaupt auf die Idee kam, danach zu fragen.
«Knud Erik wird kein Seemann», stellte Klara fest.
Sie sagte es mit Absicht. Ihr Sohn sollte sich von seinen Kameraden unterscheiden. Sie sollten wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Mit einem Jungen, der zu etwas anderem bestimmt war als sie.
Anton schaute schnell zwischen Klara und Knud Erik hin und her. Wieder machte es den Eindruck, als legte er eine Liste über das Inventar des Wohnzimmers an. Sie bemerkte seinen Blick und wusste nicht, wie sie ihn einordnen sollte. Dieser Blick ließ sie unruhig zurück.
«Sie ist ausgefuchst», sagte Anton zu Knud Erik, als sie sich das nächste Mal trafen.
Er klang wie ein Boxtrainer, der seine Einschätzung über einen Gegner liefert. Als er die Wehrlosigkeit in Knud Eriks Gesicht bemerkte, legte er ihm eine Hand auf die Schulter.
«So sind sie alle», meinte er tröstend.
«Sie will dich in irgendein Maklerkontor stecken. Dort sollst du den ganzen Tag im steifen Kragen herumsitzen und aussehen, als wärst du ausgestopft. Aber so geht das nicht.»
«Nein, so geht das nicht.»
Knud Erik sprach die Worte zögernd aus. Er versuchte sich an einem von Antons Sprüchen.
«Es gibt eine sichere Methode, es zu vermeiden», erklärte Anton. «Du musst in der Schule nur schlechter werden.»
In der Schule schlechter zu werden ist schwerer, als man glaubt. Es war ausgesprochen verlockend, den Finger zu heben, wenn man die Antwort kannte. Zu Hause vorbereitet hatte er sich ja. Das tat er geradezu instinktiv. Er wollte ein guter Junge sein.
Bisher hatte Knud Erik zum Klassendurchschnitt gehört. Nun sank er freiwillig ans untere Ende. Seinem Ruf unter den Klassenkameraden schadete es nicht. Allerdings musste man ständig mit einer Strafe rechnen. Der größte Teil des Lehrkörpers bestand aus unverheirateten Fräulein. Einige waren dick, andere mager, aber alle schlugen, keilten, rissen und kniffen mit einer Energie, die ihnen niemand zugetraut hätte. Fräulein Junckersen zog an den Ohren, Fräulein Lærke an den Nackenhaaren, und Fräulein Reimer schlug mit dem Handrücken. Fräulein Katballe legte die Ungehorsamen übers Knie und verabreichte ihnen eine Tracht Prügel, und nur der abgehärtete Anton fürchtete sich nicht davor. Wenn sie zuschlug, lief ihr Gesicht vor Zorn blauschwarz an, und diese unheimliche Farbe und das schmatzende Geräusch, das sie mit Speichel vermischt ausstieß, fürchteten wir mehr als ihre Schläge.
Nur bei Lehrer Kruse konnte man sich nicht drücken. Er war ein Mann mit erheblicher Kraft in den Armen. Faulenzer hielt er aus dem offenen Fenster des zweiten Stocks und drohte damit loszulassen. Auf das blanke Entsetzen, das von dem leeren Raum unter unseren Füßen ausging, konnte sich niemand vorbereiten. In Kruses Stunden wurde jede Frage von einem Wald erhobener Finger beantwortet.
Knud Erik bereitete sich zu Hause vor und hielt in der Schule den Mund. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl dabei, aber er verließ sich auf Antons Rat und rechnete mit einer Belohnung in jenem Jenseits, das der langen Wartezeit der Schule folgen würde.
Neben ihm saß Vilhjelm, der stotterte. Die Lehrer hatten keine Geduld mit ihm, weshalb er selbst die Geduld verlor und aufgab, bevor er die Worte ausgesprochen hatte. Knud Erik flüsterte ihm die richtigen Antworten ins Ohr oder schrieb sie ihm auf einen Zettel. Vilhjelm wurde zu seiner Bauchrednerpuppe. Das Wissen, das er den Lehrern vorenthielt, konnte er mit Vilhjelm als seinem Stellvertreter beweisen. Mit der Zeit entwickelte sich eine Freundschaft zwischen ihnen.
Vilhjelm kam mit einem besseren Zeugnis nach Hause, Knud Erik mit einem schlechteren.
Die Mutter sah ihn vorwurfsvoll an.
«Was ist los mit dir in der Schule?», fragte sie in einem Ton, aus dem er Sorge, ein wenig Panik und Zorn heraushören konnte. Der Zorn siegte. Sie hatte sich verändert, und er empfand ein Gefühl der Dankbarkeit über diese Veränderung. Hätte sie noch immer so schnell zu weinen begonnen wie früher, hätte er es nicht ausgehalten – er wäre wieder zu ihrem Helfer und Tröster geworden. Nun schimpfte sie ihn aus, und er machte es wie in der Schule und verschloss sich. Sie war ein Teil des Frauenregiments, mit dem er sich abzufinden hatte, bevor er in die Freiheit entkam.
«Du bist ein merkwürdiger Junge», sagte sie.
Die Worte brannten in ihm. Er fühlte sich von ihr verstoßen. Einen Moment lang hätte er sich gern in ihre Arme geworfen und um Verzeihung gebeten. Ein Teil von ihm hätte sich bereitwillig mit ihr versöhnt, um wieder zu den alten Rollen zurückzufinden – er hätte ihr großer Junge sein können und sie seine arme kleine Mutter, die ihn so dringend brauchte. Aber sie war nicht mehr länger hilflos, und ihr Zorn half ihm, sich zu widersetzen und standhaft zu bleiben.
Anton verhielt sich Vilhjelm gegenüber reserviert. Mit den Schwächlingen des Schulhofs gab er sich nicht ab, und sein Interesse an Knud Erik lag vor allem an seiner Verbindung zu dem verstorbenen Albert, der in Antons Augen immer bedeutender wurde, je mehr Knud Erik ihm von dessen Abenteuern berichtete. Anton wusste von Schiffsuntergängen und verwegenen Begebenheiten in fremden Häfen. Allerdings gehörten derartige Berichte zum Alltag eines jeden Jungen, von Schrumpfköpfen hatte ihm jedoch bisher niemand erzählt. Was spielte der stotternde Vilhjelm, der kaum einen Satz zu Ende brachte, schon für eine Rolle im Vergleich zu all diesen phantastischen Geschichten?
Nein, das Reden war wirklich nicht Vilhjelms starke Seite. Dafür hatte er es in den Armen und Beinen. An einem Wintertag turnten sie auf den Schiffen im Hafen herum, und plötzlich kletterte Vilhjelm in die Takelage. Er stieg immer weiter hinauf, bis er die Mastspitze erreicht hatte, den glänzenden Mastknopf, den er in fünfundzwanzig Metern Höhe enterte. Er legte sich mit dem Bauch darauf und breitete Arme und Beine aus, als würde er fliegen. So etwas hatten sie seit dem letzten Sommer nicht mehr gesehen, damals gastierte der Zirkus Dannebrog, und da war es jedenfalls nicht in fünfundzwanzig Metern Höhe passiert.
Niemand von ihnen traute sich, es ihm nachzumachen. Die Mutigsten kletterten hoch bis zum Mastknopf, aber dann zögerten sie und kehrten um. Auch Anton musste die weiße Flagge hissen. Von Marstals Schrecken hätte man eigentlich erwartet, dass er verächtlich mit den Achseln zucken und erklären würde, das sei doch gar nichts. Was er nicht wagte, war ohnehin nicht wert, getan zu werden.
Doch so war Anton nicht, er reagierte vollkommen anders.
«Teufel auch, das war verdammt mutig», sagte er, «ich hab mich jedenfalls nicht getraut, als ich da oben war.»
Er schlug Vilhjelm anerkennend auf die Schulter, dessen Glück nun vollkommen war. Er stand nicht mehr länger abseits.
Eine Geschichte konnte Vilhjelm gut erzählen. Sie dauerte allerdings ziemlich lange, und diese Zeit hatten wir gewöhnlich nicht. Aber einmal hörten wir ihm zu. Vilhjelm wäre nämlich beinahe gestorben, und nur ein Zufall hatte ihn gerettet.
Es geschah an einem Sonntagmorgen, ganz früh. Er hatte seinen Vater zum Hafen begleitet, um nach dem Boot zu sehen. Sein Vater war Sandgräber und außerdem taub, und natürlich war die Taubheit auch für die ganze Spannung in der Geschichte entscheidend, sonst wäre es lediglich ein gewöhnlicher Sturz ins Wasser gewesen, den viele von uns erlebt hatten. Es gehörte einfach zur Lebenserfahrung eines ordentlichen Jungen, dass er einmal unter die Wasseroberfläche geriet und die Tiefe erforschte, noch bevor er schwimmen konnte.
Vilhjelm war drei oder vier Jahre alt gewesen, und sein Vater hatte ihn mit dieser schleppenden Stimme ermahnt, die immer klang, als spräche er ins Leere, als müsste er sich jedes Wort überlegen, um sicher zu sein, was er sagte.
«Setz dich dorthin», hatte er gesagt. «Da bleibst du still sitzen, und wenn du was willst, dann stupst du mich an.»
Er hatte Vilhjelm den Rücken zugedreht und begonnen, die Planken des Schandecks zu reparieren. Vilhjelm hatte ins klare, ruhige Wasser geblickt, und er konnte noch immer den Eindruck beschreiben, den es damals auf ihn machte. Die Steinmauer des Kais war grün und mit Algen überzogen, ein Märchenland wechselnder Farben, wenn die Sonnenstrahlen auf ihren Streifzug durchs Wasser gingen, das voller Seesterne und wandernder Krebse war, oder Krabben, die sich mit ihren flimmernden Antennen nicht von der Stelle rührten.
Voller Entdeckerdrang hatte Vilhjelm sich nach vorn gelehnt und war plötzlich kopfüber in das Märchenland gefallen. So war es uns auch ergangen, jedenfalls den meisten von uns, nur hatte niemand außer Vilhjelm einen tauben Vater, der auf ihn aufzupassen hatte und den einzigen Unterschied zwischen Rettung und Untergang verkörperte.
