Jahr drei, 18. April, Morgen

»Wie sieht es aus, Ernst? Hast du bereits Ergebnisse?«

Eckhardt stand im Laborcontainer im Schiffsrumpf der Pjotr Weliki und sah sich genauer um. Holger und sein Techniker-Team hatten in Rennes-le-Château ganze Arbeit geleistet. In dem Vierzig-Fuß-Container hatten sie das gesamte Gentechniklabor des Professors untergebracht, inklusive Stromgenerator und Computeranlage.

Links und rechts an den Wänden gab es Arbeitsflächen, auf denen alle nötigen Gerätschaften fest montiert waren und selbst unter schwierigen Bedingungen genutzt werden konnten. Gensequenzer, Sterilboxen, Zentrifugen, Mikroskope, Monitore und allerlei anderes medizinisches Gerät hatte man hier nach den Anweisungen des Professors logisch angeordnet. Darüber befanden sich jede Menge Schränke mit steril verpackten Arbeitsmaterialien, unter den Tischen die Rechner, Kühlschränke, Brutschränke und weitere Ablagen. Der Mittelgang war schmal, aber begehbar.

Professor Wildmark zeichnete sich förmlich durch Hyperaktivität aus. Er huschte in seiner Arbeitskemenate hin und her wie ein Schatten. Bereits am Abend zuvor hatte er von Birtes Baby Blut und Rückenmarksflüssigkeit genommen, denn er vermutete, dass er bei der genaueren Untersuchung die Thesen bestätigt bekäme, die er bereits bei der Analyse des Fruchtwassers aufgestellt hatte.

»Was? Wie meinen?«

Der Wissenschaftler wirkte fahrig, was für jemanden, der ihn wie Eckhardt gut kannte, bedeutete, dass es tatsächlich etwas zu berichten gab.

»Hast du etwas herausgefunden?«

»Ach so, äh, ja. Und ich denke, es handelt sich um Fakten, die für das weitere Vorgehen von essentieller Bedeu–«

»Was?«

»Wie?«

Der Professor sah den Festungskommandeur verdutzt an. Er war es nicht gewohnt, dass man ihn während seiner Monologe unterbrach.

»Was hast du herausgefunden? Bitte kurz, übersichtlich und für Leute wie mich verständlich.«

Professor Wildmark grinste.

»Hm, ja, also gut. Wie es aussieht, besitzt die kleine Runa erwartungsgemäß eine T93/T93-X-Ausprägung. Das bedeutet, wir können auf das vorherige umständliche Prozedere verzichten, was die Synthetisierung angeht. Während wir vorher ja noch einen Biokatalysator mit dem reinen genetischen Material benötigten, in dem Fall war das Madame Joliet, können wir die nun vorliegende Gensequenz direkt in den Stammzellen aus der Probe klonen. Damit entfällt der komplizierte Herstellungsprozess und das T93 sowie das T93-X können praktisch in jedem Genlabor hergestellt und in einer einzigen Dosis verabreicht werden. Das bedeutet einen sensationellen Durchbruch in der Forschung. Ich muss die Ergebnisse lediglich noch in weiteren Testdurchläufen bestätigen, aber ich denke, ich kann schon jetzt sagen, dass wir einen guten Schritt vorangekommen sind.«

»Das alles hat uns die Kleine gebracht?«

»Ja, Eckhardt. In diesem Kind liegt eine der Hoffnungen der Menschheit.«

»Also können wir den Amerikanern eine Komplettlösung anbieten?«

»Zumindest in der T93-Frage, ja.«

»Das ist mal eine gute Nachricht. Ich rede mit dem General. Gute Arbeit, Ernst.«

Der Professor nickte.

»Danke. Ich tue, was ich kann.«

Eckhardt verließ den Laborcontainer durch die Sicherheitsschleuse aus durchsichtigem Kunststoff und begab sich wieder an Deck. Auf dem oberen Achterdeck traf er den General, der sich im Licht der aufgehenden Sonne sonnte und eine Zigarre rauchte. Er bot Eckhardt eine an. Der lehnte jedoch höflich ab und griff zu seinen Filterlosen. Die beiden standen rauchend beisammen, an das Heckgeschütz gelehnt, und betrachteten den Himmel. Eckhardt kam sich etwas unförmig vor in der Schwimmweste, die er zu tragen hatte. Aber die Anordnung des Kapitäns bezüglich der Schwimmwestenpflicht an Deck galt nun mal noch immer, zumal die See auch nicht gerade ruhig war. Bei einer Wellenhöhe von bis zu zwei Metern bewegte sich das Schiff nicht unerheblich, und wer nicht seefest war, konnte schon hier und da das Gleichgewicht verlieren.