Vilhjelm tauchte wie ein Korkpfropfen wieder auf und bekam die Reling zu fassen. Mit den Füßen fand er an einem der glitschigen Feldsteine des Kais Halt, aber er rutschte ab und hing mit schwerelosen Beinen über der dunkelgrünen Tiefe. Ein eiskalter Unterstrom hatte ihn erfasst und wollte ihn unter das Boot ziehen.
Die Holzschuhe waren ihm bereits von den Füßen geglitten und schwammen um ihn herum wie Rettungsboote um ein sinkendes Schiff. Die nasse Kleidung, die eben noch ein so vertrauter Teil seiner selbst gewesen war, fühlte sich an wie eine fremde Hülle. Er konnte nur den Rücken seines Vaters sehen, und in diesem massigen, blau gekleideten Körperteil schien die ganze Welt sich zu vereinen und ihn abzuweisen.
Verzweifelt schrie er, doch der taube Vater hörte nichts. Er schrie noch einmal, dass es durch den leeren Hafen gellte.
«Hilfe! Vater!»
Dann konnte er nicht mehr. Seine Finger verloren den Halt, und er verschwand im Wasser. Er strampelte, biss und schlug um sich, als würde er mit einem wilden Tier kämpfen, und doch war es nur das sanfte, weiche Wasser, das ihm seine Bettdecke über den Kopf zog, als wäre es nun an der Zeit einzuschlafen – das Wasser wünschte ihm eine gute Nacht.
Und dann – dann war der große Arm des Vaters gekommen. Der Arm, dieser gewaltige Arm, der bis zum Meeresgrund reichte und, wenn es sein musste, bis hinunter in den Tod, hatte ihn wieder heraufgezogen.
«Im aller-, aller-, allerletzten Augenblick», sagte er.
Wir wussten, dass er diesmal nicht stotterte. Es war tatsächlich im aller-, aller-, allerletzten Augenblick passiert.
«Und dann hast du wohl Prügel bezogen?», fragte Anton.
So war es zu Hause bei ihm.
Aber Vilhjelm war nicht geschlagen worden, weder bei dieser noch bei anderen Gelegenheiten; und wir begriffen, warum, als wir zum ersten Mal seinen Vater sahen, der eher wirkte wie sein Großvater. Es lag nicht nur an seiner Taubheit, sondern auch an seinem grauen Haar. Vilhjelm war ein Nachzügler, und sein Verhältnis zu seinen Eltern war so, wie wir es zu unseren Großeltern hatten. Er war nett und zuvorkommend und unterhielt sich leise mit ihnen, als wäre das Problem der Familie nicht die Taubheit, sondern eher eine Überempfindlichkeit gegen Lärm. Durch einen merkwürdigen Zufall war seine Mutter ebenfalls taub.
Jeder kann sich vorstellen, dass in dieser Familie nicht allzu viel geredet wurde. Wenn die Eltern endlich einmal etwas sagten, geschah es immer in einem ernsthaften, eindringlichen Ton, als würden sie ein demütiges Gebet sprechen. Dafür berührten sie sich ständig gegenseitig. Sie fassten sich an den Händen oder strichen sich über Haare und Wangen, und nicht nur bei Vilhjelm. Er streichelte auch seine Eltern. In Vilhjelms Familie wurde nicht geschlagen.
Daher entdeckte Vilhjelm von seinem Vater auch etwas anderes, nachdem er beinahe ertrunken war. Um was es sich handelte, wurde uns erst klar, als er uns eine sehr merkwürdige Antwort auf die Frage gab, die Anton stellte: «Was meinst du, was ist das Schlimmste am Ertrinken?»
Anton wusste erstaunlich viel über die Welt außerhalb von Marstal, persönlich war er der Ansicht, dass das Schlimmste all die Erfahrungen wären, die ihm entgehen würden, sollte er ertrinken. Er konnte die Namen der berühmtesten Bordellstraßen der Welt aufzählen, und bestimmt hatte er nicht in den Geografiestunden der Schule in der Vestergade vom Oluf Samson Gang in Flensburg, der Reeperbahn in Hamburg, dem Schiedamsche Dijk in Rotterdam, der Schipper Straat in Antwerpen, der Paradise Street in Liverpool, der Tiger Bay in Cardiff, dem Vieux Carré in New Orleans, der Barbary Coast in San Francisco oder der Foretop Street in Valparaiso gehört. Über so etwas wurde in Webers Café gesprochen, und mit Kennermiene, die nicht zu einem Jungen seines Alters passte, versicherte er uns, dass die französischen Mädchen die Besten und die Portugiesinnen zu aufdringlich seien, außerdem würden sie nach Knoblauch riechen. Wenn wir nachfragten, was Knoblauch sei, verdrehte er die Augen gen Himmel, als wären wir wirklich zu blöd. Er kannte die Namen einer Unmenge verschiedener Arten von Schnaps, als würde er sich darauf freuen, sie eines Tages alle einmal zu probieren. Amer Picon, Absinth und Pernod, erklärte er, das haut dich wirklich um. Was Bier betraf, wollte er sich jedoch stets an «Hof» halten, egal, wo auf der Erde er sich befand. Das von vielen so gelobte belgische Bier war doch dünne Pisse.
«Zählt sämtliche Puffstraßen der Welt auf», sagte er, «und alle Schnapsmarken, dann rechnet sie zusammen, und ihr werdet eine Zahl herausbekommen, die der mathematische Beweis dafür ist, dass es furchtbar dumm ist zu ertrinken.»
Knud Erik antwortete, das Schlimmste beim Ertrinken sei, dass er dann seine Mutter nie wiedersehen würde. Er sagte es wohl eher aus Pflichtgefühl, weil er dachte, er müsse so etwas sagen, aber auch, weil es diese ungestillte Sehnsucht in ihm gab.
Vilhjelm meinte, das Schlimmste sei, dass seine Eltern traurig sein würden.
«Das bedeutet, du lebst nicht wegen dir, sondern wegen deines Vaters und deiner Mutter», wandte Anton ein.
Er erklärte uns, dass er etwas herausgefunden habe. War man gehorsam, artig, höflich, wohlerzogen oder pflichtbewusst, hieß das, dass man sich nur nach den anderen richtete und nicht sein eigenes Leben lebte.
«Darum bin ich das alles nicht», sagte er, «weil ich mein eigenes Leben lebe.»
Als Vilhjelm klatschnass am Arm seines Vaters strampelte, hatte er diesem in die Augen gesehen und in dessen Blick weder Zorn noch Erschrecken gefunden. Sondern Kummer. Welche Art Kummer es war und welche Ursache er hatte, wusste er nicht, aber er spürte sofort, dass er dafür sorgen musste, dass sein Vater nie wieder Grund zu Kummer haben sollte. Instinktiv erkannte er, wie er ihm helfen konnte: indem er so wenig wie möglich Aufmerksamkeit erregte. Am besten war es, unsichtbar zu sein, am zweitbesten, wenn er so unauffällig wie möglich durchs Leben ging. So wurde Vilhjelm zu einem wortkargen und pflichtbewussten Kind. Vielleicht stotterte er auch deswegen. Er musste sich dermaßen anstrengen, um auf sich aufmerksam zu machen, dass es ihm nie richtig gelingen wollte.
Anton lebte sein eigenes Leben, und wenn Vilhjelm fünfundzwanzig Meter über dem Deck mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Mastknopf lag, tat er das Gleiche wie Anton. Einen Augenblick lang vergaß er, unsichtbar zu sein.
Selbstverständlich hatte Anton auch eine Mutter und einen Vater, aber wie er selbst sagte, hätte er ebenso gut auch keine Eltern haben können. Seiner Mutter Gudrun konnte er erzählen, was er wollte. Als sie entdeckte, dass er sie mit dem Zeugnisheft belogen hatte und es immer selbst unterschrieb, weinte sie und sagte, er solle nur warten, bis der Vater nach Hause käme, dann würde es schon etwas setzen. Eigentlich war sie groß und kräftig genug, um diese Angelegenheit selbst zu regeln. Der Vater schlug ihn mit schlaffer Hand.
Er hatte anderes zu tun, wenn er endlich nach Hause kam, als seine Kinder wegen alter, längst vergessener Vergehen zu bestrafen. Er konnte durchaus hart zuschlagen, aber dann musste es sich auch um Barzahlung handeln, wie er es ausdrückte, nicht um Abschlagzahlungen alter Schulden.
«Ab-Schlag-Zahlung! Hast du’s kapiert?», sagte er zu Anton und ließ ein Lachen hören, das Anton dumm fand.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Vilhjelm den Kummer in den Augen seines Vaters sah, machte Anton eine Entdeckung von ähnlich weitreichender Bedeutung. Es ging um seinen Vater Regnar, der den Nachnamen Hay trug. Anton hieß selbstverständlich auch Hay, aber er hatte den Zwischennamen Hansen, den Mädchennamen seiner Mutter.
Als er vier Lenze zählte, nahm ihn sein Vater, der gerade nach mehreren Jahren auf See nach Hause zurückgekehrt war, auf den Schoß. Erst hatte er Anton ein paar Ohrfeigen verpasst, da er wie gewöhnlich der Bitte der Mutter nachgekommen war, die Kinder für die Streiche zu bestrafen, die sie während seiner jahrelangen Abwesenheit ausgeheckt hatten. Er hatte keinerlei Kraft in die Schläge gelegt und war daher auch nicht der Ansicht, dass irgendetwas Ernstes zwischen ihm und Anton stehen würde. Freundlich fragte er Anton nach seinem Namen. Es ging wohl nur darum, dass Anton seinen Namen sagen sollte, als Zeichen, dass zwischen ihnen wieder Harmonie herrschte; obschon man es natürlich auch so verstehen konnte, dass Regnar sichergehen wollte, den Richtigen geohrfeigt zu haben. In beiden Fällen hätte er seine Vaterpflichten erfüllt und könnte das Heim im Møllevej verlassen, um in Webers Café zu gehen.