»Nun, was gibt es Neues von unserem Professor?«, fragte der General.

Eckhardt berichtete, was Professor Wildmark ihm erzählt hatte. Der General nickte zufrieden.

»Gut«, erwiderte er erleichtert, »da haben wir zumindest etwas, das wir den Amerikanern an die Hand geben können. So haben wir unseren Teil der Abmachung dann eingehalten. Aber vielleicht sollten wir auf der Hut sein. Nicht, dass General Dempsey doch noch auf die Idee kommt, er könnte ja die Quelle für das genetische Material behalten. Dann wären Sepp, Birte und die kleine Runa in Gefahr.«

»Stimmt, daran habe ich auch schon gedacht. Wir müssen unsere Leute beschützen. Nur wie?«

»Ich habe da so eine Idee. Dazu müssten wir allerdings einen kleinen Umweg machen. Ich spreche nachher mit dem Kapitän darüber. Wir werden einen technischen Defekt am Schiff vorgeben und auf Kuba einen Zwischenstopp einlegen. Ich bin mir sicher, dass dort an einem geheimen Ort einige P-700-Granit-Raketen mit Nuklearbestückung liegen. Meine Idee ist, unser Schiff dort wieder zu bewaffnen. Damit haben wir ein Druckmittel beziehungsweise ein Verhandlungsargument, falls es zu Unstimmigkeiten kommt.«

»Aber der Amerikaner sitzt in einem Atombunker. Könnte schwierig werden, ihn zu beeindrucken.«

»Stimmt natürlich, die stählerne Stadt ist gegen einen Atombombeneinschlag gesichert. Was aber, wenn zehn Sprengköpfe hintereinander einschlagen?«

Eckhardt blies den Rauch seiner Zigarette in den Wind.

»Na ja, wollen wir hoffen, dass alles glattgeht. Erst einmal müssen wir in den Cheyenne-Bergen ankommen.«

Pjotrew schnippte den Rest seiner Zigarre über Bord und sah ihr nach.

»Neue Zigarren bräuchte ich wohl auch«, meinte er lapidar. »Gehen wir in den Kommunikationsraum und holen den Amerikaner aus den Federn.«

Zehn Minuten später saßen Pjotrew und Eckhardt vor dem Bildschirm der SatCom-Anlage. Das Gesicht von General Dempsey erschien. Obschon es in Colorado noch sehr früh am Morgen sein musste, wirkte der Kommandeur ausgeschlafen und hellwach.

»Beglückwünsche Sie zu Ihrem Neuzuwachs, General«, gab er relativ emotionslos von sich, nachdem Pjotrew seinen Sitznachbarn vorgestellt hatte. Da die beiden das Gespräch in englischer Sprache führten, hatte Eckhardt beschlossen, sich weitgehend zurückzuhalten, da seine Sprachkenntnisse diesbezüglich nicht sonderlich ausgeprägt waren. Er hörte lieber zu, als sich die beiden Generäle besprachen.

»Ich werde Ihre Glückwünsche an die Mutter weiterleiten, General«, erwiderte Pjotrew.

Dempsey sprach weiter.

»Ja, genau. Die Mutter. Das ist diese Frau Radler, nicht wahr, von der Sie das T93-Gen haben?«

»Das ist korrekt«, bestätigte Pjotrew. Der Amerikaner zog die Brauen leicht hoch und hakte nach.

»Trägt das Kind denn nun auch dieses modifizierte Gen, von dem Sie sprachen? Wenn ich Sie recht verstanden habe, brauchen wir ja zwei Komponenten des Gens, zumindest unsere Frauen, oder?«

»Die überraschende und gute Nachricht ist«, antwortete Pjotrew ihm ruhig und gelassen, »dass unser Chefgenetiker einige Stammzellen des Babys isolieren konnte und festgestellt hat, dass dieses in seiner Doppelhelix eine T93/T93-X-Kombination führt, die es ermöglicht, für das T93 ein einziges, geschlechtsunabhängiges Serum zu produzieren. Damit entfallen die bisher notwendigen, sehr komplizierten Zwischenschritte in der Produktion.«

»Und von diesen Stammzellen würden Sie uns Proben überlassen?«, fragte Dempsey.