«Anton Hansen Hay», sagte Anton.
«Was, zum Teufel, sagst du da, Bursche?», brüllte der Vater, der urplötzlich einen zornesroten Kopf bekam.
Er begann Anton zu schütteln, der nun auf dem Knie hin- und herschaukelte, auf das er noch einen Moment zuvor als Beweis der Versöhnung zwischen Vater und Sohn gesetzt worden war. Dann stieß der Vater ihn auf den gewachsten Holzboden, über den der verwirrte Anton eine erhebliche Strecke rutschte, bevor er sich unter dem Esstisch in dem Wirrwarr der Stuhlbeine verfing.
«Glaubt nur nicht, dass ich lüge», sagte Anton, als er die Geschichte erzählte. «Der Idiot wusste nicht mal, wie sein eigenes Kind heißt.»
Anton wurde getauft, als sein Vater sich auf See befand, und Regnar hatte sich nie die Mühe gemacht, einen Blick auf den Taufschein zu werfen oder nach der Taufe zu fragen. Er hatte nicht erwartet, dass seine Frau dem Jungen ihren Mädchennamen als Mittelnamen geben würde, denn er hatte nie damit hinter dem Berg gehalten, dass er ihre Familie nicht ausstehen konnte. Doch Antons dicke, umgängliche Mutter wollte sich mit niemandem überwerfen. Sie war ihrem Mann gegenüber ebenso nachsichtig wie ihrer eigenen Familie. Sie wollte gern alle zufriedenstellen, und so hatte sich ihre Familie in Form eines Zwischennamens zwischen Anton und seinen Vater schieben können. Antons voller Name entsprach im Grunde einer Familienfehde.
Anton war es egal. Er hielt sich ohnehin an niemanden. Seinen Vater bezeichnete er als Narren. Die meisten von uns nennen die Väter «den Alten», und darin liegt durchaus ein gewisser Respekt. Auf den Schiffen werden so die Kapitäne von der Mannschaft genannt. Doch Anton hatte keinen Respekt. «Der Ausländer» war sein Spitzname für den Vater.
Und doch vertrugen sie sich einigermaßen, denn der Ausländer war die wesentliche Quelle von Antons Kenntnissen über die Welt; nicht weil Regnar dem Sohn Geschichten über seine Bordellbesuche in der Fremde anvertraute, sondern weil er ihn als Zuhörer dabeisitzen ließ, wenn sich die heimgekehrten Seeleute in Webers Café trafen und prahlten.
Anton wollte im Grunde so sein wie sein Vater, obwohl es niemanden gab, der ihn jemals ein freundliches Wort über Regnar hatte sagen hören. So war es seit dem Tag gewesen, als der Vater ihn unter den Tisch warf, nur weil er den falschen Zwischennamen trug.
Das war der Tag, an dem er begann, sein eigenes Leben zu leben.
In Boyes Reederei gab es nur noch die Witwen. Sie waren wie gelähmt, nicht nur vor Trauer über den plötzlichen Verlust ihrer Ehemänner, sondern auch aufgrund der ungewohnt titanischen Aufgaben, die auf sie zukamen. Marstals Zukunft lag in ihren Händen. Nur sie hatten genügend Kapital, um vom Segelschiff aufs Dampfschiff umzurüsten, und genau dies erforderte die Zeit. Die Ära der Segelschiffe war vorbei. Ihre Ehemänner hatten es geahnt, und nun sollten sie die Visionen der allzu früh Dahingerafften Wirklichkeit werden lassen. Fünf Dampfer gehörten der Reederei bereits. Die Enigheden, die Energi, die Fremtiden, die Maalet und die Dynamik – Namen, die Programm waren.
Im Prinzip wussten die Witwen genau, was zu tun war. In die Praxis umsetzen konnten sie es indes nicht. Jeden Tag versammelten sie sich in der Reederei und ließen sich Kaffee servieren, zu dem ihnen die täglichen Unterlagen präsentiert wurden. Und während sie die mitgebrachten selbsgebackenen Vanillekringel mümmelten, brüteten sie über Frachtangeboten, den Kosten für Instandhaltung und Mannschaften und zerbrachen sich den Kopf über Kauf oder Verkauf. Die ganze Welt schien ihre Aufmerksamkeit zu verlangen. Jede Information, jede Zahl, jedes Fragezeichen war eine schier unüberwindlich scheinende Herausforderung. Niemand hat sie je mit an den Ohren gepressten Händen gesehen – es war aber durchaus vorstellbar. Jeder einzelne Beschluss wurde so lange gedreht und gewendet, bis es für eine Entscheidung zu spät war. Die Dampfer Enigheden, Energi, Fremtiden, Maalet und Dynamik waren gebaut worden, um große Lasten sicher übers Meer zu transportieren, nun lagen sie den größten Teil der Zeit ungenutzt im Hafen – nicht nur wegen der ungünstigen Zeiten oder der schlechten Konjunktur, sondern auch wegen der Unentschlossenheit ihrer Eigentümerinnen.
Ellen, die Älteste, war die Witwe von Poul Victor, groß gewachsen und stattlich wie er. Doch die Willensstärke, die sie einstmals besessen zu haben schien, hatte sie ihrem geschäftstüchtigen Ehemann übertragen, und er hatte sie ihr nicht zurückgegeben, als er ins Grab sank. Emma und Johanne, die beiden Schwestern, waren selbstbewusster – in ihrem eigenen Heim waren sie die Alleinherrscherinnen, auf fremdem Grund jedoch hilflos. Sie schielten hinüber zu Ellen und erwarteten ihren Entschluss. Und Ellen schielte zum Friedhof, von dem allerdings nicht der geringste Hinweis kam.
Die Witwen besaßen erhebliche Ländereien in der Stadt, die sie nun zu verkaufen begannen. Klara Friis erwarb sie. Sie saß in der Prinsegade und belauerte die drei Witwen, wie ein Geier ein armes Tier belauert, das vor Durst und Erschöpfung zu straucheln beginnt. Mit dem Ankauf von drei Grundstücken schnappte sie sich den ersten großen Happen.
Die drei Grundstücke lagen alle an der Havnegade; das erste an der Ecke zur Sølvgade, das zweite an der Ecke der Strandstræde, und das dritte war ein großes eingezäuntes Feld, das am Ende der Havnegade die Stadt begrenzte. Hinter der Einzäunung hatte Bauern-Sofus seinerzeit Schafe grasen lassen und Hühner und Schweine gehalten, als lebenden Proviant für seine ständig wachsende Schiffsflotte. Diese Zeiten waren längst vorbei. Das Feld lag brach, und der Kauf leuchtete allen ein; bei den anderen ungenutzten Grundstücken verhielt es sich ebenso. Hier konnte gebaut werden.
Doch Klara Friis unternahm nichts. Die Brennnesseln auf den drei Grundstücken wucherten immer höher, und die von Bauern-Sofus gepflanzten Apfel- und Birnbäume, mussten ihre Früchte den Vögeln und diebischen Burschen überlassen. Marstal wunderte sich. Was hatte sie vor?
Wir fragten, aber wir fragten nicht eindringlich genug, sonst hätten wir geahnt, was uns erwartete.
Äußerlich hatte Klara Friis sich nicht verändert. Noch immer kleidete sie sich bescheiden, als wäre sie sich der Veränderung ihres Standes überhaupt nicht bewusst; daher hinterließ sie bei den drei Witwen, die Sparsamkeit als eine Tugend betrachteten, einen guten Eindruck. Sie waren keineswegs hochmütig und sahen auch nicht auf Klara Friis herab, obwohl ihr eigener Reichtum weit ältere Wurzeln hatte. Klara Friis war das Geld ja eher zugefallen. Die Witwen waren seit mehreren Generationen von Dienstboten umgeben, und doch übernahmen sie ihren Teil der täglichen Hausarbeit. Die Vanillekringel hatten sie selbst gebacken. Jedes Jahr zu Weihnachten produzierten sie eine große Menge, die mit der Zeit ebenso hart wurde wie der Schiffszwieback, aus dem die tägliche Kost an Bord der Schiffe ihrer Reederei bestand – nur mit dem Unterschied, dass aus den Vanillekringeln kein Wurm fiel, wenn man damit fest auf den Tisch klopfte.
Bauern-Sofus war ein einfacher Mann aus dem Volk gewesen, und mit seinen Kindern und Enkelkindern verhielt es sich ebenso. Sie bildeten keine eigene Kaste, sie gehörten zur Stadt wie alle anderen. Sie wussten, dass das Geld durch die Schufterei der Seeleute verdient wurde. Jeder der späteren Eigentümer hatte sich erst durch die brutale Hierarchie der Schiffsbesatzungen arbeiten müssen, bevor er ins Maklerkontor oder in die Leitung der Reederei übernommen wurde. Jedes Wort, das man auf den täglichen Konferenzen sprach, war für sie erlebte Wirklichkeit gewesen. Für ihre Witwen jedoch, die ganz unvermittelt mit dieser neuen Welt konfrontiert wurden, war es ein Schlachtfeld, auf dem ihnen unbekannte Worte und Begriffe wie todbringende Projektile um die Ohren flogen.
Es kam vor, dass Klara Friis ihnen einen guten Rat gab oder eine plötzliche Initiative zeigte, die sie vollkommen verblüffte. Als gutartige Naturen hielten sie diese junge Witwe für ein hilfloses Wesen, das ihrer Unterstützung bedurfte. Wenn der umgekehrte Fall eintrat, erstaunte sie das jedes Mal wieder, und doch war es Klara Friis, die ihnen mehrfach aus der Klemme half. Da die Witwen allerdings nicht sonderlich viel Zutrauen zum weiblichen Geschäftssinn hatten, nahmen sie in ihrer Naivität an, dass Klara Friis eher zufällig auf ihre guten Ratschläge gekommen war.