»Ja natürlich, General. Wir kommen zu Ihnen, um unsere Forschungsergebnisse vollumfänglich mit Ihnen zu teilen.«

»General Pjotrew, das weiß ich wirklich sehr zu schätzen. Seien Sie unsere Gäste. Ich bin sicher, dass Ihre und unsere Wissenschaftler gut miteinander arbeiten werden und dass es zu einem reichen Austausch von Erfahrungen kommen wird. Wir senden Ihnen noch aktuelle Satellitenbilder von der günstigsten Fahrtroute. Diese kann Ihr Fahrer jederzeit mit meinem Staff Sergeant abgleichen. Wir halten Sie auf dem Laufenden. Dempsey Ende.«

Damit erlosch der Bildschirm und es herrschte Ruhe im Raum. Pjotrew deaktivierte die Verbindung seinerseits und schaltete die Geräte aus. Eckhardt sah ihn an.

»Dempsey meint es ehrlich, oder?«, fragte er.

Pjotrew nickte sehr langsam.

»Allem Anschein nach ja. Dennoch sollten wir uns darauf vorbereiten, dass er seine Ansichten abrupt ändern könnte. Jetzt sollten wir aber erst einmal mit dem Kapitän sprechen wegen der Reaktorschäden

Einige Minuten später saßen die beiden Männer mit Kapitän Kassatonow in seinem Bereitschaftsraum, der sich unmittelbar an den Brückenraum anschloss.

»Ein Zwischenstopp in der Bucht von Cienfuegos. Was hältst du von der Idee, Wladimir?«, fragte der General, nachdem er seinen Plan in groben Zügen umrissen hatte. Der Kapitän hatte eine Karte des Golfs von Mexiko vor sich auf dem Tisch liegen und fuhr mit dem Finger darauf herum.

»Wir müssten östlich der Bahamas einen Defekt simulieren und vorgeben, nach Süden abzudriften. Und dann zwischen Haiti und Kuba hindurch Guantanamo umfahren und auf Westkurs gehen, damit wir den Zielort erreichen.«

Er tippte auf einen Punkt etwas westlich der Bucht.

»Du weißt, dass die Raketen da sind?«

»Jeder Kirow-Kapitän kennt den Ort. Codename: Ferdinand. Wenn sich niemand vor uns bedient hat, sollten dort mindestens zwei Dutzend P-700 Granit liegen.«

»Kann der Amerikaner die nicht mit seinen Satelliten orten?«, fragte Eckhardt.

Kassatonow antwortete:

»Im Prinzip schon, nur steht über der Lagerstätte ein Atomkraftwerk, das heute nicht mehr in Betrieb ist, aber dennoch strahlt. Das macht es fast unmöglich, die geringe Strahlung der Waffen zu orten.«

Eckhardt lachte.

»Nur, damit ich es richtig verstehe: Ihr habt direkt vor der Nase der Amerikaner eine Ladung Atomraketen versteckt und sie haben es nie bemerkt?«

Pjotrew nickte.

»Das kann man so sagen, ja.«

»Ich werd verrückt! Seit wann liegen die da?«

»Wir nutzen den Standort seit Beginn der sechziger Jahre. Das aktuelle Material wurde von einer Akula Ende der Achtziger dorthin gebracht und durch die Kühlwasserkanäle in die unterirdische Basis geschafft. Und dort liegen die Raketen, gut gewartet und konserviert, und warten auf ihren Einsatz. Seit der Stilllegung der Anlage im Jahr 2000 ist Russland der einzige – wenn auch stille – Nutzer des Bereichs. Wir fanden es nützlich, für den Fall, dass es wieder zu Spannungen mit den USA käme, einen Standort nahe der amerikanischen Küste zu haben, an dem wir unsere Kirows wieder aufrüsten könnten.«

Eckhardt pfiff leise durch die Zähne. Der Kapitän schaltete einen Monitor ein, der Satellitenbilder von der Zielregion in hoher Auflösung zeigte. Man konnte den natürlichen Kanal, der in die Bucht von Cienfuegos führte, gut erkennen. Auf der Westseite lag das Örtchen Jagua, benannt nach dem gleichnamigen Fort, das zum Schutz vor Piratenüberfällen im sechzehnten Jahrhundert dort errichtet worden war. Im Süden des Dorfes gab es eine Neubausiedlung. Hier lebten damals die Arbeiter des etwa drei Kilometer weiter westlich gelegenen Atomkraftwerks Juraguá. Kassatonow deutete auf die Uferlinie.

»Hier, direkt unterhalb des Forts, gibt es einen Kai; dort, wo der Kanal nach Nordosten abknickt. Die Fahrrinne ist tief genug für uns. Wir müssten die Raketen mit dem Truck holen und hoffen, dass die Amerikaner nicht genau in diesem Moment nach der Reststrahlung suchen. Ich halte diesen Dempsey zwar für gerissen, aber nicht sehr intelligent. Liefern wir ihm eine gute Geschichte, warum wir ausgerechnet dort landen, wird er nicht sämtliche Satelliten auf diesen Punkt ausrichten. Er wird allenfalls ein paar Bilder schießen lassen, um zu schauen, was wir treiben.«

Pjotrew sinnierte.

»Wir sagen ihm, dort in der Siedlung suchen wir einen bestimmten Nukleartechniker, der uns helfen soll, unseren beschädigten Reaktor zu reparieren. Aus dem alten Atomkraftwerk wollen wir Ersatzteile besorgen, deshalb schicken wir den Truck dorthin. Das klingt doch plausibel. Wie viele Raketen kann der Truck transportieren, Eckhardt?«

»Nun, das hängt natürlich von der Art und Weise ab, wie sich die Fracht verladen lässt.«

Der Kapitän verstand, was Eckhardt sagen wollte.

»Die Raketen befinden sich in wasser- und luftdichten Transportröhren, die wiederum sind in stapelbare Gestelle montiert. Die Länge beträgt etwas über fünf Meter bei einem Durchmesser von etwas mehr als einem Meter. Gewicht je Einheit etwa dreieinhalb Tonnen.«

»Dann sollten wir alle Einheiten mit einer Fuhre transportieren können. Es ist dann sogar noch etwas Platz auf dem Trailer. Über das Gesamtgewicht brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, solange der Untergrund die Last trägt.«

Kassatonow zeigte auf die Straße, die von der Siedlung zum alten Atomkraftwerk führte.

»Diese Zufahrtsstraße wurde für den Transport schwerer Bauteile ausgelegt. Russland hat damals beim Bau der Anlage die schweren Druckbehälter geliefert. Da sollte es keine Schwierigkeiten geben, denke ich.«

»Ich würde die Karte gern nachher mit Sepp noch durchsprechen«, fügte Eckhardt an und besah sich den Weg genauer.

Es handelte sich um eine gut ausgebaute asphaltierte Straße, die weitestgehend durch unbewohntes Gebiet führte. Die Kaianlage war aus solide erscheinendem Beton errichtet, zwischen Kai und Uferböschung dümpelten Fischerboote.

Dass es Verladekräne gab, war nicht anzunehmen, so dass der Transporter dicht an das Schiff heranfahren müsste, um die bordeigenen Kräne nutzen zu können. Sepp würde rückwärts auf den T-förmigen Kai fahren müssen, um die Raketen an Bord zu bringen. Das Schiff müsste also zum Abladen des Trucks mit dem Heck an die Pier gelegt werden, zum Beladen mit den Raketen dann um neunzig Grad und später noch einmal andersherum gedreht werden. Er teilte dem Kapitän seine Bedenken mit.

»Das gefällt mir gar nicht«, meinte Kassatonow nachdenklich. »Vielleicht sollten wir das Schiff grundsätzlich mit dem Heck an die Pier legen. Zum Verladen der Raketen benutzen wir dann den Helikopter.«

»Wird der Amerikaner dann nicht bemerken, was wir da tun?«, fragte General Pjotrew.

»Nun ja, entgegnete der Kapitän, »spätestens, wenn wir die erste Rakete in die Silos auf dem Vorschiff verladen, weiß Dempsey, was wir tun. Wir können eigentlich nur hoffen, dass unsere Pläne der Überflugkorridore der amerikanischen Satelliten noch korrekt sind und dass wir beim Verladen ein Zeitfenster haben, in dem keiner der Satelliten über uns seine Bahn zieht. Es gab bislang stets solche Fenster, die im Idealfall bis zu sechs Stunden offen standen. Und der General kann die Flugbahn der Satelliten nicht ohne weiteres ändern, jedenfalls nicht von NORAD aus. Schätze, er kann froh sein, dass er überhaupt noch Zugriff auf das Netzwerk hat.«

»Also gut«, folgerte Pjotrew, »dann berechnen wir den Kurs so, dass wir diese Fenster nutzen können. Wir müssen das Risiko einfach eingehen. Und andererseits, diese Waffen sind Eigentum der Eurasischen Union. Er wird sicher nicht unseren Besuch absagen, nur weil wir unser Flaggschiff wiederbewaffnen. Er wird allenfalls etwas herumnörgeln, dass wir das genau vor seiner Haustür tun.«

Die Männer lachten. Eckhardt verabschiedete sich und begab sich hinunter zum Hulk-Truck, um mit Sepp die notwendigen Schritte zu besprechen.