Sie konnten ja nicht wissen, dass sich Klara durch ihren Schriftverkehr zur Maklerin, Schiffsreederin und noch einigem mehr fortbildete. Die Mittel, in deren Besitz sie durch Alberts Tod gelangt war, hatten wie durch Zauberhand ihren schlummernden Verstand geweckt. Bis dahin hatte sie ein Kleinmut gelähmt, der nicht allein an bestimmten, allzu eindrücklichen Erlebnissen ihrer Kindheit gelegen hatte, sondern auch an ihrer Gesamtsituation, die ja nicht unbedingt dazu ermutigte, den Kopf ebenso wie die Hände einzusetzen.
Nun gab es wieder einen Mann in ihrem Leben, doch dieses Mal hatte sie es nicht nötig, vor Verzweiflung ihre schon etwas abgenutzten weiblichen Reize einzusetzen. Markussen war im Gegensatz zu dem unglückseligen Albert weder an Küssen noch an Zärtlichkeiten oder ihren möglichen Folgen interessiert. Es war der Name Cheng Sumei, der sie verband. Und die Aufgabe, die Markussens Neugier auf seine alten Tage ein allerletztes Mal geweckt hatte: Xerxes zu helfen, den richtigen Weg zu finden, um das Meer zu züchtigen.
Sie schrieben sich eifrig und telefonierten häufig miteinander. Hin und wieder reiste Klara Friis auch nach Kopenhagen. Sie schaffte es jetzt allein und brauchte weder Herman noch irgendjemand anderen als Begleitung.
«Du bist nicht daran interessiert, eine Reederei zu übernehmen, die am Rande des Ruins steht», sagte Markussen. «Und die Werft kann rasch wieder rentabel werden. Gib ihnen gute Ratschläge, aber nicht zu gute. Sie sollen kein Selbstvertrauen entwickeln. Du musst ihnen auch weiterhin das Gefühl vermitteln, dass die Katastrophe nur eine falsche Entscheidung entfernt lauert. Erzähl ihnen, wie gefährlich die Welt ist.»
Er schrieb es ihr auf. Es war nicht einfach, alles im Kopf zu behalten. Klara Friis bekam die Unterstützung, die sie brauchte.
Doch sie bestimmte den Kurs.
Die drei Witwen täuschten sich in jeder Beziehung in Klara Friis. Sie überschätzten ihr Wesen und unterschätzten ihre Fähigkeiten. Sie glaubten, ihre Hilfsbereitschaft geschehe ohne Hintergedanken, und das war ihr Irrtum. Sie glaubten, dass ihre oft verblüffend guten Ratschläge reiner Zufall seien, und damit irrten sie sich ebenfalls. Im Grunde waren die Witwen der Ansicht, dass sie Klara einen Gefallen erwiesen, wenn sie ihr zuhörten. Sie boten ihr ihre Gesellschaft und ein wenig Aufmerksamkeit an, und war es nicht das, was eine junge Frau in ihrer Situation – getroffen von einem furchtbaren Verlust und allein mit zwei Kindern – brauchte?
Sie schenkten ihr selbstgebackenes Brot.
«Meine Liebe», sagte Johanne und tätschelte ihr die Wange.
Sie erkannten sich in ihr wieder. Sie war eine Frau und daher per definitionem ebenso hilflos wie sie, wenn es um die Angelegenheiten der großen weiten Welt ging.
Lange zögerten sie, doch dann endlich dämmerte es ihnen. Um der unangenehmen Situation zu entkommen, in die sie ihr Witwenstand gebracht hatte, brauchten sie etwas, das Frauen zu allen Zeiten gebraucht haben, wenn sie im Dschungel überleben wollten: einen Mann.
Und der Mann kam. Er hieß Frederik Isaksen, war dänischer Konsul in Casablanca und Angestellter bei einer angesehenen französischen Maklerfirma. Begonnen hatte er bei Møller in Svendborg. Dann war er bei Lloyd in London gewesen. Eine Reihe von Kapitänen der Reederei, die Casablanca regelmäßig anliefen, hatte ihn empfohlen. Kompetent, ein Mann mit Weitblick, hatte der Kommandeur gesagt. Er war zum Sprecher der Kapitäne ernannt worden.
«Nun ja, aber geht er denn seiner Arbeit auch ordentlich nach? Kann man mit ihm reden?», hatte Ellen gefragt.
«Hoffentlich nicht zu draufgängerisch?», ergänzte Johanne ängstlich, als der Kommandant den Begriff «Weitblick» erwähnte.
«Ja, ich habe von ihm gehört», sagte Markussen am Telefon. «Einen Mann wie Isaksen könnte ich selbst gut gebrauchen. Er ist ein Mann mit Schwung und würde nicht nach Marstal gehen, wenn er in der Stadt lediglich ein Provinznest sähe. Der alte Boye hat es offenbar besser angestellt, als wir geahnt haben. Gespartes Kapital, keine Schulden. Ein Mann mit der entsprechenden Einsatzbereitschaft kann die Reederei richtig groß machen. Also, Isaksen könnte deinen Plänen sehr wohl in die Quere kommen.»
Isaksen wurde auf Empfehlung der Kapitäne eingestellt und kam an einem Sommertag Mitte August. Er hatte das verwirrende System von Fähren und Zügen, das eine Reise aus der Hauptstadt nach Marstal so beschwerlich gestaltete, einfach ignoriert und war direkt mit dem Paketboot gekommen, das sonst nur Passagiere gewöhnlicherer Art beförderte. Er stand an Deck und warf den Wartenden am Kai geschickt die Trosse zum Festmachen zu, dann sprang er selbst hinauf und grüßte mit dem breitkrempigen Strohhut, als wollte er der ganzen Stadt guten Tag sagen.
Er trug einen weißen Flachsleinwandanzug. Im Knopfloch steckte eine frische Nelke, und unter dem Strohhut war dunkle Haut zu sehen – sonnengebräunt wie ein Seemann, oder war das möglicherweise seine normale Gesichtsfarbe? Er hatte braune Augen, bekränzt von dichten Wimpern, die ihm ein gleichzeitig sanftes wie geheimnisvolles Aussehen verliehen.
Er war ohne Zweifel ein Weltmann, und als er den Hut hob, grüßten wir zurück. Wir hatten nichts gegen Weltmänner. Wir waren selbst welche und hatten an Menschen, die sich klein machten und schüchtern verhielten, um sich bei uns einzuschmeicheln, keinen Bedarf. Sie durften gern prahlen, Hauptsache, sie hatten etwas, womit sie prahlen konnten.
Und Isaksen hatte etwas, und je mehr Tage vergingen, desto größer wurde es. Der Skipper des Paketboots, Asmus Nikolajsen, hatte sich den ganzen Weg von Seeland bis Marstal mit ihm unterhalten und schätzte ihn als offenen und kenntnisreichen Mann, der sich neugierig nach allen möglichen Dingen erkundigte. Dieser Fremde, dessen Aussehen, gemessen am üblichen Standard, durchaus eine Spur exotisch war, wusste bald mehr über die Transportfahrten mit dem Paketboot als er selbst. Isaksen kannte sich offensichtlich gut mit Schiffen aus, und obwohl er routiniert mithalf, hatte er es während der ganzen Zeit geschickt vermieden, sich seinen eleganten Anzug schmutzig zu machen. Eine Tatsache, die Nikolajsens nur noch mehr Respekt abnötigte, denn ein Seemann legt Wert auf Sauberkeit.
Die große Frage war natürlich: Fand Isaksen eine Gesprächsbasis mit den Witwen?
Zunächst sprach er mit uns. Er ging im Hafen umher und setzte sich zu den alten Kapitänen auf die Bänke. Er klopfte an die Türen der Maklerkontore, trat ein, lüpfte den Hut und teilte sogleich mit, dass er nicht als Konkurrent komme, der beim Feind spionieren wolle. Er kam, weil er spürte, dass diese Stadt aus einer Gemeinschaft bestand. Und nur wenn alle zusammenstanden und alle gegenseitigen Empfindlichkeiten vergessen würden, wenn sie kurz gesagt wagten, Großes zu denken, könnten sie die Herausforderungen der Zukunft meistern.
Es war, als hörte man noch einmal Albert und seine Rede am Gedenkstein. Vor wenigen Jahren erst hatten wir davor gestanden, doch uns kam es bereits vor, als wäre es Menschenalter her. Wir verstanden nun, dass 1913, an jenem Tag am Hafen, eine Epoche zu Ende gegangen war, ohne dass ein Einziger von uns es geahnt hatte.
Es lag Zauberei in Isaksens Rede: Er brachte uns dazu, die Dinge von außen zu betrachten. Die Anteilsreedereien hatten uns ein gutes Stück des Weges vorangebracht. Nun war die Zeit des kleinen Geldes vorbei. Kapital war in anderen, größeren Summen erforderlich als das, was ein Dienstmädchen oder ein Schiffsjunge, ja sogar ein tüchtiger Kapitän aufbringen konnte. Investitionen waren notwendig, und große Investitionen erforderten großes Geld. Kapital gab es in der Stadt ja genug. Es ging nur darum, es richtig einzusetzen.
«Ich schlage vor, dass das Kapital der Stadt in einigen wenigen Händen versammelt wird. Das ist der einzige Weg, wie wir die Schifffahrt und die Kontrolle darüber hier in Marstal behalten können.»
Was wollte er damit andeuten? Es gab einige, die meinten, dass er zu sehr an den Projektemacher Henckel erinnerte, der uns die halbe Welt versprach, uns stattdessen jedoch das Geld aus den Taschen zog. Aber eigentlich war klar, dass es sich mit Isaksen genau umgekehrt verhielt. Er wollte nicht unser Geld haben, sondern unser Kompass sein. Er wollte den Kurs abstecken, nicht nur für eine Reederei, sondern für die ganze Stadt.
Nur an einem Ort stieß er auf Feindseligkeit: bei seinem Zusammentreffen mit Klara Friis. Er hatte sich vorbereitet und war nicht verwundert, als er eine jüngere, bescheiden gekleidete Frau an der Spitze einer der renommiertesten Reedereien der Stadt antraf. Er wusste von Albert Madsen und seiner Allianz mit der Witwe in Le Havre; er wusste, dass die letzten großen Barken des Landes, die wunderbaren Schiffe Suzanne, Germaine und Claudia hier in der Prinsegade beheimatet waren. Es gab nur eine einzige Sache, die er bei seinen Vorbereitungen nicht mit einbezog. Er hatte nicht in Klara Friis’ Herz oder ihr Bankschließfach sehen können. Er wusste nicht, wie hoch ihr Vermögen war, und vor allem wusste er nichts von ihren Geldanlageplänen. Nur wenn er wie ein Dschingis Khan gekommen wäre, um die Stadt in Schutt und Asche zu legen, hätte sie ihn willkommen geheißen. Aber er kam als ein Alexander der Große, um noch eine Stadt zu gründen, und daher empfing sie ihn als Feindin.
Aus den Überresten der Segelschifffahrt, die Marstal einst hatte erblühen lassen, wollte er ein neues Marstal bauen. Kein Ende, sondern eine neue Blüte bot er uns an. Hier sollte kein Schwanengesang ertönen, sondern ein Willkommenssalut an die neue Zeit.
Er rührte etwas in uns an. Einst hatten wir den Fortschritt kommen sehen, lange vor den meisten anderen, und wir waren aufgestanden, um ihn zu begrüßen. Nun bat Isaksen uns, es erneut zu tun.
Klara Friis hatte sich lange überlegt, was sie tragen solle, wenn sie Frederik Isaksen empfing. Sie entschloss sich, in ihren gewöhnlichen, bescheidenen Sachen zu erscheinen und in keiner Weise aufzufallen; weder wollte sie ihren Reichtum noch ihre frisch erworbene Zielstrebigkeit zur Schau stellen, und vor allem keinen verführerischen Eindruck machen. Für diese Rolle besaß sie im Übrigen auch nicht die Voraussetzungen; nicht weil sie verblüht gewesen wäre, sondern weil sie nicht allzu viel von ihrem eigenen Aussehen hielt. Sie fand es passender, in die Rolle zurückzufallen, die sie jahrelang gespielt hatte; so gut, dass sie am Ende selbst ganz und gar überzeugt davon war: ein bis zur Selbstentäußerung bescheidenes Wesen, das keine anderen Gefühlsregungen zuließ als eine bittere Bemerkung über ihre stiefmütterliche Behandlung durch das Leben. Sie konnte so tun, als wäre sie nicht gerade beschränkt, aber doch starr vor Angst und den mangelnden Fähigkeiten, die große, weite Welt zu verstehen, in der die Männer sich bewegten – es war ungefähr der gleiche ohnmächtige Zustand, den sie den drei Witwen empfahl. Was immer Isaksen auch sagte, sie behielt denselben Gesichtsausdruck bei, ein zögerndes, mechanisches Lächeln und Nicken, dessen Bedeutung sofort durch die Leere in ihrem Blick – der deutlich zu verstehen gab, dass sie nichts von all dem verstand, was gesagt wurde, sondern lediglich mit der üblichen Nachgiebigkeit reagierte, die so kennzeichnend für ihr Geschlecht und dessen Unterwürfigkeit war – aufgehoben wurde.
Doch Isaksen ließ nicht locker. Er begann, seine Argumente anders zu formulieren, seine Bilder einfacher und verständlicher zu beschreiben. Er sprach sogar vom unsicheren Leben der Seeleute und wollte sie überzeugen, dass das, was er vorschlug, ein Leben war, das auch den Familien helfen und sie von der ständigen Angst um das Schicksal der Männer befreien würde.
«Denken Sie daran, was eine große, gut geführte Reederei für die Lebensbedingungen der Seeleute tun kann. Regelmäßiger Urlaub, Sicherheit an Bord, keinerlei Not, die die kleinen Skipper zwingt, wie momentan auf einem gefährlichen Meer ein unnötiges Risiko einzugehen.»
Er suchte mit seinen braunen Augen ihren Blick. Dass sie von dichten Wimpern bekränzt wurden, sah sie erst jetzt. Seine Stimme wurde eindringlich. Er fand sich nicht ab mit diesem leeren Blick als Reaktion auf seine Worte. Sie spürte die Versuchung nachzugeben und wurde im selben Augenblick von einem wohlbekannten Entsetzen gepackt. Wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge das dunkle Wasser in der Sturmnacht, das sich auftürmte und nach dem Dach griff, auf dem sie saß. Karla, die in den Wassermassen verschwand, der Dachfirst, der ihr in den Schritt drückte, als sie auf ihm ritt wie auf einem der Holzpferde, die in den Geschichtsbüchern aufsässigen Bauern als Strafe vorbehalten waren. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn.
Sie wurde blass und musste aufstehen; bat ihn zu gehen, während sie sich mit schwacher Stimme für ihre plötzlichen Kopfschmerzen entschuldigte.
Isaksen verabschiedete sich mit gerunzelter Stirn. Er spürte, dass er gleichzeitig ein Schauspiel und durchaus Authentisches erlebt hatte, aber er verstand nicht, welchen Sinn diese Komödie haben sollte. Dass er gerade in Gestalt dieser Frau, die eher einem verzagten Dienstmädchen glich, seinem Hauptfeind begegnet war, begriff er nicht.
Wenn er nicht seine Besuche bei den Reedereien der Stadt absolvierte, bearbeitete Isaksen die drei Witwen. Er sprach mit ihnen eine Sprache, von der er glaubte, sie würden sie verstehen. Er redete über den Haushalt, über Einkäufe und Ausgaben, über Rechnungen und Dienstboten. Er verglich die See und die Schiffe mit der Haushaltsführung, denn er wusste, dass sie gute Hausfrauen waren, und versuchte, ihnen begreiflich zu machen, dass es tatsächlich keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer Reederei und der Arbeit, die sie aus ihrer täglichen Erfahrung kannten, gab.
Womit er gerechnet hatte, traf ein. Die Witwen beruhigten sich. Sie hörten nicht länger, wie ihnen die Kugeln um die Ohren flogen. Isaksen hatte getan, worum er gebeten worden war. Er hatte sie vom Schlachtfeld geführt und ihnen die Verantwortung abgenommen.
Isaksen hielt eine Versammlung für die Eigentümer und das Personal der Reedereien sowie die Kapitäne, die in diesen Tagen zu Hause weilten, ab. Er lud auch ihre Ehefrauen ein. Er war klug genug einzusehen, dass die Frauen einen Machtfaktor darstellten, nicht nur bei den häuslichen Angelegenheiten, sondern auch bei den die See betreffenden Dingen. Er reservierte die Marinestube im Hotel Ærø. An den Wänden hingen blaue Wandteller aus königlichem Porzellan, die Dannebrogs-Flagge und Gemälde der Schiffe, die in der Stadt ihren Heimathafen hatten. Er ließ drei Gänge servieren und gab dem Hotelkoch das Rezept einer Bouillabaisse, von der er wusste, dass viele Kapitäne sie von ihren Reisen ins Mittelmeer kannten. Als Hauptgericht wählte er einen traditionellen Rinderbraten mit Fettkruste. Zwischen Suppe und Hauptgericht hielt er seine Rede.
Es sprach über die Zukunft.
Er erzählte von seinen Erlebnissen in Casablanca, der Hafenstadt, aus der er hierhergerufen worden war, weil so viele Kapitäne aus Marstal ihn kennengelernt und er offenbar einen guten Eindruck bei ihnen hinterlassen hatte. Nun wollte er die Gelegenheit nutzen, sich dafür zu bedanken. Und doch, so sagte er, hätte er immer mit Wehmut im Herzen gesehen, wenn ein Schiff aus Marstal Casablanca verließ, denn jedes Mal hatte er gespürt, dass er es dort zum letzten Mal auslaufen sehen würde. Er hatte nicht daran gedacht, dass das Schiff auf der Heimfahrt sinken könnte, obwohl diese tragische Möglichkeit selbstverständlich immer bestand. Nein, er dachte an etwas ganz anderes: dass das Schiff schlichtweg verschwand und nie wieder gesehen wurde. So merkwürdig dies in den Ohren der sehr verehrten Zuhörer auch klingen mochte, dieses Schicksal war weitaus wahrscheinlicher als irgendein Untergang, ja, tatsächlich war dieses Schicksal den Schiffen aus Marstal so sicher, wie die Sonne am Abend unter- und am Morgen wieder aufgeht. «Ihr werdet», erklärte er, «ziemlich verblüfft sein, mich so etwas sagen zu hören.»
Er konnte sich der vollkommenen Aufmerksamkeit seiner staunenden Zuhörer sicher sein. Nicht einer von uns ahnte, worauf er mit dieser merkwürdigen Behauptung hinauswollte.
«Aber hört mir zu», fuhr er fort, «ich kann euch meine seltsame Prophezeiung nicht nur erklären, sondern euch darüber hinaus auch zeigen, wie ihre Erfüllung zu vermeiden ist. Die Ursache meiner Verzagtheit, wenn ich verfolgte, wie ein Schoner aus Marstal vor Casablancas Reede den Anker lichtete …»
Er senkte den Blick, so dass die langen Wimpern seine sonnengebräunten Wangen berührten und bis zum Ende des großen Tisches gesehen werden konnten – mit dem Ergebnis, dass die Brust der einen oder anderen Kapitänsgattin sich in ungewöhnlicher Weise hob, als litte sie unter Luftmangel.
«Die Ursache meiner Verzagtheit» – er wiederholte diese effektvollen Worte – «ist» – hier schlug er einen ausgesprochen prosaischen Ton an –, «dass ich über Pläne der französischen Behörden informiert bin, in Casablanca einen Hafen anzulegen. Und ihr wisst, was das bedeutet.»
Hier machte er wieder eine Pause und sah dabei eindringlich in die Runde, als wollte er uns an etwas erinnern, das uns zwar bewusst war, das wir aber in diesem Augenblick möglicherweise vergessen oder verdrängt hatten. Die eine oder andere Kapitänsgattin beantwortete seinen Blick mit einem strahlenden Augenaufschlag, als hätte sie eine Einladung erhalten, einige Kapitäne jedoch schlugen die Augen nieder, als würden sie nur allzu genau wissen, dass sie längst die Worte hätten aussprechen oder zumindest denken sollen, die nun bestimmt folgten.