*

Der Kapitän bot General Pjotrew einen Platz auf dem Ledersofa an, das neben seinem Schreibtisch stand. An der Wand hing ein Modell der Pjotr Weliki, auf dem Schreibtisch und auf dem Beistelltisch der Sitzecke spendeten blankpolierte Messinglampen weiches Licht. Der Kapitän stellte zwei Gläser auf das Tischchen und goss jeweils drei Fingerbreit Wodka ein. Dann setzte er sich in den zur Sitzgruppe gehörigen Ledersessel, nahm ein Glas und prostete dem General zu.

»Nastrowje, Towarischtsch!«

»Nastrowje!«, erwiderte der General und die beiden leerten ihre Gläser sturzartig.

Der Kapitän bot Zigaretten an, doch Pjotrew lehnte wortlos ab. Als Kassatonow seine Machorka entzündet hatte und einen starken Tabakgeruch in die Luft blies, schenkte er nach und sagte:

»Dieser Oberst Zinner ist schon ein seltsamer Kauz, aber ich halte ihn für einen fähigen Soldaten. Was denkst du, Mikail?«

Pjotrew rollte das Glas zwischen beiden Händen hin und her und beobachte den Inhalt gedankenverloren. Dann entgegnete er:

»Zinner und Bulvey, die beiden, die dieses kleine Dorf da in den Pyrenäen leiten, sind mutige Männer. Sie haben ihre Gruppe, die mit der Zeit enorm angewachsen ist, durch die Apokalypse geführt und den Leuten etwas gegeben, das diese allein nicht mehr aufzubringen bereit oder in der Lage waren: Hoffnung. Und sie haben allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt. Sie haben etwas getan, das ich nicht den Mut hatte zu tun: Sie haben Marschall Gärtner offen die Stirn geboten.«

»Aber du hast ihnen schließlich geholfen, Mikail. Nicht zuletzt warst du es ja, der diesen Tyrannen eigenhändig zur Strecke gebracht hat.«

»Ja, schon. Aber die Gruppe um diese beiden Männer hat vom ersten Tag an offen opponiert. Sie haben sich dem Regime bedingungslos widersetzt, als wir alle noch Befehlsempfänger waren.«

»Aber es war nötig, Mikail. Wir haben fast zehn Millionen Menschen vor dem sicheren Tod oder vor Schlimmerem bewahrt. Unsere Gruppe war ungleich größer als die der beiden.«

»Aber wir haben auch sehr viel zerstört. Ich frage mich bisweilen, wie die Dinge gelaufen wären, wenn wir die Operation Payback damals anders angegangen wären. Ohne die globale Zerstörung, ohne die Verseuchung und vor allem ohne diesen Marschall. Ich selbst habe ihn unterstützt und vorgeschlagen, habe ihm den Marschallstern überreicht. Diese Schuld den vielen Todesopfern des Regimes gegenüber, Wladimir, diese Schuld lastet schwer auf mir.«

Der Kapitän sah ihn betreten an. So hatte er den General noch nie erlebt. Er hob sein Glas.

»Nastrowje!«

Wodka war immer eine gute Medizin, so fand er, und er schenkte noch einmal nach, kaum dass die Gläser den Tisch wieder berührt hatten.

»Und nun«, fragte der Kapitän, »willst du deinen Lebensabend dort als einsamer Mann in den Bergen verbringen?«

»Vergiss nicht, Wladimir, ich bin ein Mann aus dem Heer, kein Marineoffizier. Deine Welt ist überschaubar und klein, mein Freund. Meine hingegen umfasst einen, nein, zwei Kontinente. Aber dort in den Bergen erlebte ich das erste Mal etwas, das ich seit dem Ausbruch der Seuche vermisste: Geborgenheit, emotionale Wärme und eine Ahnung von Heimat, auch wenn diese tausende Meilen entfernt liegt.«

»Hast du ein Foto von deiner Frau, Mikail? Ich würde sie gern einmal sehen.«

Der General zog sein Smartphone aus der Seitentasche seiner Hose und aktivierte es. Er wischte über den Bildschirm, vor, zurück, dann hielt er Kassatonow das Display hin.