Isaksen nahm seine Rede wieder auf, und seine Worte fielen nun wie Peitschenhiebe.
«Das bedeutet, dass die Schoner aus Marstal nie wieder eine Fracht für Casablanca erhalten werden. Der einzige Grund, warum die Dampfschiffe sich bisher von den wichtigsten Hafenstädten der nordafrikanischen Küste ferngehalten haben, war der Mangel an geeigneten Hafenanlagen. Nun werden die Dampfer kommen, mit größerer Ladekapazität und schnellerem Tempo. Ihre Ankunft kann auf den Glockenschlag vorhergesagt werden. Der Kompass zeigt den Kurs, und das Dampfschiff folgt ihm ohne Abweichungen oder Verspätungen.
Und ich rede nicht nur von Casablanca», sagte Isaksen.
Seine Stimme wurde lauter und lauter, eine Art Weltuntergangsstimmung lag in ihr.
«Es geht auch um die Frachten aus den französischen Kanalhäfen, die durch den Tidenhub bisher nur von Segelschiffen angelaufen werden konnten. Nun übernimmt die Eisenbahn. Und ich denke an den Rio Grande in Brasilien und die Maracaibo-Lagune in Venezuela. Das niedrige Wasser über den Sandbänken hat an beiden Orten nur euch passieren lassen. Aber für die Dampfer werden jetzt auch diese Hindernisse beseitigt.»
Bei jedem Hafen, den er erwähnte, durchzuckte es die Kapitäne und Steuermänner, als hätte er ihnen mit einer Faust gedroht, gegen die sie sich nicht zu wehren wussten.
«Das Meer ist euer Amerika gewesen. Aber jetzt schließt Amerika seine Grenzen. Für eure Dienste gibt es zunehmend weniger Bedarf. Die Frachten werden ganz einfach ins Blaue hinein verschwinden. Und das bedeutet, dass auch eure Schiffe ganz einfach ins Blaue hinein verschwinden werden. Ihr könnt sie ebenso gut verkaufen. Aber denkt nach. Wer würde sie kaufen? Es bleibt nur noch, sie abzuwracken, die Leichenverbrennung einer ganzen Epoche, aufgegangen in Rauch, der sich schließlich auch ins Blaue verliert. Aber alle Hoffnung ist noch nicht dahin …»
Isaksens Stimme nahm einen zuversichtlichen Ton an, so wie ein Priester, der, nachdem er die Hölle beschrieben hat, den Himmel als Alternative für all diejenigen ausmalt, die bereuen.
«… noch immer gibt es Orte, die niemand sonst anfahren kann, Häfen, die sich nicht ausschachten lassen, wo es sich nicht lohnt oder wo Meeresströmungen, Felsenriffe und häufige Stürme sich verschworen haben, um für alle Zeiten den Zugang für Dampfer unmöglich zu machen. Neufundland …», das Zuversichtliche verschwand nun abrupt aus seiner Stimme, «… die ungastlichste Küste der Welt, das gefährlichste Fahrwasser auf Erden. Dort werden die Schoner aus Marstal auch weiterhin willkommen sein, um stinkenden Klippfisch zu laden. Die Häfen und Frachten, mit denen niemand sonst etwas zu tun haben will, die könnt ihr bekommen. Ihr werdet darauf angewiesen sein, von den Resten des Weltmarkts zu leben. Ihr werdet zu Parias der sieben Meere, Unratbeseitigern ähnlich. Ihr werdet die Übriggebliebenen sein.»
Wir dachten, er wolle uns ermutigen. Stattdessen endete er wie bei einer Grabrede. Es herrschte Totenstille rund um den Tisch. Ellen Boye starrte auf den Boden. Ihre Wangen brannten. Emma und Johanne schauten sie an, um Halt zu finden, doch Ellens verzerrte Gesichtszüge berührten sie so unangenehm, dass sie beinahe in Tränen ausbrachen.
Dann ergriff Isaksen wieder das Wort. Tatsächlich hatte er es nie abgegeben. Aber die Pause, die er um des Effekts willen eingeschoben hatte, klang wie ein Schlusspunkt. Was konnte nach diesem vernichtenden Urteil noch kommen?
«Marstal hat eine große Zukunft», sagte er, und wieder hoben wir aufmerksam die Köpfe, dieses Mal im Bewusstsein, dass wir nichts anderes als seine Marionetten waren und er statt der Schnüre lediglich seine kunstfertigen Worte geschickt einzusetzen verstand.
«Marstal steht eine große Zukunft bevor, weil die Stadt auf eine große Vergangenheit zurückblicken kann», erklärte Isaksen. «Es ist nicht immer so, dass das eine die Garantie für das andere ist. Tradition kann auch zur Last werden. Wir glauben, dass eine bestimmte Methode immer funktionieren wird, nur weil sie einmal funktioniert hat. So stecken wir in der Vergangenheit fest und verpassen den Anschluss an die Zukunft. Doch mit Marstal verhält es sich anders. Ihr habt einen eigenen Schiffstypus geschaffen und nach eurer Stadt benannt – ein Schiff mit einem herzförmigen Achterspiegel und einem abgerundeten, stumpfen Bug. Ihr habt so lange probiert, bis es euren Zwecken am ehesten entsprach. Eure Tradition ist die Umtriebigkeit. Vielleicht haltet ihr das für ein hässliches Wort, und aus dem Mund eines Bauern ist es das auch; denn ein umtriebiger Mensch ist ein Mensch, der nicht verwurzelt ist und dem es daher scheinbar an Stabilität fehlt, eben weil er nicht das tut, was sein Vater vor ihm getan hat. Aber denkt nach über das Wort als die Seeleute, die ihr seid. Umtriebigkeit – das ist die Gabe, den richtigen Moment zu erwischen, wenn der Wind und die Strömung mit euch sind, und dann den Anker zu lichten und die Segel zu setzen. Ihr habt doch bestimmt von dem Engländer Darwin und seiner berühmten Theorie über the survival of the fittest gehört, und wahrscheinlich hat auch irgendjemand euch schon einmal erklärt, dass the fittest ‹der Stärkste› bedeutet und Darwin der Ansicht war, nur die Stärksten würden überleben. Aber das meint er nicht. The fittest bedeutet ‹die Umtriebigsten›, und das seid ihr. Ihr habt eure Stadt auf die gleiche Weise geschaffen, wie ihr segelt: Ihr habt es verstanden, euch durch alle Widrigkeiten des Lebens zu manövrieren. Diese Fertigkeit nehmt ihr mit euch, aber die Schiffe, auf deren Deck ihr sie gelernt habt, müsst ihr verlassen, denn sie sinken unter euren Füßen. Die Ära der Segelschiffe ist längst vorbei, aber das Zeitalter der Seeleute hat gerade erst begonnen. Glaubt mir, eine Stadt, die seit Generationen die Heimat von Seeleuten ist, besitzt ein einzigartiges Kapital in einer Welt, in der alles transportiert werden muss, weil die Kontinente näher zusammenrücken. Nur müsst ihr von nun an eure Fertigkeiten auf einem Schiffsdeck entfalten, das unter den Vibrationen der kraftvollen Maschinen erzittert, die darunter arbeiten.»
Er präsentierte uns die gleiche Vision, die er in den vorhergegangenen Tagen in den Maklerbüros der Stadt entwickelt hatte. Allerdings ging er noch einen Schritt weiter. Er vertraute uns die Geheimnisse über die Zukunft der Reederei an, die er den anderen vorenthalten hatte. Er prophezeite, dass die Reederei im Lauf der Zeit mit den übrigen Reedereien der Stadt zusammengelegt werde, bis es in der Stadt nur noch eine einzige große Schifffahrtsgesellschaft gebe, die nicht nur über reichlich Kapital verfüge, sondern vor allen Dingen über Erfahrung, jahrhundertelange Erfahrung – diese Kombination aus Überlebenswille, Einfallsreichtum, Beharrlichkeit und Weitsicht, die hinter dem Bau der Mole, der Einführung des Telegrafen und dem Aufbau einer der größten Handelsflotten des Landes stand. Und die selbst jetzt, in der Zeit des Niedergangs der Stadt, dazu beitrug, dass wir niemals den Kampf aufgaben, neue, vergessene Ecken auf diesem Planeten zu entdecken, die wir mit unseren längst veralteten Schiffen ansteuern konnten.
Isaksen hielt die Finger in die Höhe und zählte sie ab: Überlebenswille, Einfallsreichtum, Beharrlichkeit, Weitsicht und vor allem die Fähigkeit, sich als Gemeinschaft zusammenzufinden, wenn für den Einzelnen etwas undurchführbar schien. Es waren fünf Finger, eine ganze Hand. Es war die Hand der Umtriebigkeit, welche die sich bietenden Chancen immer ergriff.
«Die beste Hand, die es gibt», sagte Isaksen, «denn mit ihr könnt ihr die Zukunft nach eurer eigenen Vorstellung formen, und genau das sollt ihr tun.
Eine Werft besitzt die Reederei bereits. Das ist wichtig, denn es geht darum, alle Bereiche der Schifffahrt zu kontrollieren, beim Bau des Schiffs angefangen bis hin zur Fracht. Aber die Werft muss komplett umgestellt werden, nicht nur auf Stahlschiffe, sondern auch auf Dampf-und Motorschiffe. So können wir den Preis jedes einzelnen Schiffs kontrollieren, das wir im Namen der Reederei vom Stapel lassen. Auch hier sind die Voraussetzungen bereits gegeben. An tüchtigen und erfahrenen Schiffbauern fehlt es in der Stadt ja nicht. Aber eine größere Tonnage ist notwendig. Die Fahrrinne zur Stadt muss vertieft werden, damit die neuen Schiffe auslaufen können. Wir müssen unseren eigenen Suezkanal quer durch das flache Inselmeer Südfünens bis zum offenen Wasser der Ostsee bauen.
Auch um den Schiffsproviant müssen wir uns kümmern und einen eigenen Handel aufbauen, der nicht nur unsere Schiffe versorgt, sondern auch fremde. Und eines Tages werden wir uns auch mit der Rohstoffbeschaffung befassen. Es ist notwendig, Kohlengruben zu besitzen und irgendwann in der Zukunft auch Ölfelder, denn das Motorschiff ist der sichere Nachfolger des Dampfschiffs. Auf diese Weise können wir für die Flotte Brennstofflieferungen zu stabilen Preisen sicherstellen.»
Wir sollten die halbe Welt nicht nur befahren, wir sollten sie anführen, und im Zentrum all dessen lag Marstal.
Das erzählte uns Isaksen.
Als er seine Rede schließlich beendete, hatten wir rote Wangen und waren erschöpft, verwirrt und guter Dinge – glückselig wie nach einer Karussellfahrt. Wir erhoben uns und klatschten Beifall, die Makler, die Kontorangestellten, die Kapitäne und Steuerleute und ihre erhitzten Frauen. Sogar Ellen, Emma und Johanne standen auf und applaudierten. Sie mussten sich nicht erst verstohlen ansehen, wie sie es gewöhnlich taten. Das Zögern, ihr Verteidigungswall gegen alle anstehenden Beschlüsse, war gebrochen. Zusammen mit uns anderen riss es sie von den Stühlen.
Es lag eine derartige Kraft in Isaksens Begeisterung, dass sie sich wie eine innere Schwerelosigkeit in uns ausbreitete. Hätte er nur lange genug geredet, wären wir aus den Fenstern des Hotel Ærø geschwebt.
Isaksen hatte auf den Kompass gesehen und den Kurs abgesteckt. Er hatte so eindrucksvoll über unsere Fähigkeit gesprochen, uns durch das Leben zu navigieren, auch wenn es besonders schwierig war, doch er hatte etwas Wesentliches über die Kunst, ein Schiff zu steuern, vergessen. Du hast nicht nur ein Auge auf den Kompass, du hast es auch auf das Rigg, du liest die Zeichen der Wolken, du behältst die Windrichtung im Blick, die Strömung und die Farbe des Meeres, du hältst Ausschau nach einer plötzlich auftauchenden Brandung, die vor einem Riff warnt. Vielleicht ist das nicht so bei einem Dampfschiff, aber so ist es auf einem Segelschiff, und in dieser Hinsicht ist ein Segelschiff dem Leben näher als ein Dampfer: Es reicht nicht zu wissen, wohin du willst, denn das Leben besteht wie der Kurs eines Segelschiffs fast nur aus Umwegen, für die mal Windstille und mal Sturm verantwortlich sind.
Wir können bis in alle Ewigkeit diskutieren, ob Klara Friis Schuld an Isaksens Fiasko hatte oder ob es an den Vanillekringeln lag, dass er versagte. In jedem Fall fehlte es ihm an Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht. Er hatte geglaubt, dass eine von Ängsten gelähmte Frau, um erlöst zu werden, einen Mann braucht, der voller Initiative steckt. So sah er die drei Witwen und die Reederei, ja die gesamte Stadt – als wären sie eine Braut und er der Bräutigam. Er sollte uns von der Willensschwäche erlösen, an der wir litten. Doch in einigen Fällen kann ein Wirbelsturm aus Energie, wie Isaksen ihn verkörperte, auch den gegenteiligen Effekt haben. Dann verstärkt er die weiblichen Ängste nur.
Als ihre Ehemänner innerhalb von drei Wochen einen plötzlichen und sinnlosen Tod gestorben waren, hatte der Verstand der Seemannsfrauen fluchtartig das Haus der drei Witwen verlassen – und mit ihm verschwand das bisschen Mut und Ausdauer, das sie besessen hatten. Zur Hintertür trat nun die Bauersfrau ein, die im Rückenmark einer jeden Frau steckt, egal, wie lange es her ist, dass ihre Familie die Scholle verlassen hat – misstrauisch, sparsam, stets ihren Besitz zusammenhaltend, mit einer Schicksalsergebenheit, die sie zu einem Leben passiver Grübelei verurteilt.
Zunächst verstand Isaksen überhaupt nichts. Dachte er doch, er hätte den Witwen einen Eid abgenommen. Hatten sie denn nicht dagestanden und zusammen mit den übrigen Angestellten der Reederei geklatscht? Er hatte durchaus die Gerüchte über ihre mangelnde Entschlusskraft gehört. Die Kapitäne, mit denen er in Casablanca verhandelte, hatten ihm nicht verheimlicht, dass sie «schwierig» seien, «nicht leicht, mit ihnen umzugehen», aber sie hatten doch übereinstimmend erklärt, dass sie «bloß eine feste Hand benötigten» und er der richtige Mann dafür sei.
Er hatte die Witwen als die geringste all seiner Herausforderungen angesehen. Nun erwies sich, dass sie das größte Hindernis waren. Sie saßen bei ihren alten, harten Vanillekringeln, die sie in den Kaffee stippten und dann eine Ewigkeit im Mund zergehen ließen. Wie Biber prüften sie mit ihren Vorderzähnen die Härte der Vanillekringel; ja, genau so waren sie, Biber, die Dämme um seine hochfliegenden Pläne errichteten und verhinderten, dass sie auch nur ansatzweise umgesetzt werden konnten.
In seiner Ungeduld kam er zu einer Unterredung mit einer Tüte frisch gebackener Kekse von Bäcker Tønnesen aus der Kirkestræde, aber auch damit bewirkte er nur das Gegenteil. Emma und Johanne wechselten Blicke. Er verschmähte also ihr Selbstgebackenes. Er war ein Verschwender. Und dann noch Kekse vom Möwenbäcker. Dachte er, sie wüssten nicht, dass Tønnesen den Jungen in der Stadt Möweneier abkaufte, die sie auf den Werden draußen vorm Hafen sammelten? Und so etwas bot er ihnen an!
Die Kekse waren eine diplomatische Katastrophe. Dann stieß er auf weitere Hindernisse.
«Das ist zu unsicher», sagte Ellen Boye, als er vorschlug, ein neues Dampfschiff auf der Stahlschiffswerft zu bauen.
Er erklärte, dass der Frachtmarkt gerade dabei war, sich zu erholen, und die Investition sich rasch amortisieren würde.
«Ist damit nicht ein großes Risiko verbunden?», fragte Emma nach einer langen Pause, in der sie die Mümmelei an den Vanillekringeln wieder aufnahm. Er hörte, dass es keine Frage, sondern eine Feststellung war.
Isaksen erklärte mit fester Stimme, dass sie ihm schon freie Hand lassen müssten, wenn sie ihm das Vertrauen erweisen wollten, das sie gezeigt hatten, als sie ihn einstellten.
«Ja sicher, aber Sie haben doch vollkommen freie Hand», erwiderte Ellen mit einer gewissen Strenge in der Stimme. «Es ist nur so, dass die Zeiten so unsicher sind.»
«Ich benötige eine Vollmacht.»
Eine Vollmacht? Die drei Frauen sahen sich an und verstanden ihn nicht. Wieder befanden sie sich auf schwankendem Grund. Vertraute er ihnen etwa nicht?
«Klara Friis sagt, dass …»
«Klara Friis?»
Isaksen erwachte aus der Apathie, die immer häufiger von ihm Besitz ergriff, wenn er sich in Gesellschaft der drei Witwen befand.
«Was sagt Klara Friis?»
Er ahnte plötzlich eine Verbindung.
Was Klara Friis gesagt hatte, wurde nicht klar. Aber sie hatte etwas gesagt, und es hatte Eindruck hinterlassen, das spürte er. Worte wie «Unsicherheit» und «Risiko» schienen ihre bevorzugten Vokabeln zu sein. Klara Friis fütterte die Bauersfrauen in ihnen. Mit ihren Worten nährte sie das Misstrauen der Witwen und bestärkte sie in ihrer schlichten Lebensphilosophie, dass man durchaus weiß, was man hat, aber nicht, was man bekommt. Daher war es am besten, sich an das Bewährte zu halten.
«Aber diese Philosophie hält doch nicht stand», entgegnete Isaksen verzweifelt. «Auch das Bewährte geht verloren, wenn man sich nur daran hält. So sind die Zeiten. Nur der, der sich ins Unbekannte wagt, hat die Chance, etwas zu erreichen.»
«Ich verstehe nicht», meinte die groß gewachsene Ellen in einem verletzten Ton, «wir haben nichts dergleichen gesagt.»
Er stellte fest, dass er laut mit sich selbst sprach und sie für einen Moment den inneren Dialog hatte mithören lassen, den er die ganze Zeit mit ihnen führte. Darin versuchte er sie zu überreden, ihn endlich das tun zu lassen, wozu sie ihn eingestellt hatten.
Isaksen erhob sich und entschuldigte sich mit einem plötzlichen Unwohlsein. Er brauchte frische Luft. Er wusste, dass sie ihm mit den Blicken folgten und, sowie er aus der Tür war, ein Gespräch beginnen würden, das weitaus lebhafter war als alles, was er bisher erlebt hatte.
Er trat auf die Havnegade, bog in die Prinsegade ein und klopfte an Klara Friis’ Tür. Ein Dienstmädchen mit steif gestärkter Schürze führte ihn ins Wohnzimmer. Klara Friis erhob sich aus dem Sofa. Er las mehr als nur Überraschung in ihrem Blick. Auch Erschrecken, als würde sie auf frischer Tat dabei ertappt, eine andere zu sein als die, für die sie sich ausgab.
«Was wollen Sie?», entfuhr es ihr.
Isaksen bemerkte, dass sie vergeblich versuchte, ihre Mimik in diese unbedarfte Vertrauensseligkeit zu zwingen, die sie ihm präsentiert hatte, als er sie das letzte Mal aufsuchte. Stattdessen signalisierte sie ihm Wachsamkeit, eine Alarmbereitschaft, die sein Misstrauen bestätigte und ihn direkt zur Sache kommen ließ.
«Ich würde gern wissen, wieso Sie gegen mich arbeiten», sagte er. «Ich verstehe Ihre Beweggründe nicht. Ist es so, dass Sie mich als Rivalen ansehen? Als Schiffsreederin müssten Sie doch auch am Wohl der Stadt interessiert sein.»