»Das ist meine Constance, ein wahres Juwel.«

Kassatonow nickte.

»Eine stolze und schöne Frau. Sie passt zu dir.«

»Sie ist der Grund, für den es sich zu leben lohnt, zumindest aus meiner Perspektive. Und außerdem fühle ich mich in dem Dorf sehr wohl. Die Menschen gehen dort sehr respektvoll miteinander um, das imponiert mir. Wir werden das Oberkommando des Heeres dort installieren, die nötige Infrastruktur wird gerade erstellt.«

Der Kapitän lachte rau.

»Und so dirigierst du deine Armee dann vom Berge herunter, vom Feldherrenhügel gewissermaßen. Lass uns noch etwas trinken, Mikail!«

Wieder leerten sie die Gläser. Keiner von den beiden zeigte ernste Anzeichen von Trunkenheit. Beide waren sie zwar etwas angeheitert, aber im Grunde dennoch trinkfeste russische Offiziere, die sich selbst bei den gefürchteten, historisch verbürgten Besäufnissen mit dem Genossen Stalin nicht hätten schämen müssen.

»Wir werden bald den allerletzten Krieg gegen diese verkommene Monsterbrut fechten, Wladimir«, sprach der General, »und verdammt will ich sein, wir werden ihn gewinnen. Auch das, dank dieser freien Menschen dort in Rennes-le-Château. Wenn der Sieg endlich unser ist – was wirst du dann tun?«

Kassantonow überlegte.

»Ich werde wohl«, gab er lapidar zurück, »auf diesem Schiff sterben. Die Weliki ist meine Heimat. Du hast Recht, sie ist eine kleine Welt, aber sie hat einen Vorteil: Sie bewegt sich dahin, wo ich es will. Ich liebe diese kleine Welt, bin mit ihr verwachsen. Die Planken an Deck sind wie aus meinem Fleisch gemacht, ihr Radar ist mein Auge und ist mein Ohr. Ihre Raketenwerfer sind meine Fäuste und die Reaktoren sind meine Herzkammern, verstehst du? Ich kann mir nicht vorstellen, dieses Schiff für immer freiwillig zu verlassen.«

Pjotrew nickte anerkennend.

»Falls du deine Meinung eines Tages ändern solltest, mein guter Freund, dann lade ich dich herzlich ein, uns in Rennes-le-Château zu besuchen. Du sollst unser Gast sein und wir werden zusammen feiern mit Musik auf der Balalaika und wir werden tanzen dazu, Wladimir. Schenk uns noch einmal ein. Wir wollen nicht melancholisch werden, sondern uns freuen, dass wir noch am Leben sind. Es kann jeden Tag vorbei sein.«

Als der Inhalt der Flasche sich dem Ende zuneigte und der Kapitän und sein Gast bereits ein wenig die erforderliche militärische Disziplin schleifen ließen, zog der General zwei seiner letzten Zigarren aus dem ehemaligen Besitz des Marschalls Gärtner aus der Brusttasche seiner Uniform. Es handelte sich dabei um Exemplare, die Ähnlichkeit mit einem Schkwal-Torpedo aufwiesen. Riesige, dunkle Tabakwickel mit abgerundeten Enden, die der General gekonnt abknipste. Eine hielt er dem Kapitän hin.

»Eine Cohiba Linea 1492 Siglo Seis Cañonazo, handgerollt, dreifach fermentierter Tabak. Fünfzig Dollar das Stück.«

Der andere nahm die Zigarre und zog sie, den Duft inhalierend, unter der Nase durch. Auf dem Zigarrenring prangte der gelbliche Indianerkopf.

»Ein hervorragendes Stück. Aber leider habe ich keine fünfzig Dollar.«

Die beiden lachten derbe und Pjotrew bot Feuer von einem langen Zedernholz an. Kassatonow paffte die Zigarre gekonnt an und schmatzte etwas, um in den vollen olfaktorischen Genuss zu kommen. Eine zweite Wodkaflasche fand wie von Geisterhand bewegt ihren Weg auf den Tisch und ihr Inhalt füllte erneut die Gläser. Die beiden rauchten, tranken und erzählten sich Geschichten aus Afghanistan und dem Nordmeer; sie scherzten und lachten, und niemand von der Crew wagte es, den Kapitän in seinem Raum zu stören. Der Erste Offizier hatte das Schiff gut im Griff und er gönnte seinem Vorgesetzten diese kleine Herrenrunde von Herzen.