Er sprach mit ihr wie unter Ebenbürtigen und hoffte, dass es Eindruck machen und sie mit ihrem mysteriösen Spiel aufhören würde.
«Sie reden, als wären Sie der Bürgermeister», erwiderte sie. «Aber den gibt es bei uns bereits.»
Sie sah ihn trotzig an. Die Maske war gefallen. Immerhin etwas, dachte er. Jetzt brauche ich mir wenigstens die üblichen Andeutungen nicht anzuhören, diese besondere Art, in der Frauen ihre Macht ausüben, indem sie mit ihrem Unverstand kokettieren.
«Ein Bürgermeister verfügt nicht über sonderlich viel Macht. Ich hätte sie, wenn man mich nur meine Aufgaben erledigen ließe. Sie haben sie auch. Ich verstehe, dass Sie die Reederei geerbt haben und selbst weiterführen, noch dazu mit sicherer Hand.»
«Ich kümmere mich nur um meine Angelegenheiten», entgegnete sie, «und das sollten Sie auch tun.»
Oh, durchfuhr es ihn. Dann sind wir wieder da, wo wir begonnen haben, Beschränktheit als letztes Bollwerk, wenn der Kampf nicht auf offenem Feld ausgefochten werden kann.
«Das würde ich auch gern tun», versetzte er. «Aber jedes Mal, wenn ich die Witwen von einem meiner Vorschläge zu überzeugen versuche, höre ich dasselbe. Zu unsichere Zeiten. Zu großes Risiko. Jemand sagt, es wäre klug zu warten. Und es ist immer wieder derselbe Name, der dann auftaucht. Ihrer.»
Isaksen spürte, dass er dabei war, wütend zu werden. Er dachte an die Grundstücke, die sie an der Havnegade aufgekauft hatte und die nun brachlagen. Man hätte dort eine geschäftige Hafenfront entstehen lassen können. Doch die Grundstücke glichen Scheiterhaufen von Ideen, die abgebrannt waren, noch ehe man sie realisieren konnte.
«Ich gehe täglich an den Grundstücken vorbei, die Sie erworben haben und die nun schändlicherweise Brachland bleiben. Vielleicht ist das ja ein ausgezeichnetes Bild für die Pläne, die Sie hegen. Sie haben vor, die ganze Stadt brachzulegen. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Frau Friis …»
Er fühlte, wie eine seit langem angestaute Gereiztheit Besitz von ihm ergriff.
«Das, was Sie ‹sich um die eigenen Angelegenheiten kümmern› nennen, das nenne ich ‹andere Menschen vernachlässigen, eine ganze Stadt, ihre Geschichte und Tradition›.»
«Ich hasse das Meer.»
Es brach urplötzlich aus ihr heraus. Hätte Isaksen richtig zugehört, hätte er begriffen, dass sich hier eine unerwartete Blöße zeigte, und die Chance ergriffen. Vielleicht gab es einen Weg zu ihr. Doch die Wut hatte ihn vollkommen im Griff. Er war sich ganz sicher, dass er der Ursache all seiner Probleme gegenüberstand, dem ersten und, wie er hoffte, einzigen Fiasko seiner Karriere, das sich immer deutlicher abzeichnete.
«Das ist allerdings eine eigenartige Äußerung», erwiderte er in ätzendem Ton, «so, als würde ein Bauer erklären, er hasse die Erde. In diesem Fall kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie sich am falschen Ort zur falschen Zeit befinden.»
«Nein, im Gegenteil, ich befinde mich am richtigen Ort zur richtigen Zeit.»
Sie war jetzt ebenso wütend wie er. Aber er hörte noch etwas anderes aus ihrer Stimme, nämlich seine eigene verspielte Chance und die Bitterkeit dessen, der sich abgewiesen fühlt. Er hatte nicht richtig zugehört, und nun versuchte er im letzten Augenblick, seinen Fehler zu korrigieren, indem er einen versöhnlicheren Ton anschlug.
«Es tut mir leid, wenn ich ungerechtfertigte Anschuldigungen gegen Sie erhoben habe», sagte er. «Sollten wir nicht versuchen, vernünftig miteinander zu reden? Ich glaube, wir haben vieles gemeinsam.»
«Ich muss Sie bitten zu gehen», antwortete sie mit fester Stimme.
Er nickte ihr kurz zu, drehte sich um und verließ das Haus. Erst als er auf der Straße stand, wurde ihm klar, dass sie ihn überhaupt nicht gebeten hatte, sich zu setzen. Während ihrer Auseinandersetzung hatten sie sich gegenübergestanden. Sie verfügt über keinerlei Erziehung, dachte er.
Isaksen suchte noch einmal die Witwen auf, um seine Forderung nach einer Vollmacht vorzubringen. Er wollte endlich seine Pläne für die Werft wie für die Reederei umsetzen.
«Ich muss darauf aufmerksam machen, dass meine Forderung nach einer Vollmacht ultimativ ist», sagte er.
Sie fragten, was «ultimativ» bedeute. Der Ton zwischen ihnen war allmählich so gereizt, dass er sich immer häufiger der kalten, formalistischen Sprache der Juristen bediente als seinen oft gelobten Überredungskünsten. Er erklärte, ultimativ bedeute, dass er sein Entlassungsgesuch einreichen und sich andernorts eine Stellung suchen müsse, sollte er die Vollmacht nicht erhalten.
«Ja, aber um Himmels willen! Geht es Ihnen denn nicht gut hier?»
Er antwortete, ja, es gehe ihm gut hier, und nein, gleichzeitig gehe es ihm nicht sonderlich gut. Er möge die Stadt. Er sei der Ansicht, dass die Reederei ein großes und vielversprechendes Potential besitze, aber seine Handlungen würden tagtäglich sabotiert. Wieder stieg die Wut in ihm auf.
«Ich verstehe, dass Sie lieber Klara Friis zuhören. Aber ich warne Sie. Sie will nichts Gutes für die Reederei.»
Ellen sah ihn bestürzt an, und er wusste, dass er verloren hatte.
«Klara Friis, das arme Kind. Wenn Sie wüssten, was sie durchgemacht hat. Und dann sprechen Sie so von ihr!»
Das Urteil war gefallen. Er sah es ihren Gesichtern an. Er war ein schlechter Mensch. Er hatte seine Pflicht getan. Nun konnte er gehen. Oder richtiger: Seine Pflicht hatte er eben nicht getan, und das setzte ihm verdammt schwer zu. Er hatte eine Chance gesehen und durfte sie nicht ergreifen. Tatsächlich wurde hier sein moralischer Grundsatz in Frage gestellt: eine Aufgabe so gut lösen, wie es sich machen lässt. Er hatte versagt. Er hatte die Reederei, die Stadt und sich selbst enttäuscht. Sein Talent, andere zu überzeugen, hatte nichts bewirkt. Seine psychologischen Erkenntnisse hatten zu kurz gegriffen. Er, der als Einziger von allen den rechten Kurs kannte, durfte nicht am Ruder stehen und das Schiff führen – und er konnte niemand anderem als sich selbst einen Vorwurf machen. Er war nicht der Typ, der Sündenböcke brauchte, obwohl die Stadt ihm einige zu bieten schien.
Am folgenden Tag schrieb er sein Entlassungsgesuch.
Als Isaksen die Stadt verließ, nahm er die Fähre wie jeder andere Reisende.
Er passte nicht hierher, lautete das Urteil über ihn.
Doch nicht bei allen. Einige erkannten, dass die Weltuntergangsszenarien, die er bei seiner Antrittsrede während des Festessens im Hotel Ærø entworfen hatte, sich nun erfüllen würden. Der Einzige, der sie hätte verhindern können, war fort. Denn nicht nur Frederik Isaksen wandte uns den Rücken zu, als er an Bord der Fähre ging, sondern auch die Welt.
Am Kai stand eine Delegation aus Kapitänen und Steuermännern. Sie alle waren an dem Abend im Hotel Ærø gewesen, als er seine große Rede hielt.
Der Kommandant trat vor die Gruppe. Er war Isaksens treueste Stütze gewesen. Er selbst konnte sich im Traum nicht vorstellen, seinen Fuß auf das Deck eines Dampfers zu setzen. Aber er rühmte sich, ein weitsichtiger Mann zu sein.
Es war ein Herbsttag, und es schüttete. Isaksen hielt einen Regenschirm in der Hand. Ein starker Westwind wehte, und die Schulterstücke seines Baumwollmantels hatten bereits eine dunklere Farbe angenommen.
«Es tut mir leid, dass es so enden musste», sagte der Kommandant.
«Sie müssen mich nicht bedauern», erwiderte Isaksen und lächelte aufmunternd, als bräuchte der Kommandant und nicht er den Trost. «Es war mein eigener Fehler, dass es so kam, wie es gekommen ist. Ich hätte ein besserer Zuhörer sein sollen.»
Der Kommandant war nicht sicher, ob er verstand, was Isaksen meinte. «Die verdammten Weiber», sagte er bloß.
«Sie dürfen ihnen nichts vorwerfen», erwiderte Isaksen. «Sie befinden sich in einer für Frauen ungewohnten Situation. Sie tun bloß das, wovon sie glauben, es sei das Beste.»
Die Fähre tutete warnend, es war Zeit zum Ablegen.
«Wohin geht die Reise?», wollte der Kommandant wissen.
Er hatte eine kleine Rede vorbereitet, nun aber die Worte vergessen.
«Nach New York. Møller eröffnet ein neues Büro. Schaut rein, wenn ihr vorbeikommt. Einen Marstaler können wir immer gebrauchen.»
Isaksen gab dem Kommandant die Hand. Dann machte er die Runde und sagte jedem Einzelnen der Männer Adieu. Von der Fähre wurde etwas gerufen. Er hob den Schirm und lüpfte den Hut. Dann verschwand er über die Laderampe.
Nun gab es niemanden mehr, der verhindern konnte, dass wir so wurden, wie Isaksen es in seiner Rede vorausgesagt hatte: Übriggebliebene.